RÄTSELHAFTES SCHICKSAL
Wolfgang Peter 2004
In den meisten alten Kulturen war man davon überzeugt,
dass der Mensch nicht nur einmal auf Erden lebt, sondern dass er wiederholte
Erdenleben durchmacht, und dass damit das Rätsel unseres Erdenschicksals
eng verbunden ist. Im Christentum trat diese Ansicht zunächst in
den Hintergrund, obwohl sie keineswegs damit unvereinbar ist; tatsächlich
finden sich sogar in der Bibel einzelne Andeutungen, die auf wiederholte
Erdenleben hinweisen. In neueren Zeiten hat Lessing in seiner Erziehung
des Menschengeschlechts wieder sehr deutlich und klar auf die Reinkarnationslehre
hingewiesen. In der Anthroposophie Rudolf Steiners gibt es viele Anregungen,
die zu einem besseren Verständnis von Wiederverkörperung und
Schicksal, von Reinkarnation und Karma, führen können.
Man kann die Karmaidee nicht mit äußeren Mitteln
beweisen, man muss aber auch nicht blind daran glauben. Man kann das Leben
probeweise unvoreingenommen unter dem Aspekt der Karmaidee beobachten
und durchdenken und sehen, was sich daraus ergibt.
Was bedeutet es aber, im Sinne des Karma zu denken? Zuallererst
muss man bedenken, dass das Schicksal keine Strafe ist, die uns von irgend
einer Seite auferlegt wird, sondern das wir selbst uns unser Schicksal
wählen als ein Mittel, uns weiter zu vervollkommnen. Das mag anfangs
nur schwer zu akzeptieren sein, ja uns vielleicht sogar ganz absurd erscheinen,
denn viel bequemer und angenehmer ist es, die Schuld für das, was
uns an Misslichkeiten im Leben widerfährt, auf andere abzuwälzen.
Und dennoch, so sehr wir auch aus unserem Tagesbewusstsein heraus mit
unserem Schicksal hadern mögen, unser wahres Selbst, zu dem wir aber
zunächst mit dem Tagesbewusstsein keinen Zugang haben, will es so.
Versuchen wir uns das sehr konkret vorzustellen:
Ein Mensch beleidigt uns, wir sind dadurch zutiefst verletzt
und betrübt. Nun malen wir uns möglichst bildhaft aus, dass
wir selbst diesen Menschen auf seinen Posten gestellt haben, um uns diese
Beleidigung zuzufügen, damit wir dadurch etwas lernen können.
Oder ein anderes Beispiel: Ein Dachziegel fällt herunter und verletzt
uns an der Schulter. Stellen wir uns nun wieder sehr bildhaft vor, wir
wären selbst auf das Dach gestiegen und hätten den Ziegel so
gelockert, dass er just in dem Moment herunterfällt, wenn wir unten
vorübergehen.
Macht man derartige Übungen über einen längeren
Zeitraum nur konsequent genug, so wird das Schicksal beginnen, eine deutliche
Sprache zu sprechen. Wir werden sehen, dass es nicht eine Folge unzusammenhängender
und zufälliger Ereignisse ist, sondern dass ihm eine gewisse Ordnung
zugrunde liegt. So werden wir den Sinn unseres eigenen Schicksal immer
klarer begreifen. Wir werden allmählich die selbst gewählte
Lebensaufgabe erkennen, mit der wir in unser Erdenleben hereingetreten
sind und wir können beginnen, immer bewusster an dieser Aufgabe zu
arbeiten. Wozu uns bislang das Schicksal unbewusst geführt hat, wird
nun immer bewusster von uns selbst vollzogen. Und es gibt viele Wege,
auf denen wir unsere Schicksalsaufgabe bewältigen können. Man
denkt falsch, wenn man glaubt, das das Schicksal in allen Einzelheiten
vorherbestimmt ist. Selbstverständlich sind auch nicht alle Vorkommnisse
in unserem Leben karmisch bedingt; mindestens eben sooft treten völlig
neue Ereignisse ein, die nichts mit der Vergangenheit zu tun haben, doch
allerdings in der Zukunft ihre schicksalhaften Folgen zeigen werden.
Vielleicht sollte man bezüglich des Schicksalsgeschehens
gar nicht so sehr von einem kausalen Zusammenhang sprechen und vielmehr
Ursache und Wirken als Teil eines lebendigen Ganzen erkennen. So wie das
Feuer notwendig brennt, so ist jede Tat, die wir setzen, notwendig mit
gewissen Rückwirkungen auf uns selbst untrennbar verbunden. Das die
Wirkungen dabei oft erst viel später erscheinen, oft eben erst in
einem späteren Erdenleben, tut nichts zur Sache; in Wahrheit sind
sie schon mit der ursprünglichen Tat selbst gegeben. Rein seelisch
betrachtet, entsprechen sich Aktion und Reaktion vollkommen. Wie sich
diese seelische Reaktion allerdings im physischen Leben erscheinen wird,
ist in hohem Grade variabel, und eben deshalb ist das äußere
Schicksalsgeschehen auch keineswegs in allen einzelnen Zügen determiniert,
sondern innerhalb gewisser Grenzen frei gestaltbar, solange dadurch nur
die seelische Lektion gelernt wird.
Weil unsere Taten und ihre Folgen ein Ganzes bilden,
und wenn wir immer bewusster das Schicksal zu erleben lernen, wird künftig
eine neue Seelenfähigkeit erwachen: wir werden den notwendigen karmischen
Ausgleich für unserer Taten bildhaft vorausschauen, und diese Vorausschau
wird die Stimme des Gewissens, die sich einstmals in der griechischen
Zeit herausgebildet hat, ersetzen und kann uns zu einer weiteren moralischen
Vertiefung führen.
"Parallel gehen wird mit dem Auftreten des Ereignisses
von Damaskus bei einer großen Anzahl Menschen im Laufe des 20.
Jahrhunderts so etwas, daß die Menschen lernen werden, wenn sie
irgendeine Tat im Leben getan haben, aufzuschauen von dieser Tat. Sie
werden bedächtiger werden, werden ein innerliches Bild haben von
der Tat - zunächst wenige, dann immer mehr und mehr im Laufe der
nächsten zwei bis drei Jahrtausende. Nachdem die Menschen etwas
getan haben werden, wird das Bild da sein. Sie werden zunächst
nicht wissen, was das ist. Die aber Geisteswissenschaft kennengelernt
haben, werden sich sagen: Hier habe ich ein Bild! Das ist kein Traum,
gar kein Traum, es ist ein Bild dessen, was mir die karmische Erfüllung
dieser Tat zeigt, die ich eben getan habe. Das wird einmal geschehen
als Erfüllung, als karmischer Ausgleich dessen, was ich eben getan
habe! - Das wird im 20. Jahrhundert beginnen. Da wird sich für
den Menschen hinzuentwickeln die Fähigkeit, daß er ein Bild
hat von einer ganz fernen, noch nicht geschehenen Tat. Das wird sich
zeigen als ein inneres Gegenbild seiner Tat, als die karmische Erfüllung,
die einmal eintreten wird. Der Mensch wird sich dann sagen: Jetzt habe
ich dies getan. Nun wird mir gezeigt, was ich zum Ausgleich tun muß,
und was mich immer zurückhalten würde in der Vervollkommnung,
wenn ich den Ausgleich nicht vollbringen würde. - Da wird Karma
nicht eine bloße Theorie mehr sein, sondern es wird dieses charakterisierte
innere Bild erfahren werden." (Rudolf Steiner, GA 116, Berlin,
8. Mai 1910)
Unser Schicksal ist mit dem vieler anderer Menschen verflochten,
mit unserer Familie, mit unseren Freunden und Feinden, mit dem Volk, in
das wir hineingeboren sind, ja letztlich mit der ganzen Menschheit. Wir
hängen mit den anderen Menschen also nicht nur durch die Abstammung,
sondern eben auch schicksalsmäßig zusammen. Die Dinge werden
dadurch sehr kompliziert und wir werden anfangs nur wenig davon durchschauen.
Aber auch dieses wenige, das wir erkennen, wird uns in unserer ganzen
Lebensführung sicherer und tüchtiger machen - und duldsamer
für die Mängel anderer Menschen, die wir sonst so gerne kritisieren.
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