William Shakespeare
und
die Gemeinschaft der Lebenden und Toten
Wolfgang Peter 1998
Shakespeare war vor allem
andern ein meisterhafter Psychologe, der durch seine
ausgezeichnete Beobachtungsgabe tief in die menschliche
Seele zu blicken vermochte. Wie allen großen Dichtern
geht es ihm auch in seinen Dramen mit historischem
Hintergrund weniger darum, die damaligen äußeren
Geschehnisse möglichst getreu nachzuzeichnen, sondern er
breitet vielmehr jene innere Seelenlandschaft
bühnenwirksam vor unseren Blicken aus, aus der die
handelnden Personen zu ihren Taten angeregt werden. Alles
äußere Geschehen ist ihm nur Mittel, innere seelische
Prozesse zu veranschaulichen. So wie die Naturforscher
einst die äußere Natur genau beschrieben und
katalogisiert haben, so minuziös betrachtet und
inventarisiert Shakespeare mit wachem Geist all das, was,
oft wenig verstanden, im Innersten des Menschen waltet
und werkt, wohl oft auch tobt und wütet. Niemals wird
Shakespeare dabei zum belehren wollenden Moralisten; er
tadelt nicht, lobt nicht, sondern beschreibt aus
nüchterner Distanz, ohne zu werten. Ehrgeiz, Machtgier,
Stolz, sinnliche Begierde und miselsüchtige Zweifelsucht
mischen sich mit Hochherzigkeit, Weisheit und Tapferkeit
in einer Person. Nicht schwarz oder weiß, hell oder
dunkel sind seine Charaktere, sondern farbige, oft in
sich zerrissene Naturen, wie sie das wirkliche Leben
zeugt. Und doch waltet eine unerbittliche Gerechtigkeit
in seinen Werken. Aber es ist kein göttliches
Weltgericht, das den Menschen von außen trifft, sondern
er selbst geht an seinen eigenen Schwächen zugrunde. Von
Ehrgeiz und Machtgier gedrängt überwindet Macbeth seine
inneren Ängste und moralischen Bedenken, verläßt sich
auf die trügerische Stimme des Jenseits, die ihn in
Sicherheit wiegt und seine Gewissensqual einschläfert
und eben daran, an dieser erschlichenen
Selbstsicherheit geht er zugrunde. Was er in seinem
wachen Bewußtsein zu erfassen meint, ist bloße
Illusion; das Schicksal, das ihn endlich ereilt, wirkt
aus den unbewußten Tiefen seiner Seele und führt in
genau in die Situation, in der er scheitern muß. Seine
schlimmsten Alpträume werden wahr; er erhält, was er
verdient, weil er, was er bewußt fürchtet, unbewußt
aus tiefster Seele selbst fordert. Was Macbeth selbst
nicht ahnt, das weiß Shakespeare aber umso wachsamer zu
verfolgen. Was uns in tiefster Seele mangelt, ist der
geheimnisvolle Magnet, der das äußere Verhängnis, den
scheinbar unvorhersehbaren Schicksalsschlag herbeizieht.
So bereitet sich der Mensch, ohne es zu wissen, sein
Schicksal selbst.
Auffallend häufig treten
in Shakespeares Dramen die Toten mahnend in den
Wirkungskreis der Lebenden herein. Ist es in Hamlet
der Geist des toten Vaters, so brechen sie in Macbeth
geradezu in Scharen herein. Macbeth wird vom Geist des
erschlagenen Banquo gequält, das aus dem inneren Erleben
nicht mehr zu löschende Bild des gemeuchelten,
blutüberströmten Duncan und des grausam ermordeten
Weibes Macduffs treibt Lady Macbeth in den Wahnsinn. Es
scheint, als hätte sie die sinnliche Außenwelt bereits
völlig verloren und lebte schon, ehe sie selber stirbt,
nur mehr im Reich der Toten. Man wird geneigt sein, in
diesen gespenstischen Begegnungen phantasievolle
dichterische Ausschmückungen zu sehen, oder vielleicht
auch als letzten Auswurf finstersten mittelalterlichen
Aberglaubens, der noch bis in Shakespeares Lebenszeit
hereinragt. Und doch erscheinen die Toten in Shakespeares
Werken mit absoluter psychologisch motivierter
Notwendigkeit. Wie, wenn Shakespeare das, was er
schreibt, Wort für Wort auch wirklich ernst meint; wenn
ihm die Toten nicht bloß dichterische Schnörkel,
sondern wirklich handelnde Wesen sind, die das irdische
Geschehen mit bestimmen? Zugegeben, das muß dem modernen
Menschen völlig verrückt, geradezu lächerlich absurd
erscheinen. Doch ehe wir vorschnell und etwas hochmütig
aus unserem modernen Selbstverständnis heraus
aburteilen, prüfen wir unvoreingenommen und mit wachem
nüchternen Verstand, indem wir uns probeweise fragen:
Wenn die Toten in
anderer Weise weiterlebten, wie könnten sie uns
erscheinen?
Sind sie wundersame
Erscheinungen, die alle Naturgesetzlichkeit durchbrechen
und unseren an der harten Realität geschulten Verstand
verwirren? Sind sie eine gespenstisch Nebelhafte Masse,
die den Sinnen erscheint, ein kühler Hauch der uns
berührt? Sind sie Gespenster im weißen Kleid, die die
Nacht durchschleichen? England ist voll solcher "Ghoststories"
doch all das meint Shakespeare nicht. Er gehört
noch nicht recht jener Epoche an, in der England zum
tüchtigsten Vorkämpfer einer wirtschaftlich
orientierten, materiellen, technischen Zivilisation wurde
- und deren ungewolltes, aber nichts desto weniger
typisches Kind der Spiritismus in all seinen
Schattierungen ist; es ist eben ein unverkennbares
Zeichen der materialistischen Gesinnung, daß sie auch
Seelisches und Geistiges nur sinnlich auffassen, daß sie
den Geist materialisieren will. Wenn der Tote weiterlebt,
dann nicht als körperliches Wesen, und sei sein Leib
auch noch so fein und nebulos. Der Leib verwest im Grab
und zerfällt unaufhaltsam. Wenn der Tote weiterlebt,
dann als seelisches, als geistiges Wesen, das sich dem
sinnlichen Anschauen entzieht. Nicht in der äußeren
Welt, sondern nur in unsrem eigenen Inneren, in unserer
Seele können sie sich, wenn überhaupt, offenbaren.
Seelisches kann niemals sinnlich, sondern nur seelisch
wahrgenommen werden. Der Tote wird psychisch erfahren,
oder gar nicht darauf zielt Shakespeare ab. Und
wer diese innere Erfahrung, wenn sie sich bis zur
zwanghaften Vision steigert, mit einer äußeren
sinnlichen verwechselt, der verfällt freilich dem
Aberglauben, gegen den das moderne Denken zurecht zu
Felde gezogen ist, oder schlimmer noch, er wird vom
Wahnsinn ergriffen, der ihn mit Visionen quält, die ihn
seinem eigenen Selbst entfremden. Macbeth wandelt stets
an diesem Abgrund, und Lady Macbeth verfällt ihm
schließlich ganz. Wer nicht mehr klar zwischen
äußerlich sinnlich und innerlich seelisch Erlebten
unterscheiden kann, und wer in seiner eigenen Seele nicht
das, was aus ihm selber stammt von anderen geistigen
Kräften trennen kann, die ihm innerlich aufleuchten,
verliert jeden sicheren Boden unter seinen Füßen.
Können wir tief in
unserer eigenen Seele den Toten wirklich begegnen, oder
sind wir hier stets mit uns selbst allein? Die räumliche
Außenwelt, der wir gegenüberstehen, erscheint uns objektiv,
als durch sich selbst gegeben und unabhängig von uns.
Unser seelisches Innenleben hingegen fassen wir als subjektiv,
als untrennbar mit uns selbst verbunden, wenn nicht gar
mit uns selbst identisch auf. Und doch gibt es objektive
Wahrheiten, die in unserer Seele leben können, man denke
nur an die mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Wir
können sie nur in unserer Seele im eigenen Denken
erfassen, aber gültig sind sie ganz alleine durch sich
selbst, unabhängig davon, wer sie gerade denkt. Halb
objektiv sind auch unsere Erinnerungen. Sie beziehen sich
zwar auf das, was wir erlebt haben, aber sie weisen doch
auf eine ehemals geschehene äußere Begebenheit. Durch
die Erinnerungsfähigkeit können wir uns nicht nur
einzelne, isolierte Ereignisse wieder vergegenwärtigen,
wir vermögen auch ganze Entwicklungsreihen zu
überschauen. Wenn wir etwa verfolgen, wie eine Pflanze
sich im Jahreslauf verwandelt, und wenn wir die einzelnen
Eindrücke in unserem Gedächnis miteinander verbinden,
ja wenn wir durch unsere innere seelische Tätigkeit die
Pflanze vor unserem inneren Sinn gleichsam noch einmal
hervorwachsen lassen, dann erfassen wir etwas von ihrem
objektiven lebendigen Wesen, das der einzelnen sinnlichen
Beobachtung verborgen bleibt. Wir erinnern uns dann nicht
bloß an etwas, was wir einmal gesehen haben, sondern wir
berühren das gesetzmäßig die einzelnen Erscheinungen
regelnde, durch sich selbst bestimmte geistige Wesen der
Pflanze. Sinnlich allein läßt es sich niemals erfassen,
denn die Sinne nehmen immer nur hier und jetzt wahr. Erst
dem zeitübergreifenden, gedankendurchhellten Gedächtnis
offenbart sich das die einzelnen äußeren Erscheinungen
belebende innere Wesen. Das Gedächtnis ist das Tor, das
von der sinnlichen Welt weg hinein in eine nicht
sinnliche, übersinnliche Region führt, in der alles,
was uns äußerlich erscheint erst seinen wahren,
wesentlichen Kern enthüllt. Jeder Kristall und Stein,
jedes Gewächs und jede Blume, auch jedes Tier nach
seiner Art erscheint hier als durch und durch sich selbst
bestimmende gesetzmäßige lebendige Ganzheit, die wie
aus einem geistigen Zentrum die verstreuten sinnlichen
Bilder bewirkt, die uns draußen in der Welt erscheinen.
Und erst recht gilt das vom Menschen. Was unserem Auge
von ihm erscheint, was unserem Ohr erklingt in seinen
Worten, ist nur Fassade, Person, durch die sein wahres
Wesen hindurchklingt. Was uns äußerlich von ihm
zukommt, ist, so real und greifbar es uns auch scheinen
mag, doch nur vergängliche Illusion, die vor der wahren
Wirklichkeit zerschmilzt, die nur tief in unserem Inneren
begriffen werden kann. Doch liegt es unserer Zeit so fern
wie möglich, dieses eigne Innere als eigenständige und
höhere Wirklichkeit, die weit mehr als das eigene enge
Wesen umfaßt, zu erfahren. Zu sehr strahlt das Licht der
äußeren Welt in unsere Seele über und blendet unser
Bewußtsein, so wie die helle Sonne die tausenden Sterne
des Himmel überstrahlt, die doch viel mächtiger und
zahlreicher sind als sie selbst. So ist auch das
Gedächtnis nur ein blasser Schatten dessen, was es der
erkrafteten Seele werden kann. Um unser Gedächtnis ist
es heute schlimm bestellt, es wird immer karger und
abstrakter, und oft ist es nicht einmal mehr ein getreuer
innerlich erlebter Schattenriß dessen, was einst außen
geschehen ist. Das war nicht immer so, doch reicht der
Verfall schon weit zurück und begann spätestens mit der
Erfindung der Schrift, die erst in äußeren Bildern,
dann in abstrakten wesenlosen Zeichen festhielt, was dem
Gedächtnis zu entfallen drohte, wo nicht mehr lebendig
gegenwärtig werden konnte wie das Hier und Jetzt, was
einst durch längst verstorbene Ahnen in dieser Welt
geschehen war; wo, wenn man ihrer gedachte, sie
unmittelbar gegenwärtig und in noch weit höherem Grade
lebendig wußte als sie noch auf Erden wandelten, und
sich mit ihnen, die den kleinlichen Neigungen einer bloß
vorübergehenden, vergänglichen äußeren Welt entrückt
und damit weiser als Erdenmenschen waren, in realem
inneren Gespräch berieten in jener anderen Welt, die
keine Trennung kennt, wo hier und dort in ein eins
zusammenfallen, so wie das Heute von dem Gestern nicht
geschieden ist. Was uns die Sinne zeigen, das steht im
Raum und zerfließt in der Zeit; nicht so, was die Seele
erlebt, wenn sie durch ihre eigenen Tiefen zu der
Wirklichkeit emporsteigt, aus der sie sich beständig aus
eigener Kraft in jedem Augenblick neu erschafft, wo reine
Geistesgegenwart besteht, die zugleich die ganze Ewigkeit
umfaßt, in einem Blick geschaut. Hier ist der raum- und
zeitlose unvergängliche Ort, wo Wesen sich in Wesen
wiederfindet und ungeschieden sich durchdringt, was nur
auf Erden getrennt erscheinen muß. So konnte man in
alter Zeit den Toten allen noch viel näher sein, mit
ihnen noch viel intensiver leben, als man es je mit den
sog. "Lebenden", d.h. mit den gerade auf Erden
verkörperten, sich durch den Sinnesschein verhüllenden
Menschen konnte. Von alle dem ist heute das gerade
Gegenteil der Fall und wer darüber anders denkt, weil er
als seltenes Exemplar der Menschengattung, vielleicht
noch aus alter, überstandiger Kraft, vielleicht aber
auch als Bote kommender Tage, anders als die Vielen
erlebt und als höhere Wirklichkeit unwiderlegbar
erfährt, oder doch zumindest durch seine Herzenskraft
erahnt, was allen andern bloßer Schein ist, der wird
verlacht oder bestenfalls nicht verstanden.
Shakespeare war ein solcher, dessen Horizont weiter
reichte als seine Augen trugen und dem das innere Land,
wo Mensch von Mensch nicht getrennt sein kann, weil Raum
und Zeit hier nichts bedeuten, wenn schon nicht voll und
ganz wahrnehmbar, so doch unbezweifelbar gewiß und
bestimmend für alles äußere Geschehen war. Und so sind
ihm denn auch die Toten selbstverständliche,
wirkensmächtige Partner im Spiel des Lebens, das sich
vor unseren Augen auf der Erdenbühne bereitet. Durch die
Seele der irdischen Menschen sprechen und wirken sie und
gestalten Schicksale mit, die ohne sie unverständlich
blieben. Von Diesseits und Jenseits im absoluten Sinne zu
sprechen ist Unsinn; jenseitig kann nur heißen, daß
etwas unserer Aufmerksamkeit entging, was dennoch wirkt,
uns unbewußt. Wer sein Bewußtsein ausdehnt auf
Bereiche, die er vorher ganz und gar verschlief, für den
kann es nur ein stetes Diesseits geben, das aber mehr als
die bloß sinnliche Welt umfaßt. Nicht glauben sollst
du, was du doch nicht siehst, sondern unmittelbar
erfahren, wie weit die Welt in Wahrheit reicht; auf diese
Reise lädt uns Shakespeare ein, zu einem Gespräch der
Lebenden und Toten, zu einer Fahrt zum Quellort seiner
Schaffenskraft.
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