Forum für Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Goetheanistische Naturwissenschaft | ||||
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Kunst als Weg der Erziehung des MenschengeschlechtsWolfgang Peter 2002Zwei Dinge prägen die moderne abendländische Zivilisation entscheidend: Erstens ein hochentwickelter abstrakter Intellekt, der sich in hohem Maße als geeignetes Instrument erwiesen hat, die äußere materielle Welt zu verstehen, zu beherrschen und mit beachtlichem technischen Können umzugestalten; zweitens ein ungeheures Potential an stark egoistisch orientierten, aber meist sehr geschickt getarnten Emotionen, Begierden und Trieben, die eine wesentliche Triebfeder für das Tun und Lassen des modernen Menschen sind. Man wird diese Kräfte nicht nur negativ beurteilen müssen. Sie gehören notwendig zum menschlichen Dasein, indem sie den Menschen fest an die äußere sinnlich-materielle Welt binden. Der Nahrungstrieb etwa, um ein ganz banales Beispiel zu nennen, entspringt der ganz egoistischen Begierde, den eigenen physischen Leib zu erhalten. Der Mensch teilt diesen Trieb mit den Tieren, nur weiß er ihn auf unglaublich raffiniertere Art zu befriedigen. Eine unglaubliche technische Intelligenz wird dafür aufgewendet, diesem Trieb zu dienen. Das mag heute schon weit über das notwendige Maß hinausschießen, aber ohne einen gut entwickelten Nahrungstrieb könnten wir nicht lange als körperlicher Mensch überleben. Mensch sein heißt eben unter anderem auch, fest in der äußeren Welt zu stehen. Bloß in altruistischen Idealen zu schwelgen, würde der realen Situation des Menschen nicht gerecht, und es ist gerade eine der wesentlichen Aufgaben unserer gegenwärtigen Kulturepoche, uns ganz und gar in die äußere Welt einzuwohnen, viel mehr noch als in früheren Kulturepochen. Namentlich seit Beginn der Neuzeit sind die wesentlichsten Fortschritte in der Technik und im Wirtschaftsleben unter dem Banner des sacre egoismo errungen worden. Das, was den Menschen aber eigentlich erst zum Menschen macht, sein schöpferisches geistiges Ich, wird durch diese Bestrebungen noch gar nicht erfasst. Ich und Ego sind ganz verschiedene Dinge, die allerdings sehr häufig miteinander verwechselt werden. Das Ego ist nur die letztlich unverzichtbare tierische Grundlage, die dem Ich sein Dasein in der irdischen Welt ermöglicht, aber keinesfalls dieses selbst. Und nur im Ich und durch das Ich kann der Mensch wahrhaft Mensch werden. Sollte die einseitige Entwicklung des Ego weiter voranschreiten, würde der Mensch immer mehr zum Sklaven seiner tierischen Grundlage werden, anstatt dass er diese erzieht und veredelt und dadurch vermenschlicht. Der Mensch würde dann das in ihm veranlagte Ziel der Menschwerdung nicht erreichen, sondern nur die tierische Entwicklung fortsetzen, und zwar nach der negativen Seite hin, und so allmählich zu einer Art „Intelligenzbestie“ entarten. Dass unsere moderne Zivilisation einen starken Zug in diese Richtung aufweist, hat Erich Kästner sehr humorvoll und treffend ausgesprochen in seinem Gedicht
Die Einrichtungen unserer modernen Zivilisation sind insofern notwendig und berechtigt, als sie das äußere leibliche Wohlergehen des Menschen fördern. Die Kultur, zur der ganz wesentlich die Kunst zählt, hat ganz andere Aufgaben, und Kultur und Zivilisation ergänzen einander, um dem Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Die Kunst dient keinem äußeren Zweck, darum spricht auch der Philosoph Immanuel Kant vom interesselosen Wohlgefallen, das wir an der Kunst haben sollten: Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse[1] Wo wir Kunst rein als Kunst erfassen wollen, kann dies jedenfalls nicht aus äußeren politischen oder wirtschaftlichen Interessen geschehen, sondern allein aus einem seelisch-geistigen Bedürfnis. Dem werden all jene heute energisch widersprechen müssen, die gerade das politische und soziale Engagement des Künstlers für vordringlich ansehen, wie es etwa der französische Intellektuelle und Literat Jean-Paul Sartre ganz deutlich ausgesprochen hat. Sehr scharf unterschied Sartre zwischen Dichtung und Literatur und trat entschieden für eine "Littératur engagée" ein: Dichter sind Leute, die sich weigern, die Sprache zu benutzen... Tatsächlich hat der Dichter sich entschlossen von der Sprache als Instrument zurückgezogen; er hat ein für allemal die dichterische Haltung gewählt, die die Wörter als Dinge und nicht als Zeichen betrachtet. Denn die Doppeldeutigkeit des Zeichens schließt ein, dass man es nach Belieben wie eine Glasscheibe durchdringen und dass man durch das Zeichen hindurch das bezeichnete Ding verfolgen kann, oder dass man den Blick auf seine Realität richten und es als Objekt betrachten kann. Der sprechende Mensch steht jenseits der Wörter, bei dem Objekt; der Dichter steht diesseits der Wörter. Für ersteren sind die Wörter Diener, für letzteren bleiben sie in einem Zustand der Wildheit. Für jenen handelt es sich um zweckdienliche konventionelle Formen, um Werkzeuge, die sich allmählich abnutzen und die man wegwirft, wenn sie einem nicht mehr dienen können; beim zweiten handelt es sich um naturgegebene Dinge, die ganz natürlich auf der Erde wachsen wie das Gras und die Bäume.[2] Und weiter: Schreiben heißt: einen Appell an den Leser richten, er möge der Enthüllung, die ich durch das Mittel der Sprache vorgenommen habe, zu objektiver Existenz verhelfen.[3] Aber hier liegt einfach ein Missverständnis vor. Niemand kann den Künstler daran hindern, dass er auch äußere soziale Anliegen vertritt. Als Mensch, der auf Erden lebt, müssen wir gleichermaßen innere und äußere Interessen haben, und viele große Künstler haben sich sehr energisch sozial engagiert, und äußere lebenspraktische und innere künstlerische Impulse lassen sich sehr wohl gleichzeitig an ein und demselben Gegenstand verwirklichen. Nur darf man dann die beiden ganz unterschiedlichen Seiten nicht miteinander verwechseln. Für die Beurteilung des rein künstlerischen Wertes eines Werkes ist es völlig irrelevant, welchen äußeren Zwecken es daneben auch dienen kann. Vielfach gelungene Beispiele dafür, wie sich der äußere praktische Wert mit der schönen künstlerischen Form vereinen lässt, findet man heute oft im modernen Industriedesign. Ein Thermoskanne etwa dient primär dem äußeren Zweck, heiße Getränke möglichst lange warm zu halten; sie kann aber zugleich ästhetisch formvollendet gestaltet sein. Und noch im Mittelalter wäre es ganz undenkbar gewesen, dass die Produkte der Handwerkskunst neben ihrer Nützlichkeit nicht auch zugleich künstlerisch ansprechend gewesen wären. Jedes Türschloss und jeder Schlüssel war künstlerisch geformt, und ebenso jeder Schuh und jedes Bekleidungsstück. Es kann also nie darum gehen, die Kunst nur abgesondert vom praktischen Leben zu kultivieren, sondern allein darum, dass der äußere Wert nicht das Geringste mit der künstlerischen Qualität zu tun hat. Für letztere gilt das Wort Goethes: „Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.“[4] Nicht das Was, der Gegenstand oder der Stoff eines Kunstwerkes ist entscheidend, sondern das Wie, die Art und Weise, wie der Stoff künstlerisch durchgestaltet ist. Alles kann derart Gegenstand der Kunst werden, das alltäglichste Ding und die alltäglichste Verrichtung. In den Worten Friedrich Schillers ausgedrückt: In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten. Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet.[5] Eine literarische Schrift mag aus ganzem ehrlichen Herzen feurig sozial engagiert und entsprechend begrüßenswert sein – rein künstlerisch betrachtet ist sie aber vielleicht zugleich ganz und gar diletantisch. Zu allen Zeiten hat man sogenannte Künstler von eigenen Gnaden hochgelobt, wenn man sie gut für die eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen einspannen konnte. Unsere Tage sind davon nicht ausgenommen. Anderseits kann man nicht daran zweifeln, dass Zeiten der politischen Machtfülle und des wirtschaftlichen Wohlstandes, wenn er auch jeweils nur eine kleine privilegierte Schar von Menschen erfasste, meist auch eine Blüte des Kulturlebens mit sich gebracht hat, weil den Künstlern in reichlichem Maße die äußeren Mittel für ihre Kunst verfügbar gemacht wurden. Inhaltlich ist die Kunst aber niemals aus diesen äußeren Motiven bereichert worden, sondern allein durch die geistige Schöpferkraft jener Künstler, die sich in ihrem Gestaltungswillen durch den äußeren Machtanspruch nicht beugen ließen. Die Fülle künstlerischen Lebens, das die Renaissance hervorgebracht hat, ist ein gutes Beispiel dafür. Was ist also die Kunst, rein für sich betrachtet, und was bedeutet sie für den Menschen auf seinem noch lange nicht vollendeten Weg zur wahrhaften Menschwerdung? Sie dient alleine den seelischen und geistigen Bedürfnissen des Menschen und soll die verborgenen geistigen Hintergründe des Daseins sichtbar, hörbar und fühlbar machen. Die äußere Welt dadurch zu erhöhen, dass sie zum sinnlich wahrnehmbaren Bild des Geistigen wird, ist die eigentliche Aufgabe der Kunst. Wo uns ein Sinnliches bereits wie ein Geistiges erscheint, dort ist wahre Kunst zuhause. Alle Kunst ist in diesem Sinne sinnlich sichtbar gewordene geistige Imagination, hörbar gewordene Inspiration und durch und durch durchlebte Intuition. Und je mehr die äußere Welt zum Bild des Geistigen wird, als desto schöner empfinden wir sie, wenn wir uns einen unverbildeten ästhetischen Geschmack bewahrt haben. Wir können dem gemäß auch von der Schönheit der Natur sprechen, denn auch in ihr bildet sich das Geistige, das unsere Welt schöpferisch hervorgebracht hat, in verschiedensten Graden ab. Wir erleben das erste zarte sprossende Grün des Frühlings als schön und erhebend, weil sich darin das vegetabile Leben, das während des Winters verborgen in den Wurzelstöcken und in den unscheinbaren Samenkörnern ruhte, nun mehr und mehr sinnlich zu offenbaren beginnt, und diese Erscheinung steigert sich in der voll entfalteten farbigen und duftenden Blüte zur reichsten Pracht. Was im Samenkorn verborgen schlief, ist hier zum vollendeten sinnlichen fassbaren Phänomen geworden. Jedem wahren Kunstwerk liegt eine innere Notwendigkeit zugrunde. Willkürliche Phantasterei bringt keine Kunst hervor. Wahr ist ein Kunstwerk nur dann, wenn es von einer eigenständigen inneren Lebendigkeit erfüllt ist, die sich durch den äußeren sinnlichen Schein offenbart. Der Künstler hat die Aufgabe, dieser zunächst nur innerlich seelisch erlebten Lebendigkeit zur äußeren Offenbarung zu verhelfen, er ist gleichsam Geburtshelfer für ein übersinnliches Wesen, dass sich im Sinnlichen manifestieren will: Auf eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise entsteht das wahre Kunstwerk «aus dem Künstler». Von ihm losgelöst bekommt es ein selbstständiges Leben, wird zur Persönlichkeit, zu einem selbstständigen, geistig atmenden Subjekt, welches auch ein materiell reales Leben führt, welches ein Wesen ist. Es ist also nicht eine gleichgültige und zufällig entstandene Erscheinung, die auch gleichgültig in dem geistigen Leben weilt, sondern, wie jedes Wesen besitzt es weiterschaffende, aktive Kräfte. Es lebt, wirkt und ist an der Schöpfung der besprochenen geistigen Atmosphäre tätig. Aus diesem innerlichen Standpunkte ist auch ausschließlich die Frage zu verantworten, ob das Werk gut oder schlecht ist.[6] Alle wirkliche Kunst ist Wesenhaft. Insofern der Mensch auch ein Naturwesen ist, können wir ihn als von den Göttern hervorgebrachtes Kunstwerk auffassen, gemäß den Worten aus der mosaischen Schöpfungsgeschichte: Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei ... (1 Mo 1,26)[7] Diese Schöpferkraft, welche die ganze Natur hervorgebracht hat, preist Goethe zu Beginn seines Faustdramas, und wenn es da heißt: „Die Sonne tönt, nach alter Weise ...“, so ist damit unmittelbar auf die nur übersinnlich erfassbare kosmische Sphärenharmonie hingewiesen, auf die geistig ordnende Kraft des Kosmos, die aber der Künstler in seiner künstlerischen Inspiration ahnend erleben kann. Die gestaltende Kraft des Künstlers ist gleichsam ein winziger Abglanz jener viel größeren Kraft, welche dir äußere Natur geschaffen hat.
Der Mensch ist ein sinnliches Abbild des Göttlichen – aber kein vollendetes. Wie alle äußere Natur, so wurde auch der Mensch aus dem Schoß der göttlichen Schöpferkraft entlassen und steht als ein halb vollendetes Kunstwerk inmitten der Natur. Dass er zum vollendeten Kunstwerk werde, dazu bedarf es der eigenen geistigen Schöpferkraft des Menschen. Durch diese unterscheidet er sich von allen anderen irdischen Geschöpfen. In nichts kann sich die Liebe und das Vertrauen der Gottheit stärker offenbaren, als darin, dass sie den Menschen in die Freiheit entlässt und die Vollendung des Schöpfungswerkes in seine Hände legt. Dadurch ist der Mensch nicht nur Geschöpf, sondern zugleich auch zum Schöpfer berufen. Darum ist es wahr, wenn Schiller sagt:
In der Kunst darf er seine Schöpferkraft immer wieder von neuem ertüchtigen, und indem er dies tut, arbeitet er zugleich schöpferisch an sich selbst und gestaltet sich zum allerbedeutendsten aller irdischen Kunstwerke um. Mehr und mehr wird sich der Mensch zum Bild seiner selbst, das heißt seines individuellen Geistes, gestalten. Darauf weist uns schon das erste Buch Moses hin: Und Adam war 130 Jahre alt und zeugte einen Sohn, ihm gleich und nach seinem Bilde, und nannte ihn Set; (1 Mo 5,3)[9] Seth ist nicht mehr das unmittelbare Abbild des Göttlichen, sondern des Adams, des ersten Menschen. Ein wichtiger Schritt hin zur Freiheit ist damit getan. Und noch in die Zeit vor die Zeugung und Geburt des Seth fällt bekanntermaßen die Geschichte von Kain und Abel. Von Kain, der im Schweiße seines Angesichts das Feld bestellt und damit gleichsam die Agrikultur, d.h. die Kultur überhaupt, begründet, wendet sich die Gottheit ab. Kain ist der von den Göttern verstoßene Sohn – aber gerade er und seine Nachkommen gelten als die Begründer von Kunst und Wissenschaft, welche die Grundlage der menschlichen Kultur bilden. Um Mensch werden zu können, muss sich der Mensch gegen die Götter auflehnen. Jean-Paul Sartre lässt es seinen Götz in dem Drama Le Diable et le bon Dieu so aussprechen: Ich flehte, ich bettelte um ein Zeichen, ich sandte dem Himmel Botschaften: Keine Antwort. Der Himmel kennt nicht einmal meinen Namen. Ich habe mich jede Minute gefragt, was ich in Gottes Augen sein könnte. Jetzt weiß ich die Antwort: Nichts. Gott sieht mich nicht. Gott hört mich nicht, Gott kennt mich nicht. Siehst du diese Leere über unseren Köpfen? Das ist Gott. Siehst du diesen Spalt in der Tür? Das ist Gott. Siehst du das Loch in der Erde? Auch das ist Gott. Das Schweigen ist Gott. Die Abwesenheit ist Gott. Gott ist die Einsamkeit des Menschen. Nur ich war da: Ich habe allein über das Böse entschieden; allein habe ich das Gute gefunden. Ich habe gemogelt, ich habe Wunder getan, ich klage mich heute an, ich allein kann mich freisprechen; ich, der Mensch. Wenn Gott existiert, ist der Mensch nichts; wenn der Mensch existiert ...[10] Ähnlich ist es in der griechischen Mythologie der sich gegen den Göttervater Zeus auflehnende Prometheus, der den Menschen das Feuer bringt, mit dessen Hilfe sie die irdische Welt eigenständig umgestalten sollen. Dieses Feuer ist aber weniger das äußere Feuer, sondern die innere Feuerglut des individuellen schöpferischen Geistes, des menschlichen Ichs. Der sich gegen die Götter auflehnende Mensch begründet die Kultur, der Aufständische, der den Göttern Entgegengewendete - der Anthropos, wenn man es gemäß der griechischen Terminologie ausdrücken will. Die Natur ist schön, insofern sich in ihr die göttliche Schöpferkraft unmittelbar abbildet. Die Kunst, die der Mensch hervorbringt, ist schön, weil sich in ihr der schöpferische Geist des Menschen offenbart. Dieser ist aber wesengleicher Art wie der göttliche Geist. Er ist ein, allerdings noch winziger, Funke des göttlichen Geistes, der sich im einzelnen Menschen auf individuelle Weise verwirklicht. Durch diesen einzigartigen geistigen Funken jedes einzelnen Menschen vollzieht sich die Wende von der Natur hin zur Kultur. In alten Zeiten war die Kunst noch bis zu einem gewissen Grade unmittelbarer Ausdruck der göttlichen Welt selbst, und der eigenständige Beitrag des menschlichen Ichs war noch gering. Heute ist längst die Zeit angebrochen, wo die Kunst ganz auf das schöpferische Individuum setzen muss. Deutlich hat Goethe diese prometheische Gesinnung ausgesprochen:
Nur auf Erden, im dichtesten irdischen mineralischen Element, ist es dem Menschen möglich, sein Ich zu entwickeln. Nur auf der festen Erde kann er jenen festen Stand gewinnen, durch den er sich zum Anthropos macht. Nur auf dem festen Boden kann sich der Mensch aufrichten. Und diese körperliche Aufrichtung ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass der Mensch nach und nach auch seelisch und geistig eigenständig wird. Am festen Widerstand reift das Ich und wird sich seiner selbst bewusst. Darum wird in der Bibel[12] angedeutet, dass Eva aus der Rippe des Adams, also aus dem härtesten Stoff des menschlichen Leibes, geschaffen wurde, und darum auch wurde Adam selbst aus der roten Tonerde gebildet: Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. (1 Mo 2,7)[13] Neben dem Erdelement wird hier auch auf den Odem des Lebens, auf das Luftelement hingewiesen. Die Atmung ist das primäre physische Werkzeug des Seelischen, vielmehr als das Gehirn, das uns die abstrakte Logik vermittelt. Darum suchte sich der Yoga-Schüler dem Geistigen dadurch zu nähern, dass er lernte, seine Atmungstätigkeit systematisch zu regulieren. Namentlich unser Gefühlsleben ist ganz eng mit unserer Atmungstätigkeit verwoben. Jede kleinste Gefühlsregung wirkt auf den Atemrhythmus zurück, wie sich auch umgekehrt jede winzige Änderung der Atemtätigkeit in entsprechenden Gefühlen widerspiegelt. Insofern der Mensch ein atmendes Wesen ist, beschränkt er seine Lebenstätigkeit nicht auf die engen Grenzen seines physischen Leibes, sondern tauscht beständig die Atemluft mit seiner Umgebung aus. Im Atem verbinden sich die Menschen und teilen sich die allen gemeinsame Luft, in der wir leben. Auf den Schwingen dieser Atemluft zieht das Geistige in uns ein, so hat man in alten Zeiten empfunden. Mit dem ersten Atemzug beginnt unser irdisches Leben, und mit dem letzten Atem hauchen wir unsere Seele wieder aus und verlassen im Tode die irdische Sphäre, und Erde und Luft gemeinsam nähren während unseres irdischen Daseins die geistige Flamme unseres Ichs. Durch die Atmung werden Inneres und Äußeres, Physisches und Geistiges miteinander versöhnt und in harmonischen Einklang gebracht. In dieser mehr oder weniger harmonischen Konsonanz von Himmel und Erde lebt die menschliche Seele, und Mensch zu werden bedeutet in gewissem Sinn auch, atmen zu lernen. Tatsächlich ist der Atemrhythmus des neugeborenen Kindes noch ganz unregelmäßig und chaotisch und mündet erst nach und nach in eine dem Individuum angepasste geordnete Tätigkeit. Aus dem Chaos entsteht die schöne wohlgeordnete Welt; das gilt für die Schöpfung im Großen, wie auch für jedes einzelne menschliche Leben im kleinen. Indem wir allmählich zu unserem eigenen geregelten Atemrhythmus finden, vollziehen wir gleichsam im winzigsten Maßstab den ganzen Schöpfungsprozess nach.
Das ästhetische Empfinden hängt weniger mit dem nüchternen Intellekt als vielmehr mit dem warmen gefühlsmäßigen Mitempfinden zusammen, durch das wir uns innig mit dem Kunstwerk verbinden. Dass wir uns in Sprache und Gesang als tätiger Künstler dabei direkt auf den Atem stützen, ist unmittelbar klar, und wenn wir unsere Sprache und unseren Gesang intensiv genug erleben und auf eindrucksvolle Weise unserem körperlichen Werkzeug entringen können, wird auch das scheinbar bloß passiv zuhörende Publikum unsere Kunst ganz leise bis in die Tiefen ihres Atems miterleben können. Und gerade dann wird jenes geheimnisvolle Band zwischen Künstlern und Publikum entstehen, durch das der geistige Gehalt des Kunstwerkes gemeinsam durchlebt und nicht bloß äußerlich betrachtet wird. Jede Dichtung, selbst wenn man sie nur leise für sich liest, sollte mehr eratmet als intellektuell verstanden werden, nur dann wird man sich ihrem eigentlichen künstlerischen Gehalt nähern. Dieses Erleben, das bezüglich Sprache und Gesang relativ offensichtlich ist, kann sich aber auch der bildenden Kunst gegenüber entwickeln. Wenn wir empfinden, dass ein bedeutendes Kunstwerk unsere Brust erhebt, so ist das weit mehr als eine bloße Metapher, sondern eine reale Erfahrung, die man machen kann, liegt dem zugrunde. Wem angesichts eines wahrhaftigen Kunstwerkes nicht wirklich das Herz höher schlagen kann, und zwar physiologisch bis in den Pulsschlag hinein, dem wird das wahre Wesen der Kunst nicht offenbar werden. Und wenn man alle diese reichen Erfahrungen, die man im Eratmen der Kunst gefühlsmäßig machen kann, nachher zum Gegenstand der energischen gedanklichen Besinnung macht, wird man das Kunstwerk letztlich auch verstehen können, ohne abstrakt darüber zu spekulieren, wie das heute aus mangelnder künstlerischer Erlebnisfähigkeit so gerne geschieht. Der Künstler schafft das Individuum um, er verleiht ihm den Charakter der Allgemeinheit; er macht es aus einem bloß Zufälligen zu einem Notwendigen, aus einem Irdischen zu einem Göttlichen. Nicht der Idee sinnliche Gestalt zu geben, ist die Aufgabe des Künstlers, nein, sondern das Wirkliche im idealen Lichte erscheinen zu lassen. Das Was ist der Wirklichkeit entnommen, darauf aber kommt es nicht an, das Wie ist Eigentum der gestaltenden Kraft des Genius, und darauf kommt es an.[15] Der individuelle menschliche Geist, das Ich des Menschen, verwirklicht sich durch die schöpferischen Taten, die es im irdischen Dasein vollbringt. Erst auf Erden, in der schöpferisch tätigen Auseinandersetzung mit der Erdenwelt, wird das menschliche Ich Wirklichkeit. In einem rein geistigen Dasein kann sich der individuelle freie Menschengeist nicht entwickeln, er bliebe stets ein unselbstständiges Glied der geistigen Welt. Das gilt ganz allgemein für das menschliche Dasein, das künstlerische Schaffen ist nur ein spezieller Fall davon, allerdings ein sehr wesentlicher. Die künstlerische Inspiration, durch die in der Seele die grundlegende Idee des Kunstwerkes in der künstlerischen Phantasie aufleuchtet, ist ein Gnadengeschenk der geistigen Welt, noch nicht die eigene geistige Leistung des schaffenden Künstlers. Ohne diese Begnadung ist wahre Kunst nicht möglich. Aber erst dadurch, dass der Künstler diesen geistigen Impuls ergreift und in der Gestaltung des Werkes verwirklicht, wird er zu seinem eigenen geistigen Eigentum. Daher muss den Künstler stets zweierlei auszeichnen: Erstens eine hochentwickelte geistige Erlebnisfähigkeit, zweitens eine gut geschulte praktisch handwerkliche Fähigkeit, durch die die rein geistig erlebte Inspiration der irdischen Welt einverleibt wird. So wie sich der Mensch selbst nur dadurch individualisiert, dass sich sein Ich im irdischen Leib verkörpert, so individualisiert sich die göttliche Schöpferkraft nur dadurch, dass sie durch das menschliche Ich, und mithilfe des menschlichen Leibes, zur sinnlichen irdischen Erscheinung gebracht wird. Was uns also im Kunstwerk erscheint, ist eine durch den Künstler individualisierte göttlich-geistige Wirklichkeit. Je weiter die Entwicklung der Menschheit voranschreitet, desto deutlicher tritt diese Individualisierung in der Kunst hervor. Die Kunstgeschichte zeigt dies sehr deutlich, und sie wird damit selbst zu einem sprechenden Bild der geistigen Entwicklung der Menschheit. In alten Zeiten war die Kunst noch sehr wenig individuell geprägt und beinahe noch unmittelbares Bild des Göttlichen. Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto deutlicher erscheint in der Kunst nicht mehr ein unmittelbares, sondern ein durch die Individualität des Künstlers vermitteltes Bild des Göttlichen, und jedes Kunstwerk zeigt dadurch die unverkennbaren Spuren seines Wesens. Jedes Kunstwerk trägt so die einzigartige und unverwechselbare Signatur des Künstlers. Dann ist ein Funke des Göttlichen menschlich geworden – und ein winziger Teil des Menschen wird zugleich göttlich. Den Gott in menschlicher Gestalt erscheinen zu lasen und zugleich den Menschen im idealen Lichte zu zeigen, das beseelte die griechische Kunst. Und um das Gesagte gemäß der Bildsprache der griechischen Mythologie zu verdeutlichen: Der Blitz des Zeus, das kosmisch-geistige Feuer, ist nicht das menschliche Ich, aber wenn der Blitz in die Erdenwelt einschlägt und das irdische Holz entflammt und der Mensch beginnt, dieses Feuer als sein Herdfeuer zu hüten, dann reift das menschliche Ich heran. Wie ein Blitzschlag erleuchtet der geistige Einschlag des göttlichen Geistes unsere Erdenwelt und mit Donnergrollen verkündigt sich die Inspiration, mit welcher der Mensch begnadet wird. In Begeisterung entflammt das menschliche Ich, es ist selbst Flamme und Hüter des Feuers zugleich. Das Feuer kann aber auch außer Kontrolle geraten und in ungezähmter Begierdenglut die Erde verwüsten, und so kann der Mensch zum Schöpfer oder zum Zerstörer werden – es liegt in seiner Hand. Künstler, d.h. Schöpfer, kann nur werden, wer sein Herdfeuer zu hüten versteht. Beide Kräfte, das Erschaffen und das Zerstören, sind notwendige Bestandteile des menschlichen Lebens. Der irdische Stoff wird durch den Künstler zum sinnlichen Bild des Geistigen erhöht, das ist die eine Seite; er wird aber auch verbrannt, zerstört, um das Feuer des Ichs zu nähren, und auch auf diese andere Seite kann nicht verzichtet werden. In diesem wohlgehüteten und wohlgenährten Feuer schmiedet der Mensch die Werke seiner Kunst, und allen voran das größte aller irdischen Kunstwerke, sich selbst, als individuellen einzigartigen und unverwechselbaren Menschen. Die äußere Natur, insofern sie göttliche Schöpfung ist, wird unmittelbar durch den göttlichen Blitz selbst umgestaltet. Den Stoff, auch für sein eigenes Wesen, entnimmt der Künstler dieser göttlichen Natur, aber er verflüssigt das irdische Erz über dem Herdfeuer seines eigenen Ichs, schmilzt es um und gießt es in die menschengemäße Form, die ein äußeres sinnliches Bild des rein geistigen Ichs ist. Seit der griechischen Antike haben sich die Bedingungen des Menschseins, und damit auch für die Kunst, entschieden verändert. Das Herdfeuer des menschlichen Ichs ist mittlerweile zum gewaltigen Feuersturm geworden, zu einer mächtigen Kraft, das irdische Dasein umzuschmelzen, aber auch zu einer alles verzehrenden sinnlichen Begierdenglut. Zugleich ist der irdische Stoff, aus dem sich der Mensch gestalten muss, härter, spröder und schwerer entflammbar geworden. Dadurch trat der durch die künstlerische Form nur wenig bezwungene äußere Stoff immer stärker in den Vordergrund. Die Kunst stieg immer weiter bis zum bloßen Naturalismus herab und erstarrte in der äußeren Form, die eigentlich nicht mehr das Geistige, sondern nur mehr das Äußere selbst möglichst unverändert abbildet. Das 19. Jahrhundert hat den Naturalismus und Realismus zur Blüte gebracht. Die Kunst stößt damit schon hart an die Grenze des Unkünstlerischen, aber trotzdem ist damit zugleich eine ganz wesentliche Aufgabe bezeichnet. Kunst soll Unsichtbares sichtbar, Unerhörtes hörbar machen. Unsichtbar und unhörbar ist aber nicht nur die übersinnliche Welt des Geistes, unsichtbar und unhörbar sind in Wahrheit auch weite Teile der sinnlichen Welt, die direkt vor unseren Sinnen liegt. Wir könnten sie sehen und hören, weil wir die entsprechenden Sinnesorgane haben, aber wir erleben sie dennoch nicht bewusst, weil es uns an der nötigen sinnlichen Aufmerksamkeit fehlt. Unendliches liegt in der sinnlichen Welt verborgen und will ans Licht des Bewusstseins gehoben werden. Das die Menschen zu lehren, ist auch eine Aufgabe der Kunst. Erst durch sie werden wir sehend und hörend für die äußere Natur. Schon Goethe war sich bewusst, wie sich die künstlerisch geschulte Wahrnehmungsfähigkeit mit der Naturbetrachtung verbinden muss. Daraus ist etwa seine Farbenlehre und seine Metamorphosenlehre entstanden, in der sich Kunst und Wissenschaft miteinander verbinden. Sehr deutlich hat sich darüber auch Adalbert Stifter ausgesprochen: Es ist einmal gegen mich bemerkt worden, daß ich nur das Kleine bilde, und daß meine Menschen stets gewöhnliche Menschen seien. Wenn das wahr ist, bin ich heute in der Lage, den Lesern ein noch Kleineres und Unbedeutenderes anzubieten, nämlich allerlei Spielereien für junge Herzen. Es soll sogar in denselben nicht einmal Tugend und Sitte gepredigt werden, wie es gebräuchlich ist, sondern sie sollen nur durch das wirken, was sie sind. Wenn etwas Edles und Gutes in mir ist, so wird es von selber in meinen Schriften liegen, wenn aber dasselbe nicht in meinem Gemüte ist, so werde ich mich vergeblich bemühen, Hohes und Schönes darzustellen, es wird doch immer das Niedrige und Unedle durchscheinen. Großes oder Kleines zu bilden, hatte ich bei meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von ganz anderen Gesetzen geleitet. Die Kunst ist mir ein so Hohes und Erhabenes, sie ist mir, wie ich schon einmal an einem anderen Orte gesagt habe, nach der Religion das Höchste auf Erden, so daß ich meine Schriften nie für Dichtungen gehalten habe, noch mich je vermessen werde, sie für Dichtungen zu halten. Dichter gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester, sie sind die Wohltäter des menschlichen Geschlechtes; falsche Propheten aber gibt es sehr viele. Allein wenn auch nicht jede gesprochenen Worte Dichtung sein können, so könnten sie doch etwas anderes sein, dem nicht alle Berechtigung des Daseins abgeht. Gleichgestimmten Freunden eine vergnügte Stunde zu machen, ihnen allen bekannten wie unbekannten einen Gruß zu schicken, und ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen, das war die Absicht bei meinen Schriften und wird auch die Absicht bleiben. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich mit Gewißheit wüßte, daß ich nur diese Absicht erreicht hätte. Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der armen Frau emporschwellen und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem feuerspeienden Berge emportreibt und auf den Flächen der Berge hinabgleiten läßt. Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen und reißen den Blick des Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht und nur in ihm allein Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist.[16] Dennoch ist mit dem Naturalismus ein Endpunkt der künstlerischen Entwicklung bezeichnet, von dem an nur mehr der Zerfall voranschreiten kann. An diesem Punkt angelangt, musste man sich daher notwendig mit dem Hässlichen und Bösen auseinandersetzen, mit der aufs höchste gesteigerten Disharmonie, und das ist ein wesentlicher Aspekt der Kunst des 20. Jahrhunderts. Rudolf Steiner hat darauf sehr deutlich hingewiesen: Sehen Sie, der Mensch ist unter dem Einflusse desselben Irrwahns, der den göttlichen Mächten gewisse luziferische Eigenschaften beigelegt hat, heute geneigt, einseitig in der Darstellung des Schönen zum Beispiel ein Ideal zu sehen. Gewiß, man kann das Schöne als solches darstellen. Aber man muß sich bewußt sein: Würde man sich nur an das Schöne hingeben als Mensch, dann würde man in sich kultivieren diejenigen Kräfte, die in das luziferische Fahrwasser hineinführen. Denn in der wirklichen Welt ist ebensowenig wie die einseitige Entwickelung- zu der die rückläufige gehört, zu der Evolution die Devolution - einseitig vorhanden das bloße Schöne. Das bloße Schöne, verwendet von Luzifer, um die Menschen zu fesseln, zu blenden, würde gerade die Menschheit frei machen von der Erdenentwickelung und sie nicht mit der Erdenentwickelung zusammenhalten. In der Wirklichkeit haben wir, so wie mit einem Ineinanderspiel von Evolution und Devolution, es zu tun mit einem Ineinanderspielen, und zwar einem harten Kampfe der Schönheit gegen die Häßlichkeit. Und wollen wir Kunst wirklich fassen, so dürfen wir niemals vergessen, daß das letzte Künstlerische in der Welt das Ineinanderspielen, das Im-Kampfe-Zeigen des Schönen mit dem Häßlichen sein muß. Denn allein dadurch, daß wir hinblicken auf den Gleichgewichtszustand zwischen dem Schönen und dem Häßlichen, stehen wir in der Wirklichkeit darinnen, nicht einseitig in einer nicht zu uns gehörigen Wirklichkeit, die aber mit uns erstrebt wird in der luziferischen, in der ahrimanischen Wirklichkeit. Es ist sehr notwendig, daß solche Ideen, wie ich sie eben geäußert habe, in die menschliche Kulturentwickelung einziehen. In Griechenland - Sie wissen, mit welchem Enthusiasmus ich von dieser Stelle aus oftmals über die griechische Bildung gesprochen habe -, da konnte man sich einseitig der Schönheit widmen, denn da war noch nicht die Menschheit von der absteigenden Erdenentwickelung ergriffen, wenigstens nicht im Griechenvolke. Seit jener Zeit aber darf der Mensch den Luxus sich nicht mehr gönnen, etwa bloß das Schöne zu kultivieren. Das würde Flucht aus der Wirklichkeit sein. Er muß sich kühn und tapfer gegenüberstellen dem realen Kampfe zwischen Schönem und Häßlichem. Er muß die Dissonanzen im Kampfesspiel mit den Konsonanzen in der Welt empfinden können, mitfühlen, miterleben können.[17] In diesem Kampfesspiel stehen wir heute mitten drinnen. Künftig werden wir uns mit den Dissonanzen der irdischen Welt, mit dem Hässlichen und Bösen, noch viel intensiver auseinandersetzen müssen, um es zu bezwingen. Die geistige Kraft dazu ist eigentlich vorhanden, ohne dass das den meisten Menschen allerdings schon sehr bewusst geworden wäre. Tatsächlich ist die eigenständige geistige Schöpferkraft unseres menschlichen Ichs durch eine lange Reihe wiederholter Erdenleben mittlerweile zu einer beachtlichen Stärke angewachsen. Ein ungeheures Kräftepotential schlummert heute bei vielen Menschen in der Tiefe ihres Wesens. Eine Fülle genialer Anlagen stecken in nahezu jedem Menschen, aber sie werden sich auf ganz andere Weise äußern als in alten Zeiten. Viel weniger wird sich künftig dieses Genie naturhaft unbewusst nahezu wie von selbst offenbaren, sondern es muss bewusst durch die tätige Willenskraft des menschlichen Ichs auf Erden verwirklicht werden. Das liegt daran, dass die geniale Anlage in der Vergangenheit, als das menschliche Ich noch wenig entwickelt war, vorwiegend den leiblichen Wesensglieder des Menschen entsprungen ist, in denen noch viel an göttlicher Schöpferkraft nachwirkte. Zurecht wurde der menschliche Leib, und damit ist nicht nur sein physischer Leib gemeint, sondern auch die ihm innewohnende Lebenskraft und seine Treib- und Empfindungskräfte, als Tempel der Götter bezeichnet. Dieser Leib ist aber längst in einer absteigenden Entwicklung begriffen und immer weniger wird sich das Göttliche direkt durch ihn offenbaren können. Die neue, wahrhaft menschliche Genialität wird unmittelbar aus dem Ich ausstrahlen, das, erleuchtet und inspiriert durch den göttlichen Funken, die schöpferischen Impulse im irdischen Dasein verwirklicht, und zwar mehr und mehr sogar im Widerstreit mit den leiblichen Wesensglieder, die spröde der nötigen geistigen Verwandlung widerstreben. Wie selbstverständlich wurde früher jemand ein begnadeter Musiker, wenn er über ein entsprechend wohlgeformtes Gehörorgan und einen rhythmisch harmonisch geordneten Empfindungsleib verfügte, während die Entwicklungshöhe des Ichs demgegenüber viel weniger wichtig war. Künftig wird das individuelle Ich immer bedeutender werden, und jemand kann sich durch die Schöpferkraft seines Ichs zum Musiker berufen fühlen und über eine beträchtliche musikalische Schaffenskraft verfügen, muss aber vielleicht im Erdenleben damit ringen, dass er ein ungenügend ausgebildetes physisches Ohr besitzt. Die Begnadung des Künstlers erfolgte also früher vor allem durch die niederen, naturhaften Wesensglieder, und je weniger sich das Ich dem daraus entspringenden schöpferischen Strom entgegenstellte, sondern sich durch ihn leiten und erziehen ließ, desto besser war es. Auf diesem Weg wurde gleichsam das Ich durch die unmittelbare göttliche Wirkung erzogen. Heute ist es gerade umgekehrt, indem der schöpferische Einschlag direkt im Ich erfolgt und dieses dann die niederen Wesenglieder belehrt und deren Widerstand überwindet. Heute ist dieser Wandel in eine entscheidende Phase gekommen, denn das Alte ist bereits weitgehend verloren und das Neue noch wenig verwirklicht. Dadurch mag manches in der Gegenwartskunst unausgegoren und unbefriedigend erscheinen. Aber man sollte sich nicht täuschen lassen, denn dahinter reift eine mächtige neue Schöpferkraft heran. Das gilt für die Kunst im engeren Sinn, das gilt aber insbesondere auch für das „Gesamtkunstwerk“ Mensch. Derart darf man trotz der künftig zu erwartenden großen Schwierigkeiten und Widerstände, die nicht ausbleiben werden, sehr hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Die Kunst wird einen wesentlich Impuls dafür geben, dass sich diese Hoffnung auch verwirklicht. Sie ist ein Weg der Erziehung des Menschengeschlechts.
Literatur:[1] Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 62. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 25778 (vgl. Kant-W Bd. 10, S. 116), siehe auch http://www.gutenberg2000.de/kant/kuk/kukp021.htm [2] Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur?, Hamburg 1958, S 11 [3] Ebd. S 30, siehe auch http://www.odysseetheater.com/sartre/sartre_zeittafel.htm [4] Goethe, Faust II, Laboratorium, siehe http://www.gutenberg2000.de/goethe/faust2/2faus021.htm [5] Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 114. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 86011 (vgl. Schiller-SW Bd. 5, S. 639), siehe auch http://www.gutenberg2000.de/schiller/erziehng/erziehng.htm [6] Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Nina Kandinsky, Neuilly-sur-Seine 1952, S 132 [8] Schiller: Die Künstler [Gedichte 1789-1805], S. 2. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 82352 (vgl. Schiller-SW Bd. 1, S. 173), siehe auch http://www.gutenberg2000.de/schiller/gedichte/kuenstlr.htm [10] Jean-Paul Sartre, Der Teufel und der liebe Gott, 4. Aufl., Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei Hamburg 2001, S 158, siehe auch http://www.odysseetheater.com/sartre/sartre_zeittafel.htm [11] Goethe: Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827), S. 464. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 19716 (vgl. Goethe-BA Bd. 1, S. 327), siehe auch http://www.gutenberg2000.de/goethe/gedichte/promethe.htm [12] Und Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. (1 Mo 2,22), siehe http://bibel.cid.net/buch/01.1-mose/2.html#2,22 [14] Goethe: West-östlicher Divan, S. 7. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 20535 (vgl. Goethe-BA Bd. 3, S. 12), siehe auch http://www.gutenberg2000.de/goethe/divan/divan011.htm [15] Rudolf Steiner um 1888, TB 650 (1986), S 11f, siehe http://www.anthroposophie.net/steiner/bib_steiner_notizbuch1888.htm [16] Stifter: Bunte Steine, S. 2. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 91373 (vgl. Stifter-GW Bd. 3, S. 7), siehe auch http://www.gutenberg2000.de/stifter/buntestn/bunte001.htm [17] GA 194, 3. Vortrag (23.11.1919), S 56f. [18] Schiller: Die Künstler [Gedichte 1789-1805], S. 2. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 82352 (vgl. Schiller-SW Bd. 1, S. 173), siehe auch http://www.gutenberg2000.de/schiller/gedichte/kuenstlr.htm
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