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Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie

§ 61. Peter Abälard (1079-1142).

1. Peter Abälard (Pierre Abeillard), 1079 zu Palet bei Nantes geboren, lernte als Schüler erst des Roscelin, dann des Wilhelm von Champeaux die beiden Hauptrichtungen der Scholastik an der Quelle kennen. Durch seine Überwindung des letzteren in einem öffentlichen Redestreit erwarb er sich hohen Ruhm als Dialektiker, der während seiner dann folgenden Lehrtätigkeit an der Kathedralschule zu Paris noch stieg. 

Dambrun, Stich nach J.M. Moreau le Jeune, Abaelard beim Unterricht in der Champagne Sein berühmter Liebeshandel mit Heloise, der zu der bekannten Katastrophe führte (von ihm selbst ausführlich erzählt in der Historia calamitatum mearum, vgl. die Schriften von L. Feuerbach 1844 und M. Carrière 1853) machte seine glänzende Gestalt den Zeitgenossen noch interessanter. Seine Bücher gingen von Hand zu Hand, Burg zu Burg, Stadt zu Stadt; auch in andere Länder, besonders nach Italien, wo sie selbst am päpstlichen Hofe gern gelesen wurden. Auf den Landstraßen und in den Häusern disputierten Männer, ja selbst Frauen, über seine Sätze. Trotzdem erfolgte zweimal, auf Betreiben seines unermüdlichen Gegners Bernhard von Clairvaux (§. 62 b), eine Verurteilung seiner Lehre, und er - unterwarf sich, als gehorsamer Sohn der Kirche. Bald nach der zweiten Verurteilung starb er in einem burgundischen Kloster (1142).

Im Universalienstreit nahm Abälard, soweit sich aus seinen gerade in dieser Hinsicht unvollständig erhaltenen Schriften erkennen läßt, eine vermittelnde Stellung ein. Die Realität des Allgemeinen stellt sich an jedem Einzelwesen individuell dar (universalia in rebus). Die Formen (Ideen) der Dinge existierten von jeher im göttlichen Geiste als Begriffe (conceptus mentis), die der Mensch nur in den nach ihnen geschaffenen Dingen mit seinem Verstande erkennen kann.

2. Wichtiger als diese eklektische Stellung im Universalienstreit und als die wahrscheinlich schon sehr früh geschriebenen logischen Untersuchungen seiner »Dialektik« ist für uns seine allgemeine theologisch-philosophische Stellung. Abälard nimmt ohne Zweifel in der Geschichte der Aufklärung während des Mittelalters eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Stelle ein. Es klingt ganz modern, wenn er ausführt, daß gegenüber den Angriffen auf die Kirche der Verzicht auf den reinen Autoritätsstandpunkt geboten sei. Wie alle Kräfte, so ist auch die Vernunft dem Menschen zum Guten verliehen. Besonders in dem »Dialog zwischen einem Philosophen, Juden und Christen« versteigt sich unser Theologe zu bemerkenswert kühnen Wendungen. Die Autorität könne, sagt er, nur einen vorläufigen Ersatz bieten. Auch der Zweifel hat seinen Wert; durch ihn kommen wir zur Forschung, durch Forschung aber zur Wahrheit. Die Vernunft beweist, nicht Bibelsprüche oder Wunder, selbst wenn sie heute noch geschähen und nicht vielmehr auf Betrug oder Aberglauben beruhten. Sie vertritt die Macht der Einheit, Notwendigkeit, Sicherheit, Allgemeinheit. Erst wissen, dann glauben! Plus ratio quam lex, plus consuetudine lex sit! Christ sein heißt Logiker sein (was merkwürdigerweise mit der Logos-Würde Christi zusammengebracht wird). Dementsprechend muß dann auch die Bibel nicht nach ihrem der beschränkten Fassungskraft der Menge angepaßten Buchstaben, sondern geistig verstanden werden. Die Himmelfahrt z.B. bedeutet dem Aufgeklärten die Erhebung der Seele zum Himmlischen, da, wie er wohl weiß, im Weltbild der Wissenschaft ein örtlicher Himmel und eine örtliche Hölle keine Stätte haben; die Dreieinigkeit besagt nur, daß Gott Macht, Weisheit und Liebe sei usw. Ob sein Werk Sic et non (»Ja und Nein«) einem unmittelbar aufklärerischen Zwecke dienen sollte, ist nicht sicher. Aber, indem es die Ansichten der bedeutenderen Kirchenväter über alle wichtigeren Lehren in pro und contra einander gegenüberstellte und dem Leser die Lösung der Widersprüche überließ, schuf es eine fruchtbare, von den Nachfolgern vielfach fortgepflanzte Methode.

3. Abälard hat ferner zum erstenmal im Mittelalter die Ethik in einer besonderen Schrift behandelt, und zwar, wie schon ihr Titel Scito te ipsum (Erkenne dich selbst!) erkennen läßt, im Gegensatz zu der üblichen Art so, daß er auf die Gesinnung und das Gewissen des Einzelnen zurückgeht. Sünde wie Sittlichkeit bestehen einzig und allein in der intentio animi, d. i. Gesinnung. Sünde ist nur da, wo ein Mensch gegen sein Gewissen handelt. Reue, Beichte und Buße haben Wert nur, wenn sie aus dem Herzen hervorgehen. Nach dem obengenannten Dialog ist älter als alle übernatürliche Offenbarung das natürliche Sittengesetz, das bei allen gleich ist, unwandelbar, in sich selbst wurzelnd, an sich zum Heile hinreichend. Abel und Abraham lebten gottwohlgefällig vor der mosaischen Gesetzgebung, und was die Praxis des sittlichen Lebens angeht, so werden die Christen, namentlich die entarteten der Gegenwart, darin von den griechischen Philosophen beschämt (Sokrates und Plato hält Abälard für göttlich inspiriert, ja Plato soll schon fast alle Artikel des christlichen Glaubens entwickelt haben, habe sie aber der Menge verschweigen müssen, weil die Zeit des Christentums noch nicht gekommen war!). Christus stellte nur das ursprüngliche Sittengesetz wieder her, aber er vollendete es, indem er uns zu Gott als dem höchsten Gute zurückführte. Gegenüber Anselms Genugtuungstheorie hebt Abälard die Macht der erlösenden Liebe hervor. Am Schlusse des Dialogs erfolgt keine Entscheidung über den Vorzug einer bestimmten Religion, sondern der Christ, der Jude und der »Philosoph«, d. i. konfessionslose Freidenker finden sich zusammen auf dem Boden des Sittengesetzes und der Humanität.

4. Dennoch würde man sich täuschen, wenn man hiernach Abälard, der auch in seinem Stile, wenn es sich nicht gerade um logische Spitzfindigkeiten handelt, etwas Modernes an sich hat, für einen Aufklärer im modernen Sinne halten wollte. Nicht bloß, daß er die Massen verachtete und ein geistiger Aristokrat blieb, das haben auch andere »Aufklärer« getan; nein, er will schließlich mit der gepriesenen Vernunft doch nur - die Dogmen der Kirche verteidigen. Die Fülle der Wahrheit liegt allein in Gott; göttliche Dinge sind nicht mit der kleinen Vernunft des Menschen (ratiuncula humana) zu erfassen, sondern es bedarf dazu der Erleuchtung von oben. Über dem Anfangsglauben des Wissens steht der evangelische Vollglaube eines Thomas und Paulus. Seine Apologie des Wunders ist gequält und mit seiner Grundanschauung von dem stets sich selbst gleichen Wirken Gottes nicht vereinbar. Einen ähnlich widerspruchsvollen Eindruck machte schon den Zeitgenossen seine Erlösungslehre. Auch in der Ethik finden sich solche Widersprüche und Konzessionen an die hergebrachte kirchliche Auffassung. Neben den Kardinaltugenden, deren höchste die christliche Liebe ist, tritt doch auch die Mönchstugend der humilitas stark in den Vordergrund; die Ehe gilt im wesentlichen nur als Mittel gegen geschlechtliche Zügellosigkeit; er hält fest an der Verdammnis der Ungetauften und an der Unterscheidung von Tod- und läßlichen Sünden, wie denn auch noch für das Jenseits Grade der Seligkeit unterschieden werden. »Groß veranlagt, reich an Gaben, von ungewöhnlich mannigfaltigen Bedürfnissen bewegt, hat sich Abälard, der Troubadour unter den Scholastikern, der kritische Dialektiker unter den Mystikern, der religiöse Bekenner unter den Männern der Skepsis... doch nicht zu einer harmonischen Persönlichkeit durchbilden können.« (Reuter a. a. O. S. 258.) Für seine Zeit hat er jedenfalls Bedeutendes geleistet.

Lit.: Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, 5. Auflage, Solingen 1919, S. 245 ff.

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