Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, werden auf
spielerische Weise eine Fülle essentieller menschlicher Fähigkeiten
erarbeitet und geübt, die gerade in unserer komplexen modernen Welt
immer bedeutender werden – aber zugleich immer seltener zu finden
sind. Dazu zählen sprachliche Ausdruckskraft,
Kommunikationsfähigkeit, soziale Kompetenz – und vorallem
Selbstsicherheit in der eigenen Lebensführung und im Umgang mit
anderen Menschen. Es geht, mit einem Wort, um Persönlichkeitsbildung.
Und diese vollzieht sich heute nicht einfach von selbst, sondern sie
muss gezielt gefördert werden. Die ganze Allgemeinbildung und alle
spezielleren fachlichen Kenntnisse, die zweifellos auch in der Schule
vermittelt werden sollen, taugen wenig, wenn sie später nicht durch
eine starke in sich gegründete Persönlichkeit im praktischen Leben
tatkräftig umgesetzt werden können. Eine altersgemäße,
schrittweise sich entfaltende Persönlichkeitsbildung war daher von
Anfang an das Hauptanliegen der Waldorfpädagogik – und das
Bühnenspiel in der Schule kann dazu einen wesentlichen Beitrag
leisten.
Die modernen elektronischen Medien und
Kommunikationsmittel, die sich längst zu einem unentbehrlichen
Bestandteil unseres Alltagslebens gemacht haben und auch im
öffentlichen Schulbetrieb immer mehr propagiert werden, fördern die
sozialen Fähigkeiten des Kindes und des heranwachsenden Jugendlichen
nicht, sondern treten ihnen, wie mittlerweile viele Studien deutlich
zeigen, in bedenklichem Ausmaß hemmend entgegen. Hinter den
Bildschirm verbannt, werden unsere Kinder zunehmend in eine soziale
Isolation getrieben, unter der nicht nur die zwischenmenschlichen
Beziehungen leiden, sondern sich auch das gesunde Selbstwertgefühl
nicht entfalten kann. Verhaltensauffälligkeiten, nervöse
Hyperaktivität, mangelnde soziale Integration, eine allgemeine Ziel-
und Antriebslosigkeit und nicht zuletzt Drogenmissbrauch und
Gewalttätigkeit sind häufig die Folge. Man muss deswegen die
Errungenschaften unseres modernen Zivilisationslebens nicht
verteufeln. Wir müssen mit ihnen als gegebenem Faktum rechnen,
wir müssen daher die Schüler lehren, kompetent und
verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen – aber wir müssen
zugleich ein starkes Gegengewicht setzten, das die rein menschlichen
Qualitäten des Kindes so stärkt, dass es nicht seelisch im
Räderwerk unserer Maschinenwelt und unserer technokratischen
Strukturen zerrieben wird.
In der schönen, ausdrucksvollen und wohlklingenden
Sprache offenbart sich die Seele des Menschen am allermeisten. Und
nicht zufällig hat seit der beginnenden industriellen Revolution im
19. Jahrhundert von allen menschlichen Fähigkeiten die Sprache den
größten Schaden genommen. Der dramatisch sich beschleunigende
Wortschatzverlust und die mangelnde Ausdrucks- und
Artikulationsfähigkeit können nicht mehr übersehen werden. Die
Sprachbildung muss also zuallererst gefördert werden. Dazu kann schon
der Sprachunterricht wesentlich beitragen, wenn er sich nicht bloß
auf die intellektuelle Interpretation der Literatur und auf
grammatikalische Spitzfindigkeiten alleine stützt, sondern
vordringlich die Begeisterung für das gesprochene, künstlerisch
gestaltete und unmittelbar lebendig erlebte Wort weckt. Und das gilt
nicht nur für die Muttersprache, sondern genauso für die
Fremdsprachen. Wie in einem Brennpunkt konzentriert lassen sich diese
Fähigkeiten im Bühnenspiel erüben. Wohl wird man anfangs einige
Hemmungen überwinden müssen, wozu der Lehrer einiges Geschick und
menschliches Einfühlungsvermögen braucht – aber wenn sie
überwunden sind, wird gerade das das Selbstwertgefühl des Schülers
bedeutend steigern, sein kreatives Potential wecken und letztlich in
einem geradezu lustvollen spielerischen Umgang mit der Sprache
münden. Diese Erfahrung konnte ich in meiner Arbeit mit den Schülern
jedenfalls immer wieder machen.
Was den Menschen von allen anderen Lebewesen auf
Erden signifikant unterscheidet und ihn als vernunftbegabtes frei
handelndes Wesen über die triebbehaftete und instinktgeleitete
Tierwelt weit hinaushebt, ist seine aufrechte Körperhaltung. Gerade
um diese ist es aber gegenwärtig oft recht schlecht bestellt.
Hängende Schultern, verkrümmte Rücken und schlurfenden Gang sieht
man heute, namentlich bei Jugendlichen, recht häufig. Auch hier kann
das Bühnenspiel gegensteuern - denn auf der Bühne muss man eine
Rolle verkörpern. Was bedeutet es, eine Rolle zu verkörpern?
Es bedeutet, dass man seine Körperhaltung, seinen Schritt und seine
Gestik auf charakteristische Weise lebendig verwandeln muss, so dass
sie dem darzustellenden Rollentypus gerecht wird. Man muss dazu
zwangsläufig die eigenen erworbenen Haltungsunarten überwinden und
lernt freier und bewusster den eigenen Körper so zu tragen, dass sich
durch ihn unbeschwert die seelische Innenwelt der Bühnenfigur
offenbaren kann. Und von dem, was man so auf den Brettern, die die
Welt bedeuten, spielerisch erworben hat, nimmt man eine gehörige
Portion für das Leben in der Welt draußen mit.
In der Pubertät neigen die Jugendlichen oft stark
dazu, sich grüblerisch in sich selbst zu versenken. Sie suchen sich,
können sich aber nicht finden - was nicht selten zu einem merkwürdig
depressiven Unterton des ganzen Seelenlebens führt, der gelegentlich
sogar latente Selbstmordgedanken aufkommen läßt. Es ist nicht gut,
wenn man den Jugendlichen als hilflosen Gefangener seiner selbst
beständig im eigenen Saft schmoren läßt. Wer sich nicht über sich
stellen und auch gelegentlich herzlich über die eigenen
Unzulänglichkeiten lachen kann, wird sich allzu leicht ängstlich und
unsicher vor der Welt verschließen - wenngleich sich das oft hinter
der Maske eines übertrieben zur Schau gestellten exaltierten,
provokanten Betragens verbirgt. Sich selbst finden kann man überhaupt
nur, wenn man von sich selbst loskommen und sich selbst frei
gegenübertreten kann. Dazu kann das Rollenspiel, bei dem man in einen
ganz fremden Charakter hineinschlüpfen muss, manchen Anreiz geben.
Nicht zuletzt bietet das Bühnenspiel viele
Möglichkeiten für einen fächerübergreifenden, ganzheitlich
orientierten Unterricht. Im Zentrum stehen natürlich die sprachlichen
Fächer, dazu kann sich aber bei einem historischen Thema leicht der
Geschichtsunterricht gesellen, vielleicht auch der Psychologie- und
Philosophieunterricht in der Oberstufe, und selbstverständlich die
bildende Kunst, der Handwerks- und Handarbeitsunterricht, die für die
Bühnenbild- und Kostümgestaltung unerlässlich sind.
Vorallem aber wird durch das gemeinsame
Bühnenspiel der soziale Zusammenhalt in der Klasse und die Beziehung
der Kinder zum Lehrer und des Lehrers zu den Schülern bedeutsam
gefördert. Je näher das gemeinsame Ziel, nämlich die Aufführung,
rückt, desto deutlicher tritt das hervor. Und eines kann man gewiss
sein: Vieles, ja vielleicht das meiste, was man in der Schule gelernt
und erlebt hat, wird man bald nach dem Abgang von der Schule vergessen
haben – und das ist wohl auch gut so. An eine gelungene Aufführung,
und was man auf dem Weg dorthin an Höhen und Tiefen durchlebt und
durchlitten hat, wird man sich oft nach Jahrzehnten noch gerne
erinnern.