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 Lichtes Leben - Finsterer Tod?

 Gedanken Rudolf Steiners

über

das Unsterbliche in der menschlichen Seele

 Wolfgang PETER 2001

   

Der Tod - das Ziel des Lebens?

 

Leben ist der Anfang des Todes. Das Leben ist um des Todes willen. Der Tod ist Endigung und Anfang zugleich, Scheidung und nähere Selbstverbindung zugleich. Durch den Tod wird die Reduktion vollendet.

Novalis

Blickt man auf viele alte Kulturen zurück, blickt man auf das, was heute noch viele, namentlich orientalische Kulturen beseelt, so findet man immer wieder die völlig sichere Überzeugung, dass der Mensch nach dem Tod in anderer Form weiterlebt, und vieles, was den Kern dieser Kulturen ausmacht, gründet sich auf die lebendige, allgegenwärtige seelische Beziehung zu den Verstorbenen, die diesen Weg in eine andere Welt bereits angetreten haben. Ahnenkulte waren einstmals ganz selbstverständlich und sind es da und dort auch heute noch. Vielfach erschien den Menschen das physische Erdenleben nur als Durchgang, als Vorbereitung zu einem höheren jenseitigen Dasein. Diesseits und Jenseits sind sehr relative, nur subjektiv gültige Begriffe. Als Jenseits bezeichnen wir all das, was jenseits des Horizonts unseres Bewusstseins ist. Die Grenzen der Welt fallen für uns zunächst mit den Grenzen unseres Bewusstseins zusammen. Über alles, was darüber hinaus liegt, können wir vorerst nur spekulieren. Gesicherte Erkenntnisse werden wir so kaum erlangen. Aber wie unterschiedlich ist das Bewusstsein der Menschen. Ein Musiker erlebt an der Musik Dinge, die für den unmusikalischen Menschen völlig jenseitig, d.h. schlichtweg nicht vorhanden sind. Ein Maler sieht die Welt anders an als die meisten anderen Menschen. Ein begabter Mathematiker macht mit der Welt der Zahlen Erfahrungen, die vielen anderen ewig verborgen bleiben. Wie anders war erst das Bewusstsein der alten Völker, wie anders ist das Bewusstsein der Menschen in vielen Kulturen noch heute. Auf welche intimen Lebenserfahrungen unsere Vorfahren die feste Überzeugung von einem Weiterleben nach dem Tod gründeten, ob sie dabei einer Illusion nachliefen, wie wir heute vielfach meinen, wir können es mit unserem modernen Bewusstseinszustand kaum nachvollziehen – der Tod erschien ihnen jedenfalls als ein Ziel, das zugleich einen neuen Anfang in sich barg. Für sie ging der Tote nicht in ein unerreichbares Jenseits hinüber, er blieb ihnen, wie sie überzeugt waren, in gewissem Sinn diesseitig erlebbar. Unser modernes Bewusstsein ist ein anderes geworden, die Grenzen von Diesseits und Jenseits haben sich wesentlich verschoben und weitergehende sichere Erkenntnisse über momentan für uns jenseitige Welten werden wir nur gewinnen können, wenn wir unser Bewusstsein entsprechend verändern bzw. erweitern können. Vielleicht messen wir die Wirklichkeit viel zu selbstverständlich und ausschließlich an dem, wie wir sie hier und jetzt bewusst erleben? Zunächst sind wir allerdings auf die äußerliche sinnliche Beobachtung angewiesen, und auch sie kann uns bereits manch interessante Indizien liefern.

Schon im antiken Griechenland begann man die Welt, in die die Toten hinübergehen, als wesenloses „Reich der Schatten“, als schaurige Unterwelt zu empfinden. Das äußere irdische Dasein wird von da an immer mehr geschätzt. Die edle aufrechte irdische Menschengestalt, der beseelte, durchgeistigte lebendige Erdenmensch steht nun im Mittelpunkt und wird in der ästhetisch formvollendeten griechischen Plastik zum zentralen Thema der Kunst. Der Tod wird nicht mehr als Geburt in ein neues lichtes geistiges Dasein angesehen, wie es heute noch die Inder durch ihre strahlend weißen Trauergewänder ausdrücken wollen, sondern als schreckliche Höllenfahrt in den düsteren Hades. So schildert es uns bereits Homer in seiner Odyssee. Ehe Kirke den Odysseus und seine Gefährten entlässt, weist sie ihn hinab in den Hades, wo er den Seher Teiresias befragen soll:

 

490

Aber ihr müßt zuvor noch eine Reise vollenden,
Hin zu Aïdes' Reich und der strengen Persephoneia,
Um des thebäischen Greises Teiresias' Seele zu fragen,
Jenes blinden Propheten, mit ungeschwächtem Verstande.
Ihm gab Persephoneia im Tode selber Erkenntnis;

495

Und er allein ist weise: die andern sind flatternde Schatten.[1]

 

Odysseus steigt nun hinab in die Unterwelt, wo er dem Achilles begegnet:

 

 

Vormals im Leben ehrten wir dich, wie einen der Götter,

485

Wir Achaier; und nun, da du hier bist, herrschest du mächtig
Unter den Geistern: drum laß dich den Tod nicht reuen, Achilleus!

Also sprach ich; und drauf antwortete jener, und sagte:
Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus.
Lieber möcht' ich fürwahr dem unbegüterten Meier,

490

Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun,
Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen.[2]

 

Dass die edle menschliche Gestalt auch über den Tod hinaus erhalten bliebe, wird zur tief gefühlten Sehnsucht in der ganzen antiken Welt. Wie eine Erlösung wurde es damals von vielen empfunden, als sich die Kunde von der leiblichen Auferstehung des Christus in der griechischen Welt verbreitete. Auferstehung ist mehr als bloße Unsterblichkeit. Nicht nur die körperlose menschliche Seele soll nach dem Tod weiterexistieren, sondern auch die geliebte menschliche Gestalt soll irgendwie in unverweslicher Form weiterbestehen können. Nach den Worten des Paulus ist die Tatsache der Auferstehung des Christus geradezu das unverrückbare Zentrum des ganzen sich nun sehr rasch in den Mittelmeerländern ausbreitenden Christentums. Es würde den Rahmen dieser Darstellungen sprengen, sich näher mit dieser so schwer vorstellbaren Tatsache der Auferstehung zu befassen; das muss späteren Ausführungen überlassen bleiben. Hier soll vor allem das weitere Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod beleuchtet werden.

Die bloße sinnliche Beobachtung lässt uns von der Auferstehung des Leibes nichts ahnen, ja selbst die Unsterblichkeit der menschlichen Seele erscheint aus dieser Sicht höchst zweifelhaft. Auch rein äußerlich betrachtet ist der Tod letztlich das Ziel des Lebens, ein „Ziel“, das jedes Lebewesen irgendwann zwangsläufig erreicht. Ob damit auch wirklich ein neuer Anfang verbunden ist, ist eine zweite Frage. Früher oder später zu zerfallen, ist jedenfalls das unentrinnbare Schicksal jeder physischen Existenz, sei sie nun mineralischer, pflanzlicher, tierischer oder menschlicher Natur. Die Naturgesetze, welche die physische Welt beherrschen, sind diesbezüglich unerbittlich, sie gönnen allem physischen Dasein nur eine knapp bemessene Frist. Und alles, was sich rein naturwissenschaftlich begreifen lässt, läuft letztendlich auf Zerfall hinaus – darüber wird noch genauer zu sprechen sein. Einer Zeit wie unserer, die sich weitgehend auf eine materialistisch-naturwissenschaftliche Weltanschauung gründet, kann der Tod daher ehrlicherweise nur als absolutes Ende, als endgültige Vernichtung erscheinen. Wem als einzig mögliche Wirklichkeit nur das gilt was man, banal gesagt, mit Augen sehen und mit Händen greifen kann, für den muss eine weitere Existenz über den Tod hinaus als völlig unmöglich erscheinen. Will man den Tod nicht nur als Ende der physischen Existenz ansehen, sondern zugleich als Anfang einer anderen, nicht-physischen Existenz begreifen, wird man sich dabei nicht auf herkömmliche naturwissenschaftliche Untersuchungen stützen können. Auch nicht auf den im 19. Jahrhundert beliebt gewordenen Spiritismus, der nicht anderes als ein verkappter Materialismus ist, indem er die weitere Existenz des Toten durch außergewöhnliche sinnenfällige Erscheinungen beweisen will. Dass der Spiritismus mit der Hochblüte des Materialismus groß geworden ist, ist alles andere als zufällig. Derartige spiritistische Phänomene mag es bis zu einem gewissen Grade durchaus geben, sie können und sollen auf  naturwissenschaftlicher Basis untersucht werden, wie eine Reihe nicht unbedeutender Naturwissenschafter das schon getan haben – über das weitere Leben des Toten sagen sie uns aber herzlich wenig. Wir müssen uns also langsam und vorsichtig an eine ganz andere Betrachtungsweise herantasten, und dazu müssen wir zunächst das Phänomen des Todes selbst näher betrachten.

Was ist der Tod?

Mit dem Tod hört das Leben im physischen Körper zu wirken auf, worauf dieser den rein physischen Naturgesetzen folgend zu zerfallen beginnt. So stellt sich jedenfalls das ursprüngliche Bild des Todes dar. In der modernen Medizin geht man heute allerdings von einem ganz anderen Todeskriterium aus – dem Gehirntod, der aber keineswegs mit dem Tod des gesamten Organismus gleichzusetzen ist, sondern nur einen Teiltod darstellt, und im Hinblick auf mögliche Organentnahmen für Transplantationen gerade so gewählt wird, weil der restliche Leib noch durchaus belebt ist. Ob das Leben dabei künstlich aufrecht erhalten wird oder natürlich weiterläuft, ist zunächst völlig belanglos. Klar ist, dass die Organe nicht einem Toten, sondern einem Lebenden entnommen werden – was für die Diskussion um die ethischen Konsequenzen der Transplantationsmedizin sehr wesentlich berücksichtigt werden muss, ganz abgesehen davon, dass der endgültige Gehirntod nicht so ohne weiteres absolut zuverlässig diagnostiziert werden kann. Kein Zweifel kann aber daran bestehen, dass der Tod unwiderruflich eingetreten ist, wenn der physische Körper zu verwesen beginnt. Das ist also das einzig völlig untrügliche Todeskennzeichen.

Das Gehirn ist allerdings das physische Werkzeug des Denkens und damit vor allem der denkenden Selbstbestimmung. Solange wir auf Erden leben, ist unser waches Selbstbewusstsein auf dieses Organ angewiesen und schon wenn es nur geringfügig beeinträchtigt ist, wird unser waches Selbstbewusstsein empfindlich gestört. Ob dieses Selbstbewusstsein auch ohne Gehirn auf andere Weise aufrechterhalten werden kann, muss zunächst offen bleiben, erscheint aber doch zunächst sehr zweifelhaft. Schon jede Nacht im Schlaf erlischt das Bewusstsein - abgesehen von vereinzelten Träumen, die aber sehr viel weniger klar erscheinen als das wache Tagesbewusstsein. Der größte Teil des Schlafes aber erscheint für unser modernes Bewusstsein überhaupt völlig finster, und es ist zunächst nicht recht einzusehen, warum es nach dem Tod anders sein sollte. Und wenn wir vom Weiterleben nach dem Tod sprechen, dann meinen wir eigentlich ein bewusstes, oder noch genauer ein selbstbewusstes Weiterleben!

Bewusstsein ist nicht gleich Selbstbewusstsein, das zeigen schon unsere Träume, in denen wir uns nur wenig unserer selbst bewusst sind und von dem allgemeinen Bewusstseinsstrom als nahezu ungeschiedener Teil aufgenommen werden. Dabei ist unser selbstbewusstes Wachbewusstsein gar nicht so streng von der Traumwelt getrennt wie wir meinen. Einer feineren Selbstbeobachtung kann kaum entgehen, dass wir auch tagsüber beständig träumen. Nur werden diese Tagträume vom hellen Licht des Wachbewusstseins zumeist überstrahlt. Und wie viel von dem, was wir tagsüber erleben, bringen wir uns wirklich zum vollen wachen Bewusstsein? An so vielen Dingen gehen wir tagtäglich vorüber, schauen sie mit unseren Augen an – und sehen sie doch nicht wirklich bewusst! Kaum bewusst erleben wir schließlich unser organisches Innenleben. Leise traumartig fühlen wir vielleicht noch unsere Atemtätigkeit und können sie bis zu einem gewissen Grad bewusst kontrollieren, aber was in den eigentlichen Stoffwechselorganen vorgeht, verschlafen wir nahezu vollständig. Nur wenn diese Tätigkeit empfindlich gestört wird, empfinden wir einen mehr oder weniger dumpfen Schmerz. Zumeist reduziert sich unser Körperbewusstsein auf ein sehr undifferenziertes Wohlbefinden oder Unwohlsein.

Sehr stark unterscheiden sich die einzelnen Menschen darin, wie wach sie die Welt erleben, obwohl heute das wache Selbstbewusstsein bei vielen Menschen schon recht stark ausgeprägt ist, viel stärker als in früheren Zeiten, in denen man sich noch viel instinktiver als dienendes Glied in das soziale Kollektiv eingebettet fühlte und noch weniger auf die eigene Persönlichkeit pochte. Noch krasser ist das beim Bewusstsein der Tiere der Fall. Sie kommen niemals zu einem wirklichen Selbstbewusstsein, bleiben stets in einem ganz intensiven traumartigen Erleben befangen und können sich niemals aus dem kollektiven Gruppenbewusstsein ihrer Gattung lösen. Ihr traumartiges Körperbewusstsein ist dafür viel deutlicher ausgeprägt als unseres. Tiere träumen nicht nur, wenn sie schlafen, sie träumen im Grunde auch dann, wenn sie wach sind, und in ihren Träumen vermischt sich das, was sie an der Außenwelt erleben, mit dem, was sie von ihrer eigenen Körpertätigkeit verspüren. Ehemals war auch das Tagesbewusstsein der Menschen nicht so wach wie unser heutiges, dafür war aber auch das Nachtbewusstsein nicht so dunkel wie jetzt und von viel lebendigeren und aussagekräftigeren Träumen erfüllt als wir sie kennen. Die alten Kulturen wurden nicht aus jenem abstrakten Intellekt konstruiert, durch den wir heute unser Tun leiten, und es ist nur ein beliebtes modernes Vorurteil, das nur allzu deutlich von unserer Phantasielosigkeit zeugt, dass die Menschen immer genauso gedacht hätten wie wir, sondern sie schöpften aus einem sehr viel reicheren, aber noch kaum selbstbewussten traumartigen Bewusstsein, das offensichtlich wesentlich wirklichkeitsbezogener war als unsere modernen Träume – sonst hätten sich wohl kaum so großartige monumentale Kulturleistungen darauf gründen können. Mit eben diesem Bewusstseinszustand meinten sie auch ganz selbstverständlich den Toten begegnen zu können, und man nehme nur einmal die alten Überlieferungen nicht als phantastische metaphorische Schilderungen, sondern als konsequenter Beschreibung realer Seelenerlebnisse – ohne dass damit vorerst etwas über die Wirklichkeit gesagt ist, die hinter diesen Erlebnissen steckt. Aber dass die Menschen die Welt einmal so erlebt haben, sollte man zunächst wenigstens probeweise zugestehen. Die Inhalte der ägyptischen, der tibetischen und anderer Totenbücher sind nicht erdacht, entspringen auch nicht bloß einer lebendigen dichterischen Phantasie, sondern sie wurden genau so erlebt, wie sie in den Schriften niedergelegt sind. Sie sind lebendige Zeugnisse eines Bewusstseins, das sich von dem unseren sehr wesentlich unterscheidet, Zeugen dafür, dass sich das Bewusstsein innerhalb weiter Grenzen sehr stark verändern lässt – zumindest in kulturhistorisch relevanten Zeiträumen. Aber vielleicht kann auch der einzelne individuelle Mensch sein Bewusstsein schrittweise so verändern, dass ihm Weltbereiche, die uns heute verschlossen scheinen, wieder zugänglich werden. Allerdings wird sich ein so verändertes Bewusstsein trotzdem auch wesentlich von dem der alten Völker unterscheiden müssen, denn wir täten sicher nicht gut daran, wenn wir einfach auf unser modernes Selbstbewusstsein verzichten und zu alten Zuständen zurückkehren wollten, denn ganz deutlich zielt die Menschheitsentwicklung darauf hin, dass wir immer selbstbewusster und eigenverantwortlicher werden. Rudolf Steiner hat seine geistigen Erkenntnisse aus einem derart verwandelten und erweiterten Bewusstsein gewonnen, zu dem er den Weg in vielen seiner Schriften und Vorträge aufgezeigt hat. Dass Rudolf Steiner aus einem veränderten Bewusstsein heraus geschöpft hat, mag man glauben oder nicht, einen tieferen Sinn wird man mit seinen Schilderungen nur verbinden können, wenn man einen solchen veränderten Bewusstseinszustand zumindest grundsätzlich für möglich hält. Und auch wenn man selbst diesen Zustand zunächst nicht erreichen kann, so kann man seine Schilderungen im praktischen Leben dennoch unbefangen und undogmatisch daraufhin prüfen, wie plausibel und folgerichtig sie erscheinen. Denn dadurch unterscheiden sich seine Darstellungen doch von den alten Schriften, dass sie nicht in für unser heutiges Bewusstsein unverständlichen Bildern gemalt sind, sondern dass sie geradezu die nüchterne Sprache des wissenschaftlich geschulten Verstandes sprechen.

Die verschiedenen Wesensglieder des Menschen

Den vorangegangenen Darstellungen folgend können wir rein phänomenologisch verschiedene funktionelle Schichten des Menschenwesens unterscheiden, die auch sehr deutlich zu den verschiedenen Naturreichen in Beziehung stehen:

 

Physischer Leib

Mineralien

Leben

Pflanzen

Bewusstsein

Tiere

Selbstbewusstsein

Menschen

Der physische Leib

Den stofflichen physischen Leib haben wir mit den Mineralien gemeinsam. Mineralien sind unbelebte, bewusstlose stoffliche Körper. Was unseren physischen Leib von den Mineralien aber sehr deutlich unterscheidet, ist, dass diese für oftmals lange Zeit weitgehend unverändert in der äußeren Welt existieren können, während unser stofflicher Körper, rein für sich genommen, sofort zu zerfallen beginnt, wenn er nicht von Lebenskräften durchdrungen wird. Ein menschlicher physischer Körper allein genommen ist bloßer Leichnam, der, wenn er nicht gerade einbalsamiert wird, sehr rasch der Verwesung anheim fällt. Der bloße physische Leib hat eigentlich gar keine eigenständige, halbwegs dauerhafte Realität; diese wird ihm erst durch das Leben verliehen.

Das Leben

Sehr entscheidend ist nun die folgende Frage: ist das Leben bloß eine sehr komplexe Funktion des physischen Leibes, wie es der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Anschauung ganz selbstverständlichen entspricht, oder handelt es sich dabei um eine eigenständige Realität, die auch unabhängig vom stofflichen Körper in gewisser Weise existieren kann? Ist das Leben vielleicht sogar die primäre Wirklichkeit und der stoffliche Körper nur eine sekundäre, abgeleitete Erscheinung? Vielleicht sind die biochemischen Prozesse im Körper ja bloß eine Wirkung des Lebens und gar nicht dieses selbst! So wie wir etwa das Licht in Wahrheit gar nicht kennen, sondern nur seine Wirkungen, durch die es die materielle Welt in den verschiedensten Farben erglänzen lässt. Das mag zwar für das moderne Denken zunächst geradezu provokant und paradox erscheinen, stellt unsere ganzen modernen Überzeugungen völlig auf den Kopf - ist aber dennoch bei näherer Betrachtung gar nicht so einfach von der Hand zu weisen.

In der Pflanzenwelt lässt sich das wuchernde, überschäumende Leben am besten studieren. Ihre Lebensenergie schöpft die Pflanze durch Photosynthese ganz unmittelbar aus dem Sonnenlicht. Das Wesen der Pflanzen lässt sich nur verstehen, wenn man sieht, wie es ganz und gar zur Sonne hin orientiert ist. Das Blattgrün, das Chlorophyll, mittels dessen die Pflanze Photosynthese betreibt, ist geradezu ein stoffliches Abbild der inneren Gesetzmäßigkeiten des Sonnenlichts, und man geht vielleicht nicht ganz fehl darin, zu sagen, dass das Sonnenlicht im Laufe langer erdgeschichtlicher Entwicklungsepochen der irdischen Materie solange seine innerste Natur aufgeprägt hat, bis endlich das Blattgrün, aber auch viele andere komplexe Strukturen entstehen konnten, die es der Pflanze ermöglichen, sich vom Licht zu ernähren. Das Sonnenlicht verleiht der Pflanze also nicht nur ihre vitale Lebenskraft, es hat ihr bis zu einem gewissen Grad auch die typische Struktur gegeben! Diese lässt sich aus der materiellen Grundlage allein nicht verstehen und in einer finsteren, lichtlosen Welt wären die Pflanzen niemals entstanden. Es entspricht einem weit verbreiteten modernen Vorurteil, dass sich die Gestalt eines jeglichen Lebewesens aus seiner genetischen Grundlage verstehen lasse. Tatsächlich lässt sich nicht einmal die Struktur der einfachsten lebendigen Zelle aus den Genen ableiten. Dass ihnen dennoch eine wichtige Rolle zukommt, soll keineswegs geleugnet werden, denn sie stellen das geeignet bildsame Material bereit, das von dem gestaltenden Licht und anderen verwandten Kräften durchformt werden kann, die Rudolf Steiner zusammenfassend als ätherische Bildekräfte bezeichnet hat. Insoweit ein lebendiges Wesen diese Kräfte auf unverwechselbare Weise in seinen Organismus aufnimmt, darf man von einem Bildekräfte- oder Ätherleib sprechen, der als eigenständige Realität im physischen Leib wirkt und diesen am Leben erhält. Mit dem Tod zieht sich dieser Ätherleib vom physischen Körper zurück und überlässt ihn dem dann unausweichlichen Zerfall.

Das Licht, als typischste dieser Ätherkräfte, ist von nicht-materieller und übersinnlicher Natur – wir machen uns nur gewöhnlich allzu materialistische Vorstellungen davon, die uns über diese Tatsache hinwegtäuschen. Niemand noch hat das Licht mit sinnlichen Augen gesehen! Was wir einzig sehen, sind die glänzenden Farberscheinungen, die das Licht auf die Oberflächen der materiellen Welt zaubert. Die ganze Farbenfülle, die uns aus der Natur entgegen leuchtet, die strahlende Aureole einer Kerzenflamme, selbst die blendende Erscheinung der Sonnenscheibe sind nur Wirkungen des Lichtes, aber nicht dieses selbst. Ein Raum mag ganz und gar von Licht durchflutet sein – er erscheint uns solange vollkommen finster, als nicht materiellere Gegenstände, und seien es auch nur die feinsten Stäubchen, in ihn eintreten und das Licht an ihrer Oberfläche farbig erglänzen lassen. Der nächtliche Sternenhimmel ist dafür das beste Beispiel. Zwar sehen wir die leuchtenden Sterne, dazwischen aber ist der Himmel finster, obwohl er ganz und gar von allen Seiten vom Sternenlicht durchströmt wird. Wie uns die moderne Physik lehrt, ist das Licht letztlich reine strahlende Energie, und die zeitgenössische Kosmologie geht davon aus, dass der ganze äußere Kosmos aus einem gewaltigen lichtartigen Energieblitz, dem vielzitierten Urknall, entstanden sei und dass sich die Materie erst allmählich aus dieser ursprünglichen Energieflut herauskristallisiert hat. Materie ist, populär ausgedrückt, so etwas wie „gefrorenes“ Licht. Die nichtmaterielle übersinnliche Lichtenergie ist also die primäre Realität und die Materie selbst nur eine sekundäre Erscheinung. Und diese primäre kosmische Energie ist keineswegs als blind wirkende Kraft anzusehen, sondern sie trägt in sich alle die Naturgesetze, die unsere Welt beherrschen und von denen wir heute erst jene annähernd durchschauen, welche in der toten trägen Materie eingefangen wurden. Diese Naturgesetze sind gleichsam die dem Kosmos innewohnende schaffende Intelligenz, die unsere Welt gestaltet. Etwas von dieser Intelligenz, die in der gesetzmäßigen Struktur der Materie begraben ist, haben wir heute bereits entdeckt. Die weit größere schöpferische Intelligenz, die den Lebenserscheinungen zugrunde liegt, kennen wir noch sehr wenig. Dass wir uns diese kosmische Intelligenz nicht allzu anthropomorph analog unserem kleinen menschlichen Verstand vorstellen dürfen, versteht sich von selbst. Dieser mag höchstens ein matter Abglanz derselben sein. Indem wir zugeben, dass Naturgesetze in unserer Welt wirken, dass das Naturgeschehen nicht vollkommen regellos und willkürlich abläuft, – und das müssen wir als Naturwissenschaftler, der gerade diese Gesetze zu entdecken sucht, zwangsläufig – dann geben wir damit auch implizit zu, dass eine derartige Intelligenz in der Welt waltet. Man liegt nicht ganz falsch, wenn man die Ätherkräfte als Gedankenlichtkräfte bezeichnet. Nur muss man sich dabei klar sein, dass das, was hier mit „Gedanken“ gemeint ist, sich nicht mit den blassen Gedankenschatten vergleichen lässt, die wir durch unseren abstrakten Verstand bilden. Unsere menschlichen Gedanken sind nur wesenlose, kraftlose Schatten, sind bloße Bilder ohne eigenständige Wirklichkeit - die hier gemeinten ätherischen Gedankenlichtkräfte sind dagegen gesetzmäßig in der äußeren Welt real tätige wirkende Naturkräfte. Der Ätherleib, sei es nun der des Menschen, der eines Tieres oder der einer belebten Pflanze, darf dementsprechend als Gedankenlichtleib bezeichnet werden. Was wir mit unserem irdischen Verstand etwa mit dem Allgemeinbegriff, mit der Idee der „Rose“ zu erfassen meinen, ist in Wahrheit der in sich konsolidierte Gedankenlichtleib, der eine heranwachsende Pflanze zur Rose ausgestaltet. Johann Wolfgang von Goethe, der sich ja sehr vielfältigen Pflanzenstudien gewidmet hat und daraus seine Metamorphosenlehre entwickeln konnte, hat etwas davon geahnt, wenn er von der „Urpflanze“ sprach, die ihm weit mehr war als ein bloßer abstrakter Begriff. Der Gedankenlichtleib, der Ätherleib verleiht jedem Lebewesen - Pflanze, Tier und Mensch –seinen charakteristischen arttypischen bzw. individuellen Bau. Und so ist es der menschliche Gedankenlichtleib, der uns die äußere physische Gestalt bildet und erhält.

Das Bewusstsein

 

Ein Lichtstrahl bricht sich noch in etwas ganz anderes als in Farben. Wenigstens ist der Lichtstrahl einer Beseelung fähig, wo sich dann die Seele in Seelenfarben bricht. Wem fällt nicht der Blick der Geliebten ein?

Novalis

Licht erzeugt nicht nur äußere Wirkungen, sondern es kann auch innerlich seelisch erlebt werden. Nicht zu unrecht sprechen wir vom „Licht des Bewusstsein“ – und das ist mehr als eine bloße Metapher. Die Bilder unserer Traumwelt sind dafür ein einfaches Beispiel. Diese innere Seite des Lichts kann natürlich nur innerlich erfahren werden und ist der äußeren Beobachtung unzugänglich. Hätte das Licht nicht diese innere seelisch wirkende Kraft, wäre eine bewusste sinnliche Wahrnehmung gar nicht möglich. Denn was sind denn etwa die verschiedenen Farben, die wir in der Natur erleben? Die Farbqualitäten, die wir erleben, sind nichts Stoffliches. Zu fragen, wie viel etwa das Farberlebnis „Rot“ wiegt, wie schwer es ist, ist ganz und gar unsinnig. Wir kennen zwar die verschiedensten Farbstoffe, aber deren stoffliche Eigenschaften sagen uns ganz und gar nichts über das Rot oder Grün, das wir an ihnen erleben. Sinnesqualitäten wie Rot, Grün usw. können nur seelisch erlebt werden, sie haben keine äußere physische oder ätherische Existenz, sondern sie sind eine rein seelische Realität, die aber vermittels des Auges an der äußeren Welt erlebt wird. So kann das Licht nach zwei Seiten wirken. Ergreift es eine geeignete äußere Materie, wie wir sie etwa in den Pflanzen finden, dann wirken die ätherischen Bildekräfte so, dass beispielsweise das Blattgrün entstehen kann. Wenden sich dieselben Kräfte vom Physischen ab und dem Seelischen zu, erregen sie ein inneres seelisches Bild, das uns als entsprechender Farbeindruck bewusst wird.

Damit können wir aber auch die Frage beantworten, warum in der Pflanze, im Gegensatz zu Tier und Mensch, ganz offenkundig kein wirkliches Bewusstsein erwacht. In der Pflanze sind sämtliche in sie einströmenden ätherischen Bildekräfte darauf ausgerichtet, die pflanzliche Materie zu gestalten und umzugestalten. Gerade dadurch wird uns die Pflanze zum treffenden Bild des wuchernden Lebens schlechthin. In beseelten Wesen wie Tier und Mensch wendet sich ein Teil dieser Bildekräfte von der Körperbildung ab und beginnt nach der anderen, inneren Seite hin seelische Bilder zu formen, in denen sich das innere Wesen der ätherischen Kräfte offenbart.

Wenn in beseelten Wesen ein Teil der lebendigen Bildekräfte sich nicht mehr auf die Körperbildung richtet, werden dem physischen Organismus Lebenskräfte entzogen. Er muss weniger vital als ein entsprechendes unbeseeltes Wesen erscheinen. Das ist auch tatsächlich der Fall. Nirgends ist die vitale Regenerationsfähigkeit so ausgeprägt wie im Pflanzenreich. Tiere sind umso regenerationsfähiger, je weniger hoch sie entwickelt sind, d.h. je weniger das Bewusstsein in ihnen aufleuchtet. Ein Regenwurm, der einen Teil seiner Ringsegmente einbüßt, kann diese sehr leicht wieder nachwachsen lassen. Selbst ein Frosch kann ein Bein, das er verliert, noch rudimentär ersetzen. Das ist den höheren Säugetieren nicht mehr möglich. Sie sind aber immerhin noch zu einer wesentlich stärkeren und rascheren Wundheilung befähigt als der Mensch. Der Mensch, als das bewussteste aller Erdenwesen, muss mit dem vergleichsweise unlebendigsten, totesten Organismus auskommen.

Bewusstsein kann nur dort entstehen, wo Lebensprozesse zurückgedrängt werden; oder anders ausgedrückt, wo Abbauprozesse, Todesprozesse in den Vordergrund treten. Nicht das Leben, sondern der Tod ist die Basis für das Bewusstsein! Nur weil wir als Menschen während unseres ganzen Erdenlebens den Tod schon in uns tragen, kann unser starkes Bewusstsein erwachen. Wo immer Seelenkräfte in den Organismus einziehen, fordern sie einen Teil der Bildekräfte für sich und entziehen sie dem Körper. Das sieht man am deutlichsten an jenem Organ, das zum geeigneten physischen Werkzeugen des Bewusstsein geworden ist: dem Nervensystem. Von allen Zellen des Körpers sind die Nervenzellen jene, welchen die Vitalkräfte am stärksten mangeln. Ab einem gewissen Lebensalter, spätestens ab der Geschlechtsreife, verlieren sie ihre Regenerationsfähigkeit vollständig. Nervenzellen können sich nicht mehr teilen, nicht mehr vermehren. Täglich sterben in uns tausende von Nervenzellen ab, ohne von neuen ersetzt zu werden. Das Nervensystem ist gleichsam der große Friedhof in unserem Organismus – aber gerade dadurch dienendes Organ für das Bewusstsein. Der Tod entzündet in uns das innere Licht des Bewusstseins.

Die Seele ist der eigentliche Träger des Bewusstseins. Sie ist es, welche die Sinnesqualitäten, die Emotionen, Gefühle, Gedanken usw. erlebt, sich mit Sympathie und Antipathie zu ihren Mitgeschöpfen erfüllt. Nur beseelte Wesen sind solcher Erlebnisse fähig. Aber die Seele vermag sich zunächst nicht selbst wahrzunehmen, so wie sich etwa das Auge nicht selbst sieht, sonder wir durch das Auge die Außenwelt erleben. Das Auge selbst können wir nur sehen, wenn wir in einen Spiegel blicken – und so kann sich die Seele dessen, was in ihr vorgeht nur dann bewusst werden, wenn sie sich dazu eines geeigneten Spiegelungsapparates bedient. Das Nervensystem ist ein solcher Spiegelungsapparat. Es ist nicht der Bewusstseinsträger in uns, das Nervensystem selbst erlebt gar nichts, in ihm laufen nur bewusstlose biochemische Prozesse ab, aber es ist das notwendige Werkzeug, damit das Bewusstsein erwachen kann – zumindest solange, als wir in einem irdisch physischen Leib leben. Wie sich das Bewusstsein entfalten kann, wenn dieses physische Instrument wegfällt, ist eine andere Frage – eine entscheidende Frage, wenn wir das Bewusstsein des Toten verstehen wollen. Dass sich das Bewusstsein mit dem Tod entscheidend verändert, vielleicht sogar erlischt, müssen wir jedenfalls annehmen.

Die Seele empfindet aber nicht nur das, was ihr aus der körperlichen Tätigkeit mittels des Nervensystems zurückgespiegelt wird, sie wirkt auch aktiv tätig auf den Organismus zurück. Pflanzen sind fest in der Erde verwurzelt und vermögen sich nicht aktiv und frei in ihrer Umwelt zu bewegen, wie es Tier und Mensch können. Die Impulse zu dieser freien Bewegung im Raum gehen von der Seele aus. Sie beeinflusst auch die innere Lebenstätigkeit des Körpers, hemmt sie, wenn sie stärker in den Organismus eintaucht, oder fördert sie, wenn sie sich mehr zurücknimmt. Darum nützt auch das wache Tagesleben, wo die Seele viel intensiver in das körperliche Geschehen eingreift, den Organismus stärker ab als der nächtliche Schlaf, wo das Bewusstsein erlischt, weil sich die Seele vom physischen Leib zurückzieht.

So wie wir dem Leben, d.h. dem Ätherleib, wie ihn Rudolf Steiner genannt hat, eine eigenständige, vom physischen Leib unabhängige Existenz zubilligen können, so dürfen wir auch die Seele als eigenständige, übersinnliche, auf sich selbst gegründete Wirklichkeit auffassen. Allerdings kann sie, soweit wir bis jetzt gesehen haben, ihre volle Wirkung nur mithilfe des physischen Körpers bzw. des Ätherleibes entfalten. Sie ist also zunächst sehr stark auf die irdische Welt hinorientiert. Insofern die Seele in dem belebten irdischen Körper lebt, können wir sie sachgemäß als Seelenleib, oder Trieb- und Empfindungsleib, wie sie Rudolf Steiner nannte, bezeichnen. Da die Seele eine eigenständige Wirklichkeit darstellt, dürfen wir darauf hoffen, dass sie auch nach dem Tod weiter existiert. Wie und ob sie sich dann aber noch ihrer eigenen Tätigkeit bewusst werden kann, wenn das physische Werkzeug wegfällt, bleibt vorerst noch offen.

Das Selbstbewusstsein

Unser Traumleben unterscheidet sich sehr wesentlich von unserem wachen Tagesbewusstsein. Es erscheint als sprunghafter, ungeordneter Strom oft stark verfremdeter Erinnerungsbilder, in dem sich mannigfaltige emotionale Spannungen, versteckte Begierden, aber auch innere Organzustände symbolisieren, scheinbar ohne jegliche erkennbare innere Logik und ohne jenes feste Zentrum, das wir im Wachzustand als unser „Ich“ bezeichnen. Wenn wir träumen, sind wir zwar bewusst, aber zugleich nicht wach genug, um unser selbst bewusst zu sein. Nur wenn wir wachen, vermögen wir den Bewusstseinsstrom durch unser klares Denken zu ordnen und uns durch denkende Selbstbestimmung als selbstbewusstes Subjekt den Objekten der Außenwelt gegenüberzustellen. Den Tieren fehlt diese denkende Selbstbestimmung und sie bleiben daher Tag und Nacht in diesem abwechselnd helleren oder dumpferen Bewusstseinsstrom befangen. Nur sind die Träume der Tiere offenkundig wesentlich wirklichkeitsbezogener als das, was die Menschen heute so träumen, denn die Tiere werden durch dieses Traumbewusstsein mit geradezu traumwandlerischer, instinktiver Sicherheit durch die Welt geleitet.

Die sicheren Instinkte der Tiere musste der Mensch verlieren, aber er hat dafür in seinem unverwechselbar einmaligen Ich, in seiner geistigen Individualität, das Zentrum seines Wesens gefunden, das ihn dadurch von allen anderen Naturreichen unterscheidet. Wollen wir den irdisch verkörperten Menschen vollständig beschreiben, so müssen wir also folgende Wesensglieder nennen:

 

Physischer Leib

Ätherleib (Lebensleib, Bildekräfteleib)

Seelenleib (Trieb- und Empfindungsleib)

Ich

 

Was immer auch der Mensch mit den anderen Naturreichen gemein hat, erst durch sein individuelles Ich macht er sich zum Menschen und das physische Gehirn ist zunächst das Werkzeug, durch das sich dieses Ich seiner selbst bewusst wird. Bis in die feinsten Strukturen hinein ist es der einzigartigen Individualität des Menschen angepasst. Aber nicht weil der Mensch ein solches Gehirn hat, ist er eine Individualität, sonder umgekehrt: weil der Mensch ein Individuum ist, baut er sich ein derartiges Organ, um sich seiner selbst bewusst zu werden. In letzter Konsequenz ist es das menschliche Ich, das sich das geeignete Gehirn erschafft. Das Ich geht dem Gehirn voran, aber wir werden uns während des Erdenlebens dieses Ichs erst bewusst, wenn die Gehirnentwicklung weit genug gediehen ist. Das kleine Kind weiß noch sehr wenig von sich selbst, sein Gehirn braucht noch lange Zeit um auszureifen. Wenn wir unser Erdenleben antreten, bleibt das Bewusstsein noch lange traumartig dumpf und hellt sich erst nach und nach auf und dann beginnen wir uns allmählich als selbstständiges Wesen in einer fremden äußeren Welt zu begreifen. Schlafend treten wir durch das Tor der Geburt. Ganz dumpf ist anfänglich das Bewusstsein, weil die Lebenskräfte sich ganz und gar an die Gestaltung des physischen Leibes hingeben und nur ganz wenig überbleibt, das in das seelische Erlebnis zurückgespiegelt werden kann. Niemand noch hat seine eigene Geburt bewusst miterlebt – das Todeserlebnis nimmt sich demgegenüber ganz anders aus.

Das Todeserlebnis und die ersten außerkörperlichen Erfahrungen

Der Tod löscht das Leben nicht aus, aber es trennt sich endgültig vom physischen Körper, worauf dieser unausweichlich dem Verfall anheim gegeben wird. Im Todesmoment steigern sich die Todesprozesse, die uns schon während unseres ganzen Erdenlebens die Grundlage für unser Bewusstsein geben, in ungeheurem Maße. Im Moment des Todes leuchtet das Bewusstsein derart hell auf, wie wir es während unseres Erdenlebens niemals erfahren können. Immer wieder berichten Menschen, die bereits an die Schwelle des Todes gekommen sind, aber noch einmal zurückgeholt werden konnten, von diesem strahlenden Lichterlebnis, das entsteht, wenn die ganzen Lebenskräfte aus dem physischen Körper herausgeschleudert werden und ihren gewaltigen Widerhall in der Seele erregen. Das Bewusstsein, das mit dem Tod erwacht, ist ungleich stärker, reicher und wirklichkeitsgesättigter als unser irdisches waches Tagesbewusstsein. So stark ist dieses im Tod aufstrahlende Bewusstseinslicht, dass es dem Toten sein ganzes weiteres Dasein erhellt. So intensiv und blendend ist dieses Seelenlicht, dass der Tote darin zunächst gar keine Einzelheiten unterscheiden kann, und nur indem es sich allmählich abdämpft, werden einzelne Details wahrnehmbar.

Nachdem mit dem Tod der physische Leib abgelegt wurde, lebt der Tote zunächst in seinen drei höheren, nur übersinnlich erfahrbaren Wesensgliedern weiter. Das sind: der Ätherleib, der Seelenleib und das Ich. Da wir nun nicht mehr mit dem physischen Leib verbunden sind, verändert sich das Bewusstsein zwangsläufig ganz entscheidend. Alles das, was wir durch die physischen Sinnesorgane während des Erdenlebens wahrnehmen konnten, verschwindet bald. Ebenso die abstrakten Gedanken, die auf das physische Werkzeug des Gehirns angewiesen sind. Das heißt aber nicht weniger, als dass das meiste, was wir auf Erden im wachen Tagesbewusstsein erleben konnten, für uns sehr bald nicht mehr greifbar ist. Nur eine ganze kurze Zeit lang können gelegentlich die Sinneswahrnehmung und das abstrakte Denken aufrechterhalten werden, da es ja im Grunde nicht die physischen Organe sind, die wahrnehmen, sondern letztlich das selbstbewusste Ich, das mit Hilfe des Seelenleibes und des Ätherleibes durch die Sinnesorgane in Kontakt mit der Außenwelt kommt. Die physischen Organe prägen dem Ätherleib und dem Seelenleib nur ganz spezifische Gewohnheiten auf, wie sie für die sinnliche Wahrnehmung nötig sind. Solange der Ätherleib und der Seelenleib diese Gewohnheiten beibehalten, ist eine eingeschränkte sinnliche Wahrnehmung noch möglich. Es entstehen dann Erlebnisse, wie sie gelegentlich von Menschen geschildert werden, die nahe an den Tod herangekommen sind und später berichten, wie sie sich dann außerhalb ihres physischen Körpers wiedergefunden haben, sich dabei als über ihm schwebend empfanden und auf ihn herabblicken konnten und auch bewusst miterlebten, was Ärzte und Retter sprachen und taten, um sie wieder ins Leben zurückzurufen. Derartige außerkörperliche Erfahrungen sind gar nicht so selten. Auch ohne in unmittelbare Todesnähe zu kommen, treten sie gelegentlich spontan auf. Sie beruhen stets darauf, dass sich die drei höheren Wesensglieder zumindest teilweise vom physischen Körper lösen, aber noch die der physischen Welt angemessenen Gewohnheiten beibehalten.

Was uns zunächst bleibt, wenn die äußere Wahrnehmung und das Verstandesdenken schließlich vollständig dahinschwinden, ist der Blick in bzw. auf den eigenen Ätherleib. Er ist es, der das blendende Bewusstseinslicht in der Seele erregt, wenn er sich dem physischen Körper entreißt. Unser Bewusstsein, wie wir es uns auf Erden erworben haben, ist zunächst viel zu schwach um diese blendende Fülle zu bewältigen. Der allergrößte Teil der Bildekräftetätigkeit war ja während des irdischen Lebens der beständigen Erhaltung und Regeneration des physischen Leibes zugewendet und blieb uns deshalb völlig unbewusst; nur ein sehr, sehr geringer Teil der Lebenskräfte wurde in das seelische Erleben zurückgespiegelt, und nur diesen Teil vermag der Tote zunächst bewusst zu erfassen. Was also ist der Inhalt dieses Bewusstseins? Sinneswahrnehmung und Verstandesdenken sind es nicht mehr – dafür aber die Erinnerungen an das, was wir wahrgenommen und gedacht haben! Der Ätherleib ist nämlich der eigentliche Träger des Gedächtnisses. Während unseres Erdenlebens können wir uns an viele Dinge, die wir erlebt haben, nur sehr schwach erinnern, an manche gar nicht mehr. Nach dem Tod leuchtet das Gedächtnis mit ungeheurer Stärke auf und zeigt uns das vergangene irdische Leben als lückenloses Lebenspanorama. Alle Erlebnisse, die wir hatten, stehen gleichzeitig und ganz deutlich vor unserem Seelenblick. Alles, was wir längst vergessen glaubten, erleben wir nun noch einmal, aber mit der nüchternen Distanz eines neutralen Beobachters, was daran liegt, dass sich der Ätherleib bereits vom Seelenleib zu lösen beginnt und gleichsam von außen angeschaut wird, was während des wachen Erdenlebens niemals der Fall ist. Die Zeit spielt hier keine Rolle mehr. Ähnliche Phänomene kennt man ja auch aus dem Traumleben, wo sich innerhalb von Sekundenbruchteilen ein ganzes gewaltiges Traumdrama entrollen kann.

Man wird das Ganze noch besser verstehen, wenn man sich vor Augen hält, wie das Gedächtnis des auf Erden verkörperten Menschen eigentlich funktioniert. Was immer die Seele augenblicklich erlebt, lebt der Ätherleib sehr stark mit - denn im Wachzustand sind Ätherleib und Seelenleib ganz stark mit einander verbunden - und bewahrt es als dynamische innere Lebenstätigkeit auf. Diese durch das seelische Erleben erregte Lebenstätigkeit greift sehr bald auf den physischen Körper über und prägt diesem entsprechende Spuren ein. Damit diese Spuren auch ein Leben lang erhalten bleiben, muss sie der Ätherleib beständig regenerieren. Der Ätherleib nimmt also das seelische Erleben auf, setzt es in eine entsprechende Lebenstätigkeit um und gräbt diese dem Körper ein. Damit wird aber das, was wir seelisch erlebt haben, zunächst in die Tiefe des physischen Organismus hinein „vergessen“. Denn wenn sich die Bildekräftetätigkeit ganz dem Körper zuwendet, kann sie keine seelischen Bilder mehr erregen. Das entspricht auch durchaus unserer alltäglichen Erfahrung, denn wir tragen das, was wir einmal erlebt haben nicht ununterbrochen im Bewusstsein, und es ist, wie mancher Prüfling schmerzlich bemerken muss, oft sehr mühevoll, Erlerntes wieder ins Bewusstsein heraufzuheben. In der frühesten Kindheit verbindet sich das, was wir erleben, am aller stärksten mit dem physischen Leib. Nur flüchtige Reflexe spiegeln sich in der Seele wider und fast alles gerinnt zu körperlichen Strukturen. Alles, was wir als kleines Kind wahrnehmen, prägt sich dem Organismus so stark ein, dass wir uns später niemals daran erinnern können. Was wir als Baby nahezu bewusstlos wahrnehmen, gestaltet so überhaupt erst die Feinstruktur des Gehirns aus. Relativ leicht erinnern können wir uns nur an das, was wir mit dem voll erwachten Ichbewusstsein erlebt haben. Die dadurch gebildeten Gedächtnisspuren graben sich dem Organismus nur sehr oberflächlich ein. Die traumartigen Erlebnisse des Seelenleibes heften sich schon wesentlich stärker an den physischen Leib und können darum nur sehr viel schwerer wieder dem Dunkel des Vergessens entrissen werden. Deswegen können wir uns auch an die meisten nächtlichen Träume nur sehr wenig erinnern. Erst nach dem Tod werden uns die Erfahrungen des Seelenleibes lückenlos zugänglich. Tatsächlich ist das, was wir mittels des Seelenleibes erleben, sehr viel reicher als das, was wir mit dem vollen Selbstbewusstsein begleiten. Unser Selbstbewusstsein ist eben noch sehr schwach ausgebildet. Das nachtodliche Lebenspanorama zeigt uns daher vor allem jene Erfahrungen, deren wir uns auf Erden gar nicht so recht bewusst geworden sind, oder die wir gewaltsam in die tieferen Bewusstseinsschichten verdrängt haben. Das Lebenspanorama, das sich nach dem Tod unserem Seelenblick zeigt, unterscheidet sich daher doch sehr wesentlich von unserem irdischen Erinnerungsvermögen.

Was geschieht also, wenn wir uns an etwas erinnern? Erinnern heißt, dass wir die ätherischen Bildekräfte, welche die physischen Gedächtnisspuren beständig regenerieren, vom Körper abziehen und in das seelische Erleben zurückleiten. Die physischen Gedächtnisspuren beginnen sich dadurch aufzulösen, und nur wenn wir das Erinnerte wieder aus dem Bewusstsein entlassen, kann sie der Ätherleib dem physischen Körper neuerlich, vielleicht in modifizierter Form wieder einprägen. Es wäre also wahrscheinlich nicht sehr gesund, wenn wir uns an die frühesten Kindheitserlebnisse erinnern würden, denn dann könnte die Feinstruktur unseres Gehirns sehr leicht beschädigt werden. Erleben, Vergessen und Erinnern stellen einen wichtigen Lebenszyklus dar, durch den unser physischer Leib immer wieder nach Maßgabe unserer Lebenserfahrungen ganz leise umgestaltet und diesen angepasst wird. Bei den Tieren ist dieser Lebenszyklus beinahe ausschließlich auf eine kurze, sehr frühe Lebensepoche beschränkt. Beim Menschen ist diese Fähigkeit am stärksten in der frühen Kindheit ausgeprägt; mit zunehmendem Alter beginnt sich der Ätherleib bereits ganz vorsichtig vom physischen Leib zu trennen. Es fällt uns dann immer schwerer, Gedächtnisspuren unserem Organismus einzugraben, dafür tauchen aber plötzlich Jugenderlebnis wieder auf, an die man sich während des ganzen Lebens davor nicht erinnern konnte. Dieses Phänomen findet man bei älteren Menschen ja sehr häufig.

Solange wir auf Erden leben, sind die ätherischen Bildekräfte sehr stark dem physischen Leib zugewendet und verhindern dessen Zerfall. Nach dem Tod, wenn der physische Leib wegfällt, folgen sie ihrer inneren kosmischen Lichtnatur und gliedern sich dem kosmischen Geschehen ein. Schon wenige Tage nach dem Tod beginnt sich der Ätherleib normalerweise aufzulösen, wodurch auch das Lebenspanorama allmählich verblasst, gleichsam dünn und durchsichtig wird und nun anderen Erlebnissen Platz macht, die viel inniger mit unserem inneren Seelenwesen verbunden sind als dieser nüchterne Gesamtüberblick über die äußeren Geschehnisse des vergangenen Erdenlebens.

Die Läuterungszeit

Solange wir auf Erden in einem physischen Leib verkörpert sind, wird das, was wir seelisch erleben, sehr wesentlich durch die sinnliche Außenwelt und die eigenen körperlichen Bedürfnisse bestimmt. Diese Erlebnisse hören mit dem Tod auf. Die sinnliche Wahrnehmung ist nicht mehr möglich und auch die unmittelbar durch den physischen Körper erregten Empfindungen, etwa das Hunger- oder Durstgefühl, verschwinden. Wenn uns hungert oder dürstet, heißt das ja nur, dass wir innerlich wahrnehmen, wie die eigenen Lebensprozesse durch mangelnde Nahrungszufuhr beeinträchtigt werden. Anders ist es allerdings, wenn sich der Feinschmecker nach dem anregenden Geschmack köstlicher Speisen sehnt. Dabei handelt es sich nicht um ein bloßes Hungergefühl, sondern der Feinschmecker hat während des Erdenlebens eine seelische Begierde nach bestimmten lustvollen Geschmackserlebnissen erworben. Diese seelische Begierde hat zwar keine unmittelbare körperliche Ursache, kann aber nur mittels des körperlichen Werkzeuges befriedigt werden. Das ist nach dem Tod nicht mehr möglich, aber die Seele sehnt sich dennoch weiterhin nach solchen Erlebnissen, und sie wird so lange darunter leiden, dass diese Sehnsüchte nicht mehr befriedigt werden können, bis sie sich dieser rein seelischen Begierden, die sich aber nur in einem physischen Leib ausleben können, entwöhnt hat.

In den alten Überlieferungen wird immer wieder von einer solchen Läuterungszeit gesprochen, welche die Seele nach dem Tod durchzumachen hat, egal ob man sie nun gemäß der jüdisch-christlichen Tradition Fegefeuer nennt, oder der indischen Anschauung folgend als Kamaloka (wörtlich: Ort der Begierde) bezeichnet. Man sollte darin weniger ein göttlich verordnetes Strafgericht sehen, das wäre zu schulmeisterlich gedacht, sondern vielmehr einen notwendigen geistgemäßen Prozess, durch den die Seele den irdischen Verhältnissen entwächst und offen für ihr neues seelisch-geistiges Dasein wird, das ihrer innersten Natur eigentlich viel mehr entspricht. Dieser Prozess läuft ganz zwangsläufig ab, egal ob wir ihn aus unserem Wesenkern, aus unserem Ich her bejahen oder verneinen. Wenn die Seele also nach dem Tod der irdischen Begierden entkleidet wird, ist damit noch keineswegs gesagt, dass deswegen das Ich schon gelernt hat, diesen freiwillig zu entsagen. Die freie Wahl, sich der Begierde hinzugeben oder sie zu vermeiden, ist nur während des Erdenlebens möglich, wo diese Begierde grundsätzlich auch immer wieder befriedigt werden kann. Und diese freie Wahl allein entscheidet eigentlich über den moralischen Wert des Menschen. Daraus erhellt sich die einzigartige Bedeutung des irdischen Daseins. Ein Ort der beständigen Versuchung ist die Erde für den Menschen, zugleich aber auch ein Ort, der uns ermöglicht, uns moralisch zu bewähren. Mit dem Tod wird die große Summe unseres Lebens gezogen; mit der moralischen Qualität, die wir uns bis dahin erworben haben, müssen wir unseren Weg in das körperlose Dasein antreten. Von nun an vermögen wir daran nichts mehr zu ändern. Unser eigener moralischer Wert kann nicht mehr erhöht oder vermindert werden. Dafür aber lernen wir nun, den erreichten moralischen Reifegrad immer besser einzuschätzen. Die Selbsterkenntnis ist nach dem Tod radikal und beleuchtet die verborgensten Winkel unseres Seelenlebens.

Nach und nach enthüllen sich dem Toten so die tieferen Bereiche des Seelenlebens, die während des irdischen Daseins weitgehend nur unterbewusst erlebt wurden. Eine Umwendung des ganzen seelischen Erlebens findet gleichsam statt. Was wir während des Erdenlebens wach bewusst erlebt haben, wird nach dem Tod weitgehend bedeutungslos, während alle die Erlebnisse, die wir auf Erden mehr oder weniger verschlafen haben, nun immer deutlicher vor das Bewusstsein gerückt werden. Schichte für Schichte unseres Seelenlebens wird nun gleichsam abgetragen und bewusst gemacht. Wenn das Lebenspanorama, das uns einen Gesamtüberblick über die äußeren Ereignisse des vergangenen Lebens gegeben hat, wenige Tage nach dem Tod weitgehend abgeklungen ist, beginnen wir auf die inneren Seelenerlebnisse zurückzuschauen, und zwar zeitlich rückläufig, beginnend mit dem Moment des Todes. Immer weiter schauen wir so Schritt für Schritt zurück auf all die tieferen seelischen Empfindungen, die während des abgelebten irdischen Daseins unbewusst durch unsere Seele gezogen sind, bis wir das Tor der Geburt bzw. Empfängnis erreichen.

Bedeutsam sind da vor allem jene Seelenerlebnisse, die uns während des irdischen Lebens mit unseren Mitmenschen verbunden haben. Für unser oberflächliches Alltagsbewusstsein mag es ja so scheinen, als könnten wir nicht mit erleben, was in der Seele der Menschen, denen wir begegnen, vorgeht. Es scheint, als könnten wir sie nur ganz äußerlich betrachten und erschließen daraus vielleicht ganz vage, was ihr Gemüt bewegen könnte. Tatsächlich tauchen wir aber bei jeder Begegnung mit einem anderen Menschen unbewusst sehr tief in dessen Seelenleben ein, so sehr, dass sich unsere Seele für kurze Momente immer wieder geradezu in die seelische Eigenart und Erlebnisweise des Mitmenschen verwandelt. Bewusst werden uns von diesen bedeutsamen Erlebnissen aber meist nur ganz leise Reflexe, durch die wir uns dem einen Menschen zugetan fühlen, einem anderen gegenüber geradezu eine instinktive Antipathie entwickeln. Das hängt meist sehr stark davon ab, wie weit unsere verborgenen seelischen Gewohnheiten mit denen unserer Mitmenschen zusammenstimmen. Eigentlich vollzieht sich jeder soziale Kontakt so, dass wir uns rhythmisch abwechselnd ganz in die Seele des anderen versenken und uns dann wiederum ganz in unser Eigenwesen zurückziehen. Wenn wir etwa einem anderen Menschen mit heftiger Antipathie entgegentreten, dann erleben wir bewusst nur diese unsere Ablehnung. Unbewusst leben wir uns aber auch in die andere Seele ein und spüren den Schmerz oder Zorn, den wir durch unsere Ablehnung ausgelöst haben. Dass wir das heute alles nicht bewusst mitbekommen, hat schon seinen guten Grund. Wir würden uns sonst sehr leicht die Grenzen zwischen unserem seelischen Eigenwesen und dem unserer Mitmenschen zu einem einzigen kollektiven Bewusstseinstrom verschwimmen. Wir würden sehr leicht uns selbst verlieren, wie das ähnlich auch im Traumbewusstsein geschieht. In älteren Zeiten, wo bei den meisten Menschen das Individualbewusstsein noch nicht sehr stark ausgebildet war, lebte man auch tatsächlich sehr viel stärker in diesem traumartigen kollektiven Bewusstsein und noch kaum in sich selbst. Heute muss das Selbstbewusstsein immer mehr ausgebildet werden, wodurch wir allerdings Gefahr laufen, uns ganz in unserem Ego zu verhärten. Dadurch würden letztlich alle sozialen Bindungen, die sich einstmals ganz instinktiv aus dem kollektiven Bewusstsein ergeben haben, zerstört werden und die Menschheit müsste sich in einem unaufhörlichen Kampf aller gegen alle aufreiben. Ansätze dazu sind ja heute bereits genug zu bemerken. Abhilfe dagegen kann aber sicher nicht dadurch geschaffen werden, dass wir unser mühsam erworbenes Selbstbewusstsein wieder aufgeben; wir können nicht mehr zu dem alten kollektiven Empfinden zurückkehren. Vielmehr muss unser Selbstbewusstsein einmal so stark werden, dass es sich voll und ganz in die Seele des anderen versenken kann und doch jedes Mal wieder zu sich selbst zurückfindet. Das erfordert allerdings sehr viel seelische Kraft, ist aber die einzige reale Hoffnung für ein gesundes künftiges soziales Zusammenleben, das nicht mehr auf unbewusste Instinkte, sondern auf waches Mitgefühl gegründet ist.

All das, was wir so heute noch weitgehend verschlafen, kommt uns im Leben nach dem Tod um so deutlicher zu Bewusstsein. Was wir auch immer an seelischen Wirkungen in anderen Seelenwesen erregt haben, werden wir dann sehr intensiv nacherleben. Alle Freude und Heiterkeit, die wir ihnen schenken konnten, leuchtet uns auf, aber all die Schmerzen und Leiden, die wir ihnen zugefügt haben. Wenn wir andere Menschen gekränkt, beleidigt oder verletzt haben, werden wir all das nach dem Tod genau so erleben als wäre es uns selbst geschehen. Und das betrifft wirklich alle beseelten Wesen, mit denen wir im Erdenleben zu tun hatten, also nicht nur unsere Mitmenschen, sondern auch die Tiere, denen wir Lust oder Leid bereitet haben. Was dann in der Seele eines Toten vorgehen mag, der sich während seines Erdenlebens im „Dienste der Wissenschaft“ zu grausamen Tierversuchen hergegeben hat, kann man sich vielleicht ausmalen. Alle diese Erlebnisse lehren uns jedenfalls sehr bald unseren eigenen moralischen Wert treffend und schonungslos zu beurteilen. Ändern können wir in unserem körperlosen Dasein daran zunächst nichts – darauf wurde bereits hingewiesen. So wie wir nur auf Erden schuldig werden können, so ist es uns auch nur im irdischen Leben möglich, aus eigener Kraft Wiedergutmachung zu üben und unsere Mitgeschöpfe seelisch in dem Maße zu fördern, in dem wir sie zuvor geschädigt haben.

Wie können Lebende und Tote zueinander finden?

Die erste Zeit nach dem Tod ist der Verstorbene ein sehr einsames Wesen, beschäftigt damit, auf sein vergangenes Erdenleben zurückzublicken und sich seiner eigenen seelischen Stärken und Schwächen bewusst zu werden. Er lebt zunächst ganz in der eigenen Vergangenheit, die ihm nun allerdings aus einer völlig neuen Perspektive erscheint, aber er findet zunächst noch keinen rechten Zugang zu all den Seelenwesen, die gegenwärtig um ihn sind. Es fällt ihm vorerst noch sehr schwer, sich mit anderen Toten zu verbinden, trotzdem diese ja in der gleichen Sphäre leben wie er selbst, und es gelingt ihm anfangs auch nicht sehr leicht, in die Seele der geliebten Menschen zu blicken, die er auf Erden zurückgelassen hat. Solange der Tote noch vornehmlich damit beschäftigt ist, alle die Begierden abzustreifen, die ihn noch an das körperliche Dasein fesseln wollen, ist sein Seelenblick für alles andere getrübt. Erst wenn allmählich die zuletzt erwähnten Erlebnisse auftauchen, durch die der Tote nacherlebt, welche seelischen Wirkungen er in seinen Mitmenschen ausgelöst hat, wird er reif mitzuerleben, was gegenwärtig in ihnen vorgeht. Wie er sie wahrnehmen kann, hängt dabei aber ganz davon ab, welche seelische Beziehung er im irdischen Leben zu ihnen gefunden haben. In die Seele der Menschen, mit denen wir uns liebevoll verbunden fühlten, können wir uns sehr leicht einfühlen. Menschenseelen, denen wir mit Hass gegenübergetreten sind, bleiben uns weitgehend verschlossen. Wir können und müssen als Toter zwar nacherleben, welches Chaos wir durch unseren Hass in ihrem Seelenleben erregt haben, aber eben diese chaotischen Seelenaufwallungen trüben uns den Blick auf ihr eigentliches Wesen. Denn Hass bedeutet nichts anderes, als dass wir uns zutiefst weigern, uns seelisch auf den anderen einzulassen. Wo immer Seelenkräfte derart aufeinanderprallen, dass sie sich nicht miteinander harmonisieren lassen, entsteht gleichsam ein undurchdringlicher disharmonischer chaotischer Seelenschleier. Hass erzeugt seelische Blindheit. Seelisch wahrnehmen können wir eben überhaupt nur das, worauf wir uns aus ganzer Seele einlassen. Wir müssen uns seelisch in das andere Wesen verwandeln können, um es wahrzunehmen. Im Erdenleben treten wir den anderen Menschen äußerlich gegenüber und können sie wenigstens äußerlich sinnlich wahrnehmen. Das ist nach dem Tod nicht mehr möglich. Es gibt kein Innen und kein Außen mehr, räumliche Begriffe taugen nicht für das rein seelisch-geistige Dasein. Wir leben nun nicht nebeneinander, sondern ineinander. Jetzt müssen wir uns in der Seele der anderen erleben – oder, umgekehrt ausgedrückt, sie in uns. Gelingt uns das nicht, spüren wir zwar seelisch ihre Anwesenheit, kommen aber nicht weiter an sie heran – auch dann nicht, wenn wir bereits eingesehen haben, dass es ganz verfehlt war, sie seelisch zurückzustoßen, . d.h. zu hassen. Uns fehlt, simpel ausgedrückt, vorerst die nötige seelische Gewohnheit und Wendigkeit, uns ihrer seelischen Wesenart gemäß zu verwandeln. Alle seelischen Beziehungen, die wir nach dem Tod anknüpfen können, sind so für geraume Zeit durch das abgelegte Erdenleben geprägt. Wer in seinem Leben von Hass und Missgunst erfüllt war, wird sich nach dem Tod lange sehr einsam fühlen.

Zu Menschen, denen der Tote während seines Erdenlebens niemals begegnet ist, kann er lange Zeit keine Beziehung anknüpfen, egal ob diese noch auf Erden leben oder selbst bereits in eine körperlose Existenz übergegangen sind. Zu fremd sind ihm ihre Seelengewohnheiten, als dass er sich gründlich in sie einleben und sie dadurch wahrnehmen könnte. Verwandte und Bekannte hingegen, die ihm vorangegangen sind, beginnt der Tote nach und nach wahrzunehmen; allerdings muss er dazu seine seelischen Kräfte sehr stark anstrengen und sehr aktiv das imaginative Wahrnehmungsbild aufbauen. Am leichtesten zugänglich sind uns nach dem Tod die Seelen jener geliebter Menschen, die wir auf Erden zurückgelassen haben – sofern diese es zulassen und sich nicht unbewusst dem Seelenblick des Toten entziehen. Dazu muss man bedenken, dass alle die Seelenregungen, die sich bloß auf das äußere irdische Dasein beziehen, sowie auch alle gehirngebundenen abstrakten Gedanken, dem Toten völlig unzugänglich sind. Nur was wir als irdisch verkörperter Mensch an spirituellen Impulsen in unserer Seele rege machen, ist für den Toten miterlebbar. Es liegt in unserer Hand, ob dem Toten die Erde als finstere, stumme Seelenwüste erscheint, oder ob ihm von dort her geistige Leuchtfeuer entgegenstrahlen. Danach dürstet der Tote jedenfalls. Was er von den irdisch verkörperten Seelen an geistigen Anregungen empfängt, kann ihm eine wichtige Orientierungshilfe auf seinem weiteren Weg in die geistige Welt sein, in der er sich erst nach und nach zurechtzufinden lernen muss. Alle geistigen Kräfte, die ihm aus der noch sehr viel vertrauteren Erdenwelt zuströmen können, sind ihm sehr hilfreich. Unsere spirituellen Gedanken und Gefühle sind seelische Nahrung für die Toten. Auch alle echte künstlerische Tätigkeit, die wirklich aus geistigen Quellen schöpft und nicht bloß persönlicher Willkür entspringt, ist Labsal für die Toten - sie sind das dankbarste Publikum, dass man sich nur wünschen kann.

Die Beziehung zwischen Lebenden und Toten ist durchaus wechselseitig. Viel mehr als wir zumeist glauben, sind die Lebenden und die Toten aufeinander angewiesen. Auch wenn wir uns nicht bewusst sind, wie stark die Toten in unser Leben hereinwirken, die Wirkungen sind dennoch da – im Guten wie im Schlechten! Und viele plötzliche gelungene Einfälle, die wir uns natürlich sehr viel lieber selber zuschreiben möchten, aber auch viele unerklärliche positive oder negative Gemütsstimmungen und Willensimpulse, werden von den Toten in uns erregt. Wir täuschen uns nur sehr leicht darüber hinweg, weil wir ihre Impulse nur inmitten unserer Seele erleben können. Seelisches und Geistiges können wir niemals äußerlich, sondern nur innerlich erleben - und wir haben noch nicht genügend gelernt, zu unterscheiden, was wir in unserem Seelenleben wirklich uns selbst zuschreiben dürfen und was von anderen geistigen Wesen, wie etwa den Toten, stammt. Heute verkehren wir als irdisch verkörperte Menschen mit den Toten weitgehend unbewusst. Das birgt immer die Gefahr, dass wir einerseits ihre geistigen Gaben nicht in der rechten Weise aufnehmen und verwerten, und dass wir anderseits ihre berechtigten Bedürfnisse nicht genügend erfüllen. Heilsam wird die Beziehung zwischen Lebenden und Toten künftig nur sein, wenn sie immer bewusster gepflegt wird. Dazu müssen wir aber manche völlig falsche Vorstellung darüber, wie sich die Beziehungen zwischen Leben und Toten gestalten, überwinden. So kann es sehr häufig vorkommen, dass einem der Tote nachts im Traumbild erscheint. Wir liegen aber völlig falsch, wenn wir das als Anzeichen dafür nehmen, dass der Tote mit uns Kontakt aufgenommen hat. Vielmehr spricht sich in einem derartigen Traumerlebnis zumeist nur unsere eigene intensive Sehnsucht aus, an den Toten heranzukommen. Das kann immerhin als positives Zeichen gewertet werden - aber wir dürfen es nicht missdeuten und überbewerten. Wenn der Tote wirklich selbst zu uns spricht, dann erscheint er uns niemals - abgesehen von einer ganz kurzen Zeitspanne von wenigen Tagen nach dem Tod - wie ein traumbildartiges Abbild seiner aus dem Erdenleben vertrauten Gestalt, sondern er scheint, wie oben angedeutet, geradezu aus der Mitte unseres eigenen Wesens zu sprechen.

Zwei Dinge können uns nun ganz wesentlich daran hindern, den bewussten Umgang mit den Toten zu pflegen: übermäßige Trauer oder völlige Gleichgültigkeit. Dass uns völlige Gleichgültigkeit den Toten nicht nahe bringen kann, versteht sich von selbst. Warum uns unsere Trauer von den Toten trennen kann, wird man vielleicht nicht sofort einsehen wollen – und doch ist gerade das häufig die Ursache dafür, dass wir keine rechte Verbindung zu den Verstorbenen aufnehmen können. Trauer ist der verständliche und berechtigte Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen, der aus unserer Mitte gerissen wurde – aber es ist ganz alleine unser Verlust, unser Schmerz, den wir empfinden, weil sich nun unser Leben hier einschneidend verändert. Je näher wir dem Toten standen, je intimer wir mit ihm vielleicht über viele Jahre zusammengelebt haben, je intensiver wir uns ihm seelisch verbunden fühlten, desto tragischer wird dieser Schmerz in unserer Seele wühlen. Wir müssen diesen Schmerz bewältigen. Das ist nicht leicht und erfordert Zeit und viel seelische Kraft, aber gerade diese seelische Kraft, die wir für unsere ehrliche Trauerarbeit aufwenden, kommt dem Toten zugute, und wir schaden ihm, wenn wir unseren Schmerz allzu sehr hegen und pflegen. Wir hüllen uns dann geradezu in einen undurchdringlichen Seelennebel ein, durch den weder wir zu dem Toten hinfinden können, noch er zu uns. Denn eines müssen wir uns stets bewusst sein: mit dem, was der Tote in seinem neuen Daseinszustand erlebt, hat diese Trauer nicht das geringste zu tun. Dass auch der Tote einiges zu erleiden hat, haben wir gesehen an all den Erlebnissen, die er während seiner Läuterungszeit durchmachen muss; der Tote wächst in diese Erfahrungen aber erst nach und nach hinein. Der Tod selbst und auch die erste Zeit nach dem Tod wird zumeist sehr positiv und lichtvoll erlebt. Wenn uns unsere übermäßige eigene Trauer nicht zu sehr das Bewusstsein dämpft, können wir etwas von dieser freudvollen Geburt ins Geistige hinein, die der Tote nun erlebt, schon leise mitempfinden. Es wird sich dann neben unserer eigenen Trauer ein sehr merkwürdiges und überraschendes, geradezu heiter-friedvolles Gefühl einstellen, sowie die zunächst völlig unerklärliche emotionale Gewissheit, dass der Verstorbene nun zwar nicht mehr sinnlich sichtbar und körperlich greifbar für uns da ist, aber doch irgendwie viel intensiver für uns präsent ist, als er es während seines irdischen Lebens jemals war. Es ist, als würden wir ihm nun erstmals in seinem wahren Wesen begegnen. Das alles ist, wie gesagt, zunächst nur ein sehr, sehr vages, aber doch nicht wegzuleugnendes Gefühl. Wir sind dann immer noch weit davon entfernt, eine ganz bewusste Beziehung zu dem Toten anzuknüpfen, aber wenn wir dieses Gefühl immer wieder pflegen, kann es uns dem Toten sehr nahe bringen. Wir dürfen uns nur nicht durch unsere eigene Trauer von diesem realen Mitempfinden mit dem Toten ablenken lassen. Grundsätzlich lässt sich dieses anfangs nur sehr dumpfe Mitempfinden unbegrenzt steigern und führt dann schließlich dazu, dass wir den Toten wirklich auf seinem weiteren Weg bewusst begleiten können.

Währt das Leben nach dem Tod ewig?

Den weiteren Weg des Toten in der geistigen Welt hier zu schildern, würde den Rahmen dieser elementaren Ausführungen sprengen. Die Frage soll aber noch gestellt werden, ob das Leben nach dem Tod in der angegebenen Art grundsätzlich für ewig währt, oder ob damit zu rechnen ist, dass wir nach einem längeren Zeitraum wieder in eine andere Daseinsform übertreten. In den meisten orientalischen Kulturen war man jedenfalls dieser Ansicht und ist es vielfach heute noch. Damit ist die weitverbreitete Lehre von den wiederholten Erdenleben des Menschen angesprochen. Nach buddhistischer oder hinduistischer Ansicht rollt das Rad der Geburten immer weiter – und das wurde stets als schlimmes Verhängnis empfunden, denn die Erde erschien den Orientalen zumeist als ein Ort der Gottesferne, des Leidens, der Versuchung und des Schuldigwerdens, wo der Mensch seinem eigentlichen geistigen Wesen entfremdet wird. Die Lehren des Buddha sind ganz darauf ausgerichtet, dem Menschen seine unbewusste Begierde nach irdischem Dasein abzugewöhnen und dadurch dieses Rad der Geburten für immer anzuhalten, so dass sich der Mensch niemals wieder auf Erden verkörpern muss. Dass uns das Erdenleben nicht immer mit reichen Freuden beschenkt, dass wir oft vieles bitter zu erleiden haben und dass wir immer wieder durch unsere Unvollkommenheit schuldig werden, kann kaum bezweifelt werden. Gerade heute ist eine sehr pessimistische, geradezu depressive Seelenstimmung bei vielen Menschen weit verbreitet. Unser modernes Leben verlangt den Menschen sehr viel ab, drückt sie oft nieder und raubt ihnen den rechten Lebensmut. Nochmals geboren werden zu müssen, nochmals die Last des Erdenlebens auf sich zu nehmen, muss ihnen ganz schrecklich erscheinen. Besser noch, mit dem Tod endgültig zu erlöschen, wie es uns die gegenwärtige materialistische Weltsicht suggeriert, als nochmals dieses irdische Jammertal zu durchschreiten. Wer sich trotz des weitverbreiteten Materialismus noch einen Rest von Glauben bewahrt hat, hofft auf ein beseligenderes Leben nach dem Tod als er auf Erden finden konnte. Dass viele Menschen nichts von wiederholten Erdenleben hören wollen, kann man nur all zu gut verstehen.

Und doch ist dieses Erdendasein etwas ganz besonderes. Hier bieten sich dem Menschen Entwicklungsmöglichkeiten, die er in dem körperlosen Dasein nach dem Tod nicht findet. Nur auf Erden kann der Mensch sein Selbstbewusstsein und damit seine autonome sittliche Verantwortung entwickeln und dann auch weiter tragen in sein Leben nach dem Tod, das ja, wie wir deutlich betonen mussten, sehr davon abhängt, wie wir uns auf Erden darauf vorbereitet haben. Dass wir in einem einzigen Erdenleben unmöglich alles erreichen können, dass wir nicht gleichsam mit einem einzigen Sprung vollkommene Wesen werden, wird man vermuten dürfen. Und wie sehr diese Unvollkommenheiten in der Seele des Toten brennen, haben wir gesehen. Wir gehen nach dem Tod nicht so ohne weiteres in einen Zustand ewiger Beseligung über; manch bitteres müssen wir erleben, weil wir dieses oder jenes an individueller seelisch-geistiger Kraft auf Erden zu entwickeln versäumt haben. Muss sich der Tote nicht danach sehnen, in einem weiteren Erdenleben seine Kraft zu erhöhen? Solange zu erhöhen, bis er sich dem Ziel menschlicher Vollkommenheit soweit genähert hat, dass er eines weiteren Erdenlebens nicht mehr bedarf? So hat es uns jedenfalls Gotthold Ephraim Lessing in seiner Erziehung des Menschengeschlechts geschildert. Seine Worte seien als Denkanstoß an das Ende dieser Ausführungen gesetzt:

 

§. 92.

Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel Seitenschritte zu thun! – Und wie? wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, daß das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert?

§. 93.

Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben. – »In einem und eben demselben Leben durchlaufen haben? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger Christ gewesen seyn? Kann er in eben demselben Leben beyde überhohlet haben?«

§. 94.

Das wohl nun nicht! – Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen seyn?

§. 95.

Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterey der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?

§. 96.

Warum könnte auch Ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu meiner Vervollkommung gethan haben, welche blos zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen können?

§. 97.

Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun, uns die Aussichten in ewige Belohnungen, so mächtig helfen?

§. 98.

Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf Einmal so viel weg, daß es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet?

§. 99.

Darum nicht? – Oder, weil ich es vergesse, daß ich schon da gewesen? Wohl mir, daß ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustände, würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf itzt vergessen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen?

§. 100.

Oder, weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen würde? – Verloren? – Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?

 



[1] Odyssee 10. Gesang, nach der Übersetzung von Johann Heinrich Voss

[2] Odyssee 11. Gesang

 

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