Zweiter
Brief: Heloisa an Abaelard
Ihrem Herrn, ja vielmehr Vater; ihrem Gatten, vielmehr Bruder
- seine Magd, nein, seine Tochter; seine Gattin, nein, seine
Schwester; ihrem Abaelard - Héloïsa
Den Brief, den Ihr einem Freund zum Trost geschickt, innig
geliebter Mann, hat man vor kurzem durch einen Zufall mir überbracht.
Da ich ihn sogleich schon nach dem Briefkopf als Euren betrachtete,
begann ich ihn um so leidenschaftlicher zu lesen, je lieber ich den
Verfasser selbst umarmen mag, damit mich der, dessen Nähe ich verlor,
wenigstens mit Worten - sozusagen seinem Abbild - erquicke.
Es waren, ich erinnere mich, fast alle deine Worte in diesem
Brief voll Galle und Wermut, da sie die traurige Geschichte unserer
Bekehrung und, mein Einziger, deine endlosen Leiden erzählten. In der
Tat: du hast erfüllt, was du dem Freund im Anfang des Briefes
versprochen: er konnte wirklich seine eigenen Beschwerden im Vergleich
mit den deinen für nichts oder doch für gering ansehen. Du
schilderst zuvor die Verfolgungen von selten deiner Lehrer gegen dich,
hierauf das Verbrechen an deinem Leib aus höchstem Verrat und
richtest dann deine Feder auf die verabscheuungswürdige Mißgunst und
maßlose Gehässigkeit deiner eigenen Mitschüler, des Alberich von
Reims und Lotulfs, des Lombarden. Du hast nicht übergangen, was wegen
ihrer Einflüsterungen mit deinem ruhmvollen theologischen Werk, was
mit dir selbst geschah, als du sozusagen zur Kerkerhaft verurteilt
wurdest. Sodann kommst du auf die Tücke deines Abtes und deiner
falschen Brüder und auf jene dich sehr bedrückenden Herabsetzungen
durch jene beiden Lügenapostel - sie waren gegen dich aufgehetzt von
den obengenannten Rivalen - und ferner auf das Ärgernis, das viele
daran nahmen, daß du dein Oratorium gegen das gewöhnliche Herkommen
auf den Namen des Parakleten weihtest. Schließlich gehst du über zu
jenen unerträglichen und noch immer gegen dich fortdauernden
Verfolgungen jenes grausamen Vollstreckers und der verworfenen Mönche,
die du »Söhne« nennst, und beschließt so deine traurige
Geschichte.
Niemand, glaube ich, kann dies trockenen Auges lesen oder anhören.
Um so nachhaltiger haben diese Worte meine Schmerzen wiedererweckt, je
genauer sie einzelnes darstellten, und um so mehr gesteigert, je mehr
du von immer noch wachsenden Gefahren für dich berichtet hast: so müssen
wir denn alle für dein Leben zittern und mit klopfendem Herzen und
bebender Brust Tag für Tag jene letzte Botschaft von deinem Tode
erwarten. Darum im Namen dessen, der dich bisher aus allen Gefahren für
sich gerettet hat, im Namen Jesu Christi beschwören wir dich, du mögest
seinen und deinen Dienerinnen durch öftere Nachricht Gewißheit zu
verschaffen geruhen über die Katastrophen, in denen du jetzt noch
umhertreibst: so wirst du wenigstens an uns, die wir allein dir treu
geblieben, Genossinnen deiner Leiden und deiner Freuden haben. Denn es
pflegen einem Trauernden keinen geringen Trost jene zu bringen, die
mittrauern, und jede Last wird, wenn sie vielen auferlegt ist,
leichter getragen oder fortbewegt. Und wenn der gegenwärtige Sturm
sich ein wenig beruhigt hat, dann sollst du uns um so schleuniger
Briefe schicken, und sie werden uns um so willkommener sein. Im übrigen:
was es auch sei, das du uns schreibst -keine schwache Arznei wirst du
uns da verabreichen, schon darum, weil du damit zeigst, daß du unsrer
gedenkst. Wie willkommen uns Briefe von Freunden in der Ferne sind,
das bestätigt Seneca aus eigener Erfahrung, indem er an seinen Freund
Lucilius folgendes schreibt: »Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir
so fleißig sehreibst. Denn das ist die einzige Art, wie du dich mir
zeigen kannst. Niemals empfange ich einen Brief von dir, ohne daß wir
sogleich beieinander wären. Wenn schon die Bilder abwesender Freunde
uns willkommen sind, die unsere Erinnerung auffrischen und unsere
Sehnsucht nach dem Abwesenden mit trügerischem und nichtigem Trost
lindern, wieviel willkommener sind uns Briefe, die uns wirkliche
Lebenszeichen von dem abwesenden Freunde geben!« Gott sei Dank, daß
du wenigstens auf diese Weise uns deine Gegenwart schenken kannst,
ohne dich von Mißgunst abhalten, ohne dich von einer Schwierigkeit
hindern, ohne dich - ich beschwöre dich - von Gleichgültigkeit
lahmen zu lassen! Dem Freund hast du in einem ausführlichen Brief zum
Trost statt über seine Bedrängnisse über deine geschrieben. Während
du aber, deine Bedrängnisse sorgfältig schildernd, seinen Trost
anstrebtest, hast du unsere Trostlosigkeit aufs äußerste gesteigert,
und während du seine Wunden zu heilen dich bestrebtest, hast du uns
neue schmerzliche Wunden geschlagen und die alten noch vertieft. Heile
nun, ich bitte dich, was du selbst angerichtet hast, der du, was andre
angerichtet haben, gutzumachen bemüht bist! Deinem Freund und
Genossen hast du Genüge getan und hast deine Verpflichtung zur
Freundschaft und Brüderlichkeit eingelöst: uns gegenüber jedoch
hast du dich mit einer noch größeren Verpflichtung gebunden; denn
wir dürfen uns nicht bloß deine Freundinnen, sondern deine
Herzensfreundinnen, nicht deine Genossinnen, vielmehr deine Töchter
nennen, oder wenn man einen anderen Namen erdenken kann, noch süßer,
noch heiliger: uns kommt er zu. Mit was für einer Verpflichtung aber
du dich uns gegenüber gebunden hast, dafür braucht es keine Beweise,
keine Zeugen; hier ist ein Zweifel nicht möglich, und wenn alle
schweigen, die Sache selbst redet laut und deutlich. Du allein bist, nächst
Gott, der Gründer dieses Klosters, du allein der Erbauer dieses
Oratoriums, du allein der Stifter dieser heiligen Gemeinschaft! Nicht
auf fremden Grund hast du gebaut (Rom. 15,20). Deine Schöpfung ist
alles, was hier ist. Wildnis war ringsumher, nur wilden Tieren oder Räubern
zugänglich; sie kannte keine menschliche Wohnung, sie bot keine
Behausung. Unter den Lagerstätten des Wildes, bei den Höhlen der Räuber,
wo man Gott nicht einmal zu nennen pflegt, hast du das göttliche
Tabernakel aufgerichtet und einen Tempel dem Heiligen Geist geweiht.
Nichts hast du zu seinem Bau aus den Schätzen der Könige und Fürsten
aufgebracht, obwohl du sie in reicher Fülle hättest haben können,
damit alles, was geschah, dir allein zugeschrieben werden könne.
Geistliche und Schüler, die um die Wette hier zusammenströmten zu
deinem Unterricht, besorgten alles Nötige. Leute, die selbst auf
Kosten der Kirche lebten, die nicht das Schenken kannten, sondern nur
das Empfangen, und welche die Hand nicht zum Geben, sondern nur zum
Nehmen offen hatten: die wurden jetzt mit Leistungen großzügig und
verschwenderisch.
Dein also, ja wirklich dein eigen im heiligen Vorsatz ist
diese neue Pflanzung, für deren zarte Sprossen, damit sie gedeihen,
am notwendigsten reichliche Bewässerung ist. Schon infolge der zarten
Natur des weiblichen Geschlechts ist es ja eine schwache Pflanzung;
sie wäre nicht stark, auch wenn sie nicht so jung wäre. Darum hat
sie noch mehr sorgfältige und vielfache Pflege nötig nach jenem Wort
des Apostels: »Ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen, aber Gott hat
das Gedeihen gegeben.« Gepflanzt hatte der Apostel und im Glauben
gegründet durch Lehre und Predigt die Korinther, denen er schrieb.
Begossen hatte sie später des Apostels Schüler Apollo mit frommen
Mahnungen, und also hat ihnen die göttliche Gnade Wachstum in aller
Tugend geschenkt. Den fremden Weinstock, den du nicht gepflanzt und
dessen Süßigkeit sich dir in Bitternis verwandelt hat, suchst du
vergeblich mit Mahnung und frommer Zurede aufzuziehen. Denke doch
daran, was du deiner eigenen Pflanzung schuldest, der du auf die
fremde so viel Sorgfalt verwendest! Du lehrst und mahnst die Empörer
und richtest nichts aus. Vergeblich wirfst du die Perlen des göttlichen
Wortes vor die Säue (Mt. 7,6). Der du für Widerspenstige so viel
aufwendest, betrachte, was du den Gehorsamen schuldig bist. Deinen
Widersachern schenkst du so reichlich, bedenke, was du deinen Töchtern
schuldig bist! Um von den Schwestern zu schweigen: wäge selbst die
Schuld ab, die du mir gegenüber einzulösen hast, und was du den
gewissenhaften Frauen allen zusammen schuldest, das entrichte um so
gewissenhafter der einen, die ganz und gar dein ist. Wie viele, wie
ausführliche Schriften die heiligen Väter zur Belehrung, Mahnung und
Tröstung frommer Frauen vollendet und mit welcher Hingabe sie sie
verfaßt haben, weiß dein hohes Wissen besser als mein geringes Gedächtnis.
Darum hat zu meinem nicht geringen Befremden deine Vergeßlichkeit die
zarten Pflanzen unserer Lebensgestaltung schon längst entwurzelt:
nicht Gottesfurcht, nicht Liebe zu uns, nicht das Beispiel der
heiligen Väter konnte dich bewegen, mich, die noch schwankt und vom
schon lange währenden Gram aufgezehrt ist, trösten zu wollen, sei es
mit einem Zuspruch an die Anwesende, sei es mit einem Brief an die
Abwesende.
Und doch, du weißt es wohl, daß du an mich mit um so größerer
Verpflichtung gebunden bist, je mehr du vom Band des Ehesakraments -
das steht fest - gefesselt bist, und mein Schuldner bist du um so
mehr, als ich dich allezeit - wie aller Welt offenbar ist - mit
grenzenloser Liebe umfaßt habe. Du weißt es. Geliebter, und alle
Welt weiß es, wieviel ich in dir verloren habe und mit welch
jammervollem Sturz jener allgemein bekannte höchste Verrat mich mir
selbst und dir zugleich entriß, und daß mir aus der Art und Weise
des Verlustes ein unvergleichlich viel größerer Schmerz erwächst
als aus dem Unglück selbst. Aber je mehr Grund zum Schmerz vorhanden
ist, desto mehr müssen auch stärkere Trostmittel angewandt werden,
allerdings nicht von einem ändern, sondern von dir allein, der du
meines Leidens Grund bist: du allein magst auch meines Trostes Gnade
sein. Du allein kannst mich elend machen, du nur mich erfreuen und trösten.
Und du allein schuldest es mir, jetzt ganz besonders, da ich alles,
was du befahlst, so vollkommen erfüllt habe, daß ich mich selbst auf
deinen Befehl zu vernichten traute, denn dir zuwiderhandeln könnte
ich nicht.
Aber noch Größeres widerfuhr mir, noch Seltsameres: Meine
Liebe schlug um in solchen Wahnsinn, daß sie sich selbst das, was sie
einzig begehrte, raubte ohne Hoffnung auf Wiedererlangung, indem ich
selbst auf deinen Befehl zugleich mit dem Gewand auch meine Seele
umwandelte, um zu zeigen, daß du allein Herr meines Leibes und meiner
Seele seist. Nichts habe ich je bei dir gesucht - Gott weiß es - als
dich selbst: dich schlechthin begehrte ich, nicht das, was dein war.
Kein Ehebündnis, keine Morgengabe habe ich erwartet; nicht meine Lust
und meinen Willen suchte ich zu befriedigen, sondern den deinen, das
weißt du wohl. Mag dir der Name »Gattin« heiliger und ehrbarer
scheinen, mir war allzeit reizender die Bezeichnung »Geliebte«, oder
gar verarg es mir nicht - deine »Konkubine«, deine »Dirne«. Je
tiefer ich mich um deinetwillen erniedrigte, desto mehr wollte ich
dadurch Gnade bei dir finden und um so weniger gerade auf diese Weise
dem Ruhm deiner Vorzüglichkeit schaden. Und du selbst hast in jenem
Trostbrief an deinen Freund, den ich oben erwähnte, dies um
deinetwillen keineswegs vergessen. Du hast es nicht verschmäht,
einige der Gründe anzuführen, mit denen ich versuchte, dich von
unserer Ehe und der unseligen Vermählung abzuhalten; allein du hast
diejenigen fast alle unerwähnt gelassen, aus denen ich die Liebe der
Ehe, die Freiheit dem Zwang vorzog. Gott rufe ich an als Zeugen;
wollte mich heute der Kaiser, der Herr der Welt, der Ehre seines
Ehebetts würdigen und mir zusichern, für immer über die ganze Welt
gebieten zu können; für süßer und würdiger achtete ich's, deine
Buhlerin zu heißen als seine Kaiserin. Denn es ist jemand nicht
deshalb, weil er reicher oder mächtiger ist, bereits besser: jenes
ist Sache des Zufalls, dies des sittlichen Weites. Jene muß sich ja
selbst in nicht geringem Maße für eine feile Person halten, die
lieber einen reicheren als einen ärmeren Mann heiratet und weniger
den Mann selbst begehrt als das, was er hat. Gewiß, der Frau, die
eine solche Gier zur Ehe treibt, schuldet man eher Lohn als Zuneigung.
Denn es ist ja gewiß, daß sie nach dem Besitz verlangt, nicht nach
dem Mann, und daß sie sich, wenn sie nur könnte, einem reicheren
Mann noch lieber preisgeben würde, wie es auch jene Beweisführung
der Philosophin Aspasia in einem Gespräch mit Xenophon und seiner
Gattin bei Aeschines, einem Schüler des Sokrates, offensichtlich
zwingend nachweist. Als die genannte Philosophin jene Beweisführung
zu ihrer wechselseitigen Aussöhnung vorgetragen hatte, schloß sie
mit folgenden Worten: »Bevor ihr es also nicht dahin gebracht habt,
daß es in der ganzen Welt keinen Mann und kein Weib gibt, besser und
auserlesener als ihr, werdet ihr sicherlich immer am tiefsten
vermissen, was ihr für das Beste haltet: du wirst die beste Frau
haben wollen und sie wird mit dem besten Mann verheiratet sein wollen.«
Wahrlich ein heiliger und mehr als philosophischer Ausspruch, der aus
der Weisheit selbst, nicht bloß aus der Liebe zur Weisheit stammt!
Heiliger Irrtum, selige Täuschung, daß die vollkommene Liebe unter
Gatten das Band der Ehe unverletzt erhalten will nicht durch die
Keuschheit des Leibs, sondern durch die Einfalt der Seele! Aber was
bei den ändern der Irrtum, das hatte mir die offenkundige Wahrheit
gebracht. Denn was andere Frauen über ihre Männer nur vermuten, das
habe ich, das hat die ganze Welt von dir nicht bloß geglaubt, sondern
gewußt, und so ist denn meine Liebe zu dir um so wahrhaftiger, je
weiter der Irrtum von ihr entfernt ist. Denn wo ist der König oder
der Weise, der dir an Ruhm gleichkäme? Welches Land, welche Stadt,
welches Dorf war nicht darauf erpicht, dich zu sehen? Wer, frage ich,
beeilte sich nicht, dich zu erblicken, wenn du in der Öffentlichkeit
auftratest, und wenn du abträtest, folgte man dir da nicht nach mit
gerecktem Hals und unverwandtem Blick? Sehnte sich nicht jede Frau,
jedes Mädchen nach dem Abwesenden? Glühten sie nicht alle für den
Anwesenden? Welche Fürstin, welche hohe Dame beneidete mich nicht um
meine Freuden, um das Lager meiner Liebe?
Zweierlei - ich gestehe es - war es vor allem, womit du die
Herzen aller Frauen sofort gewinnen konntest: eine Ausstrahlungskraft
der Dichtung und des Gesanges, die, wie ich weiß, die übrigen
Philosophen am allerwenigsten erreicht haben. Bei ihr erholtest du
dich wie bei einem Spiel von der Anstrengung deiner geistigen Arbeit,
und eine ganze Anzahl von Gedichten und Liebesweisen, metrisch oder
rhythmisch gebunden, hast du hinterlassen, die, wegen der besonderen Süße
ihres Wortlauts und ihrer Melodie oft und viel gesungen, deinen Namen
in aller Munde lebendig erhielten. Schon die Anmut deiner Weisen ließ
auch ungebildete Leute dich nicht vergessen. Und daher vor allem
seufzten die Frauen in Liebe zur dir. Die große Mehrzahl dieser
Gedichte besang unsere Liebe, und so klang mein Name in kurzem weit
hinaus in die Lande und weckte in vielen Frauen die Eifersucht. Denn
welcher Vorzug des Körpers und des Geistes zierte nicht deine Jugend?
Welche Frau, die mich einst beneidete, würde nicht jetzt, da ich
solcher Wonne beraubt bin, mein Unglück zum Mitleid zwingen? Welchen
Mann, welche Frau, und wären sie mir noch so feind, erweichte jetzt
nicht das mir von Anfang an geschuldete Mitleid?
Ganz schuldig bin ich, und doch auch, du weißt es, ganz und
gar schuldlos. Denn nicht der Erfolg der Tat, sondern die Verfassung
des Täters unterliegt der Anklage. Und die Billigkeit wägt nicht,
was geschieht, sondern aus welcher Gesinnung etwas geschieht. Welche
Gesinnung ich aber dir gegenüber allezeit hatte, das kannst du allein
beurteilen, der du sie erprobt hast. Deiner Prüfung überlasse ich
alles, deiner Entscheidung füge ich mich in allen Stücken.
Nur das eine sag mir, wenn du kannst: warum ich nach unserem
Eintritt ins Kloster, den du allein beschlossen hast, so sehr deiner
Nachlässigkeit und Vergeßlichkeit zum Opfer gefallen bin, daß ich
mich weder an einem Gespräch mit dem Anwesenden erquicken noch mit
einem Brief des Abwesenden trösten konnte. Warum das? Sag es, wenn du
kannst, oder ich spreche aus, was ich denke, ja, was jedermann argwöhnt!
Ach! Begierde mehr als Freundschaft verband dich mir, Glut der
Sinnenlust mehr als Liebe. Wo dahin ist, was du begehrtest, ist auch
zugleich erloschen, was du um dessentwillen einst an den Tag legtest.
Das, mein Geliebter, ist nicht etwa meine eigene Meinung, sondern die
aller, keine besondere, sondern eine allgemeine, keine private,
sondern eine öffentliche. Wenn es doch nur mir allein so erschiene
und deine Liebe einige Fürsprecher zu ihrer Entschuldigung fände,
durch die mein Schmerz einigermaßen gelinden würde. Könnte ich doch
Umstände erfinden, dich zu entschuldigen und zugleich mein Elend zu
verdecken!
Höre, worum ich dich bitte, ich beschwöre dich! Und du
wirst sehen: es ist dir ein geringes und leichtes. Da ich nun einmal
deiner Gegenwart beraubt bin, so laß doch in Worten der Liebe, die
dir in Fülle zu Gebote stehen, dein süßes Bild bei mir einkehren!
Vergeblich erwarte ich dich freigebig in Wirklichkeit zu erleben, wenn
ich dich in Worten geizig erleben muß. Ich hatte geglaubt, ich hätte
deinen besonderen Dank verdient, da ich um deinetwillen alles erfüllt
habe und bis jetzt im Gehorsam dir gegenüber verharre. Denn nicht Frömmigkeit,
sondern dein Befehl allein hat mich in blühender Jugend zur Düsternis
des Klosterlebens hingezogen. Habe ich dadurch nicht deinen Dank
verdient, dann urteile, wie vergeblich ich leide! Denn von Gott darf
ich dafür keinen Lohn erwarten, da ich nichts aus Liebe zu ihm bisher
getan habe: das steht fest.
Da du bei Gott deine Zuflucht suchtest, bin ich dir gefolgt,
nein, im Schleier vorangeeilt bin ich dir. Als dächtest du an Lots
Weib, das sich einst rückwärts wandte (l. Mose 19,26), hast du erst
mich den Schleier nehmen und das Gelübde ablegen lassen, ehe du
selbst dich Gott zum Eigentum weihtest. Es schmerzte und beschämte
mich, ich sage es offen, daß du mir damals weniger zutrautest als dir
selbst. Und doch, Gott weiß es, ich wäre auf deinen Befehl ohne Zögern,
wenn du dich in die Hölle stürztest, dir vorangeeilt oder gefolgt.
Mein Herz war ja nicht mehr mein, sondern bei dir. Und wenn es jetzt
auch bei dir nicht mehr ist, ist es nirgendwo; denn ohne dich kann es
überhaupt nicht mehr sein. Ach, laß es bei dir geborgen sein, ich
beschwöre dich! Und wohlgeborgen wird es bei dir sein, wenn es dich gütig
findet, wenn du Liebe mit Liebe vergelten willst (Joh. 1,16), Großes
mit Kleinem, Taten mit Worten. Ach, wenn doch, Geliebter, deine Liebe
sich weniger auf mich verlassen könnte, so daß sie beunruhigter wäre!
Nun, da ich dich so sicher gemacht, muß ich dich um so gleichgültiger
ertragen. Ich beschwöre dich, denke daran, was ich für dich getan
habe, und vergiß nicht, was du mir schuldest. Als ich des Fleisches
Lust in deinen Armen genoß, da durften die meisten unsicher sein, ob
ich es aus Liebe oder Lüsternheit trieb. Jetzt aber zeigt ja der
Ausgang, unter welchem Vorzeichen ich begann. Alle Freuden habe ich
mir versagt, um deinem Willen zu gehorchen. Nichts habe ich mir zurückbehalten,
als ganz und gar nur dir zu gehören.
Darum bedenke, wie groß deine Ungerechtigkeit ist, wenn du
mir geringeren Dank entrichtest, der ich größeren verdiene, oder gar
überhaupt keinen - zumal es ja ein geringes und eine Kleinigkeit für
dich ist, was ich verlange. Darum, bei dem Gott, dem du dich anheim
gegeben, beschwöre ich dich: Schenke mir deine Gegenwart, so gut du
kannst, und schreib mir zum Trost wenigstens etwas, damit ich, so gestärkt,
um so froher für den Dienst Gottes frei bin. Als du mich einst für
die Freuden der Welt begehrtest, besuchtest du mich in zahlreichen
Briefen, und deine Héloïsa, in so manchem Liede gefeiert, legtest du
in aller Munde; mich besangen alle Gassen, mich jedes Haus. Wieviel
mehr solltest du mich jetzt zur Gottesliebe wie einst zur Wollust
erwecken! Bedenke, was du mir schuldest, und höre, was ich verlange!
Und so will ich den langen Brief mit dem kurzen Wort beschließen:
Lebe wohl, du mein Ein und Alles!
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