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FREIHEIT UND GESELLSCHAFT

Magazin für Literatur 1898, 67. Jg., Nr. 29 und 30

Rudolf Steiner

In der letzten Nummer dieser Zeitschrift habe ich die Ansicht ausgesprochen, daß die Beurteilung der sozialen Fragen in der Gegenwart unter dem Umstände leidet, daß die Denker, die ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten in den Dienst dieser Frage stellen, allzu schablonenhaft die Resultate, welche Darwin und seine Nachfolger für das Tier- und Pflanzenreich gewonnen haben, auf die Entwicklung der Menschheit übertragen. Ich habe als eines der Bücher, denen ich diesen Vorwurf zu machen habe, «Die Soziale Frage» von Ludwig Stein genannt.

Ich finde meine Meinung über dieses Buch namentlich durch den Umstand bestätigt, daß Ludwig Stein in sorgfältiger Weise die Ergebnisse der neueren Soziologie sammelt, die wichtigsten Beobachtungen aus dem reichen Materiale heraushebt, und dann nicht darauf ausgeht, mit dem Geiste des Darwinismus aus den Beobachtungen spezifisch soziologische Gesetze abzuleiten, sondern die Erfahrungen einfach so interpretiert, daß sich in ihnen genau dieselben Gesetze aufzeigen lassen, die im Tier- und Pflanzenreiche herrschen.

Die Grundtatsachen der sozialen Entwicklung hat Ludwig Stein richtig herausgefunden. Trotzdem er gewalttätig die Gesetze des «Kampfes ums Dasein» und der «Anpassung» auf die Entstehung der sozialen Institutionen, der Ehe, des Eigentums, des Staates, der Sprache, des Rechtes und der Religion anwendet, findet er in der Entwicklung dieser Institutionen eine wichtige Tatsache, die in der tierischen Entwicklung in der gleichen Weise nicht vorhanden ist. Diese Tatsache läßt sich in der folgenden Weise charakterisieren. Alle die genannten Institutionen entstehen zunächst in der Weise, daß die Interessen des menschlichen Individuums in den Hintergrund treten, dagegen diejenigen einer Gemeinschaft eine besondere Pflege erfahren. Dadurch nehmen im Anfange diese Institutionen eine Form an, die im weiteren Verlaufe ihrer Entwicklung bekämpft werden muß. Würde durch die Natur der Tatsachen im Anfange der Kulturentwicklung nicht dem Streben des Individuums, seine Kräfte und Fähigkeiten allseitig zur Geltung zu bringen, ein Hemmnis entgegengehalten, so hätten sich die Ehe, das Eigentum, der Staat usw. nicht in der Weise entwickeln können, wie sie sich entwickelt haben. Der Krieg Aller gegen Alle hätte jede Art von Verbänden verhindert. Denn innerhalb eines Verbandes ist der Mensch immer genötigt, einen Teil seiner Individualität aufzugeben. Dazu ist der Mensch auch im Anfange der Kulturentwicklung geneigt. Dies wird durch verschiedenes bestätigt. Es hat anfangs z. B. kein Privateigentum gegeben. Stein sagt darüber (S. 91): «Es ist eine Tatsache, welche von den Fachforschern mit einer Einstimmigkeit behauptet wird, die um so überzeugungskräftiger wirkt, je seltener eine solche gerade auf diesem Gebiete zu erzielen ist, daß die Urform des Eigentums eine kommunistische gewesen und während der unmeßbar langen Periode bis tief in die Barbarei hinein wohl auch geblieben ist.» Ein Privateigentum, das den Menschen in die Lage setzt, seine Individualität zur Geltung zu bringen, gab es demnach im Anfange der Menschheitsentwicklung nicht. Und wodurch könnte drastischer illustriert werden, daß es eine Zeit gegeben hat, in der die Opferung des Individuums im Interesse einer Gemeinschaft als richtig gegolten hat, als durch den Umstand, daß die Spartaner zu einer gewissen Zeit einfach schwache Individuen ausgesetzt und dem Tode preisgegeben haben, damit sie der Gemeinschaft nicht zur Last fallen? Und welche Bestätigung findet dieselbe Tatsache durch den Umstand, daß Philosophen früherer Zeiten, z. B. Aristoteles, gar nicht daran gedacht haben, daß die Sklaverei etwas Barbarisches hat? Aristoteles sieht es als selbstverständlich an, daß ein gewisser Teil der Menschen einem ändern als Sklaven dienen muß. Man kann eine solche Ansicht nur haben, wenn es einem vorzüglich auf das Interesse der Gesamtheit ankommt und nicht auf dasjenige des Einzelnen. Es ist leicht nachzuweisen, daß alle gesellschaftlichen Institutionen im Anfange der Kultur eine solche Form gehabt haben, die das Interesse des Individuums demjenigen der Gesamtheit zum Opfer bringt.

Aber es ist ebenso wahr, daß im weiteren Verlauf der Entwicklung das Individuum seine Bedürfnisse gegenüber denen der Gesamtheit geltend zu machen bemüht ist. Und wenn wir genau zusehen, so ist in der Geltendmachung des Individuums gegenüber den im Anfange der Kulturentwicklung notwendig entstehenden Gemeinschaften, die sich auf Untergrabung der Individualität aufbauen, ein gutes Stück geschichtlicher Entwicklung gegeben.

Bei gesunder Überlegung wird man anerkennen müssen, daß gesellschaftliche Institutionen notwendig waren, und daß sie nur mit Betonung gemeinsamer Interessen entstehen konnten. Dieselbe gesunde Überlegung führt aber auch dazu anzuerkennen, daß das Individuum gegen die Opferung seiner eigenartigen Interessen kämpfen muß. Und dadurch haben im Laufe der Zeit die sozialen Institutionen Formen angenommen, die den Interessen der Individuen mehr Rechnung tragen, als dies in früheren Zuständen der Fall war. Und wenn man unsere Zeit versteht, so darf man wohl sagen, die Fortgeschrittensten streben solche Gemeinschaftsformen an, daß durch die Arten des Zusammenlebens das Individuum so wenig wie möglich in seinem Eigenleben behindert wird. Es schwindet immer mehr das Bewußtsein, daß die Gemeinschaften Selbstzweck sein können. Sie sollen Mittel zur Entwicklung der Individualitäten werden. Der Staat z. B. soll eine solche Einrichtung erhalten, daß er der freien Entfaltung der Einzelpersönlichkeit den möglichst großen Spielraum gewährt. Die allgemeinen Einrichtungen sollen in dem Sinne gemacht werden, daß nicht dem Staate als solchem, sondern daß dem Individuum gedient ist. J. G. Fichte hat dieser Tendenz einen scheinbar paradoxen, aber ohne Zweifel einzig richtigen Ausdruck gegeben, indem er sagte: der Staat ist dazu da, um sich selbst allmählich überflüssig zu machen. Diesem Ausspruche liegt eine wichtige Wahrheit zugrunde. Im Anfange braucht das Individuum die Gemeinschaft. Denn nur aus der Gemeinschaft heraus kann es seine Kräfte entwickeln. Aber später, wenn diese Kräfte entwickelt sind, dann kann das Individuum die Bevormundung durch die Gemeinschaft nicht mehr ertragen. Es sagt sich dann so: ich richte die Gemeinschaft in der Weise ein, daß sie der Entfaltung meiner Eigenart am zweckdienlichsten ist. Alle staatlichen Reformationen und Revolutionen in der neueren Zeit haben den Zweck gehabt, die Einzelinteressen gegenüber den Interessen der Gesamtheit zur Geltung zu bringen.

Es ist interessant, wie Ludwig Stein jeder einzelnen gesellschaftlichen Einrichtung gegenüber diese Tatsache betont. «Die offensichtliche Tendenz der ersten sozialen Funktion, der Ehe, ist eine ständig sich steigernde, weil mit psychischen Faktoren sich komplizierende Verpersönlichung - ein Kampf um die Individualität» (S. 79). In bezug auf das Eigentum sagt Stein (S. 106): «Das soziale Ideal ist, philosophisch gesehen, ein durch den kommunistischen Zug in den Staatseinrichtungen gemilderter Individualismus.» Für die Institution des Staates im allgemeinen gilt nach Stein: «die offenbare Tendenz des sozialen Geschehens» geht auf «unausgesetzte Verpersönlichung» und auf «Heraustreiben der individuellen Spitze der soziologischen Pyramide». Bei Betrachtung der Entwicklung der Sprache sagt Stein: «Wie der sexuelle Kommunismus in eine individuelle Monogamie mündet, wie das ursprüngliche Grundeigentum unwiderstehlich in persönliches Privateigentum sich auflöst, so ringt das Individuum dem im Interesse der Gesellschaft liegenden sprachlichen Kommunismus seine geistige Persönlichkeit, seine Sprache, seinen Stil ab. Auch hier also heißt die Losung: Selbstbehauptung der Individualität». Von der Entwicklung des Rechts sagt Stein: «Die Seele der Entwicklung des Rechts, das sich ursprünglich auf die ganze Gens erstreckte, um sich allmählich der einzelnen körperlichen Individuen zu bemächtigen und dann innerhalb dieser Individuen von der Körperhaftigkeit in die feinsten und zartesten seelischen Verästelungen, zeichnet uns ein flüchtiges zwar, aber doch genügend charakterisierendes Bild von dem in unendlicher Fortbewegung befindlichen Individualisierungsprozeß des Rechts» (S. 151).

Mir scheint nun, daß es nach Feststellung dieser Tatsachen Aufgabe des soziologischen Philosophen gewesen wäre, überzugehen zu dem soziologischen Grundgesetz in der Menschheitsentwicklung, das mit logischer Notwendigkeit daraus folgt, und das ich etwa in folgender Weise ausdrücken möchte. Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.

Nun handelt es sich darum, aus dieser geschichtlichen Tatsache die Folgerungen zu ziehen. Welche Staats- und Gesellschaftsform kann die allein erstrebenswerte sein, wenn alle soziale Entwicklung auf einen Individualisierungsprozeß hinausläuft? Die Antwort kann allzu schwierig nicht sein. Der Staat und die Gesellschaft, die sich als Selbstzweck ansehen, müssen die Herrschaft über das Individuum anstreben, gleichgültig wie diese Herrschaft ausgeübt wird, ob auf absolutistische, konstitutionelle oder republikanische Weise. Sieht sich der Staat nicht mehr als Selbstzweck an, sondern als Mittel, so wird er sein Herrschaftsprinzip auch nicht mehr betonen. Er wird sich so einrichten, daß der Einzelne in größtmöglicher Weise zur Geltung kommt. Sein Ideal wird die Herrschaftlosigkeit sein. Er wird eine Gemeinschaft sein, die für sich gar nichts, für den Einzelnen alles will. Wenn man im Sinne einer Denkungsweise, die sich in dieser Richtung bewegt, sprechen will, so kann man nur alles das bekämpfen, was heute auf eine Sozialisierung der gesellschaftlichen Institutionen hinausläuft. Das tut Ludwig Stein nicht. Er geht von der Beobachtung einer richtigen Tatsache, aus der er aber nicht ein richtiges Gesetz folgern kann, zu einer Schlußfolgerung über, die einen faulen Kompromiß darstellt zwischen Sozialismus und Individualismus, zwischen Kommunismus und Anarchismus.

Statt zuzugestehen, daß wir nach individualistischen Institutionen streben, versucht er, einem Sozialisierungsprinzip beizuspringen, das doch sich zur Berücksichtigung des Einzelinteresses nur insoweit herbeiläßt, als die Bedürfnisse der Gesamtheit dadurch nicht beeinträchtigt werden. Zum Beispiel für das Recht sagt Stein (S. 607): «Unter Sozialisierung des Rechts verstehen wir den rechtlichen Schutz der wirtschaftlich Schwachen; die bewußte Unterordnung der Interessen der Einzelnen unter die eines größeren gemeinsamen Ganzen, weiterhin des Staates, letzten Endes aber des ganzen Menschengeschlechts.» Und eine solche Sozialisierung des Rechts hält Ludwig Stein für wünschenswert.

Ich kann eine Ansicht, wie diese ist, mir nur erklären, wenn ich annehme, daß ein Gelehrter durch allgemeine Schlagworte der Zeit so eingenommen worden ist, daß er gar nicht imstande ist, aus seinen richtigen Vordersätzen die entsprechenden Nachsätze zu folgern. Die aus der soziologischen Beobachtung gewonnenen richtigen Vordersätze würden Ludwig Stein zwingen, den anarchistischen Individualismus als das soziale Ideal hinzustellen. Dazu gehörte ein Mut des Denkens, den er offenbar nicht hat. Den Anarchismus scheint Ludwig Stein überhaupt nur in der grenzenlos blödsinnigen Form zu kennen, in der er durch das Gesindel der Bombenwerfer seiner Verwirklichung zustrebt. Wenn er Seite 597 sagt: «Mit einer denkenden, zielbewußten, organisierten Arbeiterschaft, für welche die Gesetze der Logik bindende Gültigkeit haben, verständigt man sich», so beweist er das, was ich gesagt habe. Mit der kommunistisch denkenden Arbeiterschaft ist eben heute eine Verständigung nicht möglich für denjenigen, der die Gesetze der sozialen Entwicklung nicht nur kennt wie Ludwig Stein, sondern der sie auch richtig zu deuten weiß, wie es Ludwig Stein nicht kann.

Ludwig Stein ist ein großer Gelehrter. Sein Buch beweist das. Ludwig Stein ist ein kindlicher Sozialpolitiker. Sein Buch beweist das. Beides ist also in unserer Zeit recht gut vereinbar. Wir haben es zu einer Reinkultur in der Beobachtung gebracht. Aber ein guter Beobachter ist noch lange kein Denker. Und Ludwig Stein ist ein guter Beobachter. Was er uns als Resultate von seiner und anderer Beobachtung mitteilt, ist uns wichtig: was er aus diesen Beobachtungen folgert, geht uns nichts an.

Ich habe sein Buch mit Interesse gelesen. Es war mir wirklich nützlich. Ich habe aus ihm sehr viel gelernt. Aber ich habe immer aus den Voraussetzungen andere Schlüsse ziehen müssen, als Ludwig Stein aus ihnen gezogen hat. Wo die Tatsachen durch ihn sprechen, regt er mich an; wo er selbst spricht, muß ich ihn bekämpfen.

Ich frage mich nun aber doch: warum kann denn Ludwig Stein trotz richtiger Einsichten zu verkehrten sozialen Idealen kommen? Und da komme ich auf meine ursprüngliche Behauptung zurück. Er ist nicht imstande, aus den sozialen Tatsachen die sozialen Gesetze wirklich zu finden. Hätte er dies gekonnt, dann wäre er nicht zu einem faulen Kompromiß zwischen Sozialismus und Anarchismus gekommen. Denn wer wirklich Gesetze erkennen kann, der handelt unbedingt in ihrem Sinne.

Immer wieder muß ich darauf zurückkommen, daß in unserer Zeit die Denker feige sind. Sie haben nicht den Mut, aus ihren Voraussetzungen, aus ihren Beobachtungen die Folgerungen zu ziehen. Sie schließen Kompromisse mit der Unlogik. Die soziale Frage sollten sie deshalb überhaupt nicht anschneiden. Sie ist zu wichtig. Bloß um auf richtige Voraussetzungen ein paar triviale Schlußfolgerungen zu bauen, die eines gemäßigten Sozialreformers würdig wären, Vorlesungen zu halten und sie dann als Buch herauszugeben, dazu ist diese Frage einmal nicht da.

Ich betrachte Steins Buch als einen Beweis davon, wie viel unsere Gelehrten können, wie wenig sie aber wirklich denken können. Wir brauchen in der Gegenwart Mut; Mut des Denkens, Mut der Konsequenz; wir aber haben leider nur feige Denker.

*

Die Mutlosigkeit des Denkens möchte ich geradezu als den hervorstechendsten Zug unserer Zeit ansehen. Einen Gedanken, seinen Konsequenzen nach, abzustumpfen, ihm einen anderen «ebenso berechtigten» gegenüberstellen: das ist eine ganz allgemeine Tendenz. Stein erkennt, daß die menschliche Entwicklung dem Individualismus zustrebt. Der Mut, darüber nachzudenken, wie wir aus unseren Verhältnissen heraus zu einer dem Individualismus Rechnung tragenden Gesellschaftsform gelangen können, fehlt ihm. Vor kurzem hat E. Münsterberg ein Buch des Brüsseler Professors Adolf Prins übersetzt («Freiheit und soziale Pflichten» von Adolf Prins, autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. E. Münsterberg, Verlag Otto Liebmann, Berlin 1897). Prins kennt ihrem ganzen Inhalte nach die Wahrheit, die allem Sozialismus und Kommunismus ohne weiteres den Kopf abschlagen muß: «Und ich denke, unter den Elementen, die die ewige Grundlage der Menschheit bilden, ist die Verschiedenheit der Menschen eines der widerstandsfähigsten.» Keine sozialistische oder kommunistische Staats- oder Gesellschaftsform kann der natürlichen Ungleichheit der Menschen die gebührende Rechnung tragen. Jede nach irgendwelchen Prinzipien in ihrem Wesen vorherbestimmte Organisation muß notwendig die volle freie Entwicklung des Individuums unterdrücken, um sich als Gesamtorganismus durchzusetzen. Auch wenn ein Sozialist im allgemeinen die Berechtigung der vollen Entwicklung aller Einzelpersönlichkeiten anerkennt, wird er bei praktischer Verwirklichung seiner Ideale den Individuen diejenigen Eigenheiten abzuschleifen suchen, die in sein Programm nicht passen.

Interessant ist der Gedankengang des belgischen Professors. Daß die Anhäufung der Herrschaftsgewalten an einer Stelle schädlich ist, gibt er von vornherein zu. Er redet deshalb den mittelalterlichen Einrichtungen mit ihren auf lokale Verbände und landschaftliche Individualitäten gestützten Verwaltungs- und Rechtspflegesystemen das Wort gegenüber den aus dem Römertum stammenden Bestrebungen, die mit Übergehung der Einzeleigentümlichkeiten alle Gewalten an einer Stelle vereinigt, zentralisiert haben wollen (S. 40 ff). Prins ist sogar gegen das allgemeine Wahlrecht, weil er findet, daß dadurch eine Minderheit durch die Herrschaft einer vielleicht unbeträchtlichen Mehrheit vergewaltigt wird. Dennoch kommt auch er dahin, faule Kompromisse zwischen Sozialismus und Individualismus zu empfehlen. Daß alles Heil aus der Betätigung der Individualitäten entspringt: das hätte sich diesem Denker aus allen seinen Betrachtungen ergeben müssen. Er hat nicht den Mut, das einzugestehen und sagt: «Aber das höchste Maß von Individualität erwächst nicht aus einem Übermaß von Individualismus» (S. 63). Ich möchte dem entgegnen: von einem «Übermaß» des Individualismus kann überhaupt nicht gesprochen werden, denn niemand kann wissen, was von einer Individualität verlorengeht, wenn man sie in ihrer freien Entfaltung beschränkt. Wer hier Maß halten will, der kann gar nicht wissen, welche schlummernden Kräfte er mit seiner plumpen Maßanlegung aus der Welt austilgt. Praktische Vorschläge zu geben gehört nicht hierher; wohl aber ist hier der Ort zu sagen, daß, wer die Entwicklung der Menschheit zu deuten weiß, nur für eine Gesellschaftsform eintreten kann, die die ungehinderte allseitige Entwicklung der Individuen zum Ziele hat, und der jede Herrschaft des einen über den ändern ein Greuel ist. Wie der einzelne mit sich selbst fertig wird, das ist die Frage. Jeder einzelne wird diese Frage lösen, wenn er nicht durch alle möglichen Gemeinschaften daran gehindert wird.

Von allen Herrschaften die schlimmste ist diejenige, welche die Sozialdemokratie anstrebt. Sie will den Teufel durch Beelzebub austreiben. Aber sie ist heute nun einmal ein Gespenst. Und da bekanntlich das Rot die aufregendste Farbe ist, so wirkt sie auf viele Menschen ganz schrecklich. Aber nur auf Menschen, die nicht denken können. Diejenigen, die denken können, wissen, daß mit der Realisierung der sozialdemokratischen Ideale alle Individualitäten unterdrückt sein werden. Weil aber diese sich nicht unterdrücken lassen können - denn die menschliche Entwicklung hat es einmal auf Individualität abgesehen -, so wäre der Tag des Sieges der Sozialdemokratie zugleich der ihres Unterganges.

Das scheinen diejenigen nicht einzusehen, die sich von dem roten Fahnenfetzen der Sozialdemokratie in solcher Weise einschüchtern lassen, daß sie glauben, jede Theorie über das Zusammenleben der Menschen müsse mit dem nötigen Tropfen sozialen Öles geschmiert sein. So ölig sind die beiden, die Ludwig Steins und die Adolf Prins'.

Beide wissen sich nicht recht zu helfen. Sie denken. Dadurch müßten sie Individualisten oder, sagen wir es ohne Vorbehalt heraus, theoretische Anarchisten werden. Aber sie haben Angst, höllische Angst vor den Konsequenzen ihres eigenen Denkens und deshalb ölen sie die Konsequenzen ihres Denkens ein wenig mit den staatssozialistischen Allüren des Fürsten Bismarck und mit dem sozialdemokratischen Nonsens der Herren Marx, Engels und Liebknecht. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.

Das gilt aber doch nicht für Denker. Ich bin der Ansicht, daß sich jeder für die ungeschwächte Konsequenz der Anschauung, die seiner Natur gemäß ist, ins Zeug legen soll. Ist sie falsch, dann wird schon eine andere siegen. Aber ob wir siegen werden, das überlassen wir der Zukunft. Wir wollen bloß im Kampf unsern Mann stellen.

Den Leuten vom Denkhandwerk kommt es entschieden zu, in der Diskussion über die soziale Frage mitzuwirken. Denn man sagt ihnen nach, daß ihr Handwerk die blinde Parteileidenschaft nicht aufkommen läßt. Aber eine Leidenschaft brauchen auch die Denker. Diejenige der rücksichtslosen Anerkennung ihrer eigenen Ansichten. Die Denker unserer Zeit haben diese Rücksichtslosigkeit nicht.

Ludwig Stein bedauert in der Einleitung zu seinem Buche, daß die Philosophen der Gegenwart sich so wenig mit der sozialen Frage beschäftigen. Ich möchte das nicht in dem gleichen Maße bedauern. Wären unsere Philosophen Denker, die den Mut haben, die Konsequenzen aus ihren Gedanken zu ziehen, dann könnte ich Stein beistimmen. Wie die Dinge aber liegen, würde bei einer regen Anteilnahme der Philosophen an der Diskussion der sozialen Fragen nichts Sonderliches herauskommen. Und Ludwig Stein hat das mit seinem dicken Buche bewiesen. Es steht in demselben nichts, was für die Frage irgend in Betracht käme. Den allgemeinen Kohl, der uns von den Mittelparteien und Kompromißkandidaten in aller Herren Länder aufgetischt wird, setzt uns Ludwig Stein mit ein wenig philosophischem Salat vor. Er wird dadurch nicht schmackhafter.

aus GA 31 (1966), S 251 ff 

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