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Zweiter Brief: Heloisa an Abaelard

Ihrem Herrn, ja vielmehr Vater; ihrem Gatten, vielmehr Bruder - seine Magd, nein, seine Tochter; seine Gattin, nein, seine Schwester; ihrem Abaelard - Héloïsa

Den Brief, den Ihr einem Freund zum Trost geschickt, innig geliebter Mann, hat man vor kurzem durch einen Zufall mir überbracht. Da ich ihn sogleich schon nach dem Briefkopf als Euren betrachtete, begann ich ihn um so leidenschaftlicher zu lesen, je lieber ich den Verfasser selbst umarmen mag, damit mich der, dessen Nähe ich verlor, wenigstens mit Worten - sozusagen seinem Abbild - erquicke.

Heloïsa als Nonne, Pastellmalerei von Ch. Ant. Coypel, 1742 Es waren, ich erinnere mich, fast alle deine Worte in diesem Brief voll Galle und Wermut, da sie die traurige Geschichte unserer Bekehrung und, mein Einziger, deine endlosen Leiden erzählten. In der Tat: du hast erfüllt, was du dem Freund im Anfang des Briefes versprochen: er konnte wirklich seine eigenen Beschwerden im Vergleich mit den deinen für nichts oder doch für gering ansehen. Du schilderst zuvor die Verfolgungen von selten deiner Lehrer gegen dich, hierauf das Verbrechen an deinem Leib aus höchstem Verrat und richtest dann deine Feder auf die verabscheuungswürdige Mißgunst und maßlose Gehässigkeit deiner eigenen Mitschüler, des Alberich von Reims und Lotulfs, des Lombarden. Du hast nicht übergangen, was wegen ihrer Einflüsterungen mit deinem ruhmvollen theologischen Werk, was mit dir selbst geschah, als du sozusagen zur Kerkerhaft verurteilt wurdest. Sodann kommst du auf die Tücke deines Abtes und deiner falschen Brüder und auf jene dich sehr bedrückenden Herabsetzungen durch jene beiden Lügenapostel - sie waren gegen dich aufgehetzt von den obengenannten Rivalen - und ferner auf das Ärgernis, das viele daran nahmen, daß du dein Oratorium gegen das gewöhnliche Herkommen auf den Namen des Parakleten weihtest. Schließlich gehst du über zu jenen unerträglichen und noch immer gegen dich fortdauernden Verfolgungen jenes grausamen Vollstreckers und der verworfenen Mönche, die du »Söhne« nennst, und beschließt so deine traurige Geschichte.

 Niemand, glaube ich, kann dies trockenen Auges lesen oder anhören. Um so nachhaltiger haben diese Worte meine Schmerzen wiedererweckt, je genauer sie einzelnes darstellten, und um so mehr gesteigert, je mehr du von immer noch wachsenden Gefahren für dich berichtet hast: so müssen wir denn alle für dein Leben zittern und mit klopfendem Herzen und bebender Brust Tag für Tag jene letzte Botschaft von deinem Tode erwarten. Darum im Namen dessen, der dich bisher aus allen Gefahren für sich gerettet hat, im Namen Jesu Christi beschwören wir dich, du mögest seinen und deinen Dienerinnen durch öftere Nachricht Gewißheit zu verschaffen geruhen über die Katastrophen, in denen du jetzt noch umhertreibst: so wirst du wenigstens an uns, die wir allein dir treu geblieben, Genossinnen deiner Leiden und deiner Freuden haben. Denn es pflegen einem Trauernden keinen geringen Trost jene zu bringen, die mittrauern, und jede Last wird, wenn sie vielen auferlegt ist, leichter getragen oder fortbewegt. Und wenn der gegenwärtige Sturm sich ein wenig beruhigt hat, dann sollst du uns um so schleuniger Briefe schicken, und sie werden uns um so willkommener sein. Im übrigen: was es auch sei, das du uns schreibst -keine schwache Arznei wirst du uns da verabreichen, schon darum, weil du damit zeigst, daß du unsrer gedenkst. Wie willkommen uns Briefe von Freunden in der Ferne sind, das bestätigt Seneca aus eigener Erfahrung, indem er an seinen Freund Lucilius folgendes schreibt: »Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir so fleißig sehreibst. Denn das ist die einzige Art, wie du dich mir zeigen kannst. Niemals empfange ich einen Brief von dir, ohne daß wir sogleich beieinander wären. Wenn schon die Bilder abwesender Freunde uns willkommen sind, die unsere Erinnerung auffrischen und unsere Sehnsucht nach dem Abwesenden mit trügerischem und nichtigem Trost lindern, wieviel willkommener sind uns Briefe, die uns wirkliche Lebenszeichen von dem abwesenden Freunde geben!« Gott sei Dank, daß du wenigstens auf diese Weise uns deine Gegenwart schenken kannst, ohne dich von Mißgunst abhalten, ohne dich von einer Schwierigkeit hindern, ohne dich - ich beschwöre dich - von Gleichgültigkeit lahmen zu lassen! Dem Freund hast du in einem ausführlichen Brief zum Trost statt über seine Bedrängnisse über deine geschrieben. Während du aber, deine Bedrängnisse sorgfältig schildernd, seinen Trost anstrebtest, hast du unsere Trostlosigkeit aufs äußerste gesteigert, und während du seine Wunden zu heilen dich bestrebtest, hast du uns neue schmerzliche Wunden geschlagen und die alten noch vertieft. Heile nun, ich bitte dich, was du selbst angerichtet hast, der du, was andre angerichtet haben, gutzumachen bemüht bist! Deinem Freund und Genossen hast du Genüge getan und hast deine Verpflichtung zur Freundschaft und Brüderlichkeit eingelöst: uns gegenüber jedoch hast du dich mit einer noch größeren Verpflichtung gebunden; denn wir dürfen uns nicht bloß deine Freundinnen, sondern deine Herzensfreundinnen, nicht deine Genossinnen, vielmehr deine Töchter nennen, oder wenn man einen anderen Namen erdenken kann, noch süßer, noch heiliger: uns kommt er zu. Mit was für einer Verpflichtung aber du dich uns gegenüber gebunden hast, dafür braucht es keine Beweise, keine Zeugen; hier ist ein Zweifel nicht möglich, und wenn alle schweigen, die Sache selbst redet laut und deutlich. Du allein bist, nächst Gott, der Gründer dieses Klosters, du allein der Erbauer dieses Oratoriums, du allein der Stifter dieser heiligen Gemeinschaft! Nicht auf fremden Grund hast du gebaut (Rom. 15,20). Deine Schöpfung ist alles, was hier ist. Wildnis war ringsumher, nur wilden Tieren oder Räubern zugänglich; sie kannte keine menschliche Wohnung, sie bot keine Behausung. Unter den Lagerstätten des Wildes, bei den Höhlen der Räuber, wo man Gott nicht einmal zu nennen pflegt, hast du das göttliche Tabernakel aufgerichtet und einen Tempel dem Heiligen Geist geweiht. Nichts hast du zu seinem Bau aus den Schätzen der Könige und Fürsten aufgebracht, obwohl du sie in reicher Fülle hättest haben können, damit alles, was geschah, dir allein zugeschrieben werden könne. Geistliche und Schüler, die um die Wette hier zusammenströmten zu deinem Unterricht, besorgten alles Nötige. Leute, die selbst auf Kosten der Kirche lebten, die nicht das Schenken kannten, sondern nur das Empfangen, und welche die Hand nicht zum Geben, sondern nur zum Nehmen offen hatten: die wurden jetzt mit Leistungen großzügig und verschwenderisch.

 Dein also, ja wirklich dein eigen im heiligen Vorsatz ist diese neue Pflanzung, für deren zarte Sprossen, damit sie gedeihen, am notwendigsten reichliche Bewässerung ist. Schon infolge der zarten Natur des weiblichen Geschlechts ist es ja eine schwache Pflanzung; sie wäre nicht stark, auch wenn sie nicht so jung wäre. Darum hat sie noch mehr sorgfältige und vielfache Pflege nötig nach jenem Wort des Apostels: »Ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen, aber Gott hat das Gedeihen gegeben.« Gepflanzt hatte der Apostel und im Glauben gegründet durch Lehre und Predigt die Korinther, denen er schrieb. Begossen hatte sie später des Apostels Schüler Apollo mit frommen Mahnungen, und also hat ihnen die göttliche Gnade Wachstum in aller Tugend geschenkt. Den fremden Weinstock, den du nicht gepflanzt und dessen Süßigkeit sich dir in Bitternis verwandelt hat, suchst du vergeblich mit Mahnung und frommer Zurede aufzuziehen. Denke doch daran, was du deiner eigenen Pflanzung schuldest, der du auf die fremde so viel Sorgfalt verwendest! Du lehrst und mahnst die Empörer und richtest nichts aus. Vergeblich wirfst du die Perlen des göttlichen Wortes vor die Säue (Mt. 7,6). Der du für Widerspenstige so viel aufwendest, betrachte, was du den Gehorsamen schuldig bist. Deinen Widersachern schenkst du so reichlich, bedenke, was du deinen Töchtern schuldig bist! Um von den Schwestern zu schweigen: wäge selbst die Schuld ab, die du mir gegenüber einzulösen hast, und was du den gewissenhaften Frauen allen zusammen schuldest, das entrichte um so gewissenhafter der einen, die ganz und gar dein ist. Wie viele, wie ausführliche Schriften die heiligen Väter zur Belehrung, Mahnung und Tröstung frommer Frauen vollendet und mit welcher Hingabe sie sie verfaßt haben, weiß dein hohes Wissen besser als mein geringes Gedächtnis. Darum hat zu meinem nicht geringen Befremden deine Vergeßlichkeit die zarten Pflanzen unserer Lebensgestaltung schon längst entwurzelt: nicht Gottesfurcht, nicht Liebe zu uns, nicht das Beispiel der heiligen Väter konnte dich bewegen, mich, die noch schwankt und vom schon lange währenden Gram aufgezehrt ist, trösten zu wollen, sei es mit einem Zuspruch an die Anwesende, sei es mit einem Brief an die Abwesende.

 Und doch, du weißt es wohl, daß du an mich mit um so größerer Verpflichtung gebunden bist, je mehr du vom Band des Ehesakraments - das steht fest - gefesselt bist, und mein Schuldner bist du um so mehr, als ich dich allezeit - wie aller Welt offenbar ist - mit grenzenloser Liebe umfaßt habe. Du weißt es. Geliebter, und alle Welt weiß es, wieviel ich in dir verloren habe und mit welch jammervollem Sturz jener allgemein bekannte höchste Verrat mich mir selbst und dir zugleich entriß, und daß mir aus der Art und Weise des Verlustes ein unvergleichlich viel größerer Schmerz erwächst als aus dem Unglück selbst. Aber je mehr Grund zum Schmerz vorhanden ist, desto mehr müssen auch stärkere Trostmittel angewandt werden, allerdings nicht von einem ändern, sondern von dir allein, der du meines Leidens Grund bist: du allein magst auch meines Trostes Gnade sein. Du allein kannst mich elend machen, du nur mich erfreuen und trösten. Und du allein schuldest es mir, jetzt ganz besonders, da ich alles, was du befahlst, so vollkommen erfüllt habe, daß ich mich selbst auf deinen Befehl zu vernichten traute, denn dir zuwiderhandeln könnte ich nicht.

 Aber noch Größeres widerfuhr mir, noch Seltsameres: Meine Liebe schlug um in solchen Wahnsinn, daß sie sich selbst das, was sie einzig begehrte, raubte ohne Hoffnung auf Wiedererlangung, indem ich selbst auf deinen Befehl zugleich mit dem Gewand auch meine Seele umwandelte, um zu zeigen, daß du allein Herr meines Leibes und meiner Seele seist. Nichts habe ich je bei dir gesucht - Gott weiß es - als dich selbst: dich schlechthin begehrte ich, nicht das, was dein war. Kein Ehebündnis, keine Morgengabe habe ich erwartet; nicht meine Lust und meinen Willen suchte ich zu befriedigen, sondern den deinen, das weißt du wohl. Mag dir der Name »Gattin« heiliger und ehrbarer scheinen, mir war allzeit reizender die Bezeichnung »Geliebte«, oder gar verarg es mir nicht - deine »Konkubine«, deine »Dirne«. Je tiefer ich mich um deinetwillen erniedrigte, desto mehr wollte ich dadurch Gnade bei dir finden und um so weniger gerade auf diese Weise dem Ruhm deiner Vorzüglichkeit schaden. Und du selbst hast in jenem Trostbrief an deinen Freund, den ich oben erwähnte, dies um deinetwillen keineswegs vergessen. Du hast es nicht verschmäht, einige der Gründe anzuführen, mit denen ich versuchte, dich von unserer Ehe und der unseligen Vermählung abzuhalten; allein du hast diejenigen fast alle unerwähnt gelassen, aus denen ich die Liebe der Ehe, die Freiheit dem Zwang vorzog. Gott rufe ich an als Zeugen; wollte mich heute der Kaiser, der Herr der Welt, der Ehre seines Ehebetts würdigen und mir zusichern, für immer über die ganze Welt gebieten zu können; für süßer und würdiger achtete ich's, deine Buhlerin zu heißen als seine Kaiserin. Denn es ist jemand nicht deshalb, weil er reicher oder mächtiger ist, bereits besser: jenes ist Sache des Zufalls, dies des sittlichen Weites. Jene muß sich ja selbst in nicht geringem Maße für eine feile Person halten, die lieber einen reicheren als einen ärmeren Mann heiratet und weniger den Mann selbst begehrt als das, was er hat. Gewiß, der Frau, die eine solche Gier zur Ehe treibt, schuldet man eher Lohn als Zuneigung. Denn es ist ja gewiß, daß sie nach dem Besitz verlangt, nicht nach dem Mann, und daß sie sich, wenn sie nur könnte, einem reicheren Mann noch lieber preisgeben würde, wie es auch jene Beweisführung der Philosophin Aspasia in einem Gespräch mit Xenophon und seiner Gattin bei Aeschines, einem Schüler des Sokrates, offensichtlich zwingend nachweist. Als die genannte Philosophin jene Beweisführung zu ihrer wechselseitigen Aussöhnung vorgetragen hatte, schloß sie mit folgenden Worten: »Bevor ihr es also nicht dahin gebracht habt, daß es in der ganzen Welt keinen Mann und kein Weib gibt, besser und auserlesener als ihr, werdet ihr sicherlich immer am tiefsten vermissen, was ihr für das Beste haltet: du wirst die beste Frau haben wollen und sie wird mit dem besten Mann verheiratet sein wollen.« Wahrlich ein heiliger und mehr als philosophischer Ausspruch, der aus der Weisheit selbst, nicht bloß aus der Liebe zur Weisheit stammt! Heiliger Irrtum, selige Täuschung, daß die vollkommene Liebe unter Gatten das Band der Ehe unverletzt erhalten will nicht durch die Keuschheit des Leibs, sondern durch die Einfalt der Seele! Aber was bei den ändern der Irrtum, das hatte mir die offenkundige Wahrheit gebracht. Denn was andere Frauen über ihre Männer nur vermuten, das habe ich, das hat die ganze Welt von dir nicht bloß geglaubt, sondern gewußt, und so ist denn meine Liebe zu dir um so wahrhaftiger, je weiter der Irrtum von ihr entfernt ist. Denn wo ist der König oder der Weise, der dir an Ruhm gleichkäme? Welches Land, welche Stadt, welches Dorf war nicht darauf erpicht, dich zu sehen? Wer, frage ich, beeilte sich nicht, dich zu erblicken, wenn du in der Öffentlichkeit auftratest, und wenn du abträtest, folgte man dir da nicht nach mit gerecktem Hals und unverwandtem Blick? Sehnte sich nicht jede Frau, jedes Mädchen nach dem Abwesenden? Glühten sie nicht alle für den Anwesenden? Welche Fürstin, welche hohe Dame beneidete mich nicht um meine Freuden, um das Lager meiner Liebe?

 Zweierlei - ich gestehe es - war es vor allem, womit du die Herzen aller Frauen sofort gewinnen konntest: eine Ausstrahlungskraft der Dichtung und des Gesanges, die, wie ich weiß, die übrigen Philosophen am allerwenigsten erreicht haben. Bei ihr erholtest du dich wie bei einem Spiel von der Anstrengung deiner geistigen Arbeit, und eine ganze Anzahl von Gedichten und Liebesweisen, metrisch oder rhythmisch gebunden, hast du hinterlassen, die, wegen der besonderen Süße ihres Wortlauts und ihrer Melodie oft und viel gesungen, deinen Namen in aller Munde lebendig erhielten. Schon die Anmut deiner Weisen ließ auch ungebildete Leute dich nicht vergessen. Und daher vor allem seufzten die Frauen in Liebe zur dir. Die große Mehrzahl dieser Gedichte besang unsere Liebe, und so klang mein Name in kurzem weit hinaus in die Lande und weckte in vielen Frauen die Eifersucht. Denn welcher Vorzug des Körpers und des Geistes zierte nicht deine Jugend? Welche Frau, die mich einst beneidete, würde nicht jetzt, da ich solcher Wonne beraubt bin, mein Unglück zum Mitleid zwingen? Welchen Mann, welche Frau, und wären sie mir noch so feind, erweichte jetzt nicht das mir von Anfang an geschuldete Mitleid?

 Ganz schuldig bin ich, und doch auch, du weißt es, ganz und gar schuldlos. Denn nicht der Erfolg der Tat, sondern die Verfassung des Täters unterliegt der Anklage. Und die Billigkeit wägt nicht, was geschieht, sondern aus welcher Gesinnung etwas geschieht. Welche Gesinnung ich aber dir gegenüber allezeit hatte, das kannst du allein beurteilen, der du sie erprobt hast. Deiner Prüfung überlasse ich alles, deiner Entscheidung füge ich mich in allen Stücken.

 Nur das eine sag mir, wenn du kannst: warum ich nach unserem Eintritt ins Kloster, den du allein beschlossen hast, so sehr deiner Nachlässigkeit und Vergeßlichkeit zum Opfer gefallen bin, daß ich mich weder an einem Gespräch mit dem Anwesenden erquicken noch mit einem Brief des Abwesenden trösten konnte. Warum das? Sag es, wenn du kannst, oder ich spreche aus, was ich denke, ja, was jedermann argwöhnt! Ach! Begierde mehr als Freundschaft verband dich mir, Glut der Sinnenlust mehr als Liebe. Wo dahin ist, was du begehrtest, ist auch zugleich erloschen, was du um dessentwillen einst an den Tag legtest. Das, mein Geliebter, ist nicht etwa meine eigene Meinung, sondern die aller, keine besondere, sondern eine allgemeine, keine private, sondern eine öffentliche. Wenn es doch nur mir allein so erschiene und deine Liebe einige Fürsprecher zu ihrer Entschuldigung fände, durch die mein Schmerz einigermaßen gelinden würde. Könnte ich doch Umstände erfinden, dich zu entschuldigen und zugleich mein Elend zu verdecken!

 Höre, worum ich dich bitte, ich beschwöre dich! Und du wirst sehen: es ist dir ein geringes und leichtes. Da ich nun einmal deiner Gegenwart beraubt bin, so laß doch in Worten der Liebe, die dir in Fülle zu Gebote stehen, dein süßes Bild bei mir einkehren! Vergeblich erwarte ich dich freigebig in Wirklichkeit zu erleben, wenn ich dich in Worten geizig erleben muß. Ich hatte geglaubt, ich hätte deinen besonderen Dank verdient, da ich um deinetwillen alles erfüllt habe und bis jetzt im Gehorsam dir gegenüber verharre. Denn nicht Frömmigkeit, sondern dein Befehl allein hat mich in blühender Jugend zur Düsternis des Klosterlebens hingezogen. Habe ich dadurch nicht deinen Dank verdient, dann urteile, wie vergeblich ich leide! Denn von Gott darf ich dafür keinen Lohn erwarten, da ich nichts aus Liebe zu ihm bisher getan habe: das steht fest.

 Da du bei Gott deine Zuflucht suchtest, bin ich dir gefolgt, nein, im Schleier vorangeeilt bin ich dir. Als dächtest du an Lots Weib, das sich einst rückwärts wandte (l. Mose 19,26), hast du erst mich den Schleier nehmen und das Gelübde ablegen lassen, ehe du selbst dich Gott zum Eigentum weihtest. Es schmerzte und beschämte mich, ich sage es offen, daß du mir damals weniger zutrautest als dir selbst. Und doch, Gott weiß es, ich wäre auf deinen Befehl ohne Zögern, wenn du dich in die Hölle stürztest, dir vorangeeilt oder gefolgt. Mein Herz war ja nicht mehr mein, sondern bei dir. Und wenn es jetzt auch bei dir nicht mehr ist, ist es nirgendwo; denn ohne dich kann es überhaupt nicht mehr sein. Ach, laß es bei dir geborgen sein, ich beschwöre dich! Und wohlgeborgen wird es bei dir sein, wenn es dich gütig findet, wenn du Liebe mit Liebe vergelten willst (Joh. 1,16), Großes mit Kleinem, Taten mit Worten. Ach, wenn doch, Geliebter, deine Liebe sich weniger auf mich verlassen könnte, so daß sie beunruhigter wäre! Nun, da ich dich so sicher gemacht, muß ich dich um so gleichgültiger ertragen. Ich beschwöre dich, denke daran, was ich für dich getan habe, und vergiß nicht, was du mir schuldest. Als ich des Fleisches Lust in deinen Armen genoß, da durften die meisten unsicher sein, ob ich es aus Liebe oder Lüsternheit trieb. Jetzt aber zeigt ja der Ausgang, unter welchem Vorzeichen ich begann. Alle Freuden habe ich mir versagt, um deinem Willen zu gehorchen. Nichts habe ich mir zurückbehalten, als ganz und gar nur dir zu gehören.

 Darum bedenke, wie groß deine Ungerechtigkeit ist, wenn du mir geringeren Dank entrichtest, der ich größeren verdiene, oder gar überhaupt keinen - zumal es ja ein geringes und eine Kleinigkeit für dich ist, was ich verlange. Darum, bei dem Gott, dem du dich anheim gegeben, beschwöre ich dich: Schenke mir deine Gegenwart, so gut du kannst, und schreib mir zum Trost wenigstens etwas, damit ich, so gestärkt, um so froher für den Dienst Gottes frei bin. Als du mich einst für die Freuden der Welt begehrtest, besuchtest du mich in zahlreichen Briefen, und deine Héloïsa, in so manchem Liede gefeiert, legtest du in aller Munde; mich besangen alle Gassen, mich jedes Haus. Wieviel mehr solltest du mich jetzt zur Gottesliebe wie einst zur Wollust erwecken! Bedenke, was du mir schuldest, und höre, was ich verlange! Und so will ich den langen Brief mit dem kurzen Wort beschließen:

Lebe wohl, du mein Ein und Alles!

 

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