Michael
und die Belebung der Gedächtniskraft
als Grundlage für ein neues Geistbewusstsein
Wolfgang
Peter 2003
Michael mit der Gedächtniskraft
in Verbindung bringen zu wollen, mag befremdlich erscheinen. Liefert
uns das Gedächtnis doch heute meist nur ein blasses kraftloses Bild
der Vergangenheit. Bloß rückgewendet in der Erinnerung leben zu
wollen, ist geradezu das kontradiktorische Gegenteil echter
michaelischer Gesinnung. Was einst unmittelbares intensives
farbenreiches Erleben war, wird durch das Gedächtnis sehr schnell zum
schemenhaften abstrakten Schatten. Michael hingegen verweist uns
kraftvoll auf die Zukunft und fordert unsere Aktivität, unseren
Willen heraus.
Im
Gedächtnis erstirbt die lebendige Sinneswahrnehmung ebenso wie der
lebendige Gedanke. Ein bildhaft
vergleichbarer Prozess findet hier statt, wie wir in draußen ihn der
Natur im Herbst erleben. Nachdem sich die Natur noch einmal in der reichen
Herbstfärbung zu einem Gipfelpunkt sinnlicher Farbenpracht
durchgerungen hat, folgt die Zeit des Blätterfalls, des Nebelgrauens,
der kahlen finsteren und leblos scheinenden Stämme inmitten der öden
Novemberlandschaft. Das Leben - und damit die Elementargeistigkeit der
Natur - zieht sich ins Innere der Erde zurück. Ähnlich, wenn die
unmittelbare lebendige Sinneswahrnehmung zum farblosen
Erinnerungsgedanken erstirbt. Veröden müsste die menschliche Seele,
wenn sie fortan nur mehr in der Schattenwelt der Erinnerungen leben müsste.
Demgegenüber fordert Michael
heute von uns eine neue Belebung der Gedächtniskraft, die im Laufe
der Jahrtausende menschlicher Entwicklung im Grunde immer schwächer
geworden ist. Zweierlei ist dafür nötig: Erstens muss die Gedächtniskraft
als solche gestärkt werden, d.h. die Kraft, durch die wir uns die
Erlebnisse fest einprägen; zweitens muss die Erinnerungsfähigkeit
gepflegt werden, also die Fähigkeit, all das, was wir uns so eingeprägt
haben, vollsaftig, lebendig und getreu wieder an die Oberfläche des
Bewusstseins heraufzurufen.
Was wir unmittelbar voll bewusst
mit wachem Urteilsvermögen sinnlich wahrnehmen, lebt zunächst im
Ich. Das ist allerdings nur der geringere Teil dessen, was wir mit
unseren Sinnen aufnehmen - ein viel größerer Teil wird nur
unterschwellig unterbewusst erlebt. Da ist dann nicht das Ich, sondern
nur der Astralleib beteiligt. Klares Urteilsvermögen und starke Gefühle, die sich an den Erlebnissen
entzünden, sind die besten Voraussetzungen für ein gutes Gedächtnis.
Im Ich und im Astralleib bleiben
die Eindrücke aber nicht lange erhalten. Dauerhafter Gedächtnisschatz
werden sie erst, wenn sie sich im Laufe von etwa 2 - 3 Tagen dem Ätherleib
- also unseren Lebenskräften - einprägen. Hier schlafen sie zunächst
und sind vorerst ganz aus dem Bewusstsein verschwunden. Sie werden
gleichsam in die Tiefe unserer physisch-ätherischen Organisation
hinein vergessen. Und so
paradox es klingen mag: Je gründlicher
wir unsere Erlebnisse in die Abgründe unseres
Stoffwechsel-Gliedmassen-Menschen versenken, d.h. in unsere
Willensorganisation, desto besser und reicher wird unser Gedächtnis
ausgebildet. Alles, was wir ständig krampfhaft im Bewusstsein zu
halten versuchen, prägt sich unserem Gedächtnis nur sehr
schattenhaft und oberflächlich ein. So ist es heute bei den meisten
Menschen. Was uns fehlt, ist eine rechte Tugend des Vergessen-Könnens.
Erst
in der Tiefe unseres physisch-ätherischen Leibes werden unsere
Erfahrungen im wahrsten Sinne des Wortes verdaut
und verwandeln sich hier allmählich zu Fähigkeiten,
die später mit geradezu schlafwandlerisch instinktiver Sicherheit
ausgeübt werden. Tatsächlich sind die Kräfte,
durch die wir unser Gedächtnis bilden, genau die selben, die wir auch
zur Verdauung der Nahrung anwenden. Namentlich alles, was wir
wiederholt in immer neuen Anläufen erübt haben, prägt sich so dem
Ätherleib und teilweise sogar dem physischen Leib sehr gründlich
ein, verwandelt sich hier zu neuen Kräften - so wie die Nahrung ja
auch nicht bloß in uns aufbewahrt wird, sondern sich in tätige Kräfte
umwandelt - und tritt als Fähigkeit, als Geschicklichkeit wieder
hervor. Beispiele aus dem täglichen Leben lassen sich leicht finden -
etwa das Radfahren lernen oder das Schreiben lernen.
Nun prägen sich allerdings auch traumatische
Erlebnisse tief in unsere lebendige Leibesorganisation ein, namentlich
wenn sie aus dem Oberbewusstsein verdrängt, also gewaltsam vergessen
werden, und so um so ungestörter im Unbewussten ihr Unwesen treiben
können. Schon den Gesichtszügen eines Menschen kann man sehr oft
ablesen, wie sehr sein Leben von Freuden oder Leiden geprägt war. Und
was sich so schon an der Oberfläche zeigt, gilt für die ganze Tiefe
unserer Organisation erst recht. Dort werden unsere durchlittenen
Traumata allmählich zu massiven Unfähigkeiten, welche die freie
Entfaltung unserer Individualität behindern und schließlich sogar zu
ernsthaften organischen Störungen führen können. Im Grunde ist
darin eine der wesentlichsten Ursachen für unsere Krankheiten zu
suchen. Die Erlebnisse prägen sich zu tief in unseren Organismus ein.
Der Volksmund spricht es deutlich aus: Wir nehmen uns etwas zu Herzen
- was ja noch positiv sein kann, solang es dann nicht weiter an unserm
Herzen nagt -, es verschlägt uns den Atem, etwas geht uns an
die Nieren, uns läuft die Galle über oder uns ist eine
Laus über die Leber gelaufen, woraus sich manche Verrücktheit
- also eigentlich eine ungesunde Verschiebung im harmonischen Gefüge
unseres Leibes - ergeben kann, einen Spleen - was im Englischen
bezeichnenderweise zugleich der Ausdruck für die Milz ist.
Anstelle einer gesunden Gedächtnisbildung wird der ganze Organismus
in Mitleidenschaft gezogen. Beim kleinen Kind, bei dem das Ich - und
damit die bewusste Erinnerungsfähigkeit - noch nicht erwacht ist,
wirken alle Erlebnisse ganz stark bis ins Organische hinein und
erzeugen dadurch je nach dem fundamentale Fähigkeiten oder Hemmnisse.
Beseitigen kann man alle diese erworbenen Hemmnisse
nur, wenn man sich das so tief Vergessene wieder möglichst
detailgetreu bewusst machen kann. Und ebenso lassen sich die
einmal erworbenen Fähigkeiten nur dann weiterentwickeln, wenn man sie
sich mit vollem Bewusstsein neu erwirbt, d.h. ganz wach das alles
nochmals durchmacht, was sie einstens begründet hat. So kann man sich
etwa im späteren Leben eine ganz neue Handschrift zulegen - eine
Übung, die Rudolf Steiner gelegentlich vorgeschlagen hat und die den
Ätherleib sehr energisch erzieht und dadurch nicht nur unsere
Gedächtniskraft, sondern unsere Lebenskräfte überhaupt, d.h. unsere
Gesundheit, stärkt.
Das
Gedächtnis ist also alles andere als ein geheimnisvoller Ort, an dem
unsere Erfahrungen so wie sie waren "gespeichert" werden und
von wo sie bei Bedarf wieder aufgerufen werden können, sondern unsere
Erlebnisse werden eigentlich vollständig aufgelöst und verwandelt
und bilden gleichsam nur den Humus, aus dem dann wie duftende Blüten
oder hartes Dorngestrüpp ganz neue Fähigkeiten oder Hemmnisse
heraussprießen. Daraus erklärt sich auch,
dass es im Grunde sehr schwer ist, ein ganz getreues Gedächtnis
auszubilden. Nichts wird bewahrt, alles ist in beständiger lebendiger
Verwandlung. Dennoch, so wie die Pflanze ganz natürlich Ihresgleichen
hervorbringt, d.h. eine neue Pflanze, die von gleicher Art ist und der
ursprünglichen in allen wesentlichen Teilen beinahe aufs Haar
gleicht, so kann auch die lebendige Erinnerungskraft zu ähnlicher
Treue erzogen werden. Das Erinnerungsbild wird dann dem ursprünglichen
Erlebnis zumindest sehr nahe kommen. Dass das heute nur selten der
Fall ist, zeigt nur, dass unser Ätherleib noch lange nicht so
ausgereift ist, wie es jener der Pflanze auf seine Art heute bereits
ist.
Die Erfahrung zeigt, wie schon
angedeutet, dass nur die Erlebnisse wieder gut erinnert werden können,
an denen das Ich aktiv und wach beteiligt war. Zumindest gilt das für
den heutigen Menschen - die starke Gedächtniskraft des atlantischen
Menschen, von der Rudolf Steiner immer wieder gesprochen hat, war ganz
anders beschaffen. Sie war dem Atlantier traumartig passiv und völlig
selbstverständlich naturgegeben. Das Ich war daran noch kaum
beteiligt, um so intensiver dafür aber der Astralleib mit seinen
starken hellfühlenden Emotionen. Es war nur sehr wenig ein
begriffliches, sondern vielmehr ein emotional hellsichtiges
Erinnerungsvermögen. Schon der Name "Gedächtnis", der auf
die Bewahrung des "Gedachten" verweist, ist hier eigentlich
falsch angewendet. Die Erinnerungsfähigkeit des Atlantiers reichte weit über das
individuell Erlebte hinaus und reichte weit hinauf in die Ahnenreihe
und erstreckte sich auch in die Breite über alle die Menschen, mit
denen er durch ihre Abstammung blutsmäßig verbunden war. Es war eben
kein individuelles, sondern ein kollektives Gedächtnis, das obendrein
sehr stark mit den Naturkräften des Heimatbodens verwachsen war. Die
vielfachen Wanderzüge der alten Völker, die, wenn man sie im Großen
überschaut, geradezu einem geheimen Plan zu folgen scheinen, haben
dementsprechend die weitere Ausbildung und Reifung der Gedächtniskraft
wesentlich beeinflusst. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die
Erinnerungsfähigkeit des heutigen Menschen ist verglichen damit überhaupt
ganz schwach und eng begrenzt - sie kann aber durch die aktive
Teilnahme des Ichs wesentlich gesteigert werden. Passiv sich selbst überlassen
würde die menschliche Erinnerungsfähigkeit früher oder später
vollständig dahinschwinden - ein Prozess, der durch unsere moderne
"Informationsgesellschaft" noch zusätzlich beschleunigt
wird.
Damit die bisherigen Ausführungen
nicht missverstanden werden, muss noch folgendes gesagt werden: Was
auch immer geschieht, alle
unsere Erlebnisse werden bis zu den kleinsten und unbedeutensten
Details in jedem Fall unserem Ätherleib minutiös eingeprägt. Klar
sehen kann man das aber nur, wenn man des Menschen Weg nach dem Tod
hellsichtig weiterverfolgen kann. Denn dann sieht man, wie in den
ersten Tagen nach dem Tod das vergangene Erdenleben in seiner ganzen Fülle
wie in einem mächtigen Panorama aufleuchtet. Alles ist da, nichts ist
verloren. Nur gelingt es während des irdischen Lebens nur selten,
diesen Schatz zu heben, der beständig in unseren Lebenskräften
gegenwärtig ist. In gesunder Art das Gedächtnis auszubilden bedeutet
eigentlich nur, dass es uns schon während des Erlebens gelingt,
manchen Blick in diese Schatzkammer zu tun. Und gerade dafür ist
heute die Aktivität des Ichs gefordert. Das hat dann natürlich auch
entschiedene Rückwirkungen auf das, was der Mensch nach dem Tod
erlebt. Dann leuchtet ihm nämlich aus dem nachtodlichen
Lebenspanorama zugleich auch immer ein deutliches Bild des eigenen
Ichs entgegen - und das stärkt das Selbstbewusstsein ganz ungemein,
das nach dem Tod immer ein wenig dahinzuschwinden droht, weil es im
irdischen Leben gewohnt war, sich vor allem auf das physisch-körperliche
Werkzeug zu stützen. Wenn wir
das irdische Gedächtnis besser pflegen, gehen wir später wacher
durch das geistige Leben nach dem Tod.
Das aktive wache Ich wird also für
eine gesunde Gedächtnisbildung gefordert - und das liegt schon ganz
und gar in der Stoßrichtung des Michaels-Impulses. Und was ist dafür
nötig? Dazu muss zuallererst die bewusste Aufmerksamkeit für die
sinnliche Wahrnehmung gesteigert werden. Wach in den Sinnen müssen
wir werden. Wir dürfen weder die Sinneswelt traumverloren an uns vorbeiziehen
lassen, noch das Wahrgenommene sofort zu wenigen abstrakten
Gedankenformen zusammenschrumpfen lassen, die dann zum Gegenstand völlig
abgezogener Spekulationen werden. Im ersten Fall werden die
Erinnerungen sehr verschwommen sein und aufgrund der starken
Beteiligung unseres oft noch recht unerzogenen Astralleibs auch leicht
gemäß unserer Eitelkeiten, Begierden und Vorlieben zur Phantasterei
verzerrt werden. Im zweiten Fall werden sie zwar recht präzise, aber
zugleich auch leblos und abstrakt sein. Man wird darin unschwer die
luziferischen und ahrimanischen Wirkungen wiedererkennen. Luzifer
verführt uns zur wüsten Phantasterei, Ahriman
tötet den tieferen Gehalt unserer Erlebnisse ab.
Gefordert ist also die wache,
gedankendurchdrungene sinnliche Beobachtung, wobei sich das Denken zunächst
jeder Spekulation enthält und nur das Erlebte ordnet und Nahes und
Fernes zusammenschaut - kurz, es geht um "Anschauende
Urteilskraft" im Sinne Goethes. Das ist der erste Schritt,
der zu einer lebendigen Gedächtnisbildung führt. Im zweiten Schritt,
der nun unsere Erinnerungsfähigkeit schult, wird das, was wir dem Gedächtnis
anvertraut haben, als möglichst lebendiges und getreues inneres Bild
wieder und wieder heraufgerufen. Dabei darf man, wie wir gesehen
haben, aber nicht glauben, dass das einmal Erlebte einfach als
fertiges Bild in den Tiefen des Ätherleibs weiterlebte. Es west hier
vielmehr als lebendige bildschaffende Kraft, als Bildekraft eben, und
das eigentliche Erinnerungsbild muss mit ihrer Hilfe und durch die
aktive Kraft des Ichs wiedererschaffen werden. Dazu ist zunächst exakte
sinnliche Phantasie nötig - um wieder ganz im Geiste Goethes zu
sprechen. Goethe hat ja diese Methode bei seinen
naturwissenschaftlichen Studien vorzüglich gepflegt. So kann man etwa
wie er verschiedenste Pflanzenarten in unterschiedlichsten
Wachstumsstadien und unter den wechselhaftesten klimatischen
Bedingungen beobachten und in jahrelanger Übung diese sinnlichen
Eindrücke im rhythmischen Wechsel immer mehr verinnerlichen und dann
in der Erinnerung als seelisches Bild wiederbeleben. Dann wird man
aber allmählich nicht nur die mehr oder weniger starren Augenbilder
nacheinander oder nebeneinander hervorrufen, sondern diese werden sich
immer stärker in ihrer lebendigen Verwandlung, in ihrem beständigen
Wachsen, Reifen und Vergehen zeigen. Die Pflanzen werden gleichsam
beginnen, in der Seele als lebendige Bilder zu wachsen und zu
gedeihen. Sie zeigen sich in ihrer lebendigen Metamorphose von Blatt
zu Blatt, von Blüte zu Blüte, von Frucht zu Frucht. Das ist etwas,
was wir mit sinnlichen Augen eigentlich niemals erleben, denn da sehen
wir immer nur einzelne Augenblicksbilder. Zeitrafferaufnahmen mögen
uns vielleicht diesen lebendigen Wachstumsprozess vorgaukeln, aber sie
sind in Wahrheit erst recht aus einzelnen starren Bildern zusammengefügt,
die uns nur so schnell vor Augen geführt werden, dass das
Ich-Bewusstsein getäuscht wird. Der Astralleib hingegen lässt sich
nicht täuschen, aber er leidet darunter und prägt dem Ätherleib
ganz verzerrte Kräfte ein. Das hilft uns also nicht weiter, führt
uns vielmehr noch weiter von unserem Ziel weg - wir müssen uns schon
auf unsere eigene geistige Aktivität verlassen. Nur durch innere
Aktivität offenbart sich uns das lebendige Bildungsgesetz der
Pflanzen, die Urpflanze, von der Goethe gesprochen hat, die sich der
rein sinnlichen Beobachtung entzieht, aber durch die Pflege der
Erinnerungskraft für die sinnlich-übersinnliche Schau sichtbar wird.
Die Erinnerungskraft, wenn sie
nur genügend ausgebildet wird, liefert uns also mehr
als die bloßen seelischen Abbilder des einstmals sinnlich Geschauten.
Die gesteigerte
Erinnerungskraft beginnt uns nach und nach die gestaltenden Urbilder
der sinnlichen Welt zu offenbaren. Das bedeutet nicht mehr und
nicht weniger, als dass wir die Ideenschau, wie sie einstmals Plato
beschrieben hat, auf neue Art wiederzugewinnen beginnen. Die platonische
Ideenschau war der allerletzte Rest des alten Hellsehens; was hier
beschrieben wird, ist der erste keimhafte Beginn einer neuen
Geistesschau. Und wie hat Plato diese Ideenschau begründet? Er hat
sie begründet als eine Wiedererinnerung (Anamnesis) an das
vorgeburtliche Dasein. Da waren wir mit den geistigen Urbildern der
physischen Welt vereinigt, und mehr noch, da waren wir sogar an ihrer
weiteren Ausgestaltung mit beteiligt!
Es geht also darum, die
Erinnerung nicht nur zurück auszudehnen bis zum etwa 3. Lebensjahr,
wo unser Ich-Bewusstsein erwacht ist - also bis zu dem Zeitpunkt, bis
zu dem unser Gedächtnis normalerweise zurückreicht -, nicht nur, sie
noch weiter auszudehnen bis zu unserer Geburt, sondern noch weiter bis
zu unserem geistigen Dasein, das ihr vorangeht. Wenn das auch nur
ansatzweise gelingt, kommen wir allmählich zu einer wirklichen Spiritualisierung
der Intelligenz - und das ist die michaelische Grundforderung
unserer Tage.
Alles, was wir in diesem Augenblick mit den Sinnen
wahrnehmen, ist schon im nächsten Moment erstorben. Draußen in der
sinnlichen Welt ist es einfach nicht mehr vorhanden, und in unserem
Inneren versinkt es im Grabe unseres Gedächtnisses. Wir haben das mit
dem Herbstprozess in der Natur verglichen. Durch die rechte Pflege der
Erinnerungskraft erlebt es seine Auferstehung als inneres Bild im
Seelischen, durch das aber mehr und mehr das geistige Urbild des
äußeren Geschehens hindurchleuchtet. Es ist also nicht bloß eine Auferstehung
des Sinnlichen im Seelischen, sondern es ist eine Auferstehung
des Geistigen im Seelischen. Und gerade diese feiern wir zu
Michaeli. Das ist das innere Gegenbild zur leiblichen Auferstehung,
die wir mit dem Osterfest verbinden.
Wie wir es hier für die Pflanzenwelt beschrieben
haben, lässt sich nicht nur die ganze Natur betrachten, sondern vor
allem auch das ganze menschliche Leben. Alles kann seine geistige
Auferstehung im Seelischen erfahren. So kann durch entsprechende
Schulung der Erinnerung allmählich die geistige Bedeutung vergangener
Erlebnisse aufleuchten. Auf dem geistigen Schulungsweg ist es sogar
sehr häufig so, dass man schon längere Zeit wirkliche geistige
Erfahrungen gemacht hat, ohne dass man sich dessen bewusst geworden
ist. Durch die Pflege der Erinnerung können sie aber nach und nach
ins Bewusstsein gehoben werden. Im achtgliedrigen Pfad des Buddha
wird schon auf die Schulung des rechten Gedächtnisses hingewiesen:
1)
Rechte Anschauung
2)
Rechtes Denken
3)
Rechtes Reden
4)
Rechtes Tun
5)
Rechter Lebensberuf
6)
Rechte Gewohnheiten
7)
Rechtes
Gedächtnis
8)
Rechte Versenkung (Meditation) |
Beginnt man die eigene Biographie
mit ihren vielfältigen schicksalsmäßigen Verwicklungen im sozialen
Zusammenhang auf diese Art zu betrachten, so wird das Panorama unserer
Lebenserinnerungen immer mehr durchleuchten lassen "das Gesetz,
wonach wir angetreten", das geistige Urbild unserer gegenwärtigen
irdischen Persönlichkeit, d.h. unsere wahre geistige Individualität,
die sich auf ihrem Weg durch die aufeinanderfolgenden Inkarnationen zu
immer höherer geistiger Reife zu erheben sucht. Das eröffnet in
letzter Konsequenz nicht nur den Rückblick auf frühere
Inkarnationen, sondern das weckt auch den prophetischen Vorausblick
auf das, was künftig noch von uns getan werden muss, um die in der
Vergangenheit angehäufte karmische Schuld auszugleichen. So entsteht
allmählich ein klares Bewusstsein unserer eigenen geistigen
Individualität, d.h. wahre Selbsterkenntnis, und zugleich ein
kraftvoller Willensimpuls, unser Karma im sozialen Geschehen
harmonisch auszugleichen. Wenn wir das energisch genug anstreben, wird
es auch an der Hilfe nicht fehlen, die wir dafür nötig haben. Es
wird uns nicht nur unser individuelles Urbild, sondern das Urbild des
Menschlichen überhaupt entgegenleuchten - der Christus. Wenn wir mit
michaelischer Kraft unsere Gedächtniskraft und Erinnerungsfähigkeit
neu beleben, wird uns das nicht nur zur Schau des ätherischen
Christus, sondern zur wahren Vereinigung, zur Kommunion mit ihm führen.
Das ist der tiefere Sinn jener Worte, die der Christus beim letzten
gemeinsamen Abendmahl mit seinen Jüngern sprach:
"Und
er nahm das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Das
ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das
tut zu meinem Gedächtnis." (Lk
22,19)
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