Allgemein
Gaia.
Bilder der Erde von Hesiod bis James Lovelock
Hartmut Böhme
Zu den stupenden Erscheinungen der Naturwissenschaften heute gehört es, daß
sie — wie durch Fieberanfälle — an ihren verschiedenen Fronten immer
wieder von der Antike heimgesucht werden. Vermutlich überrascht dies
weniger Philosophen als die Naturwissenschaftler selbst, die seit Galilei
sich im Bewußtsein ihrer Überlegenheit von antiken naturphilosophischen
Traditionen abgekehrt haben. Unterdessen gehört es fast zum Rhythmus
wissenschaftlicher Reformen, daß diese im Namen des Alten erfolgen. Infolge
der überbordenden Destruktionspotentiale moderner Technik wird die
regeneratio der Wissenschaft allzu oft als conservatio der noch eben faßbaren
Reste verlorener Traditionen gesucht. Ein gutes Beispiel dafür ist die
Karriere der Gaia-Hypothese, die seit ihrer Kreation durch den BiosphärenForscher
James Lovelock (1979) und die Mikrobiologin Lynn Margulis (1986) in den USA
einen ebenso umstrittenen wie unwiderstehlichen Aufschwung genommen hat. Die
neueste Wende der Wissenschaften von der Erde erfolgt im Namen der
archaischsten Göttin des Abendlandes: Gaia. War diese die
mytho(theo)logische Fassung der Erde als Lebewesen, so erscheint den
Erd-Wissenschaftlern nunmehr das staunenswerte Gleichgewicht der
interaktiven Netzwerke von organischer und anorganischer Natur als "wisdom
of the body", Gaias nämlich. Ökologische Komplexheit im Maßstab der
Erde wird als Äquivalent vitaler Organismen verstanden: das ist die
Wiederkehr der Lehre von der wechselseitigen Spiegelung des Mikro- und
Makrokosmos. James Lovelock widerfährt der erhabene Schauer früher
Anatomen bei der Freilegung des Wunderwerks des menschlichen Leibes: "I
feel like an eighteenth century physician discovering the body." Rückt
der "Geophysiologe" Lovelock zwar von seiner anfänglichen Emphase
ab, wonach die Erde ein intelligentes, mit Intentionen handelndes Lebewesen
sei, so hält er doch daran fest, daß ihre Mechanismen der bewußtlosen
Intelligenz von Körpern entspricht. Er bewegt sich damit im Schema des
romantischen Naturphilosophen Schelling, für den die Natur unbewußte
Intelligenz, der Mensch dagegen bewußte Natur sei. Im Menschen kommt Natur
zur Sprache — oder: die Gaia-Hypothese ist die im Menschen reflexiv
gewordene Erde. Es ist kein Wunder, daß die New-Age-Bewegung sich der
Gaia-Hypothese im Nu bemächtigt hatte. Sie ist unterdessen Bestandteil der
religiösen Bewegungen, die mit grünem Denken nicht nur in den USA des öfteren
zusammengehen.
http://www.culture.hu-berlin.de/HB/texte/gaia_deu.html
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