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Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie

Meister Eckhart (1260-1327)

Aus ritterlichem Geschlechte in Thüringen um 1260 geboren, 1300 Lehrer in Paris, 1302 von Bonifaz VIII. zum Dr. ernannt, 1307-11 Generalvikar seines Ordens, lehrte und predigte Meister Eckhart in ganz Deutschland mit größtem Ruhme, zuletzt in Köln. Dennoch wurde schließlich ein Prozeß in Glaubenssachen gegen ihn eingeleitet; er verstand sich zu einem bedingten Widerruf. Ehe das Endurteil, die 28 seiner Sätze verdammende päpstliche Bulle erschien, ist er gestorben (1327).

Eckhart schließt sich zunächst an die Lehre seiner Ordensgenossen Albert und Thomas an; namentlich seine lateinischen Schriften zeigen ihn, wie Denifle (Archiv f. Lit. u. Kirchengesch. des MA. II 417-652) nachgewiesen hat, von letzterem sehr abhängig. Seine Eigentümlichkeit tritt jedoch weit lebendiger in den deutschen Schriften hervor, in denen er sich an die Gemeinde wendet. Er ist der erste bedeutendere Philosoph deutscher Zunge. Nicht, daß er dem, der Plotin, Eriugena und die Reihe der anderen Mystiker kennt, inhaltlich besonders viel Neues brächte; aber er sagt es mit der Innigkeit des deutschen Gemüts und bildet dabei zum erstenmal eine deutsche Kunstsprache für die Philosophie. Die Hauptsache ist ihm freilich die Wirkung auf das religiöse und sittliche Leben seiner Hörer und Leser. 

Wie Albert und Thomas, ist auch Eckhart einerseits Realist; das Allgemeine ist das wahrhaft Seiende; anderseits Intellektualist. Sein ist Erkenntnis. Letztere aber findet ihre Befriedigung nur in dem unbegreiflichen und unaussprechlichen göttlichen Urgrund aller Dinge. Dieser, die Gottheit, muß, um aus dem dunklen Abgrund der göttlichen Natur zum wirklichen, lebendigen »Gott« zu werden, »sich bekennen und sein Wort sprechen«. So gebiert er das göttliche Wort, seinen Sohn und, indem er sich selbst in dem Sohne liebt, »geistet« er die »Minne«, die ihn und den Sohn miteinander verbindet, den heiligen Geist. Wie den Sohn, so erzeugt Gott aus dem Nichts auch alle Kreatur, deren Idee er in sich vorgebildet sah. Er bleibt in ihnen und sie in ihm, die »ungenaturte« Natur in der »genaturten« Natur und umgekehrt. Alle Dinge haben Wesen nur, insofern sie in Gott sind. Er ist allerorten, denn er ist ungeteilt. Das »Hie und Nu«, d. i. ihre räumliche und zeitliche Bestimmung, ist eigentlich Nichts, für Gott nicht da. Alles Sinnliche, alles Mangelhafte, alles, was sich in der Kreatur gegen Gott behaupten will, alles Übel und alle Schranke ist also ein Nichts, ein Abfall von Gottes Wesen. Alle Dinge gehen von Gott aus und wollen zu ihm, ihrem Ursprung und wahren Sein zurück, wollen »entwerden«.

So auch das Beste unter dem Geschaffenen, um dessentwillen alles Übrige da ist, die menschliche Seele, deren Entdecker dieser deutsche Mystiker recht eigentlich gewesen ist. Sie trägt ein doppeltes Antlitz: das eine dieser Welt und dem Körper zugekehrt, den sie zu seiner ganzen Wirksamkeit befähigt, das andere unmittelbar auf Gott gerichtet. Auf ihrem Grunde ruht das »Fünklein« oder »Gemüt«, in dem das Göttliche ohne Mittel und Hülle erscheint. »Warum bleibt ihr nicht bei euch selbst und greift in euer eigen Gut? Ihr tragt doch alle Wahrheit wesentlich in euch.« Diesem nachgehend, muß der Mensch, wenn er zu Gott kommen will, sich selbst sterben, seine Eigenheit aufgeben, ohne Willen sein, damit das Göttliche in ihm zur Herrschaft komme. Das ist der Zustand der Abgeschiedenheit, d. i. der Freiheit von allen Affekten, der »Gelassenheit«, der alles recht ist, was Gott tut, ihr höchster Grad die »Armut«, die nichts weiß, nichts will, nichts hat. Befinde ich mich in diesem Zustand, dann gebiert Gott seinen Sohn in mich. Alles sittliche Tun geht aus von diesem Geborenwerden Gottes in meiner Seele, und nun kann ich nicht mehr fallen, denn Gott ist in mir. Ein solcher Mensch kann selbst Christus, ja Gott genannt werden, nur daß er aus Gnaden ward, was Gott von Natur ewig ist. In diesem Sinne sind alle Menschen ein Sohn Gottes, ein einziger Ausfluß des ewigen Wortes.

Tugendhaftes Handeln ist also ein Wirkenlassen des Göttlichen in mir, ein zweckloses Handeln. Selbst das ewige Leben und die ewige Seligkeit, die hier schon ihren Anfang nehmen, sind keine berechtigten Zwecke. Sittlichkeit ist nicht Tun, sondern Sein, das mühelos aus der Seele fließt, wie der Buchstabe aus der Feder des geübten Schreibers. Alle Tugenden sind daher im Grunde nur eine; die Harmonie der Seele in der Unterordnung ihrer niederen Kräfte (Sinn, Verstand, Begierde) unter die höheren (Erkenntnis, Vernunft, Wille) macht ihre Schönheit aus; Liebe (»Minne«) ist ihr Prinzip. Liebe vertreibt alle Furcht und bedecket alle Sünde; sie weiß nichts von Sünde, sie ist stark wie der Tod, fest wie die Hölle. Darum soll der Mensch also sein, daß all sein Leben Liebe sei. 

Die äußeren Werke (Fasten, Beten, Wachen, Kasteiung) schätzt Eckhart nur insoweit, als sie zur Sammlung und Einkehr in sich selbst dienen; nur auf das innere Werk, das Aufgehen der Seele in Gott, kommt es an. Will die Seele »Frieden und Freiheit des Herzens in einer stillen Ruhe« finden, so muß sie »wieder heimrufen allen ihren Kräften und sie sammeln von allen zerstreuten Dingen in ein inwendiges Wirken«. Das wahre Gebet ist wortlos.

Diese folgerechte Ausbildung des mystischen Standpunktes hält Meister Eckhart gleichwohl nicht von einer gesunden Anschauung über die Pflichten des täglichen Lebens ab. Er gesteht nicht nur zu, daß bei dem visionären Schauen Gottes Selbsttäuschung möglich sei, und daß der Mensch in jener Ekstase nicht beständig verharren könne, sondern er gestattet jene Freiheit vom Gesetz und von aller Tätigkeit nur dem Innersten Gemüte, jenem göttlichen »Fünklein«. Von ihm als Zentrum aus sollen vielmehr alle Seelenkräfte zu fruchtbarem Wirken bestimmt, das Ewige ins Zeitliche übertragen werden. Bloße Beschaulichkeit wäre Selbstsucht. Der Mensch soll nicht die Dinge fliehen und sich in eine Einöde kehren, vielmehr eine innerliche Einöde lernen, die Dinge aber durchbrechen und darin wachsen ohne Unterlaß, »ordentlich, redlich und wissenlich« alles zeitliche Werk zu vollführen suchen. »Wäre der Mensch in Verzückung, wie St. Paulus war, und wüßte einen siechen Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich achte es weit besser, daß du ließest aus Minne von der Verzückung und dientest dem Dürftigen in größerer Minne.« 

Nicht die Werke heiligen uns, wir sollen die Werke heiligen. Aus dem rechten Grunde fließen die rechten Handlungen von selbst. Tue ein jeder das, wozu er sich am meisten von Gott gedrungen fühlt, und übe Entsagung da, wohin es ihn am meisten zieht. Es gibt viele Wege zu Gott, du kannst ihn beim Feuer oder im Stalle ebenso gegenwärtig haben als in der Einöde oder in der Zelle. Da Gott den Prozeß der Wiedereinbildung alles außer ihm Seienden in sich vermittelst der menschlichen Seele vollzieht, so bedarf er ihrer und stellt ihr nach, um sie zu sich zu ziehen. »Gott mag mich nicht entbehren; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht.« Gott ist Mensch geworden, damit ich Gott werde. (»Vergottung«, vgl. Areopagita, Maximus, Eriugena u. a.) Und der Mensch, der sich nach der Einheit mit Gott sehnt, braucht ihn nicht zu »suchen, weder hie noch da; er ist nicht ferner denn vor der Türe des Herzens, da steht er und wartet, wen er bereit findet, der ihm auftue, und ihn einlasse«. Auch das Böse ist schließlich nur ein Mittel für die Verwirklichung des ewigen Weltzwecks.

Auf Eckharts theologische Stellung zu den Dogmen der Menschwerdung, Genugtuung, den Sakramenten, Tod, Hölle, Auferstehung können wir nicht näher eingehen. Auch auf diesem Gebiete sucht er spekulativ zu vergeistigen und verinnerlichen. Ihn bindet keinerlei Dogma, überhaupt kein geschriebenes oder gesprochenes Wort (Natorp). Im jüngsten Gericht z.B. spricht nach seiner Vorstellung nicht Gott, sondern jeder Mensch sich selbst sein Urteil; wie er dann erscheint, so wird er bleiben. Begreiflich genug, daß die Kirche gegen einen solchen »Freigeist« einschritt, zumal da seine Lehre die schroffe Scheidung zwischen Klerus und Laien bewußt durchbrach und eine tiefe Wirkung auf die letzteren übte. Dagegen hat seine religiöse und sittliche Verinnerlichung der Reformation des 16. Jahrhunderts den Boden bereitet, ja in seiner kräftigen Betonung der Individualität steckt bei allem sonstigen Gegensatz schon ein Stück Renaissance.

Lit.: Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, 5. Auflage, Solingen 1919, S. 283 ff.

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