1894 -
1896
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Nietzsche
In diese Zeit
fällt mein Hineintreten in die Kreise des geistigen Erlebens,
in denen Nietzsche geweilt hat.
Meine erste
Bekanntschaft mit Nietzsches Schriften fällt in das Jahr
1889. Vorher hatte ich keine Zeile von ihm gelesen. Auf den
Inhalt meiner Ideen, wie sie in der «Philosophie der
Freiheit» zum Ausdruck kamen, haben die seinigen keinen
Einfluß gehabt. Ich las, was er geschrieben hatte, mit der
Empfindung des Angezogenwerdens von dem Stil, den ihm sein
Verhältnis zum Leben gegeben hatte. Ich empfand seine Seele
als ein Wesen, das mit vererbter und anerzogener
Aufmerksamkeit auf alles hinhorchen mußte, was das
Geistesleben seiner Zeit hervorgebracht hatte, das aber stets
fühlte, was geht mich doch dieses Geistesleben an; es
muß eine andere Welt geben, in der ich leben kann; in dieser
stört mich so vieles am Leben. Dieses Gefühl machte ihn zum
geistbefeuerten Kritiker seiner Zeit; aber zu einem Kritiker,
den die eigene Kritik krank machte. Der die Krankheit erleben mußte,
und der von der Gesundheit, von seiner Gesundheit
nur träumen konnte. Er suchte zuerst nach Möglichkeiten,
seinen Traum von der Gesundheit zum Inhalt seines Lebens zu
machen; und so suchte er mit Richard Wagner, mit Schopenhauer,
mit dem modernen «Positivismus» so zu träumen, als ob er
den Traum in seiner Seele zur Wirklichkeit machen wollte.
Eines Tages entdeckte er, daß er nur geträumt hatte. Da fing
er an, mit jeglicher Kraft, die seinem Geiste eigen war, nach
Wirklichkeiten zu suchen. Wirklichkeiten, die «irgendwo»
liegen mußten; er fand nicht «Wege» zu diesen
Wirklichkeiten, aber Sehnsuchten. Da wurden die Sehnsuchten in
ihm Wirklichkeiten. Er träumte weiter; aber die gewaltige
Kraft seiner Seele schuf aus den Träumen innermenschliche
Wirklichkeiten, die ohne die Schwere, die den Menschenideen
seit lange eigen war, frei in einer geistfrohen, aber von dem
«Zeitgeist» widerlich berührten Seelenstimmung schwebten.
So empfand ich
Nietzsche. Das Freischwebende, Schwerelose seiner Ideen riß
mich hin. Ich fand, daß dieses Freischwebende in ihm manche
Gedanken gezeitigt hatte, die Ähnlichkeit mit denen hatten,
die in mir selbst auf Wegen, die den seinigen ganz unähnlich
waren, sich gebildet hatten.
So konnte ich
1895 in der Vorrede zu meinem Buche «Nietzsche, ein Kämpfer
gegen seine Zeit» schreiben: «Schon in meinem 1886
erschienenen kleinen Buche <Erkenntnistheorie der
Goethe'schen Weltanschauung> kommt dieselbe Gesinnung zum
Ausdruck, wie in einigen Werken Nietzsches.» Was mich aber
besonders anzog, war, daß man Nietzsche lesen durfte, ohne
irgendwie bei ihm selbst auf etwas zu stoßen, das den Leser
zu seinem «Anhänger» machen wollte. Man konnte mit
hingebender Freude seine Geisteslichter empfinden; man fühlte
sich in diesem Empfinden ganz frei; denn man fühlte, seine
Worte fingen an zu lachen, wenn man ihnen zugemutet hätte,
man solle ihnen zustimmen, wie Haeckel oder Spencer dies
voraussetzten.
So durfte ich
auch, um mein Verhältnis zu Nietzsche auszusprechen, in dem
genannten Buche dies mit Worten tun, die er über das seinige
zu Schopenhauer geformt hat: «Ich gehöre zu den Lesern
Nietzsches, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm
gelesen, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen
und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt
hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da ... Ich verstand ihn,
als ob er für mich geschrieben hätte, um mich verständlich,
aber unbescheiden und töricht auszudrücken.»
Kurz
bevor ich an die Niederschrift dieses Buches ging, erschien eines
Tages Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche im Goethe-
und Schiller-Archiv. Sie machte eben die ersten Schritte zur Gründung
eines Nietzsche-Archives und wollte erfahren, wie das Goethe- und
Schiller-Archiv eingerichtet war. Bald darauf erschien auch der
Herausgeber von Nietzsches Werken, Fritz Koegel, in Weimar, und
ich lernte ihn kennen.
Ich bin später
mit Frau Elisabeth Förster-Nietzsche in schwere Konflikte
gekommen. Damals forderte ihr beweglicher, liebenswürdiger
Geist meine tiefste Sympathie heraus. Ich habe unter den
Konflikten unsäglich gelitten; eine verwickelte Situation hat
es dazu kommen lassen; ich wurde genötigt, mich gegen
Anschuldigungen zu verteidigen; ich weiß, daß das alles
notwendig war, daß mir dadurch schöne Stunden, die ich im
Nietzsche-Archiv in Naumburg und Weimar verleben durfte, mit
einem Schleier der Bitternis in der Erinnerung
überzogen sind; aber ich bin Frau Förster-Nietzsche doch
dankbar, daß sie mich bei dem ersten der vielen Besuche, die
ich bei ihr machen durfte, in das Zimmer Friedrich Nietzsches
führte. Da lag der Umnachtete mit der wunderbar schönen
Stirne, Künstler- und Denkerstirne zugleich, auf einem
Ruhesofa. Es waren die ersten Nachmittagsstunden. Diese Augen,
die im Erloschensein noch durchseelt wirkten, nahmen nur noch
ein Bild der Umgebung auf, das keinen Zugang zur Seele mehr
hatte. Man stand da, und Nietzsche wußte nichts davon. Und
doch hätte man von dem durchgeistigten Antlitz noch glauben
können, daß es der Ausdruck einer Seele wäre, die den
ganzen Vormittag Gedanken in sich gebildet hatte, und die nun
eine Weile ruhen wollte. Eine innere Erschütterung, die meine
Seele ergriff, durfte meinen, daß sie sich in Verständnis
für den Genius verwandle, dessen Blick auf mich gerichtet
war, mich aber nicht traf. Die Passivität dieses lange Zeit
verharrenden Blickes löste das Verständnis des eigenen Blickes
aus, der die Seelenkraft des Auges wirken lassen durfte, ohne
daß ihm begegnet wurde.
Und
so stand vor meiner Seele: Nietzsches Seele wie schwebend über seinem
Haupte, unbegrenzt schön in ihrem Geisteslichte; frei hingegeben
geistigen Welten, die sie vor der Umnachtung ersehnt, aber nicht
gefunden; aber gefesselt noch an den Leib, der nur so lange von
ihr wußte, als diese Welt noch Sehnsucht war. Nietzsches Seele war
noch da; aber sie konnte nur noch von außen den Körper halten, der
ihr Widerstand bot, sich in ihrem vollen Lichte zu entfalten, so
lange sie in seinem Innern war.
Ich hatte
vorher den Nietzsche gelesen, der geschrieben
hatte; jetzt hatte ich den Nietzsche geschaut, der aus
weit entlegenen Geistgebieten Ideen in seinen Leib trug, die
noch in Schönheit schimmerten, trotzdem sie auf dem Wege ihre
ursprüngliche Leuchtkraft verloren hatten. Eine Seele, die
aus früheren Erdenleben reiches Lichtgold brachte, es aber
nicht ganz in diesem Leben zum Leuchten bringen konnte. Ich
bewunderte, was Nietzsche geschrieben; aber ich schaute jetzt
hinter meiner Bewunderung ein hellstrahlendes Bild.
Ich konnte in
meinen Gedanken nur stammeln, von dem, was ich damals
geschaut; und das Stammeln ist der Inhalt meines Buches
«Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit». Daß das Buch
nur ein solches Stammeln geblieben ist, verbirgt die aber doch
wahre Tatsache, daß das Bild Nietzsches es mir inspiriert
hat.
Frau
Förster-Nietzsche hat mich dann aufgefordert, Nietzsches Bibliothek
zu ordnen. Ich habe dadurch mehrere Wochen im Nietzsche-Archiv in
Naumburg zubringen dürfen. Ich wurde dabei auch mit Fritz Koegel
sehr befreundet. Es war eine schöne Aufgabe, die die Bücher vor
meine Augen stellte, in denen Nietzsche gelesen hatte. Sein Geist
lebte in den Eindrücken auf, welche diese Bücher machten. Ein ganz
mit Randbemerkungen versehenes, alle Spuren hingehendster Durcharbeitung
tragendes Exemplar eines Emerson'schen Buches. Guyaus Schriften
mit ebensolchen Spuren. Bücher mit leidenschaftlich kritisierenden
Bemerkungen von seiner Hand. Eine große Anzahl von Randbemerkungen,
aus denen man die Keime seiner Ideen aufschießen sieht.
Eine
durchgreifende Idee der letzten Schaffensperiode Nietzsches
konnte ich aufleuchten sehen, indem ich seine Randbemerkung in
Eugen Dührings philosophischem Hauptwerk las. Dühring
konstruiert da den Gedanken, daß man das Weltall in einem
Augenblick als eine Kombination von Elementarteilen vorstellen
könne. Dann wäre das Weltgeschehen der Ablauf aller
möglichen solcher Kombinationen. Wären diese erschöpft,
dann müßte die allererste wiederkehren und der ganze Ablauf
sich wiederholen. Stellte so etwas die Wirklichkeit vor, so
müßte es unzählige Male schon geschehen sein und weiter in
die Zukunft hinein unzählige Male geschehen. Man käme zu der
Idee der ewigen Wiederholung gleicher Zustände des Weltalls.
Dühring weist diesen Gedanken als einen unmöglichen zurück.
Nietzsche liest das; er nimmt davon einen Eindruck auf; der
arbeitet in den Untergründen seiner Seele weiter; und er
formt sich dann in ihm als «die Wiederkunft des Gleichen»,
die mit der Idee vom «Übermenschen» zusammen seine letzte
Schaffensperiode beherrscht.
Ich war tief
ergriffen, ja erschüttert von dem Eindruck, den ich durch ein
solches Nachgehen von Nietzsches Lektüre bekam. Denn ich sah,
welch ein Gegensatz zwischen Nietzsches Geistesart und der
seiner Zeitgenossen war. Dühring, der extreme Positivist, der
alles ablehnt, was sich nicht aus einer ganz nüchtern
orientierten, mathematisch verfahrenden Schematik ergibt,
findet den Gedanken der «ewigen Wiederkunft des Gleichen»
absurd, konstruiert ihn nur, um seine Unmöglichkeit darzutun:
Nietzsche muß ihn als seine Welträtsellösung wie
eine aus den Tiefen der eigenen Seele kommende Intuition
aufnehmen.
So steht
Nietzsche in vollem Gegensatz zu vielem, was als Inhalt des
Denkens und Fühlens seiner Zeit auf ihn einstürmt. Er nimmt
diese Stürme so auf, daß er tief durch sie leidet, und im
Leiden, in unsäglichen Seelenschmerzen den Inhalt der eigenen
Seele schafft. Das war die Tragik seines Schaffens.
Sie erreichte
ihren Höhepunkt, als er die Gedankenskizzen zu seinem letzten
Werke notierte, zum «Willen zur Macht», oder der «Umwertung
aller Werte». Nietzsche war dazu veranlagt, alles, was er
dachte und empfand, aus den Tiefen seiner Seele in rein
geistiger Art heraufzuholen. Das Weltbild zu schaffen aus dem
Geistgeschehen, das die Seele miterlebt, das lag in seiner
Richtung. Das positivistische Weltbild seines, des
naturwissenschaftlichen Zeitalters, floß aber auf ihn ein.
Darinnen war nur die rein materielle geistlose Welt. Was in
diesem Bild noch auf geistige Art gedacht war, das war der
Überrest alter Denkweisen, die nicht mehr zu ihm paßten.
Nietzsches unbegrenzter Wahrheitssinn wollte alles das
ausmerzen. So kam er dazu, den Positivismus ganz extrem zu
denken. Eine Geistwelt hinter der materiellen ward ihm zur
Lüge. Er konnte aber nur aus der eigenen Seele heraus
schaffen. So schaffen, wie ein wahres Schaffen nur Sinn
erhält, wenn es den Inhalt der Geistwelt in Ideen vor sich
hinstellt. Diesen Inhalt lehnte er ab. Der
naturwissenschaftliche Weltinhalt hatte seine Seele so stark
ergriffen, daß er ihn wie auf Geistwegen schaffen
wollte. Lyrisch, in dionysischem Seelenfluge, schwingt sich
seine Seele im «Zarathustra» auf. Wunderbar webt da das
Geistige, aber es träumt in Geistwundern von materiellem
Wirklichkeitsgehalt. Es zerstäubt der Geist in seiner
Entfaltung, weil er nicht sich finden, sondern nur den
erträumten Abglanz des Materiellen als seine Schein-Wesenheit
erleben kann.
Ich lebte in
der eigenen Seele damals in Weimar viel in dem Anschauen von
Nietzsches Geistesart. In meinem eigenen Geist-Erleben hatte
diese Geistesart ihren Platz. Dieses Geist-Erleben konnte mit
Nietzsches Ringen, mit Nietzsches Tragik leben; was gingen es
die positivistisch gestalteten Gedankenergebnisse Nietzsches
an!
Andere haben
mich für einen «Nietzscheaner» gehalten, weil ich restlos
bewundern konnte auch, was meiner eigenen Geistesrichtung
entgegengesetzt war. Mich fesselte, wie der Geist in Nietzsche
sich offenbarte; ich glaubte, ihm gerade dadurch nahe zu sein,
denn er stand niemand nahe durch Gedanken-Inhalte; er fand
sich allein mit Menschen und Zeiten im Mit-Erleben der
Geist-Wege zusammen.
Eine Zeitlang
habe ich mit dem Herausgeber von Nietzsches Werken, Fritz
Koegel, viel verkehrt. Manches auf die Nietzsche-Ausgabe
Bezügliche haben wir durchgesprochen. Eine offizielle
Stellung im Nietzsche-Archiv oder zur Nietzsche-Ausgabe habe
ich nie gehabt. Als Frau Förster-Nietzsche mir eine solche
anbieten wollte, führte gerade das zu Konflikten mit Fritz
Koegel, die fortan mir jede Gemeinsamkeit mit dem
Nietzsche-Archiv unmöglich machten.
Mein
Verhältnis zum Nietzsche-Archiv stellte sich in mein Weimarer
Leben als eine Episode starker Anregungen hinein, die mir
zuletzt im Zerbrechen des Verhältnisses tiefes Leid brachte.
Aus der
weitgehenden Beschäftigung mit Nietzsche verblieb mir die
Anschauung von seiner Persönlichkeit, deren Schicksal war,
das naturwissenschaftliche Zeitalter der letzten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts in Tragik mitzuerleben, und an der
Berührung mit ihm zu zerbrechen. Er suchte in diesem
Zeitalter, konnte aber in ihm nichts finden. Mich
konnte das Erleben an ihm nur festigen in der Anschauung, daß
alles Suchen in den Ergebnissen der Naturwissenschaft das
Wesentliche nicht in ihnen, sondern durch sie im
Geiste finden müsse.
So trat gerade
durch Nietzsches Schaffen das Problem der Naturwissenschaft in
erneuerter Gestalt vor meine Seele. Goethe und Nietzsche
standen in meiner Perspektive. Goethes energischer
Wirklichkeitssinn nach den Wesen und Vorgängen der Natur
gerichtet. Er wollte in der Natur bleiben. Er hielt sich in
reinen Anschauungen von Pflanzen-, Tier- und Menschenformen.
Aber indem er sich mit der Seele in diesen bewegte, kam er
überall zum Geiste. Den in der Materie waltenden Geist fand
er. Bis zu der Anschauung des in sich selbst lebenden und
waltenden Geistes wollte er nicht gehen. Eine
«geistgemäße» Naturerkenntnis bildete er aus. Vor einer
reinen Geist-Erkenntnis machte er Halt, um die Wirklichkeit
nicht zu verlieren.
Nietzsche ging
vom Geist-Anschauen in mythischer Form aus. Apollo und
Dionysos waren Geistgestalten, die er erlebte. Der Ablauf der
menschlichen Geistgeschichte erschien ihm wie ein
Zusammenwirken, oder auch wie ein Kampf zwischen Apollo und
Dionysos. Aber er brachte es nur zu dem mythischen Vorstellen
solcher Geistgestalten. Er drang nicht vor zu der Anschauung
wirklicher geistiger Wesenheit. Vom Geist-Mythos aus drang er
zur Natur vor. Apollo sollte in Nietzsches Seele das
Materielle nach dem Muster der Naturwissenschaft vorstellen;
Dionysos sollte wirken wie Naturkräfte. Aber da verfinsterte
sich Apollos Schönheit; da ward des Dionysos Weltemotion
durch die Naturgesetzmäßigkeit gelähmt.
Goethe fand den
Geist in der Naturwirklichkeit; Nietzsche verlor den
Geist-Mythos in dem Naturtraum, in dem er lebte.
Ich stand
zwischen diesen beiden Gegensätzen. Die seelischen
Erlebnisse, die sich in meiner Schrift «Nietzsche, ein
Kämpfer gegen seine Zeit» ausgelebt hatten, fanden zunächst
keine Fortsetzung; dagegen stellte sich in meiner letzten
Weimarer Zeit Goethe wieder beherrschend vor meine
Betrachtung. Ich wollte den Weg kennzeichnen, den das
Weltanschauungsleben der Menschheit bis zu Goethe genommen
hat, um dann Goethes Anschauungsart in ihrem Hervorgehen aus
diesem Leben darzustellen. Ich habe das versucht in dem Buche
«Goethes Weltanschauung», das 1897 erschienen ist.
Ich wollte da
zur Anschauung bringen, wie Goethe an der reinen
Naturerkenntnis überall, wo er hinblickt, den Geist
aufblitzend erblickt; aber ich habe die Art, wie Goethe sich
zum Geist als solchem stellte, ganz unberührt gelassen. Ich
wollte den Teil von Goethes Weltanschauung charakterisieren,
der in einer «geistgemäßen» Naturanschauung lebt.
Nietzsches
Ideen von der «ewigen Wiederkunft» und dem «Übermenschen»
standen lange vor mir. Denn in ihnen spiegelte sich, was eine
Persönlichkeit über die Entwickelung der Menschheit und
über das Wesen des Menschen erleben mußte, die von der
Erfassung der geistigen Welt durch die festgezimmerten
Gedanken der Naturanschauung vom Ende des neunzehnten
Jahrhunderts zurückgehalten wurde. Nietzsche sah die
Entwickelung der Menschheit so, daß sich, was in einem
Augenblick geschieht, unzählige Male in ganz gleicher Gestalt
schon ereignet hat und unzählige Male sich in der Zukunft
ereignen werde. Die atomistische Gestaltung des Weltalls
läßt den gegenwärtigen Augenblick als eine bestimmte
Kombination der kleinsten Wesenheiten erscheinen; an diese
muß sich eine andere anschließen, an diese wieder eine
andere; und wenn alle möglichen Kombinationen erschöpft
sind, so muß die anfängliche wieder erscheinen. - Ein
menschliches Leben mit allen seinen Einzelheiten war
unzählige Male da; es wird unzählige Male mit all diesen
selben Einzelheiten wiederkehren.
Die
«wiederholten Erdenleben» des Menschen dämmerten im
Unterbewußtsein Nietzsches. Sie führen das Menschenleben
durch die Menschheitsentwickelung zu Lebensetappen, in denen
das waltende Schicksal auf geistgestaltenden Bahnen den
Menschen nicht zu einer Wiederholung des gleichen Erlebens,
sondern zu einem vielgestalteten Hindurchgehen durch den
Weltenlauf kommen läßt. Nietzsche war umklammert von den
Fesseln der Naturanschauung. Was diese aus den wiederholten
Erdenleben machen konnte, das zauberte sich vor seine Seele.
Und er lebte das. Denn er empfand sein Leben als
ein tragisches, erfüllt mit schmerzvollsten Erfahrungen,
niedergedrückt von Leid. — Dieses Leben noch
unzählige Male zu erfahren — das stand vor seiner Seele
statt der Perspektive auf die befreienden Erfahrungen, die
eine solche Tragik in der Weiterentfaltung kommender Leben zu
erfahren hat.
Und Nietzsche
empfand, daß in dem Menschen, der sich in Einem Erdendasein
erlebt, ein anderer sich offenbart — ein «Übermensch»,
der aus sich nur die Fragmente seines Gesamtlebens im
leiblichen Erdendasein ausgestalten kann. Die naturalistische
Entwickelungs-Idee ließ ihn diesen «Übermenschen» nicht
als das geistig Waltende innerhalb des Sinnlich-Physischen
schauen, sondern als das durch bloß naturgemäße
Entwickelung sich Ausgestaltende. Wie aus dem Tier der Mensch
sich entfaltet hat, wird sich aus dem Menschen der
«Übermensch» entfalten. Die Naturanschauung entriß
Nietzsche den Ausblick auf den «Geistmenschen» im
«Naturmenschen» und blendete ihn mit einem höheren
Naturmenschen.
Was nach dieser
Richtung Nietzsche erlebt hat, das stand in vollster
Lebhaftigkeit im Sommer 1896 vor meiner Seele. Damals gab mir
Fritz Koegel seine Zusammenstellung von Nietzsches Aphorismen
zur «ewigen Wiederkunft» zur Durchsicht. Ich habe, was ich
damals über das Hervorgehen von Nietzsches Ideen gedacht
habe, 1900 in einem Aufsatze im «Magazin für Literatur»
niedergeschrieben. - In einzelnen Sätzen dieses Aufsatzes ist
festgehalten, was ich 1896 an Nietzsche und der
Naturwissenschaft erlebt habe. Ich werde diese meine Gedanken
von damals hier wiederholen, losgelöst von der Polemik, in
die sie damals gekleidet waren.
«Es ist kein
Zweifel, daß Nietzsche diese einzelnen Aphorismen in
zwangloser Reihenfolge aufgeschrieben hat ... Ich habe meine
damals ausgesprochene Überzeugung auch heute noch: daß
Nietzsche bei Gelegenheit der Lektüre von Eugen Dührings <Kursus
der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung
und Lebensgestaltung> (Leipzig 1875) und unter dem
Einflüsse dieses Buches die Idee gefaßt hat. Auf S. 84
dieses Werkes findet sich nämlich dieser Gedanke ganz klar
ausgesprochen; nur wird er da ebenso energisch bekämpft, wie
ihn Nietzsche verteidigt. Das Buch ist in Nietzsches
Bibliothek vorhanden. Es ist, wie zahlreiche Bleistiftstriche
am Rande zeigen, von Nietzsche eifrig gelesen worden ...
Dühring sagt: <Der tiefere logische Grund alles bewußten
Lebens fordert daher im strengsten Sinne des Worts eine Unerschöpflichkeit
der Gebilde. Ist diese Unendlichkeit, vermöge deren immer
neue Formen hervorgetrieben werden, an sich möglich? Die
bloße Zahl der materiellen Teile und Kraftelemente würde an
sich die unendliche Häufung der Kombinationen ausschließen,
wenn nicht das stetige Medium des Raumes und der Zeit eine
Unbeschränktheit der Variationen verbürgte. Aus dem, was
zählbar ist, kann auch nur eine erschöpfbare Anzahl von
Kombinationen folgen. Aus dem aber, was seinem Wesen nach ohne
Widerspruch gar nicht als etwas Zählbares konzipiert werden
darf, muß auch die unbeschränkte Mannigfaltigkeit der Lagen
und Beziehungen hervorgehen können. Diese Unbeschränktheit,
die wir für das Schicksal der Gestaltungen des Universums in
Anspruch nehmen, ist nun mit jeder Wandlung und selbst mit dem
Eintreten eines Intervalls der annähernden Beharrung oder der
vollständigen Sichselbstgleichheit (von mir
unterstrichen), aber nicht mit dem Aufhören alles Wandels
verträglich. Wer die Vorstellung von einem Sein kultivieren
möchte, welches dem Ursprungszustande entspricht, sei daran
erinnert, daß die zeitliche Entwickelung nur eine einzige
reale Richtung hat, und daß die Kausalität ebenfalls dieser
Richtung gemäß ist. Es ist leichter, die Unterschiede zu
verwischen, als sie festzuhalten, und es kostet daher wenig
Mühe, mit Hinwegsetzung über die Kluft das Ende nach
Analogie des Anfangs zu imaginieren. Hüten wir uns jedoch vor
solchen oberflächlichen Voreiligkeiten; denn die einmal
gegebene Existenz des Universums ist keine gleichgültige
Episode zwischen zwei Zuständen der Nacht, sondern der
einzige feste und lichte Grund, von dem aus wir unsere
Rückschlüsse und Vorwegnahmen bewerkstelligen ...>
Dühring findet auch, daß eine immerwährende Wiederholung
der Zustände keinen Reiz für das Leben hat. Er sagt: <Nun
versteht es sich von selbst, daß die Prinzipien des
Lebensreizes mit ewiger Wiederholung derselben Formen nicht
verträglich sind.. .»>
Nietzsche wird
mit der Naturanschauung in eine Konsequenz hineingetrieben,
vor der Dühring durch die mathematische Betrachtung und durch
das Schreckbild, das sie vor dem Leben darstellt,
zurückschauert.
In meinem
Aufsatze heißt es weiter: «... machen wir die Voraussetzung,
daß mit den materiellen Teilen und Kraftelementen eine
zählbare Anzahl von Kombinationen möglich sei, so haben wir
die Nietzsche'sche Idee der <Wiederkunft des Gleichen).
Nichts anderes als die Verteidigung einer aus der
Dühring'schen Ansicht genommenen Gegen-Idee haben wir
in dem Aphorismus 203 (Band XII in Koegels Ausgabe und
Aphorismus 22 in Hor-neffers Schrift: <Nietzsches Lehre von
der ewigen Wiederkunft)): <Das Maß der All-Kraft ist bestimmt,
nichts ,Unendliches': hüten wir uns vor solchen
Ausschweifungen des Begriffs! Folglich ist die Zahl der Lagen,
Veränderungen, Kombinationen und Entwickelungen dieser Kraft
zwar ungeheuer groß und praktisch , unermeßlich', aber
jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich, das heißt: die
Kraft ist ewig gleich und ewig tätig: — bis zu diesem
Augenblick ist schon eine Unendlichkeit abgelaufen, das
heißt, alle möglichen Entwickelungen müssen schon
dagewesen sein. Folglich muß die augenblickliche
Entwickelung eine Wiederholung sein und so die, welche sie
gebar, und die, welche aus ihr entsteht, und so vorwärts und
rückwärts weiter! Alles ist unzähligemal dagewesen,
insofern die Gesamtlage aller Kräfte immer wiederkehrt..
.> Und Nietzsches Gefühl gegenüber diesem Gedanken
ist genau das Gegenteilige von dem, das Dühring bei ihm hat.
Nietzsche ist dieser Gedanke die höchste Formel der
Lebensbejahung. Aphorismus 43 (bei Horneffer, 234 in Koegels
Ausgabe) lautet: <die zukünftige Geschichte: immer mehr
wird dieser Gedanke siegen — und die nicht daran glauben,
die müssen ihrer Natur nach endlich aussterben! — Nur
wer sein Dasein für ewig wiederholungsfähig hält, bleibt
übrig: unter solchen aber ist ein Zustand möglich,
an den kein Utopist gereicht hat! Es ist der Nachweis
möglich, daß viele der Nietzsche'schen Gedanken auf dieselbe
Art entstanden sind wie der Ewige-Wieder-kunfts-Gedanke.
Nietzsche bildete zu irgend einer vorhandenen Idee die
Gegen-Idee. Schließlich führte ihn dieselbe Tendenz auf sein
Hauptwerk: <Umwertung aller Werte>.»
Mir war damals
klar: Nietzsche ist mit gewissen seiner nach der Geist-Welt
strebenden Gedanken ein Gefangener der Naturanschauung.
Deshalb lehnte ich die mystische Interpretation seines
Wiederkunftsgedankens streng ab. Und ich stimmte Peter Gast
zu, der in seiner Ausgabe von Nietzsches Werken geschrieben
hat: «Die rein mechanisch zu verstehende Lehre von der
Erschöpfbarkeit, also Repetition, der kosmischen
Molekularkombinationen.» - Nietzsche glaubte einen
Höhe-Gedanken aus den Grundlagen der Naturanschauung holen zu
müssen. Das war die Art, wie er an seiner Zeit leiden mußte.
So stand, was
man - nach dem Geiste ausblickend - an der Naturanschauung vom
Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu leiden hatte, in dem
Anblicke von Nietzsches Seele 1896 vor mir.
TB 636 (XVIII.), S
187 ff
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