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Die Philosophie in der Gegenwart und ihre Aussichten für die Zukunft

Literarischer Merkur 1892, XII. Jg., Nr. 1 und Nr. 11

Rudolf Steiner

In philosophischen Kreisen hört man vielfach über die Abnahme des Interesses für die Philosophie bei den Gebildeten der Gegenwart klagen. Die in dieser Klage ausgesprochene Meinung kann aber jedenfalls nicht ganz im allgemeinen aufrecht erhalten werden. Eine Anzahl von Erscheinungen sprechen dagegen. Man denke nur, welchen Einfluß Eduard von Hartmann, gegenwärtig Deutschlands größter Denker, auf unsere Zeitgenossen ausgeübt hat. Seine zuerst im Jahre 1868 erschienene «Philosophie des Unbewußten» hat bis heute zehn Auflagen erlebt. Und die Literatur, die sich mit der Weltanschauung dieses Philosophen beschäftigt, ist ins Unübersehbare angewachsen. Welche Wirkung ferner haben Richard Wagners ästhetische Abhandlungen auf die Kunstanschauung der Gegenwart gehabt! Begeistert wurden die hier vorgetragenen Lehren, namentlich von der jüngeren Generation, aufgenommen. Auch auf den Eifer, mit dem Friedr. Alb. Langes «Geschichte des Materialismus» eine Zeitlang gelesen wurde, muß hier hingedeutet werden. Nicht weniger die Art, wie ganz seichte, aber immerhin die philosophischen Grundprobleme behandelnde Schriften, wie Ludwig Büchners «Kraft und Stoff», Carl Vogts «Köhlerglaube und Wissenschaft», verschlungen wurden, kommt in Betracht. Darwins und Haeckels entwickelungsgeschichtliche Schriften fanden ein großes Publikum. Ungeheures Aufsehen endlich macht in unserer Zeit Friedrich Nietzsche, dieser tragische Held des Gedankens, der an höchste Probleme des Menschengeistes herantritt, aber ohne logisches Gewissen, ohne Disziplin des Denkens im Reiche der Ideen gleichsam nur wühlt. Er hat auf der einen Seite Begeisterung hervorgerufen, die sich freilich über ihren eigentlichen Inhalt so unklar wie möglich ist, auf der ändern Seite geärgert, empört, zum schärfsten Widerspruch herausgefordert. Kalt gelassen aber hat er wohl nur wenige aus der großen Zahl derer, die sich mit seinen kühnen Gedanken befaßt haben; ein deutlich sprechender Beweis dafür, daß das philosophische Interesse in unserer Zeit einer Anregung in großem Stile doch entgegenkommt.

Auf einem weiten Gebiete scheint aber allerdings die Philosophie ihre Macht und ihren Einfluß eingebüßt zu haben. Das ist dasjenige der Einzelwissenschaften: Kultur- und namentlich Literaturgeschichte, Geschichte und die Naturwissenschaften. Am auffallendsten macht sich das in der Literaturgeschichte und in den Naturwissenschaften geltend. Wahrhaft kläglich ist die Behandlungsweise, welche die Schöpfungen unserer klassischen Dichter in literarhistorischen Monographien, namentlich solchen im Sinne der Schererschen Schule, erfahren. Hier fehlt oft die allergeringste Kenntnis von philosophischen Begriffen und Anschauungen. Und wie irrtümlich ist doch der Glaube, daß man die letzteren bei Beurteilung der Kunstleistungen unserer klassischen Zeit entbehren könne! Vor allen anderen Dingen ist notwendig, daß man den Kreis von Anschauungen und Ideen desjenigen Menschen ganz beherrscht, dessen Kunstschöpfungen man würdigen will. In den Werken unserer Klassiker, Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Schlegel u. a., spiegelt sich aber durchaus der philosophische Gehalt jener großen Zeit, in der sie lebten. Und wer kein Verständnis für dieses inhaltliche Element ihrer Arbeiten hat, der ist auch zur ästhetischen Würdigung ihrer Form nicht geeignet. Aber auch bei Behandlung anderer Epochen unserer Literatur können wir bemerken, daß die Fachgelehrten ein wahrhaftes Grauen vor philosophischer Behandlungsweise empfinden.

Beinahe noch übler sieht es in den Naturwissenschaften aus. Hier findet sich eine Anhäufung unendlicher Details, denen sich fast nirgends leitende Gesichtspunkte, große Ausblicke beigesellen. Wer eine charakteristische Einzelerfahrung ausnutzen will, um tiefer in den Zusammenhang der Naturdinge einzudringen, gilt sogleich für einen Schwärmer. Die gedankenloseste Registrierarbeit macht sich hier breit. Und wenn Richard Falckenberg in seiner geistvollen Antrittsrede: «Über die gegenwärtige Lage der deutschen Philosophie» (Leipzig 1890, S. 6) sagt, «die Zeit müsse erst noch kommen, wo der Charakter eines unphilosophischen Kopfes zu den Ehrentiteln gezählt würde», so möchten wir demgegenüber behaupten: in manchen naturwissenschaftlichen Kreisen ist sie allerdings bereits gekommen, diese Zeit.

Die angeführten Erscheinungen zeigen, daß der Vorwurf wegen Mangels an Interesse für philosophische Betrachtungsweise wohl den Vertretern der einzelnen Fachwissenschaften gemacht werden kann, nicht aber dem gebildeten Lesepublikum überhaupt.

Angesichts dieser Erscheinungen ist wohl die Frage berechtigt: worin sind die Gründe jener Emanzipation der Einzelwissenschaften von der Philosophie zu suchen?

Nicht zum geringsten Teile liegen sie in der historischen Entwickelung der Philosophie in Deutschland. Es ist ja zweifellos, daß den großen Philosophen unseres Volkes: Kant, Fichte, Schel-ling, Hegel, bei aller Genialität und bei dem wahrhaft bewundernswerten Zug ins Große, der ihnen allen eigen war, doch eines gefehlt hat: die Gabe, sich leicht verständlich zu machen. Es gehört entweder eine ungewöhnliche Gewandtheit in der Verrichtung von Gedankenoperationen dazu, so daß das Denken mit der Leichtigkeit des Spielens geschieht, oder aber eine große Selbstüberwindung, um sich in die Sphären zu erheben, in die uns jene Philosophen führen. Wer des einen nicht fähig ist und zum ändern nicht guten Willen genug hat, für den ist das Eindringen in die Lehren unseres eigentlichen philosophischen Zeitalters eine Unmöglichkeit. Hierin müssen wir auch die Ursache für das Mißverstehen Hegels suchen. Dieser metaphysik-feindliche Philosoph, der mit einem unersättlichen Durst nach Erkenntnis des Wirklichen strebte, dieser entschiedenste aller Vertreter des Positivismus und der Empirie, er wird merkwürdigerweise gewöhnlich hingestellt als ein Ausdenker von leeren Begriffsschemen, die, alles Erfahrungswissen verleugnend, sich in ein wesenloses philosophisches Wölkenkuckucksheim verlieren. Man begreift nicht, daß es bei Hegel darauf ankommt, alles, was zur Erklärung einer Erscheinung beigezogen werden soll, restlos der Wirklichkeit zu entnehmen. Er will nirgendsher Elemente zu Hilfe rufen, wenn er diese unsere Welt erklären soll. Alles, was sie konstituiert, muß in ihr selbst liegen. So ist seine Anschauung ein strenger Objektivismus. Der Geist soll nichts aus sich schöpfen, um es den Erscheinungen behufs ihrer Entzifferung aufzupfropfen. Wissenschaftliche Richtungen wie den modernen Atomismus, der eine ganze Welt noch hinter unserer Erscheinungswelt voraussetzt, würde Hegel energisch zurückweisen.

Was objektiv im Weltprozesse liegt, das soll nach Hegel Inhalt der Philosophie werden, nichts darüber. Und weil er als objektiven Gehalt der Welt nicht bloß ein Materielles anerkennen konnte, sondern die Gesetze des Daseins und Geschehens, die doch auch in der Wirklichkeit wahrhaft vorhanden sind, zum Weltinhalt rechnete, deshalb ist seine Lehre Idealismus. Was Hegel von den modernen Positivisten unterscheidet, ist nicht die Art des For-schens, ist nicht der Glaube, daß nur das Wirkliche Gegenstand der Wissenschaft sein kann. Darin stimmt er ganz mit ihnen überein. Er unterscheidet sich von ihnen aber durch die Ansicht, daß für ihn auch die Idee wirklich ist, oder umgekehrt, daß das Wirkliche real und ideell zugleich ist. Diesen Charakter der Hegeischen Philosophie hat erst Eduard von Hartmann wieder verstanden, und er hat die ihm entsprechende Behandlungsart in seinen mustergültigen historischen Werken: «Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins» und «Das religiöse Bewußtsein der Menschheit im Stufengang seiner Entwicklung» durchgeführt. Hartmann hat es aber auch verstanden, die Schwierigkeiten, die bei Hegel einem Verständnis in weiteren Kreisen entgegenstehen, und die wir oben erwähnt haben, zu vermeiden und Hegeische Gesinnung mit verständlicher, auch dem weniger philosophisch l' Geschulten zugänglicher Darstellungsweise zu vereinigen. Hartmann sucht in seinen historischen Werken das Wirkliche mit gleicher Strenge wie die sich Historiker nennenden Zeitgenossen, aber er findet nicht wie sie nur die nackten Tatsachen, sondern auch den ideellen Zusammenhang der geschichtlichen Erscheinungen. Und es ist sehr zu bedauern, daß er nicht auf Literarhistoriker und Historiker von dieser Seite her einen ähnlich maßgebenden Einfluß gewonnen hat wie durch seine «Philosophie des Unbewußten» auf gebildete Laien. Hartmann ist als der eigentliche Fortsetzer jener Philosophie großen Stiles anzusehen, die 

durch Kant, Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer die ganze Nation mächtig ergriffen hat.

Warum hat denn aber auch er die eigentliche Fachwissenschaft so wenig zu beeinflussen vermocht? Diese Frage läßt sich nach unserer Ansicht ziemlich einfach beantworten. Der Grund liegt in dem Mißtrauen und Mangel an Verständnis, die ihm von den amtlich berufenen Vertretern seiner Wissenschaft entgegengebracht wurden und die erst in jüngster Zeit und nur sehr langsam besseren Beziehungen Platz machen.

Dieses beklagenswerte Verhältnis zwischen der offiziellen Philosophie einer- und Hartmann andererseits hat nun aber einen tieferen Grund. Hartmann ergriff sogleich, als er sich an philosophische Studien heranmachte, das zentrale Problem: wie verhält sich das Bewußtsein zu dem Unbewußten im Weltendasein, und was spielt überhaupt das Unbewußte für eine Rolle in Natur und Geist? Von da ausgehend erstreckt sich sein Denken auf alle wichtigeren Fragen der Philosophie, so daß er gleich bei seinem ersten Auftreten mit einem in sich geschlossenen Anschauungskreise vor dem Publikum erscheint. Die Schulphilosophie liebt das aber -rühmliche Ausnahmen abgerechnet — nicht. Sie sieht nur die Bearbeitung von Einzel-Problemen gern und bevorzugt sogar jenen zaghaften Skeptizismus, der sich den großen, von jedem Menschen naturgemäß gestellten Fragen gegenüber so zurückhaltend als möglich benimmt. Zumeist sind es recht erkünstelte und selbstgemachte Probleme, an die sich die fachmännische Wissenschaft hält, während sie demgegenüber, was jedermann wissen will, nur die Miene des Zweiflers für die dem wahren Forscher zustehende ansieht und sofort den Vorwurf des Dilettantismus bei der Hand hat, wenn sie ein kühnes Losgehen auf derlei Dinge erblickt. Dadurch hat die Schulphilosophie sich allmählich von dem anderen Wissenschaftsbetriebe völlig isoliert, ihre Ergebnisse sind nicht mehr wichtig und interessant genug, um über die Einzelwissenschaften Macht zu gewinnen. Während es das Richtige wäre, wenn der Philosoph die allgemeinen Gesichtspunkte, die leitenden Ideen für die Einzelwissenschaften kennzeichnete und von den letzteren wieder die Ergebnisse aufnähme, um sie im Sinne einer Gesamtauffassung der Dinge weiter zu benützen, sieht sich der gegenwärtige philosophische Fachgelehrte als Einzelforscher neben anderen an. Er geht neben den Spezialisten her, anstatt mit ihnen sich in lebendige Wechselwirkung zu setzen. Nur Hartmann hat seinen Philosophenberuf in dem charakterisierten idealen Sinne aufgefaßt. Er wurde dafür lange nicht für voll genommen und wird es von vielen Schulphilosophen auch heute nicht.

Wir sehen: die Stellung, welche die Philosophie im Leben und in der Kultur der Gegenwart einnimmt, ist durchaus keine solche, wie man sie wünschen möchte. Deshalb begrüßen wir mit großer Freude ein Buch, das eben erschienen ist und das dazu bestimmt erscheint, Klarheit zu verbreiten über die Aufgaben und Ziele der Philosophie. Wir meinen Johannes Volkelts: «Vorträge zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart.» Gehalten zu Frankfurt a. M. im Februar und März 1891. Das Buch ist geeignet, auf den weitesten Leserkreis zu wirken und zu zeigen, was die Philosophie eigentlich will und für das Leben und die Kultur zu leisten vermag. Volkelt, obwohl wissenschaftlicher Philosoph im besten Sinne des Wortes — er und Johannes Rehmke haben die besten Bücher über Erkenntnistheorie geschrieben — hat immer einen freien, offenen Blick gehabt sowohl für die weitausgreifenden Aufgaben|, des Menschenlebens wie für die intimsten Erscheinungen desselben. Das erstere beweist seine Wiener Rede: «Kants kategorischer Imperativ und die Gegenwart» sowie seine Basler Antrittsrede: «Über die Möglichkeit der Metaphysik», das letztere sein Buch über «Die Traumphantasie» und seine Darstellung: «Franz Grillparzer als Dichter des Tragischen». In den uns vorliegenden Vorträgen stellt Volkelt erst den Gegensatz zwischen der Philosophie der Gegenwart und jener vom Anfange des Jahrhunderts dar. Er zeigt, wie alles Intuitive, Persönliche, Kühne aus dieser Wissenschaft gewichen ist und einem verstandesmäßigen, unpersönlichen, skeptischen Betriebe Platz gemacht hat. Während man früher unerschrocken nach den Gründen der Erscheinungen fragte, ist man jetzt ängstlich bemüht, erst unser Erkenntnisvermögen zu prüfen, inwieweit es denn imstande sei, in die Geheimnisse der Welt einzudringen. Die Philosophie hat einen vorwiegend erkenntnistheoretischen Charakter angenommen. Sie ist allem metaphysischen Treiben feind geworden. Der Verfasser aber betont demgegenüber sowohl die Notwendigkeit wie die Möglichkeit einer Metaphysik. Nur meint er, daß sie nicht mit jener Kühnheit und Sicherheit wird auf ihr Ziel losgehen können, wie man das früher geglaubt hat. Er hat die Ansicht, daß sie, statt mit wirklichen Lösungen zu prunken, sich vielfach wird damit genügen lassen müssen, die Richtung anzugeben, in welcher bestimmte Probleme zu verfolgen sind, die Fragestellungen genau zu formulieren, das Material herbeizutragen, welches zu einstigen Resultaten führen kann, ja in manchen Fällen wird sie nichts anderes können, als die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten angeben. Ebenso beweist Volkelt die Notwendigkeit jener Zweige der Philosophie, die gewöhnlich als Natur- und Geistesphilosophie angeführt werden, und zu welch letzterer er Psychologie, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie rechnet. In allen Einzelwissenschaften kommt man zuletzt auf höchste Prinzipien, letzte Resultate, die innerhalb der Wissenschaft, in der sie gewonnen werden, nicht weiter zu verfolgen sind. Sie bilden den Inhalt dieser besonderen philosophischen Wissenschaften, von denen sie zu einem Ganzen von Weltanschauung zusammengefügt werden. Ferner legt Volkelt in schönster Weise dar, wie, wenn auch nicht die wissenschaftliche Philosophie, so doch die aus einer philosophischen Geistesanlage quellende Gesinnung die ganze menschliche Persönlichkeit durchdringt und zur ethischen, religiösen Grundlage des Lebens namentlich derjenigen Personen wird, für welche die positiven Religionen ihre zwingende Glaubenskraft verloren haben. Die Philosophie wird endlich nach Volkelts Ansicht diejenige Macht sein, welche durch Umwandlung der geoffenbarten Religion in Vernunftreligion eine Entwickelung des Christentums herbeiführen soll, wodurch dasselbe zu einem wirklich kulturfreundlichen Element im modernen Völkerleben werden kann. Zuletzt widmet der Verfasser seine Betrachtung dem Einflüsse, den die Philosophie auf den modernen Fortschritt unserer Kultur haben wird. Sie muß eine wichtige Rolle schon deswegen in Gegenwart und Zukunft spielen, weil wir jenes Stadium überwunden haben, wo alle Kultur nur mehr aus einem gleichsam unbewußten Wirken von Temperament und Gefühl entspringt. Wir streben bewußt, aus verständiger Überlegung, unseren Kulturzielen zu. Hierbei Dienste zu leisten, ist die Philosophie besonders geeignet.

Der Verfasser dieser Zeilen ist nicht in allem mit Volkelt einverstanden. Namentlich steht er in der Erkenntnistheorie auf einem anderen Standpunkte. Er darf dabei vielleicht auf seine eigene Schrift über Erkenntnistheorie hinweisen. Dessenungeachtet möchte er Volkelts Buch der Beachtung aller Kreise empfehlen.

Wir stehen ja zweifellos vor manchen Umwälzungen in bezug auf Denkweise und Wertschätzung der menschlichen Handlungen. Bei einer Neugestaltung der Verhältnisse wird die Philosophie ein kräftig Wörtlein mitzusprechen haben. Zur Vorbereitung sind solche Schriften wie die Volkeltsche besonders geeignet. Den zweiten Teil meines Themas werde ich in einem nächsten Artikel behandeln.

Ein Umschwung zum Bessern wird in dem philosophischen Leben erst eintreten, wenn wieder der Trieb erwacht, die Kraft des Denkens an den Zentralproblemen des Daseins zu erproben. Dieser Trieb ist gegenwärtig gelähmt. Wir leiden an Feigheit des Denkens. Wir können es nicht glauben, daß unser Denkvermögen ausreicht, um die tiefsten Fragen des Lebens zu beantworten. Ich habe es oft hören müssen: gegenwärtig sei es unsere Aufgabe, Baustein auf Baustein zu sammeln. Die Zeit sei vorbei, wo man, ohne erst die Materialien zur Hand zu haben, im stolzen Übermut | philosophische Lehrgebäude aufführte. Wenn wir erst dieses Materials genug gesammelt haben, dann wird schon das rechte Genie erstehen und den Bau aufführen. Jetzt sei nicht die Zeit zum Systembauen. Diese Ansicht entspringt einer bedauernswerten Unklarheit über die Natur der Wissenschaft. Wenn die letztere die Aufgabe hätte, die Tatsachen der Welt zu sammeln, sie zu j: registrieren und sie zweckmäßig nach gewissen Gesichtspunkten systematisch zu ordnen, dann könnte man etwa so sprechen. Dann l aber müßten wir überhaupt auf alles Wissen verzichten; denn mit dem Sammeln der Tatsachen würden wir wohl erst am Ende der Tage fertig werden, und dann gebräche es uns an der nötigen Zeit, die geforderte gelehrte Registrierarbeit zu vollziehen.

Wer sich nur einmal klar macht, was er eigentlich durch die Wissenschaft erreichen will, dem wird die Irrtümlichkeit jener eine unendliche Arbeit in Anspruch nehmenden Forderung gar bald einleuchten. Wenn wir der Natur gegenübertreten, dann steht sie zunächst wie ein tiefes Mysterium vor uns, sie dehnt sich wie ein Rätsel vor unseren Sinnen aus. Ein stummes Wesen blickt uns entgegen. Wie können wir Licht in die mystische Finsternis bringen? Wie das Rätsel lösen?

Der Blinde, der ein Zimmer betritt, kann nur Dunkelheit in demselben empfinden. Und wenn er noch so lange herumwandelt und alle Gegenstände betastet: Helligkeit wird ihm dadurch nimmer den Raum erfüllen. Wie dieser Blinde der Einrichtung des Zimmers, so steht im höheren Sinne der Mensch der Natur gegenüber, der von der Betrachtung einer unendlichen Zahl von Tatsachen die Lösung des Rätsels erwartet. Es liegt etwas in der Natur, was uns tausend Tatsachen nicht verraten, wenn uns die Sehkraft des Geistes abgeht, es zu schauen, und was uns eine einzige offenbart, wenn wir dieses Vermögen besitzen. Ein jegliches Ding hat zwei Seiten. Die eine ist die Außenseite. Sie nehmen wir mit unseren Sinnen wahr. Dann gibt es aber auch eine Innenseite. Diese stellt sich dem Geiste dar, wenn er zu betrachten versteht. An seine eigene Unfähigkeit in irgendeiner Sache wird niemand glauben. Wer bei sich die Fähigkeit vermißt, diese Innenseite wahrzunehmen, der leugnet sie am liebsten dem Menschen ganz ab, oder er verschreit diejenigen als Phantasten, die vorgeben, sie zu besitzen. Gegen ein absolutes Unvermögen läßt sich nichts machen, und man könnte die nur bedauern, die wegen desselben nie zur Einsicht in die Tiefen des Weltwesens kommen können. Der Psychologe aber glaubt nicht an diese Unfähigkeit. Jeder geistig normal-entwickelte Mensch hat das Vermögen, in jene Tiefen bis zu einem gewissen Punkte hinunterzusteigen. Aber die Bequemlichkeit des Denkens verhindert viele daran. Ihre geistigen Waffen sind nicht stumpf, aber die Träger sind zu faul, sie zu handhaben. Es ist ja unendlich viel bequemer, Tatsache auf Tatsache zu häufen, als die Gründe für dieselben durch das Denken aufzusuchen. Vor allem ist bei solcher Tatsachenhäufung der Fall ausgeschlossen, daß ein anderer kommt und das von uns Vertretene umstößt. Man kommt auf diese Weise nie in die Lage, seine geistigen Positionen verteidigen zu müssen, man braucht sich nicht darüber aufzuregen, daß morgen von jemand das Gegenteil unserer heutigen Aufstellungen vertreten wird. Man kann sich, wenn man bloß mit tatsächlicher Wahrheit sich abgibt, hübsch in dem Glauben wiegen, daß uns diese Wahrheit niemand bestreiten kann, daß wir für die Ewigkeit schaffen. Jawohl, wir schaffen auch für die Ewigkeit, aber wir schaffen bloß Nullen. Diesen Nullen durch das Vorsetzen einer bedeutungsvollen Ziffer in Form einer Idee einen Wert zu verleihen, dazu fehlt uns eben der Mut des Denkens.

Davon haben heute wenige Menschen eine Ahnung, daß etwas wahr sein kann, auch wenn das Gegenteil davon mit nicht geringerem Rechte behauptet werden kann. Unbedingte Wahrheiten gibt es nicht. Wir bohren tief in ein Ding der Natur, wk holen aus den verborgensten Schachten die geheimnisvollsten Weisheiten herauf, wir drehen uns um, bohren an einer zweiten Stelle: und das Gegenteil zeigt sich uns als ebenso berechtigt. Daß eine jede Wahrheit nur an ihrem Platze gilt, daß sie nur so lange wahr ist, als sie unter den Bedingungen behauptet wird, unter denen sie ursprünglich ergründet ist, das hat Hegels Genialität der Welt gelehrt. Es ist wenig begriffen worden.

Wer macht heute nicht einen respektvollen Knix, wenn der Name Friedr. Theod. Vischer genannt wird. Daß dieser Mann es als die höchste Errungenschaft seines Lebens bezeichnete, von Hegel gründlich die oben ausgesprochene Überzeugung von dem Wesen der Wahrheit gelernt zu haben, das wissen aber nicht viele. Wüßten sie es, dann strömte ihnen noch eine ganz andere Luft aus Vischers herrlichen Werken entgegen, und man würde auf weniger zeremonielles Lob, aber auf mehr ungezwungenes Verständnis dieses Schriftstellers stoßen.

Wo sind die Zeiten, in denen Schiller tiefes Verständnis fand, als er den philosophischen Kopf pries gegenüber dem Brotgelehrten! Jenen, der rückhaltlos nach den Wahrheitsschätzen gräbt, wenn er auch der Gefahr ausgesetzt ist, daß gleich darauf ein zweiter Schatzgräber ihm alles entwertet durch einen neuen Fund, gegenüber dem, der ewig nur das banale, aber unbedingt «wahre»: «Zweimal zwei ist vier» wiederholt.

Wir müssen den Mut haben, kühn in das Reich der Ideen einzudringen, auch auf die Gefahr des Irrtums hin. Wer zu feig ist, um zu irren, der kann kein Kämpfer für die Wahrheit sein. Ein Irrtum, der dem Geist entspringt, ist mehr wert als eine Wahrheit, die der Plattheit entstammt. Wer nie etwas behauptet hat, was in gewissem Sinne unwahr ist, der taugt nicht zum wissenschaftlichen Denker.

Aus feiger Furcht vor dem Irrtum ist unsere Wissenschaft der baren Flachheit zum Opfer gefallen.

Es ist geradezu haarsträubend, welche Charaktereigenschaften heute als Tugenden des wissenschaftlichen Forschers gepriesen werden. Wollte man dieselben ins Gebiet der praktischen Lebensführung übersetzen, so käme das - Gegenteil eines festen, entschiedenen, energischen Charakters heraus.

Diese Mängel in unserem geistigen Leben hat nun jüngst ein Buch bloßzulegen versucht: «Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen.» Schlimm genug, daß gerade diese Schrift eine solche Verbreitung gefunden hat. Mängel sehen und darüber herfallen ist nicht schwer, wohl aber den Ursprung derselben aufsuchen. Man gehe vierzehn Tage hindurch jeden Abend in einen Gasthof, wo gebildete deutsche Bier-Philister sitzen, setze sich abseits und lausche ihren kritischen Redensarten. Dann gehe man nach Hause, notiere sorgfältig, was man gehört, setze zu jedem Satze ein Zitat aus einem bekannten Schriftsteller hinzu. Nach vierzehn Tagen schicke man dieses «Sammelwerk» in die Druckerei, und ein zweites Buch wird den deutschen Büchermarkt zieren, das in nichts dem «Rembrandt als Erzieher» an Wert nachstehen wird.

Der Verfasser dieses Buches bekämpft den Spezialismus in der Wissenschaft. Dies ist sein Grundirrtum. Nicht daß die Forscher sich speziellen Aufgaben widmen, ist der Fehler, sondern daß sie in die Welt der Einzelheiten den universellen Geist nicht hinein-; arbeiten können. Schlimm wäre es, wollten wir an Stelle der Erforschung der individuellen Wesenheiten das Ausspinnen abstrakter Allgemeinheiten und grauer Theorien setzen. Studiere das Sandkorn, aber ergründe, inwiefern es des Geistes teilhaftig ist.

Nicht Mystizismus ist es, was wir hier vertreten wollen. Wer ! den Geist der Dinge dieser Welt in klaren, durchsichtigen Ideen sucht, der ist keineswegs Mystiker. Es gibt nichts, was mystisches Hell-Dunkel mehr ausschlösse als die kristallklare, bis in die letzten Verzweigungen mit scharfen Konturen ausgestaltete Welt der : Ideen. Wer in diese Welt mit menschlicher Schärfe, mit strenger  Logik sich einlebt, der wird im Bewußtsein, daß er sein geistiges Reich nach allen Richtungen durchschaut, nichts gemein haben mit dem Mystiker, der nichts schaut, sondern nur ahnt, der die Welt der Gründe nicht ausdenkt, sondern nur anschwärmt. Der  Mathematiker ist das Vorbild für den mystikfreien Denker.

Also nicht endloses Sammeln von Einzeltatsachen ist unsere ; Aufgabe, sondern Schärfung des Geistesvermögens für das Schauen der Naturtiefen tut uns zunächst not.

Unsere Vernunft muß wieder dahin gelangen, sich ihrer Absolutheit bewußt zu sein; und dem feigen, sklavischen Unterordnen derselben unter die drückende Macht der Tatsachen muß ein Ende gemacht werden. Es ist unwürdig, daß ein Höheres, welches die Vernunft doch ist, sich zum bloßen Sammler von Dingen niedrigeren Wertes hergibt. Bestünde die Welt nur aus sinnenfällig wahrnehmbaren Dingen, dann müßte die Vernunft abdanken. Eine Aufgabe hat sie nur, wenn sich in der Welt das findet, was sie zu fassen vermag. Und das ist der Geist Ihn leugnen, heißt die Vernunft in den Ruhestand versetzen.

Ist nun Aussicht vorhanden, daß dieser legitime Herrscher auf dem Throne im Reiche der Wissenschaft bald wieder in seine angeborenen Rechte eingesetzt wird? Die Beantwortung dieser Frage wird Gegenstand der nächsten Fortsetzung dieses Artikels sein.

 

aus GA 30 (1961), S 308 ff

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