Das Märchen in der Romantik

Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Märchen in Deutschland "salonfähig". Der Grund dafür war die außerordentliche Beliebtheit in Frankreich. Die bekanntesten Übersetzungen und Sammlungen aus der Zeit sind Johann Heinrich Voß' "Märchen aus 1001 Nacht" und die "Kinder- und Hausmärchen" der Gebrüder Grimm.

Auch bei Dichtern selbst war das Genre beliebt, da es ihnen die Möglichkeit gab, Gesellschaftskritik zu üben. So ließ z.B. Goethe in seinem Novellenzyklus "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" eine Figur ein Märchen vom idealen Staat erzählen.

Die Romantik schließlich erschloss der Gattung neue Möglichkeiten durch ihre Neigung zum Irrationalen, Phantastischen und Wunderbaren, und trug so vollends zur Etablierung des Genres bei das ab dem 19. Jahrhundert seinen festen Platz im bürgerlichen Kanon erhielt. Neben der Wiederentdeckung des Phantastischen machte sich auch die relativ neue Entdeckung des Kindes als eigenständiges Wesen – nicht unfertiger Erwachsener – vor allem in der Arbeit der Gebrüder Grimm bemerkbar. Die Romantiker hatten positive romantische Vorstellungen vom Kind als reinem, paradiesischem Wesen und das Wort "Kindermärchen" im Titel der Sammlung bezieht sich wohl stark auf das "Kind-Sein" als Idealzustand.

Allerdings unterschieden sich die damals entstandenen Werke verschiedener Autoren beträchtlich, so dass es keine wirklich einheitliche Gattung des "romantischen Märchens" gibt. Während Tieck das Wunderbare mit dem Schauerlichen und bewusst verwirrenden Momenten verband und Zeitbezüge forderte, wollte Novalis eine völlig von der Realität abgehobene Wirklichkeit darstellen, eine idealistische Darstellung der Zukunft – natürliche nach den Prinzipien der Romantiker. Clemens Brentano hingegen widmete sich völlig der traditionellen Volkspoesie, während ETA Hoffmann die äußere Vernunftwelt mit einer bizarren, grotesken Geisteswelt kombinierte.

Heute hat sich eine Unterscheidung von Märchen herauskristallisiert, die die Romantiker noch nicht verwendeten: die Trennung zwischen Kunst- und Volksmärchen. Unter Volksmärchen versteht man jahrhundertealte, mündlich überlieferte Geschichten ohne bestimmten Verfasser die oft stark abgewandelt wurden. Kunstmärchen im Gegensatz dazu sind bewusste, individuelle, von einem Autor verfasste Märchen.

Die Gebrüder Grimm und das Problem der textgetreuen Wiedergabe

Als die Gebrüder Grimm begannen, Volksmärchen zu sammeln und niederzuschreiben, gerieten sie in Konflikt mit Achim von Arnim und vor allem Clemens Brentano, die der Meinung waren, dass Märchen prinzipiell mit eigenen Gedanken ergänzt und neu erzählt werden sollten. Die Absicht der Brüder, die gesammelten Märchen inhaltgetreu ohne Veränderungen aufzuschreiben, lehnten sie als nahezu bildungsfeindlich ab. Diesen Konflikt darf man allerdings nicht missverstehen. Beide Seiten waren sich durchaus einig, dass der große Schatz der Volkslieder und Märchen zu erhalten sei !

Um die Märchen jedoch "kindertauglich" zu machen, wurden sie von den Gebrüdern Grimm teilweise verändert. Eine Vorstufe von "Dornröschen" beschreibt z.B. wie der verheiratete (!) König, der die schöne Schlafende nicht wecken kann "von ihrer Schönheit durch und durch erglühte" woraufhin er sie auf ein Lager trug und dort "die Früchte der Liebe" pflückte. Diese Stelle fiel wie viele andere dem Grimmschen "Reinigungsprinzip" zum Opfer. Auch wenn mehrere verschiedene Versionen eines Märchens vorhanden waren, griffen die Brüder ein und kombinierten sie zu einer einheitlichen Fassung, wobei sie auch oft Änderungen vornahmen.

Von einer dokumentarisch genauen Wiedergabe der mündlichen und schriftlichen Quellen, die vor allem Jacob Grimm beharrlich verteidigte, kann also keine Rede sein. 

Dennoch darf man nicht vergessen dass es ohne die Gebrüder Grimm heute wohl kaum eine so ausführliche Überlieferung von Volksmärchen gäbe. Die Brüder stilisierten die Sprache um eine zeitlose, allgemeine Ausdrucksstufe zu erreichen und nahmen Formelhafte Wendungen ("Es war einmal...") in ihre Erzählungen auf. Insofern verdanken wir ihnen also viele Märchen in der Form wie wir sie bis heute kennen.

Das Kunstmärchen

In den Kunstmärchen ist die Natur nicht mehr nur Kulisse wie im Volksmärchen sondern wird aktiv als Ausdruckselement miteinbezogen. Wie bereits oben erwähnt verfolgten verschiedene Autoren verschiedene Zielsetzungen wenn es um Absicht und Ausführung ihrer Werke ging.

Auch zwischen Früh- und Spätromantik finden sich beträchtliche Unterschiede. Während in der Frühromantik noch das Wunderbare und Rätselhafte im Vordergrund stand, entwickelte sich in der Spätromantik die Schauergeschichte aus dem Märchen, die speziell das Beängstigende, Unbehagliche und Gruselige sucht. Der vermutlich wichtigste Autor des Genres dürfte E.T.A. Hoffmann mit seinem "Der Sandmann" gewesen sein.

Ein beliebtes Stilmittel der Romantiker, vor allem auch im Märchen, war die romantische Ironie, die darin besteht, dass ein Autor eine Illusion aufbaut und diese dann mit kleinen ironischen Kommentaren für den Leser "zerstört", den Leser also sozusagen mit der Nase auf die Tatsache stößt, dass es sich eben nur um eine Geschichte handelt.

 

Werke:

Sammlungen:

- Gebr. Grimm: Kinder- und Hausmärchen

- Christoph Martin Wieland: Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geister-Mährchen

Kunstmärchen:

- Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert

- Novalis: Hyazinth und Rosenblüte

- Clemens Brentano: Italienische Märchen, Rheinmärchen

- Friedrich de la Motte-Fouqué: Undine

- E.T.A. Hoffmann: Der goldene Topf, Der Sandmann

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Last updated 17 Februar 2002 -- 15:45
© 2001 Elisabeth Albenberger