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Bildekräfte des Lebendigen

Wege zu einer wirklichkeitsgemäßen Naturwissenschaft

Wolfgang Peter 1998

INHALT

VORWORT

Diese kleine Schrift wendet sich an alle, die der Natur mit offenem Herzen zugewendet sind und ihre Gestaltenfülle, die sich vor unseren Sinnen ausbreitet, von ihrem Ursprung her verstehen wollen. Die Naturforschung der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte hat unser Wissen von der sinnlichen Welt um beinahe unermeßlich viele Details bereichert und vieles von der Schönheit der Natur offenbart, die sich tief in den mikroskopischen Dimensionen winzigster Lebewesen ebenso zeigt wie in den fernen Höhen des Weltalls, in die unsere modernen Teleskope immer weiter vordringen. Naturgesetze, die dem ringenden Denken vieler Forschergenerationen an den beobachteten Phänomenen aufgegangen sind, sollen alles natürliche Geschehen regeln und allgemeine Geltung für alle Naturreiche haben, ob es nun Steine, Pflanzen, Tiere oder gar Menschen seien.

An all dem, was so mit viel Fleiß zutage gefördert wurde, soll nicht gezweifelt werden, aber läßt sich aus den ihrem Anspruch nach allgemeingültigen Naturgesetzen auch nur die lebendig werdende Form des einfachsten Lebewesens, ja auch nur eines Kristalls herleiten? Helfen uns diese Gesetze, zu verstehen, warum die Liliengewächse dreistrahlige, die Rosengewächse aber fünfstrahlige Blüten tragen? Erklären sie uns, warum auf einem Apfelbaum Äpfel und nicht etwa birnenförmige Früchte wachsen? Vielfach wird, wenn es um die Gestalt eines Lebewesens geht, auf den genetischen Code verwiesen, und es gehört heute geradezu zur Allgemeinbildung, zu wissen, daß der "Bauplan" eines Lebewesens in seinen Genen festgeschrieben ist. Aber läßt sich aus dem Gencode tatsächlich die erscheinende Form einer Rose etwa oder eines Frosches rational ableiten? Wie viele Naturwissenschaftler eingestehen, sind hier noch viele Fragen völlig offen geblieben.

Besonders der lebendigen Form, der sich wandelnden Gestalt und der sie bildenden "Kräfte" ist diese Schrift gewidmet. Daß auf so wenigen Seiten nur kurze Anregungen gegeben werden können, ist klar. Kleine Fingerzeige nur können gegeben werden, die darauf aufmerksam machen, daß man die Natur mit anderen Augen als gewöhnlich betrachten muß, wenn man sich der in ihr waltenden Gestaltungskraft nähern will. Und nicht nur das Schauen, auch das Denken selbst muß ein anderes, lebendigeres werden. Das gegenwärtige naturwissenschaftliche Denken, das in seiner inneren Folgerichtigkeit vorbildlich ist, ist vielfach so erstarrt und abstrakt geworden, daß es nur Totes begreifen kann. Es ist daher hervorragend für unsere moderne hochtechnisierte Welt geeignet, das Leben selbst aber bleibt ihm fremd.

Goethe und andere Denker, ganz besonders aber Rudolf Steiner, haben gezeigt, daß auch eine andere Anschauung der Natur möglich ist, der sich das Lebendige in konsistenter Weise eröffnen kann, ohne daß dabei die moderne Vernunft beleidigt wird. Die Technik stellt immer mehr Totes in die Welt, und immer mehr beweist sich der Mensch dadurch als Herr der Erde – das soll nicht getadelt werden; aber um so notwendiger muß daneben das Lebendige in der Natur zur Geltung gebracht werden. Nur so kann die künftige Entwicklung eine heilsame seine. Herr der Erde zu sein, heißt auch: ihr verständiger Pfleger sein zu wollen!

Die Natur – das durch und durch Lebendige

Vor unseren Sinnen breitet sich die Natur in vielgestaltiger Weise aus: als Mineralreich, als Pflanzen-, Tier- und endlich auch als Menschenreich. Daß Pflanzen, Tiere und Menschen lebendige Wesen sind, wird man ohne weiters zugeben, aber auch das scheinbar tote Mineralreich ist in den Kreis lebendiger Bildekräfte einbezogen. Wirklich tot ist ein Gegenstand nur dann, wenn er weitgehend der lebendigen Wechselwirkung mit der Umwelt entzogen ist. Ein einzelnes Mineral, ein einzelner Kristall mag diesem Zustand nahe kommen; tatsächlich ist aber auch er in den großen Kreislauf der formenden Kräfte eingebettet, die die Erde erhalten und zugleich umgestalten. Für sich genommen bleibt auch das Mineral, wie wir es in der Natur vorfinden, unverständlich. Nicht das einzelne Mineral ist lebendig, aber die Mineralwelt als Ganzes genommen wird beständig lebendig umgestaltet. Wäre das nicht der Fall, würden wir in der mineralischen Natur nur mehr Abbauprozesse, nur mehr Erosion finden. Diesen stehen aber immer noch aufbauende, mineral- und letztlich gebirgsbildende Prozesse gegenüber, wobei aber durchaus zugegeben werden muß, daß die Erde in geologisch älteren Zeiten wesentlich lebendiger war als heute. James Lovelock (1), einer der wenigen gegenwärtigen Wissenschaftler, der die Erde beharrlich als ein lebendiges Wesen ansieht, vergleicht die gegenwärtige Erde mit einem Mammutbaum; obwohl dieser zu beinahe 97% aus toter verholzter Materie besteht, ist er zweifellos dennoch lebendig – ähnlich sei es um die Erde bestellt.

Tatsächlich hat man in früheren Zeiten die Natur stets so aufgefaßt. Schon das lat. Wort "natura" weist uns auf das lebendige Hervorbringen, auf das Geborenwerden. Die Natur, das ist "das ohne fremdes Zutun Gewordene, Gewachsene" (2).

Das Leben ist das zentrale Prinzip der Natur.

Wenn das Leben auch das zentrale gestaltende Prinzip der Natur ist, so ist es doch nicht das einzige in ihr wirksame. Nach unten hin emanzipiert sich aus dem lebendigen Naturkreislauf das Tote, das uns bereits auf einen unternatürlichen Bereich hinweist. Nach oben hin reicht der menschliche Geist, wie noch zu zeigen sein wird, in einen übernatürlichen Bereich hinein. Und bereits in Trieb und Empfindung der Tiere zeichnet sich etwas ab, was nicht mehr bloßes Leben ist. Erleben ist mehr als nur Leben. Handelt es sich dabei um Erscheinungen, die einzelnen Naturreichen eigen sind, so bleibt doch klar, daß das Leben das Prinzip ist, an dem alle Naturreiche in größerem oder geringerem Grade teilhaben. Wollen wir also die Natur verstehen, so müssen wir vorallem das Leben verstehen. Was wir also brauchen, ist ein exaktes Wissen von der belebten Natur, oder, kurz gesagt, eine lebensgemäße Naturwissenschaft.

Uns fehlt eine wirklichkeitsgemäße Naturwissenschaft!

Oft wird behauptet, daß wir heute geradezu im naturwissenschaftlichen Zeitalter leben. Bei Lichte besehen stimmt das aber gar nicht; zwar bestimmen naturwissenschaftliche Disziplinen wie Physik, Chemie, Molekularbiologie und dergleichen mehr unser modernes Leben und sind auch grundlegend für die vorherrschende Weltanschauung, aber haben wir es dabei wirklich mit einem Wissen von der Natur zu tun? Wird hier tatsächlich das zentrale Gestaltungsprinzip der Natur, das Leben, verstanden? Nach der Aussage vieler führender Naturwissenschaftler ist gerade das nicht der Fall. Man kennt zwar eine Überfülle von Details, die für lebendige Wesen charakteristisch sind, aber all das will sich nicht recht zu einem Gesamtbild des Lebens zusammenfügen. Das Leben, so mußte die Naturwissenschaft erkennen, läßt sich durch naturwissenschaftliche Begriffe nicht definieren:

"Die Definition eines lebenden Systems oder Organismus können wir als Naturwissenschaftler noch immer nicht geben. Wir sind lediglich in der Lage, lebenden Systemen bestimmte Eigenschaften zuzuordnen. Viele Eigenschaften der lebenden Organismen sind aber noch nicht genügend erforscht und können nicht genau angegeben werden." (3)

Es handelt sich dabei aber nicht um ein temporäres, sondern um ein grundsätzliches Problem der auf das Leben angewendeten "naturwissenschaftlichen" Denkweise. Es liegt, wie noch näher auszuführen sein wird, im Wesen des Lebendigen, daß es nicht begrenzt gedacht, d.h. auch nicht definiert werden kann. Die Methode der gegenwärtigen "Naturwissenschaft" selbst ist es, die sie hindert das Leben und damit auch die Natur zu erfassen. Mit den zur Zeit üblichen Forschungsmethoden läßt sich, und zwar in wirklich beispiellos großartiger Weise, nur das Tote erfassen, das sich am reinsten in der durch den Menschen in nie vorher dagewesener Weise hervorgebrachten Maschinenwelt zeigt. Es ist also, wenn man exakt sprechen will, nicht eine Naturwissenschaft, die unser Zeitalter prägt, sondern vielmehr beinahe ausschließlich eine im großen Stil entwickelte Technikwissenschaft.

Wir haben heute keine Naturwissenschaft, die das Leben versteht, sondern eine Technikwissenschaft, die das Tote manipuliert.

Nur wer ein lebendiges Wesen für nicht mehr als einen äußerst komplexen technischen Apparat ansieht, kann sich zu einer Definition des Lebens versteigen, wie sie sich bezeichnenderweise in einem Standardlehrbuch der Biologie findet:

"Lebewesen sind diejenigen Naturkörper, die Nucleinsäuren und Proteine besitzen und imstande sind, solche Moleküle selbst zu synthetisieren." (4)

Das materialistische Konzept der modernen Biowissenschaften

Paradoxerweise sind es gerade die Biowissenschaften, etwa die Biologie selbst, dann aber besonders auch die Human- und Veterinärmedizin, die besonders hartnäckig an den heute eigentlich bereits veralteten materialistischen Grundvorstellungen festhalten, die das vergangene Jahrhundert geprägt haben. Und diese Tendenz ist gegenwärtig nicht etwa im Abklingen begriffen, sondern schreitet vielmehr immer mehr fort. So tritt etwa die "intuitive" diagnostische Fähigkeit des guten Hausarztes immer stärker gegenüber der hochentwickelten und entsprechend teuren apparativen Analyse zurück, die nur mehr der Spezialisten handhaben kann. Der Patient, als ganzer Mensch genommen, verschwindet irgendwo in den endlosen Zahlenkolonnen der Computerausdrucke. Ebenso spielt die wahrgenommene, in der Natur sich darlebende Gestalt, die Morphologie, in der heutigen Biologie nur mehr eine untergeordnete Rolle und wird zunehmend von der Molekularbiologie verdrängt. Die Unterscheidung der einzelnen Tier- und Pflanzenarten, die sich ursprünglich aus dem unmittelbaren, wenn auch wissenschaftlich systematisch geführten Augenschein erschlossen haben, werden zur Zeit aufgrund molekularbiologisch-genetischer Untersuchungen revidiert.

Die Molekularbiologie wird zunehmend zur zentralen Grundlage der Biowissenschaften!

Alle Phänomene des Lebens ruhen damit für das gegenwärtige wissenschaftliche Verständnis mehr und mehr auf einer streng atomistisch-mechanistischen Basis, die das Leben, wie viele meinen, in jenen Bereich rücken, wo es technisch manipulierbar und zum vermeintlichen Segen des Menschen beherrschbar wird. Erste Erfolge scheinen dieser Denkhaltung zunächst recht gegeben zu haben. Man denke nur an die Entdeckung des Penizillins und die heute so weit verbreiteten Antibiotika. In ihnen wird geradezu der Schlüssel dafür gesehen, daß in unserem Jahrhundert viele lebensbedrohende Infektionskrankheiten zurückgedrängt werden konnten. Beweist das nicht geradezu, daß es richtig war, erstens winzig kleine, mikroskopisch identifizierbare Keime als pathogene Quelle der Infektionskrankheiten anzunehmen, und diesen zweitens mit rein stofflich aufgefaßten Mitteln, mit der vielzitierten "chemischen Keule" zu begegnen? War es nicht ein noch größerer Erfolg, als mittels verfeinerter, elektronenmikroskopischer Techniken die Viren als noch kleinere Krankheitserreger identifiziert werden konnten und damit die seit Pasteur üblich gewordene Impftheraphie auf eine rationale Grundlage gestellt wurde? Versprechen nicht die ersten Erfolge der sich rasant entwickelnden Gentechnik künftig ungeahnte Möglichkeiten, die Lebenswelt völlig neu den menschlichen Bedürfnissen anzupassen? Die anfängliche Euphorie der ersten Pioniere dieser damals völlig neuen medizinisch-biologischen Denkweise mag man noch verstehen; heute ist sie längst der pragmatischen Einsicht gewichen, daß man mit derartiger hochtechnisierter Pharmazie und Diagnostik einfach glänzende Geschäfte machen kann. Zudem macht sich bei verantwortungsvollen Forschern da und dort ein erster Katzenjammer bemerkbar. Mehr und mehr wird nämlich deutlich, daß viele der vermeintlichen Triumphe naturwissenschaftlich orientierter Medizin bloße Pyrrhussiege waren und heute bereits in ihr Gegenteil umzuschlagen beginnen. Immer mehr schon für besiegt erachtete Krankheitserreger erweisen sich bereits als mehr oder weniger resistent gegen alle bekannten Antibiotika. Die Chemotherapie der Infekte wird zunehmend zu einem Kopf an Kopfrennen weltweiter Pharmakonzerne mit den sich rapide umgestaltenden Bakterien. Das Leben, in diesem Fall die Bakterien, entschlüpft der chemischen Keule. Gegenwärtig ist nicht abzusehen, wie diese Entwicklung aufgehalten werden könnte. Auch gibt es heute bereits einige Ärzte, die nicht mehr bereit sind, die heilige Kuh der modernen Medizin, die Impftherapie, anzubeten. Sie sind der Auffassung, daß Impfen nicht nur im allgemeinen keinen Schutz bietet, sondern sogar definitiv viele Menschen krank macht! Mit durchaus sachlichen Argumenten belegen sie, daß die folgenschweren und großen Seuchen der vergangenen Jahrhunderte bereits lange vor Einführung der Impfungen stark rückläufig waren, daß das Risiko eines Impfschadens heute zumeist größer als die Wahrscheinlichkeit eines bleibenden Gesundheitsschadens durch die betreffende Krankheit, und daß endlich Kinder besonders stark und häufig mit vielen Nebenwirkungen unter den prophylaktischen Impfungen leiden (5). Wieviel von dem sich erfüllen wird, was die moderne Gentechnik verspricht, wird die Zukunft weisen.

Die Widerlegung des klassischen Materialismus durch die moderne Physik

Der klassische Materialismus, wie er im 19. Jahrhundert groß geworden ist, und wie er heute besonders intensiv die Biowissenschaften prägt, führt, grob gesprochen, die ganze Welt der sinnlichen Erscheinungen, mithin auch die ganze Natur, auf winzige, gegenständlich gedachte Grundeinheiten, die Atome, zurück. Ihre gegenseitige Lage und ihre streng kausale Wirkung, die sie aufeinander ausüben, soll, zumindest im Prinzip, die ganze makroskopisch erscheinende Welt erklärbar machen. Nach den umwälzenden Ergebnissen der modernen Physik wird wohl kein ernsthafter Molekularbiologe unserer Zeit dieses Bild vollinhaltlich unterstützen, in der täglichen Forschungspraxis richtet er sich allerdings beinahe ausschließlich danach, mit dem Hinweis, daß die in der Physik entdeckten mikrophysikalischen Phänomene für den ihn interessierenden molekularen Bereich weitgehend irrelevant sind.

Mittlerweile mehren sich aber die Befunde, daß viele der in den subatomaren Regionen konstatierten Erscheinungen sich sehr wohl auch makroskopisch bemerkbar machen können – was übrigens eigentlich selbstverständlich ist, denn sonst könnte man sie nicht mit einem Meßinstrument feststellen, das notwendigerweise makroskopische Dimensionen hat! Jedenfalls scheinen derartige Phänomene wesentlich stärker in die sinnlich erfahrbare Welt hineinzuspielen, als man bisher angenommen hat.

Wie sieht also diese neue untersinnliche Welt aus, die sich den Physikern seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eröffnet hat? Wie Einstein bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts gezeigt hat, gibt es keinen absoluten, für sich bestehenden Raum und auch keine absolute Zeit, wie sie beide noch Newton postuliert hatte und wie sie zur Grundlage der klassischen Physik geworden sind. Raum und Zeit sind unmittelbar und untrennbar an die in ihnen erscheinenden Gegenstände gebunden. Der Begriff des leeren Raumes, des absoluten Vakuums, ist für den modernen Physiker undenkbar geworden. Dieser vermeintlich leere Rahmen, in dem die gegenständlich gedachten Atome, geleitet durch streng mechanistische Gesetze, herumfliegen sollen, stellt sich für ihn als von fluktuierenden, erscheinenden und verschwindenden Energien gesättigtes Spannungsfeld dar. Aus diesem Meer brodelnden Werdens und Entwerdens heben sich die Atome, oder besser die sie konstituierenden Elementarteilchen als verhältnismäßig stabile Inseln hervor. Seit Einstein ist klar, daß es die unzerstörbare ewige Materie nicht gibt. Materie kann in reine Energie aufgelöst werden, ebenso wie Energie zeitweilig sich gleichsam zu einer materiellen Erscheinung verdichten kann. Was aber ist überhaupt "Materie", wie kann man sie sich überhaupt vorstellen? Jedenfalls nicht gegenständlich! Das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis der modernen Physik! Aus unseren alltäglichen Erfahrungen wissen wir, daß sich dort, wo ein Körper ist, nicht gleichzeitig ein anderer Körper befinden kann. Nicht so in der atomaren Welt! Unter bestimmten Bedingungen können sich an ein und demselben Ort hunderte, sogar tausende Atome gleichzeitig aufhalten (sog. Bose-Einstein-Kondensat).Es ist nur einem für die die Atome mit aufbauenden Elektronen gültigen Ausschließungsprinzip (Pauli-Prinzip) zu danken, daß Atome überhaupt räumlich erscheinen können und sich dadurch als relativ voneinander separierte Objekte erfassen lassen und so etwa die für den Chemiker erkennbare Struktur eines Moleküls bilden (ein Molekül wird ja allgemein als räumliche Anordnung miteinander verbundener Atome aufgefaßt). Tatsächlich gibt es bereits Chemiker, die bezweifeln, daß Moleküle in jedem Fall als räumlich Gestalt erscheinen müssen (6). Daß Atome jedenfalls keine gewöhnlichen räumlichen "Dinge" sind, zeigt sich noch an etwas anderem: räumliche Gegenstände, so sind wir überzeugt, können nicht zugleich an zwei verschiedenen Orten erscheinen. Atome tun in gewisser Weise genau das. Bestrahlt man Atome mit Licht geeigneter Farbe, so kann man sie in einen sog. "angeregten Zustand" versetzen. Sie haben dann Lichtenergie aufgenommen und sind dadurch sozusagen energiereicher geworden. Der ursprüngliche unangeregte Zustand ein und desselben Atoms müßte dadurch zumindest zeitweilig verschwunden sein. Tatsächlich ist es aber bereits experimentell gelungen, den angeregten und den unangeregten Zustand des selben Atoms gleichzeitig an verschiedenen Orten erscheinen zu lassen. Atome kommt eben überhaupt keine Realität im herkömmlichen Sinne zu, wenn diese dinghaft, d.h. räumlich gegenständlich verstanden wird, was der Ausdruck "Realität" aber geradezu suggeriert (Realität leitet sich ja von lat. Res = Sache ab und hängt eng mit resistent, d.h. Widerstand bietend zusammen, was für feste räumliche Körper typisch ist). Sie sind nichtsdestoweniger untersinnliche Wirklichkeiten, die ihre physikalisch einwandfrei konstatierbaren Wirkungen in die räumliche Welt erstrecken – und wie eben gezeigt, gelegentlich auch gleichzeitig an verschiedenen Orten! Was uns also die moderne Physik lehren kann, ist, daß es Wirklichkeiten geben kann, die nicht im räumlichen Dasein beschlossen liegen. Der alte Teilchenbegriff, der die Atome als räumlich eingrenzbare Gegenstände beschreibt, hat ausgedient:

"Der Teilchenbegriff der neuzeitlichen Physik, der nichts anderes als eine Variante des Substanzbegriffes der traditionellen Metaphysik ist, erweist sich somit als ein Konzept, das letztlich ungeeignet ist, um die experimentellen Befunde der Teilchenphysik zu erklären." (7)

Konsequent spricht daher Herbert Pietschmann, Ordinarius für theoretische Physik an der Universität Wien, vom "Aufbruch in neue Wirklichkeiten" (8). Diese Wirkungen erfolgen aber nicht, und das ist wiederum ein typischer Zug der neueren Physik, auf kausale Weise, d.h. sie sind nicht nach dem Prinzip "Ursache und Wirkung" zu verstehen. Es ist geradezu charakteristisch für die atomaren und subatomaren Erscheinungen, daß sie vielfach spontan erfolgen, d.h. daß räumliche Wirkungen ohne räumlich feststellbare Ursachen erfolgen. Der spontane radioaktive, durch keine äußeren Ursachen beeinflußbare Zerfall von Atomkernen ist dafür das bekannteste Beispiel. Zudem hat man es in der subatomaren Welt, und das ist vielleicht überhaupt das erstaunlichste Ergebnis der neueren physikalischen Forschung, niemals mit lokalen, d.h. räumlich streng begrenzten Wirkungen zu tun. Beeinflußt man ein Atom bzw. Elementarteilchen (wobei der Ausdruck "Teilchen" nach den obigen Ausführungen sehr mit Vorsicht zu genießen ist!) auf irgendeine Weise, so ist damit eine unmittelbare und völlig zeitlose Wirkung auf alle Elementarteilchen des gesamten Universums verbunden. In der so ausgesprochenen Totalität läßt sich das natürlich nicht experimentell überprüfen, aber einzelne Beispiele für derartige nichtkausale Fernwirkungen gehören heute bereits zum festen Bestand der modernen Physik.

Fassen wir es mit den Worten von Hans-Peter Dürr, Physiker und langjähriger geschäftsführender Direktor des Max-Plank-Instituts für Physik und Astrophysik in München, zusammen:

"Der Bruch in unserem Verständnis der Wirklichkeit, den die neue Physik fordert, ist radikal. Deutet diese Physik doch darauf hin, daß die eigentliche Wirklichkeit, was immer wir darunter verstehen, im Grunde keine Realität im Sinne einer dinghaften Wirklichkeit ist...

Die <Unschärfe> (d.h. die nichtkausale Natur der atomaren Phänomene; d. Verf.) ist Ausdruck einer holistischen, einer ganzheitlichen Struktur der Wirklichkeit...

So steht das Getrennte (etwa durch die Vorstellung isolierter Atome) nach neuer Sichtweise nicht am Anfang der Wirklichkeit, sondern näherungsweise Trennung ist mögliches Ergebnis einer Strukturbildung, nämlich: Erzeugung von Unverbundenheit durch Auslöschung im Zwischenbereich (Dürr 1992). Die Beziehungen zwischen Teilen eines Ganzen ergeben sich also nicht erst sekundär als Wechselwirkung von ursprünglich Isoliertem, sondern sind Ausdruck einer primären Identität von allem. Eine Beziehungsstruktur entsteht also nicht nur durch Kommunikation, einem wechselseitigen Austausch von Signalen, verstärkt durch Resonanz, sondern gewissermaßen auch durch Kommunion, durch Identifizierung...

Die holistischen Züge der Wirklichkeit, wie sie in der neuen fundamentalen Struktur der Materie zum Ausdruck kommen, bieten hierbei die entscheidende Voraussetzung dafür, daß die für uns wesentlichen Merkmale des Lebendigen dabei nicht zu mechanistischen Funktionen verstümmelt werden." (9) – genau das geschieht aber gegenwärtig in der Molekularbiologie und Genetik!

Eine verwirrende Fülle völlig ungewohnter Phänomene hat uns so die moderne Physik, die weit in den untersinnlichen Bereich vorgedrungen ist, geliefert. Das Leben selbst, dem wir auf der Spur sind, wird sich daraus wohl auch nicht unmittelbar erklären lassen. Aber immerhin liefert die gegenwärtige Physik ein Bild der Materie, das sich fundamental von den veralteten materialistischen Anschauungen unterscheidet. Der streng kausale Determinismus der mechanischen Weltanschauung ist gründlich hinweg gefegt worden und damit ist vielleicht der Weg dafür frei, zu erkennen, wie die eigentlichen Bildekräfte des Lebendigen die derart plastizierbar gewordene Materie ergreifen und gestalten, wie letztlich der ganze Kosmos daran beteiligt ist, die einzelnen irdischen Naturerscheinung hervorzubringen!

Das Lebendige und das Tote – wodurch unterscheiden sie sich grundsätzlich?

Das Tote

Scharf begrenzte, starre feste Gegenstände entsprechen am ehesten der Vorstellung eines toten Körpers. Von sich aus verändern sie weder ihre Form, noch geraten sie von selbst in Bewegung, sie bedürfen dazu stets einer äußeren Ursache, die kausal auf sie einwirkt (das aus der klassischen Physik bekannte Trägheitsprinzip). Tote Körper können zu komplexeren Gebilden zusammengesetzt werden, deren starre Bestandteile gegeneinander beweglich sein können. Bewegt werden können sie aber nur von einem Kraftzentrum aus, das die ansonsten toten Teile in Schwung hält. Die mechanische Uhr mit ihrem Räderwerk und der aufgezogenen Feder als Kraftzentrum oder die Dampfmaschine sind typische Beispiele für derartige Maschinen. Weitgehend tot sind also alle festumgrenzten Körper, sowie alles das, was sich durch Zusammenfügung aus ihnen konstruieren läßt. Die Form, in der dies geschieht, ist den festen Bestandteilen nicht immanent, sondern sie muß von ihnen von außen, vorwiegend durch den Menschen, aufgeprägt werden. Aus einer bestimmten Menge Messingblech entstehen nicht von selbst Zahnräder, und sie fügen sich auch nicht von selbst etwa zu einer Uhr zusammen.

Die Form eines toten Gegenstandes ist nicht aus seinen Bestandteilen oder seiner materiellen Beschaffenheit ableitbar, sie muß ihm von außen aufgeprägt werden.

Dem scheint zu widersprechen, das Salze, wenn sie aus einer Lösung kristallisieren, sich ihre Form selbst geben. Kochsalz etwa, das sich aus einer übersättigten wäßrigen Lösung absetzt, nimmt stets wie von selbst die unverwechselbare Würfelform an. Eisenkies (Pyrit), das bekannte goldgelbe "Katzengold" bildet Würfel, Oktaeder oder verzerrte Pentagondodekaeder. Wenn dieses Mineral also sich auch sehr formenreich zeigt, so treten doch bestimmte unverwechselbare Gestalten immer wieder wie von selbst hervor. Und entsprechen nicht die durch ganz klare geometrische Flächen begrenzten Kristalle am ehesten unserer Vorstellung eines toten Gegenstandes? Aber gerade hier trügt der Schein am meisten: wenn der Kristall, um seine charakteristische Form anzunehmen, nicht von außen her gestaltet werden muß, dann ist das gerade ein Zeichen, daß er, zumindest in seinem Entstehungsprozeß, nicht völlig tot sein kann, sondern von einer in gewissem Maße lebendigen Gestaltungskraft ergriffen wird, die aber nicht kausal von außen wirkt, wie etwa wenn ein Bildhauer eine Statue meißelt. Andererseits, und das wird viele überraschen, kann die Kristallform auch nicht aus der materiellen Beschaffenheit des Minerals abgeleitet werden. Die Tatsache, daß beispielsweise Pyrit chemisch betrachtet aus Eisensulfid besteht, erklärt nicht, warum das "Katzengold" in Würfeln, Oktaeder oder Pentagondodekaedern kristallisiert. Aus der durch Analyse gewonnenen chemischen Formel läßt sich die dem Auge wahrnehmbare makroskopische Kristallgestalt nicht deduzieren! Die äußeren Bedingungen, unter denen Pyrit kristallisiert, etwa Klima, Bodenbeschaffenheit, Temperatur usw. beeinflussen zwar, ob eher Würfel oder Oktaeder usw. entstehen, d.h. sie modifizieren das Erscheinungsbild des Kristalls, seine unverwechselbare Charakteristik erklären können aber auch sie nicht. Man nenne einem Chemiker eine bestimmte chemische Formel, sowie die Bedingungen, unter denen die zugehörige Substanz kristallisieren soll und bitte ihn, daraus die sich bildende Kristallform rational abzuleiten – er wird dazu nicht fähig sein. Er wird vielleicht gewisse Aussagen über die sich bildende Nahordnung treffen können, die durch kausale Wechselwirkung der materiellen Bestandteile entsteht - das sog. Kristallgitter läßt sich in einfachen Fällen derart begreifen – die äußere Gestalt, der Kristallhabitus des ganzen Kristalls aber nicht! Tatsächlich tritt uns in der Kristallisation der Prozeß des Sterbens, durch den Lebendiges in Totes übergeht, am reinsten vor Augen. Solange der Kristall noch im Werden und Wachsen ist, ist er von gestaltenden Lebenskräften durchzogen, und je mehr dieser Prozeß fortschreitet, desto mehr stirbt das Lebendige in die erstarrte tote Form hinein und hält dadurch gleichsam die Spuren des tätig gewesenen Lebens fest. Wie eng diese den Kristall bildenden Formkräfte mit denen die Pflanzenwelt gestaltenden verwandt sind, zeigt sich deutlich, wenn sich etwa Salzkristalle aus einer dünnen Schicht stark verdünnter Lösung abscheiden, oder auch wenn Wasserdampf an einer kalten Scheibe zu Eis erstarrt. Im letzteren Falle entstehen die bekannten Eisblumen, die ganz deutlich vegetative Wachstumskräfte widerspiegeln. Isolierte fertige Kristalle sind also, so kann man sagen, tote Gegenstände, die aber noch die Spuren ihres lebendigen Werdens an sich tragen. Nur glasartig erstarrte, amorphe Körper zeigen auch diese Spuren nicht mehr, obwohl auch sie aus einem lebendig fließenden Prozeß hervorgegangen sind. Das Tote ist durch seine materielle Beschaffenheit ausreichend charakterisiert. Die äußere Form, die es aufweist, hat mit seinem inneren Wesen nichts zu tun, sie ist ihm von außen aufgeprägt. Für das Lebendige ist gerade die materielle Zusammensetzung von geringer Bedeutung (bezeichnender Weise ist die biochemische Grundausstattung aller irdischen Lebewesen nahezu identisch), dafür ist die ihm eigene Form ausschlaggebend. Eine Rose besteht aus nicht viel anderem als eine Tulpe, aber in ihrer lebendig sich entfaltenden Form unterscheiden sie sich ganz wesentlich. Damit Lebendiges sinnlich erscheinen kann, muß es sich zwar mit Stofflichem durchdringen, mit seinem eigentlichen Wesen hat dieses aber nichts zu tun.

Für das Tote ist der Stoff grundlegend, für das Leben ist die sich entwickelnde Form wesentlich.

Läßt sich schon die Gestalt eines Kristalls aus seiner stofflichen Grundlage nicht herleiten, so gilt das noch mehr für lebendige Wesen wie Pflanzen, Tiere oder gar Menschen. Die äußere Erscheinungsform eines Lebewesens läßt sich nicht aus seiner genetischen Ausstattung ableiten, wie manche populäre Darstellungen suggerieren. Oftmals wird ja geradezu der genetische Code als "Bauplan" des Lebewesens apostrophiert. Aber man gebe einem Molekularbiologen den gesamten genetischen Code eines bestimmten Lebewesens; er wird daraus dessen äußere Gestalt nicht einmal annähernd ableiten können. Die in der DNS gespeicherte Information stellt nicht viel mehr als eine Materialliste der von einem Lebewesen benötigten Eiweißstoffe dar:

"Kaum jemand bestreitet, daß selbst die vollständige Kenntnis der genetischen Ausstattung eines Organismus bei weitem nicht dafür ausreichen würde, seine Eigenschaften vorauszusagen.", meint die Zoologin Ellen Baake (10).

Und J. T. Fraser präzisiert in seinem lesenswerten Buch "Die Zeit – vertraut und fremd":

"Entgegen der Annahme, daß gewisse körperliche Kennzeichen in den Genen verankert seien, vermitteln diese wunderbaren tanzenden Dinge nicht vom <<Vater die Statur, vom Mütterchen die Frohnatur>>. Nirgendwo ist im Verlauf und beim Kopieren der ursprünglichen Melodie etwas darüber gesagt worden, wie eine Zelle gebaut ist, ganz zu schweigen vom Körper. Das ursprüngliche Lied wird mit vielen Veränderungen nur als Fahrplan gebraucht, das den Ribosomen zeigt, wie und in welcher Reihenfolge sie Aminosäuren lehren können, einer bestehenden Umwelt Komponenten zu entnehmen, damit sie Proteine herstellen können." (11)

Daß in den Molekülen der DNS die Information über die für ein Lebewesen wesentlichen Proteine gespeichert werden und bei Bedarf abgerufen werden kann, ist ein unbestreitbares, wissenschaftlich gut erforschtes Faktum. So wie auf einem Tonband Beethovens Neunte Symphonie oder ein Rockkonzert festgehalten werden kann, so können auch die unterschiedlichsten Eiweißstoffe in der DNS codiert werden. Die Kenntnis dieses Speicherungsmechanismus sagt aber nichts über den eigentlichen Inhalt der gespeicherten Information aus, genauso wie man, wenn man die Funktion eines Tonbandgerätes auch noch so genau kennt, nichts über die damit gespeicherte Musik aussagen kann. Beethovens Neunte läßt sich aus den Konstruktionsplänen des Tonbandgerätes niemals ableiten. Daher sagt Bernd-Olaf Küppers ganz richtig:

"Naturgesetzlich erklären läßt sich daher nur das >>Dasein<< biologischer Strukturen, nicht aber ihr >>Sosein<<. Das >>Sosein<< spiegelt die historische Einzigartigkeit lebender Systeme wider und entzieht sich prinzipiell einer naturgesetzlichen Beschreibung. Dies bedeutet: Der Ursprung biologischer Information läßt sich zwar als allgemeines Phänomen erklären, die biologische Information ist jedoch nicht in ihrem konkreten Inhalt aus den Gesetzmäßigkeiten der Physik und Chemie ableitbar." (12)

Genau diesen konkreten Inhalt müssen wir aber erfassen, wenn wir verstehen wollen, wie sich das Leben in seinen einzelnen physischen Erscheinungen manifestiert. Es geht uns, um bei der Metapher zu bleiben, weniger um das Tonband, als vielmehr um die Musik, die darauf festgehalten wird. Moderne Biologen gleichen mehr Tonbandkonstrukteuren als Musikern, d.h. sie verstehen einigermaßen die physikalischen und biochemischen Mechanismen, deren sich das auf Erden verkörperte Leben bedient, nicht aber das Leben selbst. Damit soll die Bedeutung dieser Forschungen keineswegs geschmälert werden, aber wir müssen uns bewußt bleiben, was sie uns liefern können und was nicht!

Das Lebendige

Vorhin wurde betont, daß für das Tote der Stoff, für das Lebendige aber die dynamisch sich entwickelnde Form maßgebend ist. Allerdings ist auch der toteste Stoff niemals ganz ohne Form, wenngleich ihm diese auch nicht wesenseigen, sondern bloß akzidentiell ist, so wie uns anderseits die lebendige Form sinnlich niemals ohne Stoff erscheint. Dennoch wollen wir die kühne Frage aufwerfen, ob eine reine Formkraft völlig abseits des Stofflichen existieren kann. Wir hätten es dann mit dem reinen Leben selbst zu tun. Sinnlich wahrnehmbar kann es dann freilich nicht sein, denn sinnlich erscheint die Form eben nur am Stoff (aber keineswegs aus dem Stoff, wie wir eben gesehen haben). Ist das Leben, um es mit philosophischen Begriffen auszudrücken, substantiell? Unter Substanz darf man nun aber nicht bloß etwas Materielles verstehen, wie es heute meist geschieht, sondern man muß auf den ursprünglicheren Substanzbegriff rekurrieren, wie er noch im Spätmittelalter durchaus gängig war.

Substanz ist derart das "was durch und in sich selbst ist, nicht durch ein anderes oder an bzw. in einem anderen." (13)

Kann es also die reine lebendige Form abseits und unabhängig vom Stoff geben? Was dem gegenwärtigen Menschen zunächst paradox, geradezu abstrus erscheinen mag, kann aber sehr leicht durch ein geradezu alltägliches Phänomen erhärtet werden, das aber nur in seiner Aussagekraft viel zu wenig beachtet wird. Nehmen wir das Licht, das von leuchtenden Körpern, etwa von der Sonne oder von einer Glühlampe ausstrahlt und die gegenständliche Welt erhellt. Durch das Licht erscheint uns die Welt in unzähligen sinnlich wahrnehmbaren Farben. Aber hat schon jemand mit sinnlichen Augen das Licht selbst, unabhängig von allen materiellen Körpern gesehen? Mit den Sinnen erkennt man leuchtende und beleuchtete Körper, das Licht, das sich zwischen ihnen ausbreitet, sieht man mit Augen nicht! (14) Der ganze Kosmos ist vom strahlenden Licht tausender Sterne erfüllt, und dennoch erscheint er uns tiefschwarz als absolute Finsternis. Die leuchtenden Sterne nehmen wir wahr, nicht aber die Lichtfülle, die sie in das All ergießen! Nicht das Licht selber sehen wir also, sondern nur seine Wirkungen am Stoff. Und diese Wirkungen sind die uns sinnlich gegenwärtigen Farben. "Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden." (15), sagt Goethe. Wer einwenden mag, daß aber das Licht immerhin nur von materiellen Körpern hervorgebracht, ausgestrahlt werden könne, der wird von der modernen Physik eines besseren belehrt. Gegenwärtig entspringt das Licht zwar zumeist materiellen, leuchtenden Körpern, aber es gab einmal eine Zeit, wo die Welt gleichsam nur aus Licht, jetzt im allerweitesten Sinne genommen, bestand. Und erst allmählich hat sich das Licht, die Lichtenergie, d.h. das tätige Licht, teilweise zu materiellen Erscheinungen verdichtet, und Materie kann jederzeit wieder in Licht aufgelöst werden. Das steckt ja schon in Einsteins berühmter Formel E = mc2, die auf sehr abstrakte Weise aussagt, daß Materie und Energie wechselseitig ineinander verwandelt werden können. Das Licht ist eine primäre Wirklichkeit, die Materie erst eine sekundäre. Das Licht bedarf also keineswegs der stofflichen Grundlage, um existieren zu können. Es ist eine, allerdings übersinnliche, Wirklichkeit, die "durch und in sich selbst ist, nicht durch ein anderes oder an bzw. in einem anderen", d.h. das Licht ist substantiell! Diese immaterielle Substanz hat Rudolf Steiner den Lichtäther genannt, der aber nicht mit dem Lichtäther verwechselt werden darf, wie ihn die klassische Physik bis zum Anfang unseres Jahrhunderts angenommen hat. Physikalisch dachte man sich diesen Äther als äußerst feine, aber letztlich räumliche, materielle Substanz – und diese Vorstellung hat sich schließlich als mit den physikalischen Tatsachen unvereinbar erwiesen. Der Lichtäther, von dem Rudolf Steiner spricht, ist aber keine noch so fein geartete räumliche und materielle Substanz, sondern eine übersinnliche und überräumliche Wirklichkeit, die aber ihre sinnlich sichtbaren Wirkungen in Form der Farben in die räumliche Welt hineinsendet. Wenn derart das Licht als übersinnliche ätherische Substanz angesehen werden darf, ja muß, erscheint es dann noch immer so undenkbar, daß Ähnliches auch für das Leben, für die lebendige Formkraft gelten könnte. Das Leben selbst sehen wir mit unseren Sinnen nicht, aber seine Wirkungen werden wir gewahr in der sich lebendig gestaltenden Natur! Die lebendigen Formen, die uns in der Natur sinnlich erscheinen, sind Taten und Leiden des Lebens, so könnte man in Anlehnung an Goethe sagen.

Neben dem Lichtäther weist Rudolf Steiner immer wieder auch auf einen derartigen Lebensäther hin, und zwischen beide schiebt sich noch der sog. Klangäther ein. Von diesem Klangäther kann man sich eine recht gute Vorstellung durch das Phänomen der "Chladnischen Klangfiguren" machen. Man nimmt eine dünne Metallplatte, bestreut sie gleichmäßig mit feinem Staub und streicht sie mit einem Geigenbogen derart an, daß sie zu klingen und schwingen beginnt. Dann beginnt sich der feine Staub auf der Oberfläche sogleich zu ganz charakteristischen hochsymmetrischen Mustern zu ordnen, die von der angeregten Tonhöhe und von den spezifischen Dimensionen der Platte abhängen. Je größer die Tonhöhe ist, desto komplexer werden die entstehenden Muster, in denen sich die dynamischen Schwingungsformen der Metallplatte abbilden. Das Muster hängt aber selbstverständlich auch davon ab, ob man etwa eine quadratische, kreisrunde, oder irgendwie anders geformte Platte anstreicht. Der reine Klang selbst ist nichtstofflicher, ätherischer Natur, aber wo er den Stoff ergreift, erscheint er in harmonisch räumlich geordneten Schwingungen. Man sieht deutlich, daß sich hier der Übergang zu einem ätherischen formbildenden Prinzip eröffnet. Klangformen sind stets hochgradig symmetrisch, wie es ähnlich in der Natur die Kristallformen sind. Tatsächlich werden Mineralien vorwiegend durch Klangätherkräfte gestaltet. Pflanzen, Tiere und Menschen zeigen in ihrer Gestalt auch vielfach symmetrische Formen, noch typischer ist für sie aber, daß diese Symmetrie häufig auch radikal gebrochen wird, wodurch noch komplexere, eben lebendige Formen hervortreten. Die Blüte, für sich genommen, ist streng symmetrisch; am unteren Pol der Pflanze tritt ihr aber die Wurzel entgegen, die völlig anders gestaltet ist. Dazwischen entfalten sich die vielfältigen Laubblätter, die wiederum jeweils für sich genommen viele Symmetrieelemente aufweisen, aber weder mit Wurzel noch Blüte unmittelbar zur Deckung gebracht werden können. Ein durchgreifend asymmetrischer Gestaltungszug ist der Lebenswelt eigen, der bis in die materiellen Bestandteile der Lebewesen hineinwirkt. So bilden etwa nur die sog. linksdrehenden Aminosäuren das lebendige Eiweiß, während die dazu spiegelbildlichen rechtsdrehenden für das Leben praktisch keine Rolle spielen.

Damit eine räumlich ausgedehnte Form sinnlich erscheinen kann, müssen die ätherischen Bildekräfte die stoffliche Welt ergreifen.

Die ätherischen Formbildekräfte sind nicht räumlicher, sondern zeitlicher Natur.

Die musikalischen Klänge lassen uns das deutlich erkennen. Eine Melodie hat keine räumliche Gestalt, sie entfaltet sich im Zeitlauf, sie ist eine Zeitgestalt. Und erst wenn der Klang den Stoff ergreift und zum Schwingen bringt, entstehen sekundär auch räumliche Figuren. Indem wir derart die Ätherkräfte verstehen lernen, nähern wir uns zugleich auch dem Wesen der Zeit, und da mag immerhin auch folgendes interessant sein: aus Einsteins zugegebenermaßen hochabstrakten Relativitätstheorie folgt, daß das gesamte Universum aus der Perspektive des mit Lichtgeschwindigkeit den Raum durcheilenden Lichts zu einem ausdehnungslosen Punkt zusammenschrumpft, daß also der Raum gleichsam raumlos wird. Zugleich steht die Zeit still. Anfang und Ende des Universums sind derart für das Licht gleichzeitig gegeben. Die Wärme andererseits, die ebenfalls nicht stofflicher, sondern ätherischen Ursprungs ist, hängt nach Ansicht der Physik (Zweiter Hauptsatz der Wärmelehre = Entropiesatz) mit dem uns gewohnten Zeitpfeil zusammen, d.h. damit, daß für uns die Zeit von der Vergangenheit in die Zukunft fließt. Tritt man aber in den Bereich des Klangäthers und des Lebensäthers über, dann kehrt sich die gewohnte Zeitrichtung sogar um; die Zeit fließt uns nun von der Zukunft her entgegen, und das ist höchst bedeutsam für alles Lebendige (in verzerrter Gestalt trat das in der Physik als hypothetisch angenommene "Tachyionen" zutage; das sind "Teilchen", die schneller als das Licht sind und sich dadurch in der Zeit rückläufig bewegen). Was als sinnliche Erscheinung sich erst in der Zukunft zeigen wird, ist dadurch in gewissem Sinne schon in der Gegenwart ätherisch wirksam. So arbeitet etwa das Formprinzip, das später einmal die Blüte erscheinen lassen wird, schon immanent an der Gestaltung der Wurzeln mit. In jedem Lebewesen begegnen einander zwei Zeitströme, einer, der aus der Vergangenheit kommt, und einer, der ihm aus der Zukunft entgegenwirkt. Und indem sie ineinanderströmen, stauen sie sich zu der lebendigen Zeitgestalt auf, die jedes Lebewesen charakterisiert.

Im Sinne Rudolf Steiners, und übereinstimmend mit den in der Natur zu beobachtenden Phänomenen können wir also zunächst drei ätherische Substanzen unterscheiden:

Lebensäther die Zeit fließt von der Zukunft der Vergangenheit entgegen

Klangäther

Lichtäther die Zeit steht still

Wärmeäther die Zeit fließt von der Vergangenheit in die Zukunft

In diesem Zusammenhang darf vielleicht auch der mittlerweile in weiteren Kreisen recht populär gewordene, aber in Fachkreisen noch wenig anerkannte Biologe Rupert Sheldrake genannt werden. In einer Reihe von Büchern hat er seine Idee der sog. "morphischen Felder" ausgearbeitet, die er als immaterielle formbildende Kräfte ansieht. Wenn diese Hypothese auch im Detail noch nicht bis zur völligen wissenschaftlichen Klarheit gereift ist, so hat sie doch einige bemerkenswerte Züge. Sheldrake sieht in diesen morphischen Feldern nämlich nicht nur formbildende Ursachen, sondern sie stellen ihm zugleich eine Art Gedächnis der Natur dar. Je öfter sich bestimmte Formen in der Natur manifestieren, um so intensiver wird auch das ihnen zugeordnete morphische Feld und um so leichter kann diese Form künftig realisiert werden. Im Labor synthetisierte völlig neuartige Stoffe lassen sich, wie die Erfahrung der Chemiker vielfach zeigt, nur sehr schwer in die kristalline Form überführen. Je öfter dann aber doch eine derartige Kristallisation gelingt, um so müheloser kann sie künftig zustande gebracht werden. Sheldrake schlägt eine Reihe von Experimenten (16) vor, die das bestätigen sollen. Sheldrake spricht in diesem Zusammenhang geradezu von einer "Gewohnheitsbildung" in der Natur.

"Das Neue an der Hypothese der Formenbildungsursachen besteht in der Idee, daß die Struktur dieser Felder nicht von transzendenten Ideen oder zeitlosen mathematischen Formeln bestimmt ist, sondern sich aus den tatsächlichen Formen ähnlicher Organismen der Vergangenheit ergibt. So werden etwa die morphogenetischen Felder von Fingerhutpflanzen durch Einflüsse geformt, die von früheren Fingerhutpflanzen ausgehen; sie bilden eine Art kollektiver Erinnerung dieser Art. Jedes Exemplar der Art wird von Art-Feldern geformt, gestaltet selbst aber auch diese Artfelder mit und beeinflußt damit künftige Exemplare seiner Art." (17)

Sheldrake nennt dieses Phänomen "morphische Resonanz": Je ähnlicher ein Organismus früheren Organismen ist, desto stärker die morphische Resonanz, und je mehr solcher ähnlicher Organismen es in der Vergangenheit gegeben hat, desto stärker ist ihr kumulativer Einfluß; das morphische Feld wird dadurch stabilisiert. Es handelt sich dabei also um eine Raum und Zeit übergreifende Wirksamkeit. Die morphische Resonanz spielt laut Sheldrake aber nicht nur bei der eigentlichen Gestaltbildung eine Rolle, sondern hilft etwa auch, bestimmte Verhaltensformen zu festigen. Je öfter und je mehr Individuen einer Art in der Vergangenheit ein bestimmtes Verhaltensmuster eingeübt haben, desto leichter fällt es künftigen Exemplaren, dieses zu erlernen. Sheldrakes Hypothese wirft auch ein klärendes Licht auf die aus der Evolutionsforschung bekannten, aber wenig verstandenen sog. "prophetischen Formen", d.h. auf die Tatsache, daß bestimmte organische Formen und Funktionen im Zuge der stammesgeschichtlichen Entwicklung gleich mehrmals und völlig unabhängig voneinander, also ohne genetische Kontinuität, hervorgebracht wurden.

"Diese Erscheinung setzt die herkömmliche Evolutionsauffassung in die allergrößte Verlegenheit. Das berühmteste und doch immer noch nicht genügend durchgedachte Beispiel sind die geheimnisvollen Vorläufer der Säugetiere, die schon überaus zeitig – im Perm – auftauchen und in der Trias bereits wieder verschwinden; also lange ehe die eigentlichen Säugetiere (in der Kreide) sich entfalten." (18)

Daß bestimmte Formkräfte für die Zukunft nicht durch genetische Vererbung, sondern durch die immateriellen und von einer kontinuierlichen physischen Manifestation unabhängigen morphischen Felder gewährleistet wird, erscheint auch im Hinblick darauf nicht unplausibel, daß ohnehin, wie wir schon betonen mußten, kein rational nachvollziehbarer Weg von den Erbanlagen, den Genen, zur fertigen Gestalt eines Lebewesens führt.

Was Sheldrakes These allerdings keineswegs erklärt, ist, wie überhaupt die erste ursprüngliche Form einer Tier- oder Pflanzenart, oder auch nur eines Kristalls entsteht. Er beschreibt, wie Formkräfte für die Zukunft bewahrt und sogar intensiviert werden können, ihr Ursprung und ihr innerer gesetzmäßiger Gehalt bleibt völlig offen. Dem Leben selbst, d.h. der konkreten Bedeutung der vielfältigen Formkräfte, kommen wir dadurch nicht näher. Immerhin, und das sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, ist es für das Leben nicht unwesentlich, wie oft sich bestimmte ätherische Formen physisch ausprägen. Man darf also, wenn man sich Sheldrake anschließen will, nicht nur von einer gestaltbildenden Wirkung der Ätherkräfte auf den physischen Stoff sprechen, sondern man muß auch eine wesentliche Rückwirkung des physisch Hervorgebrachten auf die Ätherwelt annehmen. Sie gewinnt etwas hinzu, indem sie sich physisch realisiert.

Zentralkräfte und Universalkräfte

Die vorgefertigten starren Bestandteile eines toten Mechanismus werden von einer zentralen Kraftquelle bewegt. Er wird also durch Zentralkräfte beherrscht. Ein toter Gegenstand ist zugleich, wie wir gesehen haben, ein von seiner Umwelt weitgehend abgeschlossener räumlich begrenzter Körper, der, zumindest prinzipiell, unmittelbar und vollständig sinnlich wahrgenommen werden kann.

In der Lebenswelt sieht es ganz anders aus. Eine scheinbar paradoxe Frage kann uns den Sinn dafür eröffnen:

Kann ein Lebewesen sinnlich vollkommen erfaßt werden?

Kann man, um präziser zu werden, eine Rose oder eine Tulpe vollständig mit den Sinnen wahrnehmen. Natürlich, wird mancher vorschnell antworten, ich habe schon viele Rosen und Tulpen selbst gesehen, sowohl draußen im Garten als auch als duftender Strauß in der Vase. Daß die vom Rosenstrauch abgeschnittene Rose nicht mehr wirklich lebt, sondern schon mehr einem toten Gegenstand ähnelt, wird man noch leicht einsehen. Aber wie ist es mit der am Rosenstock selbst sich entfaltenden Rose? Sehe ich nicht unmittelbar das satte Rot ihrer Blüte, rieche ich nicht ihren Duft? Aber ein ganz anderes Bild zeigt sich, wenn ich im Winter in den Garten trete; nur kahles verholztes Geäst erschaut dann mein Auge. Wieder anders im Frühjahr, wenn sich die ersten rötlich-grünen Knospen zeigen, und später, wenn sich mehr und mehr die langen Triebe mit ihren grünen Laubblättern entfalten. Und endlich im Herbst, wenn die letzten Blüten verblüht sind, erscheint wieder nicht dasselbe Bild. Welches von ihnen ist die "Rose", und welches ist sie ganz? Zuerst einmal ist die lebendige Rose nur im Zusammenhang mit dem ganzen Rosenstrauch möglich, ich kann sie also nicht abgetrennt von diesem betrachten, wenn ich sie als lebendiges Wesen erfassen möchte. Um die Rose zu sehen, muß ich auf den Rosenstrauch schauen. Dieser entfaltet sich aber im Jahreslauf zu sehr verschiedenartigen Erscheinungen, die aber alle gesetzmäßig aufeinander bezogen sind. Und in keinem einzigen Augenblick darf ich sagen, daß das die ganze Rose wäre. Dann hätte ich nur ein einzelnes, für sich völlig unverständliches Bild aus einem sich lebendig entwickelnden Zeitorganismus herausgerissen. Unmittelbar mit den Sinnen wahrnehmen kann ich aber immer nur hier und jetzt. Mit Augen sehe ich heute diese Entwicklungsphase des Rosenstrauches, morgen eine andere, und keine von ihnen ist die ganze Rose, sondern sie lebt in allen zusammen. Nicht die starre momentane Form, sondern die lebendig sich verwandelnde Form macht das Leben aus! Unser sinnlicher Blick löscht also gerade das Leben der Rose aus und läßt sie uns als toten Gegenstand erscheinen. Dennoch sind wir uns sicher, daß die Rose lebt, aber nur deswegen, weil wir sie eben nicht nur heute sehen, sondern sie auch gestern und vorgestern usw. angeschaut haben und uns daran erinnern und so bemerken, wie sie sich selbsttätig verändert hat. Die Erinnerung hat zwar zu ihrem Inhalt vergangenes Sinnliches, aber dieses ist nicht unmittelbar gegenwärtig. Nicht indem ich sinnlich in die Welt schaue, sondern indem ich in mein Inneres blicke, erinnere ich mich. Zur äußeren sinnlichen Wahrnehmung muß also eine innere seelische Wahrnehmung treten, wenn wir Lebendiges verstehen wollen. Wie Goethe, der sich mit den Lebenserscheinung besonders intensiv und fruchtbar beschäftigt hat, diese Fähigkeit gepflegt hat, wird noch näher zu betrachten sein.

Ein weiterer Grund, worum Lebendiges nicht wie ein toter Gegenstand vollständig sinnlich erfaßt werden kann, ist folgender: die Lebenstätigkeit jedes lebendigen Wesens reicht weit über seine körperlichen Grenzen hinaus. Ein Pflanze braucht, um gedeihen zu können, Wasser und Salze aus dem Erdboden, sie bedarf des Kohlendioxids, daß sie der Atmosphäre entnimmt und in die sie den von ihr produzierten Sauerstoff verströmt und dadurch nachhaltig beeinflußt. Sie braucht für ihre Photosynthese aber auch das Sonnenlicht, das sich wiederum im Rhythmus der Jahreszeiten lebendig verändert, was aber wiederum mit dem sich wandelndem Verhältnis der Erde zur Sonne zusammenhängt. Nicht nur die ganze Erde mit ihrem Wasserkreislauf und ihrer Lufthülle, sondern die kosmischen Verhältnisse sind also an der lebendigen Entfaltung der Pflanze beteiligt. Und bei den Tieren ist es nicht viel anders. Zwar kann das Leben zeitweilig auch in relativ kleinen geschlossenen Ökosystemen erhalten werden, aber es ist dabei natürlich von den vielfältigen Einflüssen abgeschlossen, die das Leben durch die Jahrmillionen irdischer Entwicklung geformt haben.

Ein Lebewesen kann also niemals als abgeschlossener Gegenstand betrachtet werden, und es wird auch nicht von einer zentralen Kraftquelle belebt. Charakteristisch für jedes Lebewesen ist, daß es einen beständigen Stoff- und Energieaustausch mit seiner Umgebung pflegt, der bis in die kleinsten Fasern hineinwirkt. Eine Maschine braucht zwar auch Brennstoff und stößt Abgase aus, die eigentliche Struktur der Maschine nimmt aber daran nicht teil. Für jedes Lebewesen ist die beständige Wechselwirkung mit letztlich dem ganzen Kosmos essentiell, es wird gleichsam vom ganzen Weltumkreis her erhalten. Auch die innere Kraftentfaltung des Organismus erfolgt nicht von einem Zentrum aus, sondern von der Peripherie, von den einzelnen Zellen aus. Nicht das Herz pumpt das Blut durch den Organismus, wie die mechanistische Anschauung meint, sondern das lebendig strömende Blut schafft sich allmählich im Herzen ein Zentrum. Das zeigt schon die embryologische Entwicklung ganz deutlich: zuerst ist der Blutkreislauf da, dann erst das Herz -–und so für alle anderen Organe auch. Das Leben wird nicht von Zentral- sondern von Universalkräften, d.h. von der Peripherie her wirkenden Kräften beherrscht. Nicht die Analyse, die Zerlegung eines Lebewesens in seine Teile, kann uns sein lebendiges Dasein erklären, sondern nur der Blick in die ganze es umgebende Natur. Das heißt nicht, daß anatomische oder ähnliche Studien deswegen unnötig wären, aber sie zeigen nur das, was bereits aus dem Lebensprozeß herausgefallen ist und als toter Einschluß im Organismus weiterbesteht, durchaus oft zum Nutzen des Lebewesens, man denke etwa an das weitgehend tote Knochengerüst der Tiere und des Menschen. Goethe war dieser umfassende Blick eigen, durch den allein man sich dem Lebendigen nähern kann. Schiller charakterisiert diesen Wesenszug Goethes einmal so:

"Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen, in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen." (19)

Das Leben selbst läßt sich nur verstehen, wenn man den Blick in den Umkreis richtet und erkennt, wie sich im einzelnen Lebewesen der ganze umliegende Kosmos auf spezifische Weise abbildet. Die Bildekräfte des Lebendigen dürfen in diesem Sinn als bildschaffende Kräfte aufgefaßt werden. Allerdings handelt es sich dabei nicht um räumliche Abbilder des Kosmos, sondern, soviel dürfte aus dem bereits besprochenen Zeitcharakter der Bildekräfte schon klar geworden sein, um den räumlichen Abdruck rein zeitlicher Naturrhythmen – das wird im einzelnen noch zu verfolgen sein. Der physische, von Zentralkräften beherrschte Stoff stellt dabei das plastizierbare Rohmaterial dar, durch das sich die Zeitgestalt der Bildekräfte in einer lebendig sich wandelnden Folge räumlicher Formen offenbaren kann. Das reine substantielle Leben selbst ist ein völlig raumloses Zeitwesen; indem es sich aber physisch realisiert, erscheint es den Sinnen in der räumlichen Welt. Daher kann auch die physische Gestalt des Einzelwesens nur begriffen werden aus dem Zusammenfluß der ätherischen Universalkräfte mit den physischen Zentralkräften. Im Physischen entstehen dadurch Formen, die die stoffliche Welt von sich aus niemals hervorbringen könnte, aber auch die Ätherwelt wird, wie wir in Anlehnung an Sheldrake besprochen haben, bereichert.

Das Lebendige Das Tote

Umkreiskräfte Zentralkräfte

Goethes Methode, das Lebendige zu erfassen

Anschauende Urteilskraft

Die herkömmliche naturwissenschaftliche Methode beruht darauf, aus der Fülle der sich dem Auge darbietenden sinnlichen Erscheinungen einige wenige, möglichst quantitativ erfaßbare Daten auszusondern und zu sehen, ob sie sich in einen gedanklich abstrakt beschreibbaren Zusammenhang stellen lassen. Von den nicht quantifizierbaren Sinnesqualitäten selbst wird dabei weitgehend abgesehen, das Denken selbst ist bildlos. Wo immer möglich, wird nach einer exakten mathematischen Formulierung der Naturgesetze gesucht. Die Natur wird derart zuerst zu einem abstrakten Gebilde reduziert, über das man dann abgesondert nachdenkt, ohne wieder den Anschluß an das volle Naturwesen zu suchen. Das ist auch nicht anders möglich, wenn man die Natur quantitativ erfassen will, man würde sonst in einer unendlichen Datenflut ertrinken. Dementsprechend konzentriert man sich bei seinen Untersuchungen auch stets auf einen eng umgrenzten Bereich, von dem man annimmt, daß er näherungsweise vom Rest der Welt unabhängig ist und aus sich heraus allein verstanden werden kann.

Mit einer ganz anderen Gesinnung wendete sich Goethe der Natur zu. Gerade den unmittelbaren Sinneseindrücken widmete er seine volle Aufmerksamkeit; sein Denken entfernte sich niemals weit von der unmittelbaren Anschauung, ebenso wie sein Anschauen niemals gedankenlos war. Goethe nennt das die anschauende Urteilskraft. Er schreibt dazu in seinem Aufsatz "Bedeutende Förderung durch ein einziges geistreiches Wort" (20):

"Herr Dr. Heinroth in seiner Anthropologie ... spricht von meinem Wesen und Wirken günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine eigentümliche: daß nämlich mein Denkvermögen gegenständlich tätig sei, womit er aussprechen will, daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei, welchem Verfahren genannter Freund seinen Beifall nicht versagen will."

Im Gegensatz zum abstrakten Denken, das die gegenwärtige Naturwissenschaft kennzeichnet, darf man bei Goethe von einem sinnlich-konkreten Denken sprechen. Nur dadurch läßt sich aber die Natur ihrer Wirklichkeit nach erfahren. Wahrnehmung und Denken liefern jeweils für sich genommen nur eine Hälfte der Wirklichkeit, vollständig erfaßt wird sie erst, wenn sich Denken und Wahrnehmung durchdringen. Es ist der Grundirrtum der modernen Wissenschaft, daß sie in dem äußerlich Wahrnehmbaren, sei es direkt mittels der Sinne oder indirekt durch die verschiedensten Meßinstrumente, schon eine Wirklichkeit für sich sieht, von der sie sich ein gedankliches Abbild zu schaffen sucht. Die äußere Welt erscheint ihr objektiv und für sich selbst bestehend, die Gedanken, die sich der Mensch darüber bildet, werden als subjektiv betrachtet. Tatsächlich sind aber Subjekt und Objekt bloße Erscheinungen, die beide von der eigentlichen Wirklichkeit umgriffen werden. "Dem Denken ist jene Seite der Wirklichkeit zugänglich", sagt Rudolf Steiner, "von der ein bloßes Sinnenwesen nie etwas erfahren würde. Nicht die Sinnlichkeit wiederzukäuen ist es da, sondern das zu durchdringen, was dieser verborgen ist. Die Wahrnehmung der Sinne liefert nur eine Seite der Wirklichkeit. Die andere Seite ist die denkende Erfassung der Welt." (21) Das menschliche Erkenntnisvermögen ist eben so gestaltet, daß sich ihm die Wirklichkeit zunächst getrennt von zwei verschieden Seiten her erschließt, mithin solange bloße Erscheinung bleibt, bis er sie durch seine aktive geistige Tätigkeit vereinigt und so zur Wirklichkeit selbst durchbricht, die wie wir bereits gesehen haben, mehr umfaßt als die bloße dingliche Realität. Wie tief der Mensch in die Wirklichkeit der natürlichen Welt einzudringen vermag, wird davon abhängen, wie aufmerksam er ihre sinnliche Seite wahrzunehmen vermag, und wie viel er dem so sinnlich Wahrgenommenen durch sein mehr oder weniger reich entwickeltes Innenleben gedanklich entgegenzutragen vermag. Immer weitere Aspekte der Wirklichkeit können sich so dem Menschen eröffnen, je mehr er seine Beobachtungsgabe schult und je mehr er sein Innenleben bereichert. Ganz richtig sagt daher Goethe:

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  • "Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur
    Außenwelt, so heiß ich’s Wahrheit. Und so kann
    Jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist
    Doch immer dieselbige.
    "
    (22)
  • Durch passives Wahrnehmen allein kann die Natur nicht ihrer Wirklichkeit nach erfahren werden, sie will aktiv durch innere Tätigkeit ergriffen sein. Und dazu muß der Mensch innerlich seelisch die selben Schaffenskräfte rege machen, die in der Natur physisch gestaltend wirken.

    "Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert." (23)

    Der menschliche Verstand sei ein bloß diskursiver, hatte Immanuel Kant postuliert. "diskursiv (vom lat. discurrere, >>auseinanderlaufen<<) oder sukzessiv nennt man ein Denken, das von einer bestimmten Vorstellung zu einer bestimmten anderen logisch fortschreitet und das ganze Gedankengebilde aus seinen Teilen aufbaut. Im weiteren Sinne wird das Denken diskursiv genannt, insofern es begrifflich ist, im Gegensatz zur intuitiven Erkenntnis durch Anschauung." (24) Auf diese Art lassen sich zwar tote Mechanismen durch die kausale Wechselwirkung ihrer einzelnen Teile erklären, so lassen sich auch allgemeingültige Naturgesetze aufstellen, aber niemals kann aus diesen allgemeinen Gesetzen die einzelne besondere Naturerscheinung abgeleitet werden, sie muß demnach unserem Verstand als zufällig, als bloß entwicklungshistorisch bedingt erscheinen. Aus Newtons Gravitationsgesetz etwa läßt sich die allgemeine Bewegungsform eines die Sonne umkreisenden Körpers ableiten, wie viele Planeten aber die Sonne in welcher Entfernung begleiten, kann daraus nicht bestimmt werden. Die Natur muß sich zwar notwendig den allgemeinen Naturgesetzen fügen, aber nicht ihren besonderen Erscheinungsformen nach begreifen. Diese Denkweise bestimmt noch immer, ja sogar immer mehr die modernen Biowissenschaften. Der Biologe und Nobelpreisträger Jacques Monod hat in seiner mittlerweile klassisch gewordenen Schrift "Zufall und Notwendigkeit" (25) davon beredtes Zeugnis abgelegt.

    Immerhin hielt Kant auch eine andere Art des Verstandes für denkmöglich, wenn auch dem Menschen grundsätzlich unerreichbar:

    "Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum Besondern geht, d.i. vom Ganzen zu den Teilen; der also und dessen Vorstellung des Ganzen die Zufälligkeit der Verbindung der Teile nicht in sich enthält, um eine bestimmte Form des Ganzen möglich zu machen, die unser Verstand bedarf, welcher von den Teilen als allgemeingedachten Gründen zu verschiedenen darunter zu subsummierenden möglichen Formen als Folgen fortgehen muß. Nach der Beschaffenheit unseres Verstandes ist hingegen ein reales Ganze der Natur nur als Wirkung der konkurrierenden bewegenden Kräfte der Teile anzusehen." (26)

    Ein derartiges intuitives Erkenntnisvermögen nennt Kant auch "intellectus archetypus", d.h. einen urbildlichen Verstand. Goethe war sich bewußt, daß er gerade über ein solches sinnlich-übersinnliches urbildliches Anschauungsvermögen verfügte, das Kant dem Menschen grundsätzlich absprechen zu müssen glaubte. In seinem Aufsatz "Anschauende Urteilskraft" antwortet er auf die zitierte Stelle Kants:

    "Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen, so dürft‘ es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihrer Produktion würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen." (27)

    Wie sich Goethe zu dieser geistigen Teilnahme an den produktiven Kräften der Natur reif gemacht hat, soll uns im folgenden interessieren. Der urbildliche Charakter seine Forschungsmethode wird uns dann später noch beschäftigen und uns weit über das hinausführen, was Goethe zu erreichen vergönnt war.

    Exakte sinnliche Phantasie

    Es liegt, wie wir gesehen haben, im Wesen des Lebendigen, daß es nicht als fertige abgeschlossene Gestalt rein sinnlich erfaßt werden kann. Was sich dem sinnlichen Blick zeigt, ist nur ein winziger Ausschnitt einer sich entfaltenden Zeitgestalt. Um etwa die ganze sich durch verschiedene Formen lebendig wandelnde Pflanze mir gegenwärtig zu machen, muß ich mich auf meine Erinnerungsfähigkeit stützen. Nur in dem ich innerlich seelisch den vollständigen Werdegang der Pflanze in mir nachbilde, kann sich mir ihre vollständige Zeitgestalt offenbaren. Diese Erinnerungskraft, die mehr ist als das bloße momentane sinnliche Anschauen, hat Goethe ganz besonders gepflegt. Und das ist auch nötig, denn wie blaß und abstrakt, wie wenig detailgetreu ist doch zumeist unser alltägliches Gedächnis. Was wir uns seelisch innerlich von den vergangenen Geschehnissen wieder bewußt machen können, ist in der Regel nur ein schwacher Abklatsch des ursprünglichen unmittelbaren sinnlichen Erlebens, und obendrein meist noch ziemlich verfälscht; unser Gedächnis wird nämlich nur allzu schnell von den Phantasiekräften ergriffen, die das einstmals Erlebte vielfach umgestalten, und zwar um so eher, je bruchstückhafter die Erinnerung ist. Unbewußt neigen wir dazu, die Lücken in unserem Gedächnis höchst phantasievoll zu überbrücken, wodurch wir uns aber den Blick auf das, was wirklich war, verstellen. Wenn man das Lebendige auf wirklich exakte Weise erfassen will, dann muß das Gedächnis erzogen und verstärkt werden. Vorallem muß das abstrakte bildlose, bloß begrifflich orientierte Gedächnis zu einer wirklich vollgesättigten detailgetreuen inneren bildhaften Wahrnehmung werden, die an Intensität und Treue der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung so wenig als möglich nachsteht. Voraussetzung dafür, daß das überhaupt gelingen kann, ist, daß wir in unserem sinnlichen Anschauen viel aufmerksamer, viel wacher werden, als wir es im alltäglichen Leben sind. Gerade der Blick des modernen Menschen ist oft so flüchtig, daß er nur wenig von dem, was vor seinen Augen ausgebreitet ist, auch wirklich bewußt sieht. Vielmehr als wir ahnen, laufen wir als Halbblinde durch die Welt. Um etwas wirklich zu schauen, bedarf es eben nicht nur gesunder Sinne, sondern auch der aktiven seelischen Kraft, das den Sinnen Dargebotene zu ergreifen. Sehen lernen (und das Sehen gilt hier als Beispiel für alle anderen Sinneswahrnehmungen auch, von denen der Sehsinn nur der für uns hervorspringenste ist) muß also die erste Tugend sein, die es zu erwerben gilt. Schon das steht in ziemlichem Gegensatz zur gängigen naturwissenschaftlichen Methode, bei der die aufmerksame Wahrnehmung so weit wie möglich durch einen abstrahierenden Meßprozeß ersetzt wird. Gerade jene Teildisziplinen der Biologie, in denen dieses sinnige Schauen noch gepflegt wurde, wie etwa die Morphologie, werden zunehmend unbedeutend gegenüber dem molekularbiologischen Ansatz! So steht der moderne "Naturforscher" oft schon von Anfang an gar nicht vor der reichen Fülle der natürlichen Welt, sondern nur vor einem höchst abstrakten Ausschnitt der selben. Und notwendig entwickelt sich dann auch die wissenschaftliche Theorienbildung weit abseits der direkten sinnlichen Anschauung. Die "Anschauende Urteilskraft" wird so gerade nicht entwickelt. Nur wenige modernere Naturforscher gingen teilweise in eine ähnliche Richtung, wie beispielsweise der bekannte Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der aber insgesamt sehr zwiespältig zu beurteilen ist. Insofern seine Forschungen auf einer derartigen "Gestaltwahrnehmung" (28) beruhten, haben sie großartige Tatsachen zutage gefördert, die er aber vielfach auf Grundlage der Philosophie Kants, an dessen Wirkungsstätte in Königsberg auch Lorenz lange tätig war und mit dessen Denken er sich viel beschäftigt hatte, vollständig mißinterpretiert; ein wesentlicher Mangel, der der Verhaltensforschung auch heute noch insgesamt anhaftet und sie unnötig in ein, meist nicht einmal offen eingestandenes, materialistisches Fahrwasser gebracht hat. Und so können dann heute noch grauenhafte Bücher wie Franz Wuketits "Verdammt zur Unmoral?" entstehen, das einerseits voll wunderbarer Beobachtungen darüber ist, wie grundlegende tierische Verhaltensweisen im Menschenleben fortwirken, ohne daß Wuketits erkennt, daß sie, indem sie vom menschlichen Geist ergriffen werden, zu etwas ganz anderem werden können. Wer das Tier mit dem Menschen auf gut darwinistische Weise gleichsetzt, der begreift freilich die Moral, die der Mensch entwickeln kann, die aber das Tier weder hat noch braucht, überhaupt nicht, und es ist dann auch gar nicht mehr verwunderlich, daß er schlußendlich die im Titel seines Buches aufgeworfene Frage mit einem entschiedenen Rufzeichen beantworten muß. Er resümiert:

    "Wir Menschen sind Affen und verhalten uns auch so. Daran vermochten die paar Jahrtausende unserer Zivilisation nicht viel zu ändern... Die Hoffnung also, daß die Entwicklung des Menschengeschlechts zu immer >>Besserem<< fortschreite, halte ich für begraben." (29)

    Hier, wo es um die Moral geht, zeigen sich die Grenzen der gegenwärtigen Naturforschung auf doppelte Weise. Ist sie schon nicht fähig, die Natur ihrem lebendigen Wesen nach zu erfassen, so gelingt es ihr noch weniger, den geistigen Kern des Menschen zu erkennen, der sein natürliches Dasein ergreift, verwandelt und über die tierische Stufe hinaushebt.

    Doch zurück zu dem, was Goethe "exakte sinnliche Phantasie" nennt. Je mehr und je intensiver uns das innere seelische Bild einer sinnlich erscheinenden Pflanze gegenwärtig wird, und je mehr uns das für die verschiedensten Entwicklungsstadien gelingt, desto mehr nähern wir uns ihrem eigentlichen Wesen. Dieses wird sich uns offenbaren, wenn es uns nun in innerem seelischen Tun gelingt, die einzelnen Werdestufen dieser Pflanze, gesetzmäßig ineinander zu verwandeln. Wir lassen dann gleichsam die Pflanze als inneres Bild noch einmal in uns heranwachsen. Nur schauen wir sie jetzt nicht von außen, sondern sind selbst tätig an ihrem Werden beteiligt. Wir eignen uns so die in ihr waltenden gestaltbildenden Kräfte, die draußen die physisch erscheinende Pflanze formen, innerlich seelisch an, wir verbinden uns mit ihnen. Und wenn wir endlich wie in einem einzigen Augenblick den ganzen Werdegang dieser Pflanze, etwa einer Rose oder Lilie, innerlich schauen, dann ist uns ihr eigentliches Leben, das übersinnlicher Natur ist, seelisch gegenwärtig. Was wir so als Typus der Rose etwa schauen, das wirkt als Bildekraft auch in allen anderen Rosen, denen wir in der sinnlichen Welt begegnen. Der "intellectus archetypus", von dem Kant sprach, aber dem Menschen verweigerte, lebt in uns auf. Was so als Typus der Rose oder Lilie usw. innerlich erfaßt wird, kann unmöglich als starre, unbewegliche Gestalt gedacht werden. Es ist ein durch und durch lebendig bewegliches Prinzip, das als ein einheitliches in allen Teilen der sinnlich erscheinenden Pflanze wirksam ist. Nur weil Goethe in sich diesen urbildlichen Verstand rege gemacht hat, konnte er das Pflanzenleben so begreifen, wie er es in seiner Metamorphosenlehre festgehalten hat.

    Die Metamorphose der Pflanzen

    In seiner Metamorphosenlehre hat sich Goethe speziell mit den einjährigen Blütenpflanzen auseinandergesetzt, weil ihm in ihnen das pflanzenbildende Prinzip am deutlichsten offenbar zu werden schien. Sie sind alle, so erkannte Goethe, nach einem einheitlichen Gesetz gebaut. Hinter den einzelnen Typen wie Rose, Tulpe, Veilchen usw. steht ein gemeinsamer Urtypus, der sie alle umfaßt und den Goethe die Urpflanze nennt. Eine solche müsse es doch geben, meint er, denn wie könnten wir sonst überhaupt erkennen, daß sie allesamt Pflanzen sind. Tatsächlich ist in jedem von uns, wenn wir eine Pflanze als Pflanze erkennen, diese Urpflanze in uns rege. Nur werden wir uns normalerweise ihrer nicht wirklich bewußt, sondern nur des fertigen Urteils: "Das ist eine Pflanze". Den eigentlichen lebendigen Denkprozeß, der dieses Urteil hervorbringt, verschlafen wir. Dieser ist aber nichts anderes als das exakte seelische Abbild der in der Natur waltenden Urpflanze selbst.

    Das ist das erste Gesetz, das Goethe in seiner Metamorphosenlehre aufstellt, daß alle Pflanzen einander ähnlich sind, weil in ihnen allen die Urpflanze gestaltend wirkt. Und so entfaltet sich jede einjährige Blütenpflanze aus dem Samenkorn so, daß sich zunächst der Sproß oder Stengel bildet, an dem sogleich die Keimblätter oder Kotyledonen entspringen, die noch weitgehend ungestaltet und wie mit rohen Stoffen ausgestopft erscheinen. Hier dominiert die stoffliche Natur noch stark die Formkraft. Differenzierter erscheinen schon die Laubblätter, die am Sproß aus den Knoten entspringen, und sie erscheinen zunächst um so reicher ausgestaltet, je höher, d.h. zugleich je später sie sich am Sproß entfalten, um kurz bevor es zur Blüte geht, sich wieder vereinfachen und verkleinern. Nun bilden sich die grünen Kelchblätter, die den Laubblättern vielfach noch ähnlich sind, aber nicht mehr nacheinander sondern zugleich sich bilden und dabei eng an den Sproß anschmiegen. Ähnlich dicht drängen sich dann die Blüten- oder Kronblätter selbst zusammen. In der Blüte offenbart sich der Typus der Pflanze am allermeisten. Die Blütenblätter sind dabei ganz zart gebaut und die grüne Blattfarbe weicht den verschiedensten Blütenfarben. Die Formkraft hat hier weitgehend über den Stoff gesiegt bzw. ihn veredelt. Es folgen die Staubblätter oder Antheren und Griffel, Stempel oder Pistill. Der Fruchtknoten endlich schwillt zur Frucht an die im Inneren den oft ganz harten, beinahe kristallin erscheinenden Samen trägt, in dem sich das Wesen der Pflanze wiederum fast vollständig verbirgt.

    Das zweite Gesetz, das sich Goethes Anschauung ergab, hält fest, daß, obwohl in allen Pflanzen die selbe Urpflanze tätig wirkt, doch keine der anderen gleicht. Jede gehorcht dem gemeinsamen Gesetz, doch jede vollzieht es auf individuelle Weise. Und zwar so, daß dann alle Teile der Pflanze gleichermaßen auf charakteristische Weise verändert werden. Ändert sich die Form der Laubblätter, so muß auch die Blüte anders aussehen, und ebenso die Früchte usw. Ein Kastanienbaum mit seinen charakteristischen Blättern kann auch nur Kastanien als Früchte tragen, und keine, die irgendwie anders geformt wären. Es ist eine gute Übung seines inneren Anschauungsvermögens, zu sehen, wie sich etwa die Gestalt der Frucht ändern muß, wenn man die Form des Laubblattes schrittweise verändert. Eine derartige Erkenntnis ist der gängigen naturwissenschaftlichen Methode völlig unzugänglich, für die es letztlich eine entwicklungsgeschichtlich bedingte genetische Zufälligkeit ist, daß auf einem Apfelbaum Äpfel und nicht Birnen wachsen. Die Gentechniker, weil sie diese Zusammenhänge überhaupt nicht kennen oder akzeptieren, glauben derartige Schimären "konstruieren" zu dürfen, die den Gesetzmäßigkeiten des Lebens schlußendlich widersprechen.

    Das dritte Gesetz, das Goethe fand, ist von zentraler Bedeutung:

    "Es war mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ, welches wir gewöhnlich als Blatt ansprechen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Rückwärts und vorwärts ist die Pflanze immer nur Blatt..." (30)

    Das Blatt ist die Grundform der Pflanze, mit der die Natur gleichsam nur spielt um deren verschiedene einzelne Organe hervorzubringen. Bei Laubblatt, Kelch und Blüte ist diese Verwandtschaft sofort deutlich zu sehen, aber auch Staubfäden, Griffel, Frucht und Samen sind nichts anderes als modifizierte Blätter. Nun darf man aber nicht annehmen, daß sich etwa ein physisch reales Laubblatt später in ein Kelchblatt und weiter in ein Blütenblatt verwandle, sondern das Gestaltungsprinzip, daß das Laubblatt bestimmt, findet sich in Kelch, Blüte, Staubfäden usw. gesetzmäßig umgestaltet wieder. Es handelt sich um einen ideellen, normalerweise nicht unmittelbar sinnlich beobachtbaren Vorgang. Nur in einigen

    wenigen, aber dafür für die Erkenntnis sehr hilfreichen Fällen, zeigt sich direkt dem Auge, was sonst nur das lebendige Denken zu erfassen vermag. Solche Fälle studierte Goethe besonders eifrig. So ist ideell in jedem ihrer Teile stets die ganze Pflanze anwesend, offenbart sich aber jeweils nur einseitig. Aus dieser Tatsache erhellt sich auch die große Regenerationsfähigkeit der Pflanzen. Goethe hat sich in diesem Zusammenhang besonders für die Pflanze Bryophyllum interessiert, die es vermag, an den Rändern ihrer Laubblätter vollständige kleine Tochterpflänzchen mit Würzelchen und Blättchen hervorsprießen zu lassen, und die seitdem auch als "Goethepflanze" bekannt ist.

    Das vierte Gesetz, das sich aus Goethes Metamorphosenlehre ergibt, ist das von Polarität und Steigerung. Von Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt breitet sich die Pflanze in rhythmischer Folge aus und zieht sich anschließend wieder zusammen. Aber nicht um eine beständige Wiederkehr des Gleichen handelt es sich dabei, sondern das vegetabile Gesetz, das die Pflanze bildet, tritt dabei immer mehr sinnlich in Erscheinung, um sich endlich bis hin zur farbenprächtigen und duftenden Blüte zu steigern. Im Fruchtknoten und im Griffel verengt sie sich wieder. Die Staubgefäße zeigen in gewisser Weise beide Tendenzen zugleich: das einzelne Staubgefäß ist ein bis zum dünnen Faden verengtes Blatt, zugleich aber weisen die Staubgefäße insgesamt zur Peripherie. Eine letzte Ausbreitung erfolgt in der anschwellenden Frucht, bis sich die Pflanze schließlich ganz in das oft winzige Samenkorn verengt. Fläche, Gerade und Punkt sind die geometrischen Elemente, die dabei das Pflanzenwachstum bestimmen. Das Samenkorn ist beinahe punktförmig, dann streckt sich der lineare Sproß hervor. Aus dem punktartigen Knoten streckt sich der Blattstiel hervor und weitet sich endlich im Blatt zur breiten Fläche. Ausgedehnte räumliche Organe finden sich an der Pflanze, ausgenommen die Frucht, nicht. Das unterscheidet die Pflanzen wesentlich von den Tieren, für die gerade die räumlich ausgedehnte geschlossene Gestalt typisch ist. Dafür können aber die Tiere auch ein seelisches Innenleben entwickeln, das den Pflanzen mangelt. In der Fruchtbildung berührt die Pflanze jenen Bereich, der für die Tierwelt hauptsächlich bestimmend wird.

    Die Spiraltendenz – das kosmische Urbild der Pflanzen

    Spiral- und Lineartendenz: weibliches und männliches Prinzip

    In seinen letzten Lebensjahren schrieb Goethe noch eine Abhandlung "Über die Spiraltendenz der Vegetation". Der Lineartendenz, mit der sich der Sproß entfaltet, steht die Spiraltendenz gegenüber, mit der sich die Laubblätter am Sproß seitlich ansetzen. So entsteht die aufsteigende Spirale der Laubblätter mit ihrer streng mathematisch geordneten und für die jeweilige Pflanze typischen Blattstellungszahl. Bei einfachen einkeimblättrigen Pflanzen findet sich häufig die ½-Stellung, d.h. auf einer Umdrehung bilden sich jeweils zwei Laubblätter, die folglich um 180° gegeneinander versetzt sind. Oft zeigt sich auch die 1/3-Stellung. Bei den komplizierteren zweikeimblättrigen Pflanzen finden sich kompliziertere Stellungszahlen, häufig etwa die 2/5-Stellung, d.h. auf zwei volle Umdrehungen verteilen sich regelmäßig fünf Blätter. In der Blüte drängt sich die Spirale zum Kreis zusammen, und hier ist auch die Zahl der Blütenblätter streng mathematisch geordnet. Einkeimblättrige Pflanzen wie die Liliengewächse haben meist drei bzw. sechs Blütenblätter, zweikeimblättrige oft fünf, wie etwa die Rosengewächse.

    Die Spiral- und die Vertikaltendenz bedingen und ergänzen einander. Goethe erscheint dabei die Lineartendenz als männliches, die Spiraltendenz als weibliches Prinzip. Tatsächlich gibt es ein glückliches Beispiel, die Vallisneria, bei der die Vertikaltendenz überhaupt nur dem männlichen, die Spiraltendenz dem weiblichen Individuum eigen ist. Goethe folgert endlich:

    "Kehren wir nun ins Allgemeinste zurück und erinnern uns an das, was wir gleich anfangs aufstellten: das vertikal- sowie das spiralstrebende System sei in der lebendigen Pflanze aufs innigste verbunden, sehen wir nun jenes als entschieden männlich, dieses als entschieden weiblich sich erweisen: so können wir uns die ganze Vegetation von der Wurzel auf androgynisch insgeheim verbunden vorstellen; worauf denn im Verfolg der Wandlungen des Wachstums die beiden Systeme sich im offenbaren Gegensatz auseinandersondern und sich entschieden einander gegenüberstellen, um sich in einem höheren Sinn wieder zu vereinigen." (31)

    Das wirft auch ein bezeichnendes Licht auf das besprochene Gesetz von Polarität und Steigerung!

    Daß das Wechselspiel von Spiral- und Lineartendenz wesentlich daran beteiligt sind, die ganze Pflanzengestalt zu durchformen, kann nicht bezweifelt werden; ebensowenig daß diese den Sproß umkreisende Spiralbewegung nach streng mathematischen Gesetzen geordnet ist, die bis in die Blüten- und Fruchtbildung fortwirkt. Wir sind also den die Pflanze gestaltenden Kräften schon sehr nahe, und wir können sie zunächst als Bewegungsspur erfassen, die durch den aufstrebenden Sproß und den ihn spiralig umkreisenden Blattansätzen in den Raum gezeichnet wird, und die, indem sie sich mit Materie erfüllt, diese gleichsam herbeisaugt, auch sinnlich sichtbar wird. Nun haben wir von den Bildekräften des Lebendigen auch als bildschaffenden Kräften gesprochen, und wir haben festgestellt, daß sich im Prinzip der ganze Kosmos im einzelnen Lebewesen auf spezifische Weise abbildet.

    Wenn wir die ein Lebewesen gestaltenden Formkräfte verstehen wollen, so müssen wir nach deren kosmischen Vorbildern suchen, die sich in ihnen abbilden.

    Das kosmische Urbild

    Die Sonne: Daß das Pflanzenwachstum eng mit den kosmischen Verhältnissen zusammenhängt, ergibt sich schon ganz klar daraus, daß es sich streng im jahreszeitlichen Rhythmus, der aus der jeweiligen Stellung der Sonne zur Erde resultiert, entfaltet. Aber auch der Tägliche Wechsel von Tag und Nacht beeinflußt die Entfaltung der Pflanze wesentlich, was sich rein äußerlich schon daran zeigt, daß viele Blüten sich zu einer bestimmten Tageszeit öffnen und bei einer anderen wieder schließen. Der tägliche Wechsel von Licht und Finsternis bestimmt das Pflanzenleben aber noch viel tiefgreifender. In der Dunkelheit zeigt die Pflanze vorallem Streckungswachstum. Lange, bleiche, ziemlich ungestaltete Triebe entstehen, wie man es beispielsweise bei alten Kartoffeln erlebt, die im Dunklen austreiben. Erst das volle Sonnenlicht führt zum eigentlichen Gestaltungswachstum. Die übermäßige nächtliche Triebbildung wird zurückgedrängt, dafür gewinnt die sproßende Pflanze deutlich an Form. Der wäßrige nächtliche Trieb wird gehindert, weiter anzuschwellen, gleichsam teilweise vertrocknet und zugleich in die für die Pflanze charakteristische Wachstumsform gedrängt. Dabei folgt die lichtempfindliche Sproßspitze, der Vegetationskegel, der Sonnenbewegung, so daß man sagen kann:

    Der aufstrebende Zentralsproß der Pflanze ist ein Bild der vom Frühjahr zum Sommer hin aufsteigenden Sonne.

    Je weiter die Sonne aufsteigt, desto stärker durchgestaltet erscheint auch die Pflanze, um in der Blütenbildung einen gewissen Höhepunkt zu erreichen. Frucht und Samenbildung hängen schon mit der zum Herbst hin wieder sinkenden Sonne zusammen. Auch zeigt sich deutlich, daß Pflanzen, die zeitig im Frühjahr erblühen, wesentlich einfacher gestaltet sind, als solche, die einer späteren Jahreszeit angehören. Man vergleiche nur Primeln, Schneeglöckchen und Veilchen mit einem Rosenstrauch. Allerdings läuft die pflanzliche Entwicklung nicht völlig synchron mit dem Sonnengang, sonst dürfte es überhaupt nur eine einzige Pflanzenart geben, deren Exemplare alle exakt zur gleichen Zeit erblühen, sondern jede Pflanze stellt ein verschobenes, teilweise im Zeitmaßstab stark zusammengedrängtes Abbild der jahreszeitlichen Sonnenbewegung dar. Man darf also die gestaltbildenden Sonnenkräfte nicht nur in ihrer unmittelbaren kausalen Wirkung ansehen, sondern man muß auch ihre akausale Abbildefunktion erkennen, die erst die Vielfalt der irdischen Lebenserscheinungen möglich macht. Die eine lebendig gestaltende Sonnenkraft bricht sich, indem sie den irdischen Stoff ergreift, in unzähligen Facetten.

    Der Mond: Nicht nur die Sonne, sondern auch der Mond in seinen wechselnden Stellungen beeinflußt das Pflanzenwachstum. Das ist schon seit alters her bekannt, wurde nur zeitweilig vergessen, wird aber heute zunehmend wiederentdeckt. So kann man heute etwa schon wieder Christbäume erstehen, die nach dem Mondkalender geschnitten wurden, konkret gesprochen zur Zeit des aufsteigenden Mondes. Das ist nämlich die Zeit, in der der Baum voll in Saft steht und sich entsprechend lange frisch erhält und nicht frühzeitig vertrocknet. Zur Zeit des absteigenden Mondes ziehen sich die Säfte aus den oberirdischen Pflanzenteilen stärker zurück; dann wird man schlägern, wenn man etwa gutes, trockenes Nutzholz braucht. Auf- und absteigender Mond dürfen dabei nicht verwechselt werden mit dem zunehmenden und abnehmenden Mond. Im Winter geht der Vollmond am Himmel die hohe Bahn, während der Neumond ganz tief steht. In diesem Fall steigt der Mond tatsächlich von Neumond zu Vollmond, wenn er also zunehmend ist, immer höher. Im Sommer kehren sich diese Verhältnisse aber gerade um: dann geht der Vollmond die tiefe Bahn und der Neumond die hohe. Der aufsteigende Mond ist dann zugleich abnehmend. Wie Maria Thun, die durch ihren Aussaatkalender (32) mittlerweile in breiteren Kreisen bekanntgeworden ist, nachgewiesen hat, hängt die Mondenwirkung auf die Pflanze auch davon ab, in welchem Tierkreiszeichen er gerade steht. Tatsächlich durcheilt der Mond ja in etwa einem Monat den ganzen Tierkreis, und je nach dem, in welchem er steht, wirkt er förderlich auf Wurzel-, Blatt-, Blüten- oder Frucht- und Samenbildung. Indem der aufsteigende Mond die Säfte in den Pflanzen steigen läßt, bewirkt er auch ein stärkeres Streckungswachstum, hängt also mehr mit den formlosen Stoffeskräften, mit der "Materia" zusammen. So hat man in älteren Zeiten die Mondenkräfte immer als mütterlich (= mater -> materia), d.h. weiblich aufgefaßt, während die gestaltbildenden Sonnenkräfte als männlich empfunden wurden.

    SONNE MOND

    gestaltbildend stoffbildend

    männlich weiblich

    Der Merkur: Sind wir schon soweit in die kosmischen Verhältnisse vorgerückt, so dürfen wir uns die Frage stellen, ob auch die anderen den Tierkreis durchziehenden und sich dadurch in spezifischen rhythmischen Erscheinungen offenbarenden Wandelsterne, die Planeten, auch die Pflanzenentwicklung beeinflussen. Der Zentralsproß ist ein Bild der aufsteigenden Sonne. Um den zentralen Sproß gruppieren sich die Laubblätter in spiralig aufsteigender Folge. Im Kosmos ist der Merkur der am nächsten die Sonne umkreisende Planet. Ist also die Merkurbewegung um die Sonne das kosmische Vorbild der sich am Sproß entfaltenden Blätter? Wenn man beurteilen will, wie die kosmischen Verhältnisse das Erdenleben bestimmen, dann muß man den Kosmos so betrachten, wie er von der Erde aus erscheint; man muß also vom geozentrischen Weltbild ausgehen. Der Merkur, weil er der Sonne so nahe steht und leicht von ihr überstrahlt wird, ist nur schwer zu beobachten. Am leichtesten gelingt das, wenn er gerade von der Sonne aus irdischer Sicht am weitesten entfernt ist. Er erscheint dann abwechselnd entweder kurz vor Sonnenaufgang im Osten am Morgenhimmel oder kurz nach Sonnenuntergang am Abendhimmel im Westen, wobei er jeweils nur knapp über dem Horizont steht. Zusammenziehung und Ausdehnung bestimmen die Erscheinung des Merkur am Himmel, genau das selbe Prinzip, das auch in der Pflanze gestaltend wirkt. Der Merkur erscheint einmal vor, einmal nach der Sonne, ebenso wie bei einfachen Pflanzen mit ½-Blattstellung einmal links einmal rechts sich ein Blatt bildet!

    Lassen sich aber auch andere Blattstellungszahlen ähnlich begreifen, etwa die bei den Liliengewächsen typische 1/3-Stellung, die bis in die drei- bzw. sechszählige Blüte fortwirkt. In einem Jahr vollführt der Merkur drei synodische Umläufe (synodische Umlaufzeit = 116 Tage), wobei es zu drei oberen und drei unteren Konjunktionen mit der Sonne kommt (bei der unteren Konjunktion steht der Merkur genau vor der Sonne, bei der oberen genau hinter ihr, also in größter Erdenferne. Durch diese drei oberen und unteren Konjunktionen wird genau ein Hexagramm, oder besser zwei ungleiche Dreiecke in den Kosmos eingeschrieben. Genau das spiegelt sich dann in der Blattstellung wieder, und das kann er, wie wir sehen auf sehr unterschiedliche Weise. Näheres dazu findet man bei Ernst-Michael Kranich (33).

    Die Venus: So wie der Merkur vorwiegend in der Laubblattbildung wirksam wird und nur bei einfacheren Pflanzen bis zur Blüte hinauf wirkt, so wird die Blüte der komplizierteren zweikeimblättrigen Pflanzen durch den Venusrhythmus bestimmt. Die synodische Umlaufzeit der Venus beträgt etwa 583,9 Tage, reicht also bereits über den Jahresrhythmus hinaus. Fünf synodische Venusumläufe (5 x 583,9 = 2919,5 Tage) entsprechen ziemlich genau acht Sonnenjahren (8 x 365,25 = 2922 Tage). In dieser Zeit kommt es zu fünf oberen und fünf unteren Konjunktionen: die Venus-Pentagramme. Sie spiegeln sich etwa im fünfzähligen Kelch und in der fünfzähligen Blüte der Rose wieder.

    Ähnlich lassen sich auch Zusammenhänge der obersonnigen Planeten mit der Pflanzengestalt herstellen:

    Der Mars: wirkt vorallem in der Ausgestaltung der Staubgefäße. Wenn man vom Mars zum Jupiter fortschreitet, schieb sich der Asteroidengürtel dazwischen, der gleichsam einen zerstäubten Planeten darstellt. Er ist das kosmische Vorbild des Verstäubungsvorganges.

    Der Jupiter: wirkt vorwiegend dann, wenn sich die Früchte bilden und reifen. Bemerkenswerterweise ist der Jupiter der größte aller Planeten und er wird nicht nur durch die Sonne von außen erwärmt, sondern verfügt auch über eine starke innere Wärmequelle, wie ähnlich die Früchte durch die vom Atmungsvorgang der Früchte erzeugte Wärme reifen. Der Fruchtknoten selbst, solange noch keine Befruchtung stattgefunden hat, wird am stärksten vom Mond beeinflußt, ebenso wie die einzelnen Knoten am aufstreben Sproß, von denen die Blätter entspringen!

    Der Saturn: hilft bei der Samenbildung mit.

    Die noch weiter außen liegenden Planeten mit ihren extrem langsamen Bewegungen spielen für das Pflanzenwachstum kaum eine Rolle, wohl aber der

    Tierkreis: wir haben ja schon gesehen, wie stark sich die Pflanzenwelt im Jahreslauf verändert. Das drückt sich aber gerade in der Stellung der Sonne im Tierkreis aus. Und auch die vom Tierkreis abhängigen wechselnden Einflüsse des Mondes haben wir schon angesprochen. Und ähnlich gilt das im Grunde für die ganze Planetenwelt.

    Das Weltenwort

    In alten Zeiten hat man von den Planetenrhythmen als von der Sphärenharmonie, von der Musik des Kosmos gesprochen. Vorallem durch Pythagoras ist diese Ansicht, obwohl wenig verstanden, bis auf unsere Zeit überliefert worden. Stellt so die bewegte Planetenwelt, die Musik, oder die klingenden Weltenvokale dar, so entsprechen die unbeweglichen Tierkreisbilder kosmischen Konsonanten. Zusammen bilden sie in ihrem Wechselspiel das kosmische Wort, das die irdische Lebenswelt durchformt.

    Will man die Sprache der lebendigen Natur verstehen, muß man die Sprache des Kosmos erlernen!


    Literatur:

    1. James Lovelock,Gaia - Die Erde ist ein Lebewesen, Scherz Verlag, Bern, München, Wien 1992
    2. Duden, Herkunftswörterbuch, Bibliographisches Institut, Mannheim 1963
    3. Dose, Biochemie, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York 1994, S 1
    4. Czihak, Langer, Ziegler, Biologie, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York 1990, S 1
    5. Gerhard Buchwald, Impfen, Knaur-Taschenbuch 76160, München 1994
    6. R.G. Woolley, Must a Molecule Have a Shape?, J. Am. Chem. Soc. 100 (1978), 1073-78
    7. Brigitte Falkenburg, Teilchenmetaphysik, BI Wissenschaftsverlag, Mannheim 1994, S 302
    8. Herbert Pietschmann, Aufbruch in neue Wirklichkeiten, Weitbrecht Verlag, Stuttgart Wien Bern 1997
    9. Hans-Peter Dürr (Hrsg.) in "Rupert Sheldrake in der Diskussion", Scherz-Verlag, Bern München Wien 1997, S 227ff
    10. Ellen Baake, Buchbesprechung zu Brian Goodwins "Der Leopard, der seine Flecken verliert" in Spektr. d. Wiss., 2/1998, 126
    11. J. T. Fraser, Die Zeit – vertraut und fremd, Birkhäuser-Verlag, Basel Boston Berlin 1988, S 183
    12. Bernd-Olaf Küppers, Der Ursprung biologischer Information, Piper Verlag, München 1986, S 261
    13. Georgi Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1978, S 676
    14. Arthur Zajonc, Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein, Rohwolt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 1994, S 12f
    15. J. W. Goethe, Farbenlehre 1, Verlag freies Geistesleben, Stuttgart 1988, S 45
    16. Rupert Sheldrake, Sieben Experimente, die die Welt verändern könnten, Scherz Verlag, Bern München Wien 1994
    17. Rupert Sheldrake, Das Gedächnis der Natur, Scherz Verlag, Bern München Wien 1990, S 143
    18. Hermann Poppelbaum, Tier-Wesenskunde, Philosophisch-Anthroposophischer Verlag, Goetheanum, Dornach 1982, S 41
    19. Brief an Goethe vom 23. August 1794, in Emil Staiger (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Insel Taschenbuch 250, Frankfurt am Main 1977, S 33f
    20. Goethes Werke, Vollständige Ausgabe in vierzig Teilen, Auf Grund der Hempelschen Ausgabe, Deutsches Verlagshaus Bong u. Co, Berlin Leipzig Wien Stuttgart, 38. Teil, S 77
    21. Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1980 (GA 2); zit. nach der Taschenbuchausgabe TB 629, S 63
    22. J.W. Goethe, Maximen und Reflexionen
    23. Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1980 (GA 3), zit. nach TB 628, S 11
    24. Georgi Schischkoff, a.a.O., S 133
    25. Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit, Deutscher Taschenbuchverlag (dtv 1069), München 1975
    26. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 77
    27. Goethes Werke, a.a.O., S 91
    28. Konrad Lorenz, Vom Weltbild des Verhaltensforschers, Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv 499), München 1968, S 97ff
    29. Franz M. Wuketits, Verdammt zur Unmoral?, R. Piper GmbH u. Co. KG, München 1993, S 9ff
    30. zit. nach P. Sachtleben, Mit den Augen denken lernen, Novalis Verlag, Schaffhausen 1994, S 69f.
    31. zit. nach Sachtleben, a.a.O., S 76
    32. Maria Thun, Aussaattage 1998, S 8 bzw. 12ff.
    33. Ernst-Michael Kranich, Pflanze und Kosmos, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1997
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