Am ungebrochensten entfaltet sich die Lebenskraft im
Pflanzenreich. Mit wucherndem, blühenden Leben breitet sich die Pflanze
in den sonnendurchhellten Luftraum aus. Im wahrsten Sinne des Wortes lebt
die Pflanze von Licht, Luft und Wasser. Die Sonnenkraft, die sie durch
Photosynthese aufnimmt, ist ihre unmittelbare Lebensquelle. Blatt türmt
sich auf Blatt, um endlich in der Blüte zu kulminieren. Bei der Frucht
und Samenbildung allerdings beginnt sich die überschäumende
Lebenskraft zurückzuziehen. In den Früchten beginnen Atmungs-
und Gärungsvorgänge - und das sind bereits Abbauprozesse.
Im tierischen Leib werden gerade diese Zerstörungsprozesse
immer bedeutender, je höher entwickelt das Tier ist. Tiere können
sich nicht mehr durch Photosynthese ernähren, sie schöpfen ihre
Lebensenergie aus der Atmung. Sie "verbrennen" nicht nur die aufgenommene
Nahrung, sondern sie "veraschen" allmählichen ihren ganzen Leib.
Die Asche, die sie so bilden, gibt ihnen Festigkeit und Gewicht; das Skelett,
die Knochen, sind im Grunde nichts anderes als Kalkasche. Beim Menschen
geht dieser Prozeß soweit, daß ihm das Knochensystem die aufrechte
Haltung ermöglicht. Das tierische Leben kann sich nicht mehr ungehemmt
in den atmosphärischen Umkreis hinein entfalten, sondern gestaltet
sich in dem mehr oder weniger in sich geschlossenen Hohlraum der Leibeshöhle,
die eine feste, unveränderliche Größe beibehält,
wenn das Tier einmal ausgewachsen ist. Das Leben muß sich zurückziehen,
wenn der Organismus nicht durch krebsartige Wucherungen zerstört
werden soll.
Das Tier ist viel weniger lebendig als die Pflanze, aber
es gewinnt dafür etwas völlig neues hinzu. In dem Maße,
in dem es sich vor dem äußeren Sonnenlicht verschließt,
strahlt ihm ein inneres, seelisches Licht auf: das Licht des Bewußtseins.
Nicht aus dem sprossenden Leben entspringt das Bewußtsein, sondern
es resultiert aus Abbauprozessen. Das Nervensystem ist der leibliche Träger
des Bewußtseins, und das Nervensystem ist der toteste Teil im tierischen
und menschlichen Organismus. Nahezu anorganische Salzprozesse spielen
sich hier ab. Nervenzellen können sich ab einem gewissen Lebensalter
nicht mehr regenerieren. Tausende Nervenzellen sterben täglich alleine
in unserem Gehirn ab und gehen unwiederbringlich verloren; wäre das
nicht so, könnten wir keine bewußten Wesen sein. Die Pflanzen
sind lebendige Wesen; daß die Tiere dazu auch noch beseelte Wesen
sein können, verdanken sie dem Tod, den sie in sich tragen, und dieses
Beseelung äußert sich auf mannigfaltige Weise. Sie gibt den
Tieren ihr Triebleben, ihren Bewegungstrieb, der die Gliedmaßenbildung
anregt, sie läßt sie Lust und Schmerz empfinden, die die höheren
Tiere in noch recht unartikulierten Tönen in die Welt hinausschreien.
Niedere Tiere vermögen das nicht; wenn etwa Grillen im Sommer zirpen,
so ist das noch ein ganz äußerlich mechanisch erzeugtes Geräusch,
in dem sich die Seele noch nicht aussprechen kann.
All das steigert sich im Menschenwesen zu Fähigkeiten,
die das Tier niemals erreichen kann. Drei Dinge sind es vor allem, die
den Menschen von jedem Tier grundlegend unterscheiden:
Aufrichtekraft
Sprache
Denken
Wie bei keinem Tier ist die ganze menschliche Gestalt
auf die aufrechte Haltung hin orientiert, die ihm durch den Wunderbau
seines Skelettes ermöglicht wird. Der Ascheprozeß ist hier
soweit gediehen, daß das Knochengerüst zum eigentlichen Träger
der aufrechten, individuellen menschlichen Gestalt werden kann.
Tiere, so sehr auch ihre einzelnen Exemplare variieren mögen, sind
immer nur arttypisch geprägt, kein individueller Geist kann sich
in ihnen verkörpern. Daß das beim Menschen möglich ist,
verdanken wir dem Tod, der so stark in uns lebt, und wenn der Knochenmann
zurecht als Symbol des Todes empfunden wird, so ist er zugleich ein sprechendes
Bild des individuellen menschlichen Geistes.
Wenn es eben geradezu paradox so formuliert wurde, daß
der Tod so stark in uns lebt, so hat das seine gute Begründung.
Denn dieser Tod beschert uns nicht nur Vernichtung, er gibt uns auch ein
neues Leben. Da kann einem zuallererst die zu vergleichbaren Tieren übermäßig
lange Lebensdauer des Menschen auffallen. Nur ganz wenige Tiere erreichen
ein so hohes Lebensalter, wie es dem Menschen natürlicherweise zugemessen
ist, und dieses lange Leben ist uns, so eigenartig das auch klingen mag,
gerade durch das Übermaß des Todes gegeben, den wir in uns
tragen. Die Lebensflamme brennt im Menschen gleichsam so schwach, daß
es lange, lange dauert, bis die uns zugemessene Lebenskraft völlig
aufgezehrt ist. Und das, obwohl ein Gutteil der Lebenskraft im Menschen
gar nicht für die körperliche Regeneration aufgewendet wird,
sondern sich nach innen zu dem seelischen Leben zuwendet. Das ist
wohl das wichtigste Phänomen, daß dem schleichenden physischen
Tod, der das Menschenwesen von Jahr zu Jahr mehr durchtränkt, eine
geistige Auferstehung beigegeben ist. In Lust und Leid lebt das
Tier, webt im intensivsten Erleben der mannigfaltigsten Sinnesqualitäten;
Geruch, Geschmack, Gehör sind hier unendlich gesteigert. Vieles von
diesem seelischen Erleben wohnt im menschlichen Bewußtsein
viel schwächer - aber dafür spricht inmitten der menschlichen
Seele unmittelbar der individuelle menschliche Geist. Jener Geist, der,
so individuell er auch werden mag, zugleich ein Funke, ein einzigartiges,
individuelles Abbild des großen kosmischen Geistes ist, der schaffend
die ganze Natur hervorgebracht hat und lebendig durchwirkt.
Wie im Menschenwesen, so hat auch in der ganzen Erdennatur
der Tod, der Verfall immer mehr Einzug gehalten. In alten geologischen
Zeiten war die Erde viel lebendiger als heute. Jetzt leben wir auf einem
ganz allmählich sterbenden Planeten. Auffällig parallel geht
hier die irdische und die menschliche Entwicklung. Tatsächlich konnte
der Mensch als physisches Wesen auf Erden erst erscheinen, als diese sich
bereits leise ihrem Untergang zuzuwenden begann. Irdische und menschliche
Entwicklung hängen sehr eng miteinander zusammen. Nur weil wir in
eine sterbende Welt hineingeboren wurden, konnten wir selbstbewußte
Wesen werden. Die Tiere sind frühzeitig, um nicht zu sagen voreilig
auf die Erde herabgestiegen, und darum haben sie zwar Bewußtsein,
aber kein Selbstbewußtsein. Aber nicht nur verdanken wir unser Selbstbewußtsein
einer sterbenden Welt, sondern, indem wir unser Ichbewußtsein entfalten,
saugen wir auch vermehrt die Lebenskräfte der Erdenwelt aus und durchtränken
sie mit den Todeskräften, die in uns wohnen. Wir atmen gleichsam
das Naturleben ein und atmen Tod und Zerstörung aus. Unsere moderne
technisierte Welt gibt uns dazu das banalste Beispiel. Aber das alles
geht noch viel, viel weiter. Alles was wir innerlich denken, fühlen
und wollen, was wir an Trieben und Lüsten in uns erregen, kann die
Todkraft in der Natur vermehren. Was wir in unserem Seelenleben
verarbeiten, drängt sich früher oder später in das äußere
Naturleben hinein. Irgendwann einmal wird die ganze Erde dadurch
zugrunde gehen. Das mag erschreckend klingen, ist aber unvermeidlich und
durchaus im Sinne einer rechten Entwicklung - der Tod ist eben einmal
der Kunstgriff, viel, viel neues Leben in einer künftigen neuen Welt,
einer neuen Erde zu haben. Alles kommt nur darauf an, daß die Erde
nicht zu schnell dahinstirbt, daß das richtige Gleichgewicht zwischen
Leben und Tod gefunden wird und das seelisch genügend neue Kräfte
für die künftige Welt aufgebaut werden. Und das liegt in unserer
Hand. Wir rauben der Natur nicht nur ihre Lebenskraft, wir verstreuen
nicht nur den Tod in der Welt, wir können auch neue Lebenskräfte
in uns rege machen. Wir sind geistige, also schöpferische Wesen,
die nicht nur nehmen können, sondern die auch die kosmische Lebenskraft
immer mehr bereichern können. Mehr Leben als die Natur uns geben
konnte, werden wir ihr einmal zurückgeben können. Wenn wir reines
schöpferisches Denken in uns erregen, wenn wir uns künstlerisch
gestaltend betätigen, wenn wir ein reiches Seelenleben entfalten,
dann sind das Kräfte, die wir an den Kosmos hingeben können.
Durch geistige Entwicklung tragen wir zur Gesundung der Erde bei. Dann
wird die Erde nicht frühzeitig absterben und dann werden wir eine
neue Welt, das "Neue Jerusalem" von dem der Evangelist Johannes in der
Apokalypse spricht, vorbereiten. Denken und Sprache sind, wie erwähnt,
Fähigkeiten, durch die der Mensch über die Tierwelt hinausragt.
In ihnen lebt nicht nur Seelisches, sonder wirkt auch Geistiges. Das Menschenwort
ist ein Teil des großen göttlichen Wortes, des Logos, von dem
Johannes in seinem Evangelium spricht. Wollen wir übend versuchen,
die lebendigen Bildekräfte der Sprache, die darin wirken, in uns
rege zu machen und mit erstarktem Ichbewußtsein zu ergreifen. Wir
dürfen uns dabei aber nicht an den abstrakten begrifflichen Gehalt
der Worte klammern, sondern müssen darauf lauschen, was uns jeder
einzelne Laut von seiner tiefen geistigen Kraft zuzuraunen vermag. Durch
jeden Vokal spricht eine ganz bestimmte seelische Stimmung, die in vielen,
unendlich vielen Nuancen sich offenbaren kann. Mit jedem "A" öffnet
sich die Seele geradezu naiv staunend und hingebend der Welt. Im "E" sperrt
sie sich gegen die Welt und besinnt sich, sich selbst ergreifend, auf
sich. Im strahlenden "I" erkraftet sie sich selbstbewußt und bestimmend,
wird inneres Licht, das zurück zum äußeren Licht strebt.
Im Wort "Finsternis" liegt durch das hell "I" schon der Keim des Lichts,
welcher der bloßen "Dunkelheit" versagt bleiben muß. Das deutsche
Wort "Ich" kann gerade zu empfunden werden als Bild des aufgerichteten
Mensch, der sich im "I" streckt und vom lebendigen Hauch im "CH" durchströmt
wird. Im warmen "O" verbindet sich die Seele sympathisch mit der Umwelt,
im kühlen "U" zieht sie sich in die eigene Enge zurück und betrachtet
die Welt mit nüchterner Distanz. Das "AU" durchdringt geradezu schmerzlich
den ganzen Raum, das weiche "EI" erglänzt milde an der Oberfläche.
Jeder Konsonant wiederum drückt ganz bestimmte lebendige Formbildekräfte
deutlich aus - wenn man nur einmal aufmerksam darauf wird. Im "B" blüht
oder bläht sich etwas mächtig auf, eine "Blase", ein "Ball",
eine "Blüte" oder ein "Busch entstehen und erfüllen den Raum.
Ein geradezu klingendes "Mmmm" nimmt genießerisch die Welt in sich
auf. Es ist als wollten wir die Welt mit Lippen und Gaumen verkosten und
uns einverleiben. Im Wort "Baum" beispielsweise vereinen sich "B" "AU"
und "Mmmm" zu einer vielsagenden sprechenden Gebärde.
Vieles ließe sich so noch sagen, doch wollen wir
uns jetzt anhand des Prologs des Johannesevangeliums ein wenig in die
lebendig bildenden Kräfte der Sprache einfühlen: