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EDUARD VON HARTMANN

Seine Lehre und seine Bedeutung

Deutsche Worte 1891, XI. Jg., 1. Heft

Rudolf Steiner

Dem Philosophen obliegt es, nach einem oft wiederholten Ausspruche, den Kulturgehalt seiner Zeit in der Form des reinen Gedankens auszusprechen. Wie der Künstler anstrebt, dasjenige, was in der Tiefe des Volks- und Zeitbewußtseins an Ideen, Gefühlen und sonstigem Lebensinhalt waltet, in sinnlich-anschaulicher Form zum Ausdrucke zu bringen, so sucht der Philosoph die Gesamtheit alles dessen, was seine Zeit und sein Volk beherrscht und belebt, in begrifflicher, denkender Weise darzustellen. Kuno Fischer sagt in seinem geistreichen Werke «Geschichte der neueren Philosophie» : «Wenn wir ein Kultursystem oder ein Zeitalter mit einer Bildsäule vergleichen wollen, so bildet darin die Philosophie das sinnende Auge, welches nach innen schaut.» Ohne diesen lebendigen Bezug zum Zeitalter, ohne den Drang, das, was sich im Leben unter hin- und herwogenden Kämpfen und in der Unruhe des Tages abspielt, in ruhiger Klarheit denkend zu durchdringen, um so wieder befruchtend auf dasselbe zurückzuwirken, kann der Philosoph dem Schicksale nicht entgehen, auf seiner einsamen Höhe ein wertloses Dasein zu führen.

Wenige der namhaften Philosophen haben ihre Aufgabe in der eben gekennzeichneten Weise so trefflich angefaßt wie unser großer Zeitgenosse Eduard von Hartmann. Während wir ihn auf der einen Seite mit den tiefsten Geheimnissen des Weltbaues und den Rätseln des Lebens ringen sehen, verschmäht er es auf der ändern nicht, sich mit den schwebenden Fragen des Tages, mit den Bestrebungen der Parteien und den Interessen des Staates gründlich auseinanderzusetzen. Die sozialpolitischen Strömungen der Gegenwart, die Irrtümer der liberalen Parteigänger, die militärischen und kirchenpolitischen Fragen, die Schul- und Studienreform, die nationalen und demokratischen Ideen nehmen sein Interesse nicht weniger in Anspruch als die modernen Kunstbestrebungen, die Frauenfrage und das literarische Getriebe unserer Zeit. Ja, auch in verfänglichen Dingen, wie in bezug auf Spiritismus, Hypnotismus und Somnambulismus, hat er ein offenes, rückhaltloses Wort gesprochen; und als die Polenfrage in Deutschland auf die Tagesordnung kam, war er der erste, der für jene Lösung sich schriftstellerisch einsetzte, die später Bismarck als die richtige vertreten hat. Und dabei ist es nicht etwa eine einmal zurechtgelegte Schablone, mit der er wie so viele Philosophen in den Streit der Meinungen sich mischt, sondern es sind immer die in den Dingen liegenden und aus einem gründlichen Studium der Tatsachen hervorgehenden Gründe, die ihn leiten. Wie Hartmann aus dem vollen eines schier unermeßlichen Wissens schöpft, über welche Summe von Kenntnissen er verfügt, das zu beurteilen, dazu muß man einmal das Glück gehabt haben, ihm persönlich gegenüber getreten zu sein. Daß aber diese Art des Wirkens nur eine Konsequenz seiner wissenschaftlichen Überzeugung ist, das wollen wir im Verlaufe dieses Aufsatzes zeigen.

Die Folge dieser in der Geschichte des Geisteslebens seltenen Erscheinung ist nun aber auch eine ganz unglaubliche Wirkung derselben. E. v. Hartmann steht heute im neunundvierzigsten Lebensjahre, auf dem Gipfel der Schaffenskraft und Schaffensfreudigkeit, vieles noch versprechend (sein erstes Auftreten fällt in das Jahr 1868), und schon besitzen wir eine Literatur über ihn, die unübersehbar ist. Anders spiegelt sich die Bedeutung eines Menschen im Bewußtsein der Zeitgenossen, anders in dem der Nachwelt. Die ersteren können kaum den rechten Maßstab der Beurteilung finden. Der künftige Geschichtsschreiber des geistigen Lebens in Deutschland in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wird Hartmann ein großes Kapitel widmen müssen. Wir wollen zuerst die geschichtliche Stellung des Hartmannschen Ideenkreises kennzeichnen und dann auf die einzelnen Hauptgebiete seiner Tätigkeit eingehen.

In den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts war die deutsche Philosophie an einem bedenklichen Punkte ihrer Entwickelung angelangt. Die Zuversicht, mit welcher die Schüler Hegels nach dem Tode des Meisters (1830) auftraten, war einer vollständigen Entmutigung auf dem Gebiete dieser Wissenschaft gewichen. Von Hegel ausgehend, hatte man gehofft, ein Netz von unbedingt gewissen Erkenntnissen über alle Zweige des Wissens auszubreiten, aber die Hegelianer waren bald nicht mehr imstande, sich mit der Fülle des sich nach und nach häufenden Materials von tatsächlichen Ergebnissen der Forschung auseinanderzusetzen. Sie gaben Stück für Stück von ihrem Lehrgebäude auf, suchten da und dort zu bessern und die überkommene Lehre der neuen Lage der Erfahrungswissenschaften anzupassen. Die meisten aber suchten sich vollständig von dem Glauben ihrer Jugend loszumachen und betrachteten, wie zum Beispiel der Ästhetiker Vischer, ihre Hegelsche Periode nur als Zeit der Schulung ihres philosophischen Denkens. Auf den Kathedern herrschte vollständige Zerfahrenheit und Ratlosigkeit. Während die eine Gruppe von Berufsphilosophen vorläufig jede Aussicht auf Erfolg im Ausbaue einer Weltansicht aufgab und sich bloß der Bearbeitung von Spezialfragen zuwendete, verlegte sich eine andere auf eine ziemlich unfruchtbare Fortbildung der in antediluvianischen Vorurteilen steckengebliebenen Herbartschen Denkweise. Die Vertreter der Erfahrungswissenschaften aber sahen mit Verachtung auf alle Philosophie herab, die nach ihrer Ansicht nur mit wertlosen Phantasiegebilden sich zu tun mache. Die große Masse der Gebildeten endlich befriedigte ihr philosophisches Bedürfnis aus der Weltauffassung eines bis dahin fast unbeachtet gebliebenen und für ein ernstes, gründliches Betreiben der Wissenschaft tatsächlich beinahe unbrauchbaren Denkers: Schopenhauers. Die schlimmen Erfahrungen, die Schopenhauer mit seinem Erstlingswerke, dem einzigen von ihm, das für die Wissenschaft größere Bedeutung hat: «Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde», bei den Fachgelehrten gemacht hatte, führte ihn zu immer bedenklicheren Abwegen. Er machte nunmehr aus persönlichen Ansichten und subjektiven Erfahrungen philosophische Lehrsätze und opferte in «Parerga und Paralipomena» die Wahrheit vollständig einem geistreichelnden, das Publikum bestechenden Stile auf. Seine Ausführungen wurden deshalb mit Gier ergriffen, weil man sich auf leichte Weise aus seinen Schriften, die in entsprechender Form nichts als philosophische Trivialitäten boten, mit den zum Tagesgebrauche nötigen Phrasen versehen konnte.

Das war die Lage der Philosophie, als Hartmann auf den Plan trat (1868). Er tat es gleich mit dem unerläßlichen Selbstvertrauen in die Waffen seines Denkens und im Vollbesitze der zu seiner Zeit vorhandenen Erkenntnisse der Einzelwissenschaften. Er erkannte, daß von Hegel weder alles anzunehmen noch alles zu verwerfen sei. Er schälte den bleibenden Kern der Hegeischen Weltanschauung aus ihrer schädlichen Hülle heraus und fing an, ihn weiter zu bilden. Er trennte vollständig die Methode von den Ergebnissen der Hegeischen Philosophie und erklärte: das Gute bei Hegel sei ohne, ja gegen seine Methode gefunden, und das, was die letztere allein geliefert, sei von zweifelhaftem Werte. Die Methode bedurfte nach seiner Ansicht einer gründlichen Reform. Und hier war es, wo er den Bund mit der Naturwissenschaft einging. Die Forderung, wissenschaftliche Ergebnisse nur auf dem Wege der Beobachtung zu suchen, welche die Naturforscher immer energischer erhoben, wurde auch die seinige auf philosophischem Gebiete. «Metaphysische Resultate nach naturwissenschaftlich-induktiver Methode» wurde das Motto seines im Jahr 1869 in Berlin erschienenen Hauptwerkes «Philosophie des Unbewußten». Aber er vertrat die Anschauung, daß auch Hegel zu seinen wirklich wertvollen Ergebnissen durch eben dieselbe Methode gekommen war, ja daß man zu positiven wissenschaftlichen Sätzen überhaupt nur auf diese Weise gelangen kann. Hartmanns strenge Konsequenz behütete ihn jedoch, von dieser Methode aus zu den einseitigen Anschauungen zu kommen, welche die Naturwissenschaften der Zeit kennzeichnen. Wie kann man behaupten, daß die Beobachtung nichts liefere, als was die Sinne wahrnehmen, was Augen sehen, Ohren hören und so weiter, fragte er sich? Ist das Denken nicht ein über alle Sinne hinausgehendes Auffassungsorgan? Sollte sich die Wirklichkeit in dem Rohstoff liehen erschöpfen? Öffnet eure Sinne der Wirklichkeit, aber tut das nicht minder mit eurem vernünftigen Denken, so rief er den Naturforschern zu, dann werdet ihr finden, daß es eine höhere Wirklichkeit gibt, als die ihr für die allein wahre haltet!

Hegel war von keinem geringeren Durste nach Wirklichkeit beseelt als ein moderner Naturforscher, aber sein auf Höheres gerichteter Sinn offenbarte ihm auch eine höhere Wirklichkeit. In dieser Lage befand sich auch ein E. v. Hartmann. Er ging von der Ansicht aus, daß sich nicht alles, was uns in der Welt entgegentritt, aus Ursachen erklären lasse, die wir mit den Sinnen wahrnehmen. Schon wenn wir einen Stein zur Erde fallen sehen, schreiben wir die Ursache der Anziehungskraft der Erde zu, die wir aber nicht mehr wahrnehmen, sondern nur im Denken erfassen können. Und erst, wenn wir einen Organismus in seiner Entwickelung vom Ei bis zu seiner Vollendung verfolgen! Wer wollte da sein Erklärungsbedürfnis befriedigen, ohne zu der Auffassung seine Zuflucht zu nehmen, daß hier Kräfte walten, die wir uns nur im Gedanken vergegenwärtigen können. Es wird uns bei einer solchen Betrachtung des Organismus klar, daß wir eine einheitliche gedankliche Grundlage voraussetzen müssen, wenn wir unser Erkenntnisbedürfnis befriedigen wollen. Wir müssen im Denken und aus dem Denken etwas zu der Wahrnehmung hinzufügen, wenn wir die Sache verstehen wollen. Was wir da hinzufügen, kann natürlich nur ein Gedanke, eine Idee sein. Wie wir aber in unserem Denken eine Idee brauchen, um die Vorstellung zum Beispiel eines Organismus zustande zu bringen, so muß es auch etwas Analoges in dem Dinge selbst geben, das dasselbe in seiner Wirklichkeit zustande bringt. Das Analogen in der Wirklichkeit nun, das der Idee in unserem Bewußtsein entspricht, nennt Hartmann die unbewußte Idee.

Dieser Begriff der Idee ist aber gar nicht so sehr verschieden von dem, was Hegel die Idee nennt. Hartmann behauptet nichts anderes als das: was draußen in der Welt als Ursache der Dinge und Prozesse wirkt, komme innerhalb unseres Bewußtseins in Form der Idee zum Ausdrucke. Somit muß er den Inhalt unserer Ideenwelt für dasjenige halten, was uns den Schleier des Daseins lüftet, soweit das letztere für uns überhaupt möglich ist. Und Hegel sagt: ergreife die Welt der Ideen in deinem Bewußtsein, so hast du den objektiven Inhalt der Welt ergriffen. Soweit bestünde nun eine vollständige Übereinstimmung der beiden Denker. Während aber Hegel einfach die Welt der Ideen in unserem Innern aufsucht und dabei den inneren logischen Charakter derselben als maßgebend hinnimmt, sagt Hartmann: die Idee als logische, bloß wie sie in uns, in Gedanken, ist, könnte höchstens wieder Idee in logischer Weise bedingen, nicht aber Dinge der Wirklichkeit hervorbringen. Dazu muß ein Zweites, eine Kraft, etwas schlechterdings Unlogisches kommen. Erkennen kann ich von diesem zweiten Elemente der höchsten Wirklichkeit natürlich wieder nur den Repräsentanten, den es mir in mein Bewußtsein hereinsendet. Wenn ich mich aber frage, welches ist die Kraft in mir, die das tatsächlich vollzieht, zur Wirklichkeit macht, was die Logik bedingt, so finde ich meinen Willen. Etwas diesem Analoges muß auch in der Außenwelt walten, um den sonst machtlosen Ideen Wirklichkeit, gesättigtes Dasein zu verleihen. Dieses Analogen nennt Hartmann den unbewußten Willen. Unbewußte Idee und unbewußter Wille zusammen aber bilden den unbewußten Geist oder das Unbewußte.

Man muß dabei beachten, daß Hartmann durchaus nicht etwa behauptet, die unbewußte Idee oder der unbewußte Wille seien in der Außenwelt gerade in derselben Qualität vorhanden wie ihre bewußten Repräsentanten in unserem Geiste. Er hält vielmehr daran fest, daß wir über die Qualität dessen, was der Idee und dem Willen im Objektiven entspricht, nichts wissen, sondern daß für uns nur das eine feststeht, daß solche Analoga existieren. (1)

Durch die letztere Annahme, durch den unbewußten Willen, geht nun Hartmann wesentlich über Hegel hinaus. Mußte dieser nach seiner Grundannahme die logische Bestimmtheit für das allein bei der Idee in Betracht Kommende halten, überhaupt in logischen Gesetzen die höchsten Weltgesetze sehen, so behauptet Hartmann: alles, was wir in der Welt gewahr werden, ist: durch den Willen realisiertes Ideelles. Da der Wille nun natürlich eine Kraft ist, die von den Gesetzen der Logik nichts weiß, so sind die Weltgesetze auch nicht die logischen. Wenn ich also bloß in mich hineinblicke und meine Ideenwelt betrachte in ihren logischen Zusammenhängen, so komme ich zu keinem Ziele. Ich muß hinaussehen und durch Beobachtung erforschen, was der Wille für Geschöpfe aus dem ewigen Quell des Seins herausspritzt. Was ich da beobachte, was ich zuletzt als Resultat gewinne, ist Idee, aber aus der Wirklichkeit entlehnte Idee.

Den Naturforschern warf Hartmann vor, daß sie einfach nicht die Fähigkeit hätten, die Ideen zu beobachten, und deshalb bei der bloßen Sinneswahrnehmung stehenblieben. Den Philosophen aber fertigten die Naturforscher damit ab, daß sie seine «Philosophie des Unbewußten» für das Werk eines Phantasten erklärten, der über naturwissenschaftliche Fragen in ganz dilettantenhafter Weise mitsprechen wolle. Bald nach der «Philosophie des Unbewußten» erschienen eine Reihe von Gegenschriften vom naturwissenschaftlichen Standpunkte, unter denen sich auch die eines Anonymus befand. Die Naturforscher erklärten dieselbe für ein sehr verdienstliches Büchlein, das mit echter Sachkenntnis die leichtfertigen Ausführungen Hartmanns vom Standpunkte wahrer Erfahrungswissenschaft widerlege. Das Schriftchen erlebte eine zweite Auflage; der Verfasser setzte aber jetzt seinen vollen Namen auf das Titelblatt. Es war — Eduard von Hartmann. Der Philosoph hatte sich den Spaß gemacht, einmal den Gegnern gründlich zu zeigen, daß man sie schon verstehen kann, wenn man sich nur hinunter auf ihren Standpunkt stellen will. Es war ihm trefflich gelungen, zu zeigen, wer deshalb widerspricht, weil er den Gegner nicht versteht.

Der Erfolg der «Philosophie des Unbewußten» war der denkbar größte. Bis heute sind zehn Auflagen erschienen, und in alle europäischen Kultursprachen sind Übersetzungen besorgt. Hartmann, ermutigt dadurch, widmete sich mit aller Kraft dem Ausbau seiner Weltanschauung. Er suchte nicht nur die sich immer mehrenden Erfahrungen der Naturwissenschaft von dem Gesichtspunkte seiner Philosophie zu beleuchten (2), sondern auch die Konsequenzen für Ethik, Religionswissenschaft und Ästhetik zu ziehen.

Die ethischen Anschauungen Hartmanns finden wir hauptsächlich in seinem Buche: «Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins». Aus seinen Grundansichten auf dem Gebiete der Ethik folgt auch sein Standpunkt in der Politik und in den kulturellen Tagesfragen.

Die unbewußte Idee wird durch den unbewußten Willen verwirklicht. Dies ist das Wesen des Weltprozesses. Und der historische Entwickelungsprozeß ist nur ein Teil dieses Prozesses. Aber als solcher ist er wieder ein Ganzes, und die einzelnen Kultursysteme und sittlichen Anschauungen der Völker und Zeitalter sind nur seine Teile. Wer das erkennt, kann den Zweck seines Daseins nicht in einer einzelnen Handlung suchen, sondern nur in dem Werte, den sein besonderes Dasein für den Kulturprozeß der ganzen Menschheit und mittelbar dadurch für den ganzen Weltlauf hat. Nur in der selbstlosen Hingabe an die Ganzheit, in dem Aufgehen in der Menschheit, kann der Einzelne sein Heil finden. Als Ergänzung gleichsam zu dieser Erkenntnis sucht Hartmann den empirischen Nachweis zu liefern, daß keine Lust in der Welt uns ein uneingeschränktes Gefühl des Glückes gewähren kann. Wo immer wir hinblicken mögen: wenn wir uns an Einzelnes, Vorübergehendes hängen, so wird die Entbehrung größer sein als die Befriedigung. Wir müssen uns mit dieser Überzeugung durchdringen und dann um so freudiger der oben gekennzeichneten idealen Lebensaufgabe widmen. Wenn man diese ethische Auffassung Pessimismus nennen will, dann mag man es immerhin tun. Nur hüte man sich davor, diese Hartmannsche Ansicht mit dem Pessimismus Schopenhauers zu verwechseln.

Der letztere ist der Überzeugung, daß der Wille in seiner Vernunftlosigkeit das einzige Weltprinzip und die Idee gar keine objektive Bedeutung habe, sondern lediglich ein «Hirnprodukt» sei. Deshalb findet er die Welt vernunftlos und schlecht. Eine Realisierung durch den vernunftlosen Willen könne überhaupt nur ein wertloses Dasein erzeugen. Es gäbe nichts Lebenswertes in der Welt. Da wir in einer solchen Welt nichts erreichen können, so sei für den Menschen das Nichthandeln dem Handeln vorzuziehen. Schopenhauers Ethik endigt, wie man sieht, mit der Empfehlung der vollständigen Tatenlosigkeit.

Man vergleiche damit die Ethik Hartmanns, so wird man sehen, daß sie zu einem ganz entgegengesetzten Resultat führt, daß sie gerade in dem selbstlosen, hingebungsvollen Handeln die Befriedigung sucht, die uns das selbstsüchtige Genießen nimmermehr bieten könnte. Daß man dennoch beide Weltanschauungen, trotz wiederholten Protestes von Seite E. v. Hartmanns, immerfort zusammenwirft, beweist, welche Gewalt Schlagworte selbst über das gebildete Publikum haben.

Woher aber sollen wir die Grundsätze für unser jeweiliges Handeln nehmen, fragt Hartmann. Wir wirken am zweckmäßigsten, wenn wir an dem Orte, an den uns die Geschichte gestellt hat, unsere Aufgabe am richtigsten erfassen. Was heute gut ist, war es nicht im Mittelalter und wird es nicht nach Jahrhunderten sein. Was ein Mensch zu tun hat, muß sich daraus ergeben, was sein Vorgänger getan hat. Hier muß er den Faden anknüpfen und weiter entwickeln. Nur wer aus der Vergangenheit, aus der historischen Entwickelung, seine Aufgaben für die Gegenwart kennt, der schafft Gutes. Nicht mit abstrakten, schablonenhaften Begriffen dürfen wir auf den Schauplatz des Handelns treten, sondern ausgerüstet mit Erkenntnis von den wahren Bedürfnissen der tatsächlichen Wirklichkeit.

Weil die liberalen Parteien mit Außerachtlassung dieser Bedürfnisse, von außen her, aus der Theorie, die Welt regieren wollen, deshalb ist Hartmann ein Gegner derselben. Er will Parteigrundsätze, die aus dem Studium der Wirklichkeit folgen. Er ist konservativ in dem Sinne, daß er überall die Reformbestrebungen an Vorhandenes angeknüpft wissen will, aber durchaus nicht in der Weise vieler Konservativer, die der Entwickelung allerlei Hemmschuhe anlegen oder ihr am liebsten gar Stillstand gebieten möchten. Hartmann will den Fortschritt, aber nicht, wie ihn der Schablonenliberalismus auffaßt, sondern als fortwährende Annäherung zu den großen Kulturzielen der Menschheit. Jede Kulturepoche ist ihm nur die Vorbereitung der folgenden. Kein Kulturzweig ist von dieser Entwickelung ausgeschlossen.

Wie sich auch die religiösen Bedürfnisse diesem allgemeinen Gesetze unterworfen zeigen, hat Hartmann in seinen beiden Werken: «Die Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der Zukunft» und «Das religiöse Bewußtsein der Menschheit im Stufengang seiner Entwicklung» ausgeführt. Wir stehen in der Zeit, in welcher allerorten die alten religiösen Formen morsch geworden sind und neuen Platz machen müssen. Das Christentum ist keine absolute Religion, sondern nur eine Phase in der religiösen Entwickelung der Menschheit, und schon sind Anzeichen genug vorhanden, von welcher neuen Anschauung es abgelöst werden wird.

Es wäre ein arges Vorurteil, wenn man glauben wollte, die philosophischen Erörterungen Hartmanns seien wertlos für das praktische Leben. Ich will nur auf einiges hinweisen, das geeignet ist, solches zu entkräften. Hartmann hat theoretisch das Deutschösterreichische Bündnis und die gegenwärtige Konstellation der europäischen Staaten, lange bevor sie sich wirklich vollzogen haben, gefordert. Die Parteibildungen, wie wir sie in Deutschland in der zweiten Hälfte des verflossenen Dezenniums haben entstehen sehen, stellte Hartmann vorher als eine Notwendigkeit hin. Die Polenfrage haben wir bereits erwähnt. Dabei darf man nun durchaus nicht vergessen, daß unser Philosoph weit davon entfernt ist, zu behaupten, daß das von ihm in dieser Weise als notwendig Bezeichnete auch das Beste sei. Das Beste zu verlangen, ist überhaupt nach seiner Ansicht eine leere Forderung; man muß zusehen, was nach den in den Menschen und in der Zeit wirkenden Motiven entstehen kann und dazu seine Hand bieten. Hartmann ist im eminentesten Sinne Realpolitiker.

Seit einiger Zeit ist man in Deutsch-Österreich auf Hartmann nicht gut zu sprechen, weil er 1885 in einem Aufsatze von einem «Rückgange des Deutschtums in den österreichischen Ländern» gesprochen hat. Wollte man den Inhalt dieses Aufsatzes genau prüfen, so würde man wahrscheinlich zu einem anderen Urteile kommen. Denn abgesehen von einigen Bemerkungen, welche die Lage unserer Stammesgenossen trauriger hinstellen, als sie in Wirklichkeit ist, und die auf Rechnung des Umstandes zu setzen sind, daß Hartmann seine Kenntnisse doch zum Teil aus den die Sache verfälschenden Zeitungsberichten und Broschüren haben muß, wird man in jenem Aufsatze nur die Ansichten vertreten finden, die heute die nationalsten österreichischen Politiker auf ihre Fahne geschrieben haben. Hartmann legte den Deutschen in Österreich dar, daß sie unter das Maß von Einfluß, das ihnen gebührt, herabsinken müssen, wenn sie fortfahren, über liberalen Parteiprogrammen die tatsächlichen Aufgaben ihrer Nation und des Reiches aus den Augen zu verlieren. Sie haben, nach seiner Ansicht, sich auf die Volkskraft und ihre höhere Bildung zu stützen, um so das zu erreichen, was sie nimmermehr durch Paktieren mit «unreifen Natiönchen» und durch liberale Phrasen erreichen können, nämlich «das Staatsruder West-Österreichs» zu lenken. Hartmann wegen dieses Aufsatzes auch nur im geringsten einer deutschfeindlichen Gesinnung zu zeihen, geht nicht an, wenn man bedenkt, wie tief seine ganze Weltanschauung im Deutschtum wurzelt und wie er dieses Deutschtum ehrt, wenn er zum Beispiel sagt, beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges «hat es sich so recht gezeigt, daß Deutschland im wesentlichen wohl für immer darauf wird verzichten müssen, von anderem als deutschem Blute verstanden zu werden».

Welche Bedeutung Hartmanns Auffassung der politischen Situation hat, wird man erst so recht würdigen können, wenn sich eine seiner Hauptideen: «Vollständige Trennung aller politischen Parteien von wirtschaftlichen und religiös-kirchlichen» verwirklicht haben und wenn der von ihm 1881 geforderte mitteleuropäische Zollverein möglich werden wird. Man wird dann sehen, daß Hartmanns Ansichten nichts sind als die in Begriffe gebrachten sittlichen, politischen, religiösen, wirtschaftlichen usw. Kräfte der Gegenwart. Er sucht ihnen abzulauschen, nach welcher Richtung sie hinstreben, und nach dieser Richtung sucht er den praktischen Reformen den Weg vorzuzeichnen.

In der letzten Zeit schenkte uns Hartmann eine zweibändige «Ästhetik». Der erste Band sucht die Entwickelung der deutschen Kunstgeschichte seit Kant geschichtlich darzustellen; der zweite ist bestrebt, ein eigenes selbständiges Gebäude der «Wissenschaft des Schönen» aufzubauen. Im ersten Teile bewundern wir die Allseitigkeit, die auf jede Erscheinung eingeht und nicht nur eine geschichtliche Entwickelung der Grundansichten der einzelnen Ästhetiker bringt, sondern auch eine Darstellung des Fortganges der einzelnen ästhetischen Grundbegriffe, wie: schön, häßlich, komisch, erhaben, anmutig und so weiter. Daß in dem Buche der oft mißverstandene Deutinger und der vollständig verschollene, aber hochbedeutende Trahndorff ihre gerechte Würdigung finden, gehört nicht zu seinen geringsten Verdiensten. Wer sich eingehend unterrichten will, wie sich die Ansichten über Kunst von Kant herauf bis auf unsere Tage entwickelt haben, der muß zu diesem Buche greifen.

In der «Wissenschaft des Schönen» sucht Hartmann, seinem Prinzipe getreu, jenes Gebiet im tatsächlich Vorhandenen zu suchen, worinnen das Schöne, das von der Kunst Geschaffene, seinen Sitz hat. Er verwirft den abstrakten Idealismus der Schellingianer, die das Schöne nicht im Kunstobjekte selbst, sondern in einer abstrakten Sphäre suchen und behaupten, jedes einzelne Schöne sei nur ein Abglanz der niemals in seiner Vollkommenheit erscheinenden überirdischen Idee des Schönen. Diesem «abstrakten Idealismus» setzt Hartmann seinen «konkreten» entgegen, der den Grund und die Wurzel in dem ästhetischen Objekte selbst sucht, kurz, der auch hier die beobachtende, betrachtende, nicht die konstruierende Methode anwendet. Was ist eigentlich das Objekt, worinnen sich das «Schöne» verwirklicht? so fragt Hartmann. Weder bloß das reale Werk, das wir vor uns haben, wie die Realisten wollen, noch bloß die Harmonie der Gefühle und Empfindungen, die es in uns erzeugt, wie die Idealisten wollen, sind der Sitz des Schönen, sondern der Schein der Realität, zu dessen Hervorbringung dem Künstler das reale Produkt nur als Mittel dient. Wer nicht davon abzusehen imstande ist, welche realen Wirkungen von dem Kunstprodukte auf ihn ausgeübt werden, und nur sich dem Eindrucke des von aller Wirklichkeit abgelösten «ästhetischen Scheines» hingeben kann, der ist des wahren Kunstgenusses noch nicht fähig. Ein Mensch, der in der Wirklichkeit ein Verbrechen begeht, erzeugt in uns ein reales Gefühl des Abscheues durch seine wirkliche Tat. Er wirkt in uns durch das, was er ist. Der Schauspieler, der den Verbrecher darstellt, wirkt nur dann richtig auf uns ein, wenn er mit Verleugnung seines wirklichen Seins nur durch das in uns Empfindungen und Gefühle erregt, was er scheinen soll, durch seine Darstellung, die sich im Schein erschöpft und hinter der keine Wirklichkeit steht. «Wer noch nicht die letzte Spur realistischer Velleitäten vom ästhetischen Schein und den in ihm verborgenen Gehalt abgestreift hat, der ist noch nicht zur rein ästhetischen Auffassung durchgedrungen, sondern ist mehr oder minder in einer Verquickung von ästhetischer mit theoretischer oder praktischer Auffassung steckengeblieben.» (Wissenschaft des Schönen, S. 21.) Nur wer es vermag, sich gänzlich von der realen Bedeutung des Objektes, das vor ihm steht, zu emanzipieren und sich nur dem Genüsse dessen hingibt, was es scheinen will, der ist in ästhetischer Betrachtung begriffen. Und nun zeigt uns Hartmann ebensowohl, wie der von der Realität abgelöste Schein sich in einzelnen Formen des künstlerischen Schaffens ausspricht, im sinnlich Angenehmen, in den mathematischen Verhältnissen, in den organischen Bildungen und so weiter, wie er uns ferner darstellt, in welcher Weise die einzelnen Künste mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln den «ästhetischen Schein» hervorrufen können. Wir haben selbst in diesen Blättern einen Aufsatz veröffentlicht, der von den Grundanschauungen ausgeht, die sich mit den Hartmannschen nicht vollständig decken. Besonders glauben wir, daß die Ästhetik nicht versäumen soll, zu sagen, was denn eigentlich im «ästhetischen Schein» dasjenige ist, das auf uns wirkt. Es ist ebenso gewiß, daß derjenige, welcher in seiner ästhetischen Betrachtung «durch zufällige Kenntnisse über das Privatleben des Schauspielers Schultze und der Tänzerin Müller in der Beurteilung ihrer mimischen Kunstleistungen» beeinflußt wird, nicht zum wahren Kunstgenuß kommt, wie es wahr ist, daß ich auch bei der reinen Betrachtung des Scheines ästhetisch unberührt bleiben muß, wenn ich keine Empfindung dafür habe, was gerade durch den ästhetischen Schein zu mir spricht. Gewiß, der Künstler kann auf mich nur durch den Schein wirken, aber nicht der Charakter der Scheinhaftigkeit macht die Natur des Kunstwerkes aus, sondern der Inhalt im Schein, das, was der Künstler im Scheine verkörpert. Wer nur für den Schein Sinn hat und keinen für das im Scheine Ausgesprochene, der bleibt der Kunst gegenüber doch unempfindlich. Der Schein ist bloß deshalb notwendig, weil uns die Kunst etwas zu sagen hat, was uns von der unmittelbaren Wirklichkeit nicht gesagt werden kann. Er ist ein notwendiger Behelf der Kunst, eine Folge des künstlerischen Schaffens, aber er macht das letztere nicht aus. Das sind jedoch prinzipielle Einwände, und wir wären ungerecht, wenn wir denselben nicht entgegensetzten, daß wir selten ein Buch mit solcher Befriedigung, mit so großem Nutzen gelesen haben wie Hartmanns Ästhetik. Jeder kann daraus lernen durch die gründliche Kenntnis der Technik in den einzelnen Künsten, die den Verfasser auszeichnet, durch die Ausblicke auf das Leben, die von Hartmanns Genialität und dem großen Stil zeugen, mit denen er die Summe aller Kulturäußerungen auffaßt, und schließlich durch den feinen Geschmack, von dem alle seine Kunsturteile getragen sind.

Wir sind selten so erfreut, wie wenn wir die Ankündigung eines neuen Werkes Hartmanns lesen, denn dann wissen wir stets, daß ein großer Schatz unserem Geiste zugeführt wird. Und wir wünschen der Zeit Glück zu allem, was von Hartmann noch ausgehen wird, denn, wie wir schon erwähnt, er steht in der Vollkraft seines Schaffens. Er hat sein System fast ausgebaut. Wir wissen nicht, auf welches Gebiet sich seine Tätigkeit nun werfen wird. Das aber wissen wir: den Charakter des Großen und Bedeutenden wird alles haben, was wir noch von ihm zu erwarten haben.

 

aus GA 30 (1961), S 288 ff


Anmerkungen

  1. Hartmann bezeichnet die Beziehung eines im Bewußtsein vorhandenen Etwas auf ein jenseits desselben Bestehendes, uns Unbekanntes, als transzendental. Deshalb nennt er seine Weltansicht, die eine solche Realität annimmt und den Bewußtseinsinhalt auf sie bezieht, transzendentalen Realismus. 
  2. Eben (1891) ist ein Ergänzungsband zur ersten bis neunten Auflage der «Philosophie des Unbewußten» (Leipzig, Wilhelm Friedrich) erschienen, der sich mit den neuesten Ergebnissen der Naturlehre auseinandersetzt. 
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