1890
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Das
Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre
Kommunion des Menschen
Wenn ich auf
meinen Lebensgang zurückblicke, so stellen sich mir die drei
ersten Lebensjahrzehnte als ein in sich abgeschlossener
Abschnitt dar. Am Ende desselben übersiedelte ich nach
Weimar, um da last sieben Jahre am Goethe- und Schiller-Archiv
zu arbeiten. Ich blicke auf die Zeit, die ich zwischen der
geschilderten Weimarischen Reise und meiner Übersiedelung in
die Goethe-Stadt noch in Wien verbrachte, als auf diejenige
zurück, die in mir zu einem gewissen Abschlusse brachte, was
meine Seele bis dahin erstrebt hatte. In dem Hinarbeiten auf
meine «Philosophie
der Freiheit» lebte dieser Abschluß.
Ein
wesentlicher Teil im Umkreise der Ideen, durch die ich damals meine
Anschauungen ausdrückte, war, daß mir die Sinneswelt nicht als wahre
Wirklichkeit galt. Ich sprach mich in den Schriften und Aufsätzen,
die ich damals veröffentlichte, stets so aus, daß die menschliche
Seele in der Betätigung eines Denkens, das sie nicht aus der Sinneswelt
schöpft, sondern in freier, über die Sinneswahrnehmung hinausgehender
Tätigkeit entfaltet, als eine wahre Wirklichkeit erscheint. Dieses
«sinnlichkeitsfreie» Denken stellte ich als dasjenige hin, mit dem
die Seele in dem geistigen Wesen der Welt darinnen steht.
Aber ich machte
auch scharf geltend, daß der Mensch, indem er in diesem
sinnlichkeitsfreien Denken lebt, auch wirklich sich bewußt in
den geistigen Urgründen des Daseins befinde. Das Reden von
Erkenntnisgrenzen hatte für mich keinen Sinn. Erkennen war
mir das Wiederfinden der durch die Seele erlebten
Geistes-Inhalte in der wahrgenommenen Welt. Wenn jemand von
Erkenntnisgrenzen sprach, so sah ich darinnen das
Zugeständnis, daß er die wahre Wirklichkeit nicht geistig in
sich erleben und sie deshalb auch in der wahrgenommenen Welt
nicht wiederfinden könne.
Auf die
Widerlegung der Anschauung von Erkenntnisgrenzen kam es mir beim
Vorbringen meiner eigenen Einsichten in erster Linie an. Ich
wollte den Erkenntnisweg ablehnen, der auf die Sinneswelt sieht
und der dann nach außen durch die Sinneswelt zu einer wahren
Wirklichkeit durchbrechen will. Ich wollte darauf hindeuten,
daß nicht in einem solchen Durchbrechen nach außen,
sondern in dem Untertauchen in das Innere des Menschen das
wahre Wirkliche zu suchen sei. Wer nach außen durchbrechen
will, und dann sieht, daß dies eine Unmöglichkeit ist, der
spricht von Erkenntnisgrenzen. Es ist aber nicht deshalb eine
Unmöglichkeit, weil das menschliche Erkenntnisvermögen
begrenzt ist, sondern deshalb, weil man etwas sucht, von dem
man bei gehöriger Selbstbesinnung gar nicht sprechen kann.
Man sucht da gewissermaßen, indem man weiter in die
Sinneswelt hineinstoßen will, eine Fortsetzung des Sinnlichen
hinter dem Wahrgenommenen. Es ist, wie wenn der in Illusionen
Lebende in weiteren Illusionen die Ursachen seiner Illusionen
suchte.
Der Sinn meiner
Darstellungen war damals dieser: Der Mensch tritt, indem er
sich im Erdendasein von der Geburt an weiter entwickelt, der
Welt erkennend gegenüber. Er gelangt zuerst zur sinnlichen
Anschauung. Aber diese ist erst ein Vorposten des Erkennens.
Es offenbart sich in dieser Anschauung noch nicht alles, was
in der Welt ist. Die Welt ist wesenhaft; aber der Mensch
gelangt zuerst noch nicht zu diesem Wesenhaften. Er
verschließt sich noch vor demselben. Er bildet sich, weil er
sein eigenes Wesen noch nicht der Welt gegenüberstellt, ein
Weltbild, das des Wesens entbehrt. Dieses Weltbild ist in
Wahrheit eine Illusion. Sinnlich wahrnehmend steht der Mensch
vor der Welt als einer Illusion. Wenn aber aus seinem Innern
zu der sinnlichen Wahrnehmung das sinnlichkeitsfreie Denken
nachrückt, dann durchtränkt sich die Illusion mit
Wirklichkeit; dann hört sie auf, Illusion zu sein. Dann
trifft der in seinem Innern sich erlebende Menschengeist auf
den Geist der Welt, der für den Menschen nun nicht hinter
der Sinneswelt verborgen ist, sondern in der Sinneswelt webt
und west.
Den Geist in
der Welt zu finden, sah ich damals nicht als eine Sache des
logischen Schließens, oder der Fortsetzung des sinnlichen
Wahrnehmens an; sondern als etwas, das sich ergibt, wenn der
Mensch vom Wahrnehmen zum Erleben des sinnlichkeitsfreien
Denkens sich fortentwickelt.
Von solchen
Anschauungen durchdrungen ist, was ich im zweiten Rande meiner
Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften
Goethes 1888 schrieb: «Wer dem Denken seine über die
Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit
zuerkennt, der muß ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen,
die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus
liegen. Diese Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem
sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem
Urgründe des Weltdaseins; das, was außen wirkt, tritt in den
Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven
Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das
Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre
Kommunion des Menschen. — Das Denken hat den Ideen
gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr
dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung.» (Vgl.
Einleitung
zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners
«Deutscher National-Literatur», 2. Bd., VI. [TB 649 (1987),
S 126])
Mir kam es
damals weniger darauf an, die Welt des Geistigen so
darzustellen, wie sie sich ergibt, wenn das sinnlichkeitsfreie
Denken über das Sich-selbst-Erleben zur geistigen Anschauung
fortschreitet, als vielmehr darauf, zu zeigen, daß das Wesen
der in der sinnenfälligen Anschauung gegebenen Natur das
Geistige ist. Ich wollte zum Ausdrucke bringen, daß die Natur
in Wahrheit geistig ist.
Das lag darin
begründet, daß mich mein Schicksal zu einer
Auseinandersetzung mit den Erkenntnistheoretikern der
damaligen Zeit geführt hat. Diese stellten sich als ihre
Voraussetzung eine geistlose Natur vor und hatten demgemäß
die Aufgabe, zu zeigen, inwiefern der Mensch berechtigt ist,
sich in seinem Geiste ein geistiges Bild der Natur zu
gestalten. Ich wollte dem eine ganz andere Erkenntnistheorie
gegenüberstellen. Ich wollte zeigen, daß der Mensch denkend
nicht Bilder über die Natur wie ein ihr
Außenstehender formt, sondern daß Erkennen Erleben ist,
so daß der Mensch erkennend in dem Wesen der Dinge
steht.
Und weiter war
es mein Schicksal, meine eigenen Anschauungen an Goethe
anzuknüpfen. In dieser Anknüpfung hat man zwar viel
Gelegenheit, zu zeigen, wie die Natur geistig ist, weil Goethe
selbst nach einer geistgemäßen Naturanschauung gestrebt hat;
man hat aber nicht in ähnlicher Art Gelegenheit, über die
rein geistige Welt als solche zu sprechen, weil Goethe die
geistgemäße Naturanschauung nicht bis zur unmittelbaren
Geistanschauung fortgeführt hat.
In zweiter
Linie kam es mir damals darauf an, die Idee der Freiheit zum
Ausdrucke zu bringen. Handelt der Mensch aus seinen
Instinkten, Trieben, Leidenschaften usw., so ist er unfrei.
Impulse, die ihm so bewußt werden wie die Eindrücke der
Sinneswelt, bestimmen dann sein Handeln. Aber es handelt da
auch nicht sein wahres Wesen. Er handelt auf einer Stufe, auf
der sein wahres Wesen sich noch gar nicht offenbart. Er
enthüllt sich als Mensch da ebensowenig, wie die Sinneswelt
ihr Wesen für die bloß sinnenfällige Beobachtung enthüllt.
Nun ist die Sinneswelt nicht in Wirklichkeit eine Illusion,
sondern wird dazu nur von dem Menschen gemacht. Der Mensch in
seinem Handeln kann aber die sinnlichkeitsähnlichen Triebe,
Begierden usw. als Illusionen wirklich machen; er läßt dann
an sich ein Illusionäres handeln; es ist nicht er selbst, der
handelt. Er läßt das Ungeistige handeln. Sein Geistiges
handelt erst, wenn er die Impulse seines Handelns in dem
Gebiete seines sinnlichkeit-freien Denkens als moralische
Intuitionen findet. Da handelt er selbst, nichts anderes. Da
ist er ein freies, ein aus sich selbst handelndes Wesen.
Ich wollte
darstellen, wie derjenige, der das sinnlichkeit-freie Denken
als ein rein Geistiges im Menschen ablehnt, niemals zum
Begreifen der Freiheit kommen könne; wie aber ein solches
Begreifen sofort eintritt, wenn man die Wirklichkeit des
sinnlichkeit-freien Denkens durchschaut.
Auch auf diesem
Gebiete ging ich in jener Zeit weniger darauf aus, die rein
geistige Welt darzustellen, in welcher der Mensch seine
moralischen Intuitionen erlebt, als vielmehr darauf, den
geistigen Charakter dieser Intuitionen selbst zu betonen.
Wäre es mir auf das erstere angekommen, so hätte ich wohl
das Kapitel «Die moralische Phantasie» in meiner
«Philosophie der Freiheit» so beginnen müssen: «Der freie
Geist handelt nach seinen Impulsen; das sind Intuitionen, die
von ihm außerhalb des Naturdaseins in der rein geistigen Welt
erlebt werden, ohne daß er sich im gewöhnlichen Bewußtsein
dieser geistigen Welt bewußt wird.» Aber mir kam es damals
darauf an, nur den rein geistigen Charakter
der moralischen Intuitionen zu charakterisieren. Deshalb wies
ich auf das Dasein dieser Intuitionen in der Gesamtheit der
menschlichen Ideenwelt hin und sagte demgemäß: «Der freie
Geist handelt nach seinen Impulsen, das sind Intuitionen, die
aus dem Ganzen seiner Ideenwelt durch das Denken ausgewählt
sind.» — Wer nicht auf eine rein geistige Welt hinblickt,
wer also nicht auch den ersten Satz schreiben könnte, der
kann auch zu dem zweiten sich nicht voll bekennen.
Hindeutungen auf den ersten Satz sind aber in meiner
«Philosophie der Freiheit» genügend zu finden; zum
Beispiel: «Die höchste Stufe des individuellen Lebens ist
das begriffliche Denken ohne Rücksicht auf einen bestimmten
Wahrnehmungsgehalt. Wir bestimmen den Inhalt eines Begriffes
durch feine Intuitionen aus der ideellen Sphäre heraus. Ein
solcher Begriff enthält dann zunächst keinen Bezug auf
bestimmte Wahrnehmungen.» Es sind hier «sinnenfällige
Wahrnehmungen» gemeint. Hätte ich damals über die geistige
Welt, nicht bloß über den geistigen Charakter der
moralischen Intuitionen schreiben wollen, so hätte ich den
Gegensatz zwischen sinnlicher und geistiger Wahrnehmung
berücksichtigen müssen. Mir kam es aber nur darauf an, den
nicht-sinnlichen Charakter der moralischen Intuitionen zu
betonen.
In dieser
Richtung bewegte sich meine Ideenwelt, als mein erster
Lebensabschnitt mit dem dritten Lebensjahrzehnt, mit dem
Eintritt in meine Weimarer Zeit, zu Ende ging.
TB 636 (X.), S
122 ff
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