1890
- 1894
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Weimar
Gabriele Reuter
Zu
den schönsten Stunden meines Lebens muß ich zählen, was ich durch
Gabriele Reuter erlebte, der ich durch diesen Kreis nahe treten
durfte. Eine Persönlichkeit, die in sich tiefe Menschheitsprobleme
trug und diese mit einem gewissen Radikalismus des Herzens und der
Empfindung anfaßte. Sie stand mit voller Seele in all dem, was ihr
im sozialen Leben als Widerspruch erschien zwischen traditionellem
Vorurteil und den ursprünglichen Forderungen der Menschennatur.
Sie sah hin auf die Frau, die von außen in diese traditionellen
Vorurteile durch Leben und Erziehung eingespannt wird, und die leidvoll
erfahren muß, was aus den Tiefen der Seele als «Wahrheit» in das
Leben hinein will. Radikalismus des Herzens in ruhig-kluger Art
ausgesprochen, von künstlerischem Sinn und eindringlicher Gestaltungskraft
durchzogen, das offenbarte sich als Größe aus Gabriele Reuter. Unermeßlich
reizvoll konnten die Gespräche sein, die man mit ihr, während sie
an ihrem Buche «Aus guter Familie» arbeitete, führen durfte. Ich
denke zurück und sehe mich mit ihr an einer Straßenecke stehen,
bei glühendster Sonnenhitze diskutierend mehr als eine Stunde über
Fragen, die sie bewegten. Gabriele Reuter konnte in würdigster Art,
keinen Augenblick die ruhige Haltung verlierend, über Dinge sprechen,
bei denen andere sogleich in sichtbare Aufregung geraten. «Himmelhoch
jauchzend, zu Tode betrübt», das lebte in ihren Gefühlen; doch blieb
es in der Seele und zog sich nicht in die Worte hinein. Gabriele
Reuter betonte scharf, was sie zu sagen hatte; aber sie tat es nie
lautlich, sondern allein seelisch. Ich glaube, daß ihr diese Kunst,
bei lautlich gleichmäßigem Hinfließen der Rede die Artikulation
ganz im Seelischen zu halten, als Stil besonders eigen ist. Und
mir scheint, daß sie im Schreiben diese Eigenart zu ihrem so reizvollen
Stil umfassend ausgebildet hat.
Die
Bewunderung, die Gabriele Reuter im Olden'schen Kreise fand,
hatte etwas unsäglich Schönes. Hans Olden sagte mir öfters
ganz elegisch: diese Frau ist groß; könnte ich mich —
fügte er hinzu —doch auch so mutvoll dazu aufschwingen, der
äußeren Welt das darzustellen, was mich in der Tiefe der
Seele bewegt.
Dieser Kreis
machte auf seine besondere Art die weimarischen
Goethe-Veranstaltungen mit. Es war ein Ton von Ironie, der
aber nie frivol spottete, sondern oft sogar ästhetisch
entrüstet war, was hier als «Gegenwart» die
«Vergangenheit» beurteilte. Tagelang stand Olden nach
Goethe-Versammlungen an der Schreibmaschine, um über das
Erlebte Berichte zu schreiben, die nach seiner Meinung das
Urteil des «Weltkindes» über die Goethe-Propheten geben
sollten.
Otto Erich
Hartleben
In diesen Ton
fiel bald auch der eines anderen «Weltkindes», Otto Erich
Hartlebens. Der fehlte fast bei keiner Goethe-Versammlung.
Doch konnte ich zunächst nicht recht entdecken, warum er kam.
In
dem Kreise der Journalisten, Theaterleute und Schriftsteller, die
sich an den Abenden der Goethe-Feste, abgesondert von den «gelehrten
Zelebritäten», im Hotel «Chemnitius» zusammenfanden, lernte ich
Otto Erich Hartleben kennen. Warum er da saß, das konnte ich sogleich
begreifen. Denn sich in Gesprächen, wie sie da gepflogen wurden,
auszuleben, das war sein Element. Da blieb er lange. Er konnte gar
nicht fortgehen. So war ich einmal mit ihm und ändern zusammen.
Wir ändern waren «pflichtgemäß» am nächsten Morgen in der Goethe-Versammlung.
Hartleben war nicht da. Ich hatte ihn aber schon recht lieb gewonnen
und war um ihn besorgt. Deshalb suchte ich ihn nach dem Ende der
Versammlung in seinem Hotelzimmer auf. Er schlief noch. Ich weckte
ihn und sagte, daß die Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft
schon zu Ende sei. Ich begriff nicht, warum er auf diese Art
das Goethe-Fest habe mitmachen wollen. Er aber erwiderte so, daß
ich sah, ihm war es ganz selbstverständlich, nach Weimar zur Goethe-Versammlung
zu fahren, um während deren Veranstaltungen zu schlafen. Denn er
verschlief das meiste, weshalb die ändern gekommen waren.
Nahe trat ich
Otto Erich Hartleben auf eine besondere Art. An einem der
angedeuteten Abendtische entspann sich einmal ein Gespräch
über Schopenhauer. Es waren schon viele bewundernde und
ablehnende Worte über den Philosophen gefallen. Hartleben
hatte lange geschwiegen. Dann sagte er in wildwogende
Gesprächsoffenbarungen hinein: «Man wird bei ihm aufgeregt;
aber er ist doch nichts für das Leben.» Mich schaute er
dabei fragend an, mit kindlich-hilflosem Blicke; er wollte,
daß ich etwas sagen sollte, weil er gehört hatte, daß ich
mich doch mit Schopenhauer beschäftige. Und ich sagte:
«Schopenhauer muß ich für ein borniertes Genie halten.»
Hartlebens Augen funkelten, er wurde unruhig, er trank aus und
bestellte sich ein frisches Glas, er hatte mich in diesem
Augenblicke in sein Herz geschlossen; seine Freundschaft zu
mir war begründet. «Borniertes Genie!» Das gefiel ihm. Ich
hätte es ebenso gut von einer ganz anderen Persönlichkeit
gebrauchen können, es wäre ihm gleichgültig gewesen. Ihn
interessierte tief, daß man die Ansicht haben könne, auch
ein Genie könne borniert sein.
Für mich waren
die Goethe-Versammlungen anstrengend. Denn die meisten
Menschen in Weimar waren während derselben in ihren
Interessen entweder in dem einen oder dem ändern Kreise, in
dem der redenden oder tafelnden Philologen, oder in dem der
Olden-Hartlebenschen Färbung. Ich mußte an beiden
teilnehmen. Meine Interessen trieben mich eben nach beiden
Seiten hin. Das ging, weil die einen ihre Sitzungen bei Tag,
die ändern bei Nacht hielten. Aber mir war es nicht erlaubt,
die Lebensart Otto Erichs einzuhalten. Ich konnte während der
Tag-Versammlungen nicht schlafen. Ich liebte die
Vielseitigkeit des Lebens, und war wirklich gerade so gerne
mittags im Archivkreise bei Suphan, der Hartleben nie kennen
gelernt hat — weil sich das für ihn nicht schickte —, wie
abends mit Hartleben und seinen Gesinnungsgenossen zusammen.
Die
Weltanschauungsrichtungen einer Reihe von Menschen stellten
sich mir während meiner weimarischen Zeit vor die Seele. Denn
mit jedem, mit dem Gespräche über Welt- und Lebensfragen
möglich waren, entwickelten sich solche im damaligen
unmittelbaren Verkehre. Und durch Weimar kamen eben viele an
derartigen Gesprächen interessierte Persönlichkeiten durch.
Schattenhafte
Sinneswelt - lebendiges geistiges Erleben
Ich verlebte
diese Zeit in dem Lebensalter, in dem die Seele sich, ihrer
Neigung nach, intensiv dem äußeren Leben zuwendet, in dem
sie ihren festen Zusammenschluß mit diesem Leben finden
möchte. Mir wurden die sich darlebenden Weltanschauungen ein Stück
Außenwelt. Und ich mußte empfinden, wie wenig ich im Grunde
bis dahin mit einer Außenwelt gelebt hatte. Wenn ich mich von
dem lebhaften Verkehre zurückzog, dann wurde ich gerade
damals immer wieder gewahr, daß mir eine vertraute Welt bis
dahin nur die geistige, die ich im Innern anschaute, gewesen
ist. Mit dieser Welt konnte ich mich leicht verbinden. Und
meine Gedanken gingen damals oft nach der Richtung, mir selbst
zu sagen, wie schwer mir der Weg durch die Sinne zur
Außenwelt während meiner ganzen Kindheit und Jugendzeit
geworden ist. Ich habe immer Mühe gehabt, dem Gedächtnisse
die äußeren Daten einzuverleiben, die sich anzueignen z. B.
auf dem Gebiete der Wissenschaft notwendig ist. Ich mußte oft
und oft ein Naturobjekt sehen, wenn ich wissen sollte, wie man
es nennt, in welche Klasse es wissenschaftlich eingereiht ist
usw. Ich darf schon sagen: die Sinneswelt hatte für mich
etwas Schattenhaftes, Bildhaftes. Sie zog in Bildern vor
meiner Seele vorbei, während der Zusammenhalt mit dem
Geistigen durchaus den echten Charakter des Wirklichen trug.
Das alles
empfand ich am meisten in dem Anfang der neunziger Jahre in
Weimar. Ich legte damals die letzte Hand an meine «Philosophie der
Freiheit». Ich schrieb, so fühlte ich, die
Gedanken nieder, die mir die geistige Welt bis zu der Zeit
meines dreißigsten Lebensjahres gegeben hatte. Alles, was mir
durch die äußere Welt gekommen war, hatte nur den Charakter
einer Anregung.
Ich empfand das
besonders, wenn ich in dem lebendigen Verkehre in Weimar mit
ändern Menschen über Weltanschauungsfragen sprach. Ich
mußte auf sie, ihre Denkart und Gefühlsrichtung eingehen;
sie gingen auf das gar nicht ein, was ich im Innern erlebt
hatte und weiter erlebte. Ich lebte ganz intensiv mit dem, was
andere sahen und dachten; aber ich konnte in diese erlebte
Welt meine innere geistige Wirklichkeit nicht hineinfließen
lassen. Ich mußte mit meinem eigenen Wesen immer in mir
zurückbleiben. Es war wirklich meine Welt wie durch eine
dünne Wand von aller Außenwelt abgetrennt.
Mit meiner
eigenen Seele lebte ich in einer Welt, die an die Außenwelt
angrenzt; aber ich hatte immer nötig, eine Grenze zu überschreiten,
wenn ich mit der Außenwelt etwas zu tun haben wollte. Ich
stand im lebhaftesten Verkehre; aber ich mußte in jedem
einzelnen Falle aus meiner Welt wie durch eine Türe in diesen
Verkehr eintreten. Das ließ mir die Sache so erscheinen, als
ob ich jedesmal, wenn ich an die Außenwelt herantrat, einen
Besuch machte. Das aber hinderte mich nicht, mich mit
lebhaftestem Anteile dem hinzugeben, bei dem ich zu Besuch
war; ich fühlte mich sogar ganz heimisch, während ich zu
Besuch war.
So war es mit
Menschen, so war es mit Weltanschauungen. Ich ging gerne zu
Suphan, ich ging gerne zu Hartleben. Suphan ging nie zu
Hartleben; Hartleben nie zu Suphan. Keiner konnte in des
ändern Denk- und Gefühlsrichtung eintreten. Ich war sogleich
bei Suphan, sogleich bei Hartleben wie zu Hause. Aber
weder Suphan noch Hartleben kamen eigentlich zu mir. Sie
blieben auch, wenn sie zu mir kamen, bei sich. In meiner
geistigen Welt konnte ich keine Besuche erleben.
Ich sah die
verschiedensten Weltanschauungen vor meiner Seele. Die
naturwissenschaftliche, die idealistische und viele Nuancen
der beiden. Ich fühlte den Drang, auf sie einzugehen, mich in
ihnen zu bewegen; in meine geistige Welt warfen sie eigentlich
kein Licht. Sie waren mir Erscheinungen, die vor mir standen,
nicht Wirklichkeiten, in die ich mich hätte einleben können.
So stand es in
meiner Seele, als das Leben mir unmittelbar nahe rückte
Weltanschauungen wie diejenige Haeckels und Nietzsches. Ich
empfand ihre relative Berechtigung. Ich konnte durch meine
Seelenverfassung sie nicht so behandeln, daß ich sagte: das
ist richtig, das unrichtig. Da hätte ich, was in ihnen lebt,
als mir fremd empfinden müssen. Aber ich empfand die eine
nicht fremder als die andere; denn heimisch fühlte ich mich
nur in der angeschauten geistigen Welt, und «wie zu Hause»
konnte ich mich in jeder ändern fühlen.
Wenn ich das so
schildere, kann es scheinen, als ob mir im Grunde alles
gleichgültig gewesen wäre. Das war es aber durchaus nicht.
Ich hatte darüber eine ganz andere Empfindung. Ich empfand
mich mit vollem Anteil in dem anderen darinnen, weil ich es mir
nicht dadurch entfremdete, daß ich sogleich das Eigene in
Urteil und Empfindung hineintrug.
Ich führte z.
B. unzählige Gespräche mit Otto Harnack, dem geistvollen
Verfasser des Buches «Goethe in der Epoche seiner
Vollendung», der damals viel nach Weimar kam, weil er über
Goethes Kunststudien arbeitete. Der Mann, der dann später in
eine erschütternde Lebenstragik verfallen ist, war mir lieb.
Ich konnte ganz Otto Harnack sein, wenn ich mit ihm sprach.
Ich nahm seine Gedanken hin, lebte mich — im
gekennzeichneten Sinne — zu Besuch, aber «wie zu Hause» in
sie ein. Ich dachte gar nicht daran, ihn zu mir zu Besuch zu
bitten. Er konnte nur bei sich leben. Er war so in seine Gedanken
eingesponnen, daß er alles als fremd empfand, was nicht das
Seinige war. Er hätte von meiner Welt nur so hören können,
daß er sie wie das Kant'sche «Ding an sich» behandelt
hätte-, das «jenseits des Bewußtseins» liegt. Ich fühlte
mich geistig verpflichtet, seine Welt als eine solche zu
behandeln, zu der ich mich nicht kantisch zu verhalten hatte,
sondern in die ich das Bewußtsein hinüberleiten mußte.
Ich lebte so
nicht ohne geistige Gefahren und Schwierigkeiten. Wer alles
ablehnt, was nicht in seiner Denkrichtung liegt, der wird
nicht bedrängt von der relativen Berechtigung, die die
verschiedenen Weltanschauungen haben. Er kann rückhaltlos das
Faszinierende dessen empfinden, was nach einer bestimmten
Richtung ausgedacht ist. Dieses Faszinierende des
Intellektualismus lebt ja in so vielen Menschen. Sie werden
leicht mit dem fertig, was anders gedacht ist als das ihrige.
Wer aber eine Welt der Anschauung hat, wie sie die
geistige sein muß, der sieht die Berechtigung der
verschiedensten «Standpunkte»; und er muß sich fortwährend
im Innern seiner Seele wehren, um nicht zu stark zu dem einen
oder dem ändern hingelenkt zu werden.
Man wird aber
schon das «Wesen der Außenwelt» gewahr, wenn man in Liebe
an sie hingegeben sein kann, und doch immer wieder zur
Innenwelt des Geistes zurückkehren muß. Man lernt aber dabei
auch, wirklich im Geistigen zu leben.
Die
verschiedenen intellektuellen «Standpunkte» lehnen einander
ab; die geistige Anschauung sieht in ihnen eben
«Standpunkte». Von jedem derselben aus gesehen, nimmt sich
die Welt anders aus. Es ist, wie wenn man ein Haus von
verschiedenen Seiten photographiert. Die Bilder sind
verschieden; das Haus ist dasselbe. Geht man um das wirkliche
Haus herum, so erhält man einen Gesamteindruck. Steht man
wirklich in der geistigen Welt darinnen, so läßt man das
«Richtige» eines Standpunktes gelten. Man sieht eine
photographische Aufnahme von einem «Standpunkte» aus als
etwas Berechtigtes an. Man fragt dann nach der Berechtigung
und Bedeutung des Standpunktes.
So mußte ich
z. B. an Nietzsche, so mußte ich auch an Haeckel
herantreten. Nietzsche, so fühlte ich, photographiert die
Welt von einem Standpunkte aus, zu dem eine tief-angelegte
Menschenwesenheit in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts hingedrängt wurde, wenn sie von dem geistigen
Inhalte dieses Zeitalters allein leben konnte, wenn in ihr
Bewußtsein die Anschauung des Geistes nicht hereinbrechen
wollte, der Wille im Unterbewußtsein mit ungemein starken
Kräften aber zum Geist hindrängte. So lebte in meiner Seele
das Bild Nietzsches auf; es zeigte mir die Persönlichkeit,
die den Geist nicht schaute, in der aber der Geist unbewußt
kämpft gegen die ungeistigen Anschauungen der Zeit.
TB 636 (XVI.), S
172 ff
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