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Vom Wert des Denkens

für eine geistgemäße Erkenntnis der Wirklichkeit

Wolfgang Peter 2002

Das rationale, logische Verstandesdenken ist heute das wesentlichste Instrument geworden, durch das wir die Wirklichkeit zu verstehen und planvoll umzugestalten versuchen. Der moderne Mensch ist zweifellos ein ausgeprägter Verstandesmensch. Wir müssen uns daher zunächst ganz allgemein fragen, wieweit der Verstand überhaupt geeignet ist, an die Wirklichkeit heranzukommen. Jedenfalls halten wir uns heute meist zugute, äußerst lebenspraktische Menschen zu sein, und dass die Menschheit noch niemals so präzise und einsichtig mit der äußeren Realität umgegangen sei wie heute. Der überwältigende Erfolg in der Technik und im modernen Wirtschaftsleben scheint uns dabei recht zu geben. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass es sich dabei zunächst um eine Welt von uns selbst künstlich geschaffener toter Dinge handelt, mit denen wir mithilfe unseres Verstandes umgehen. Ob diese Art des Denkens geeignet ist, auch die lebendige Natur oder gar Seelisches und Geistiges in ihrer spezifischen Eigenart zu erfassen, mag dahingestellt bleiben. Dass sich die ganze Welt nach dem Muster eines präzisen mechanischen Uhrwerks erklären lässt, wie man noch zur Zeit der Aufklärung glaubte, darf heute jedenfalls energisch bezweifelt werden.

Entschieden bezweifelt darf auch werden, dass die Menschheit immer schon über ein derartiges Verstandesdenken verfügt hat, wie wir es heute kennen. Tatsächlich war der griechische Philosoph Aristoteles bekanntlich der erste, der sich die Grundregeln des logischen Denkens bewusst gemacht hat. Vorher gab es ein derartiges bewusstes rationales Denken einfach nicht, was allerdings die Menschheit nicht gehindert hat, etwa die Hochblüte der altorientalischen Kulturen hervorzubringen. Gewaltige Kulturleistungen, die auch heute noch grundlegend für unser menschliches Leben sind, wie beispielsweise die Erfindung der Schrift, der Rechenkunst oder der Baukunst, wurden in die Welt gestellt, ohne dass dabei der logische Verstand eine wesentliche Rolle gespielt hätte. Man darf noch weitergehen: Betrachtet man etwa die Tiere und ihr Verhalten, so zeigt sich darin oft eine unglaubliche Weisheit, die dem einzelnen Tier zwar zweifellos ganz und gar nicht bewusst ist, aber nichtsdestoweniger tatkräftig in ihm wirkt. Jedes einzelne Lebewesen ist im Grunde ein Sammelpunkt ungeheurer wirkender Weisheit. In jeder einzelnen Körperzelle waltet unendlich viel mehr Intelligenz, als wir bislang durch unsere gesamte verstandesmäßige Naturforschung erfassen konnten. Wären wir auf unseren rationalen Verstand angewiesen, dass unsere Körperfunktionen richtig ablaufen, wären wir schon längst ausgestorben. Im winzigsten und simpelsten Lebewesen steckt viel, viel mehr verkörperte tätige Intelligenz als in allen unseren verstandesmäßig entworfenen technischen Errungenschaften zusammen genommen. Der kleinste Vogel mit seinem sprichwörtlichen Spatzenhirn ist an präziser Flugsteuerung jedem modernen Flugzeug meilenweit überlegen. Das macht zugleich deutlich, dass diese in der Natur wirkende Intelligenz ganz und gar nicht an irgendwelche Gehirn- oder Nervenfunktionen gebunden ist. Die paar Nervenknoten, die das Spatzenhirn ausmachen, können seine Flugfähigkeiten nicht erklären. Die Funktion der winzigsten Zelle mit ihren abertausenden präzise aufeinander abgestimmten parallel laufenden chemischen und physikalischen Prozessen wird durch kein Gehirn gesteuert. Wie diese in der Natur wirkende Intelligenz zustande kommt, muss zunächst offen bleiben – wir können sie zunächst nur als offenbare Tatsache zur Kenntnis nehmen. Sich den lieben Gott als eine Art Super-Ingenieur vorzustellen, der die Natur nach dem Muster eines unendlich gesteigerten menschlichen Verstandes konstruiert hat, wird uns jedenfalls nicht viel weiterhelfen, und zum Glück ist ein derartiger naiver Aberglaube heute ja auch weitgehend überwunden.

Vergleich man die in der Natur wirkende Intelligenz mit dem menschlichen Verstandesdenken, so wird auch sogleich der Unterschied deutlich. In der Natur haben wir es mit einer unmittelbar tätig wirkenden Intelligenz zu tun, welche die Stoffe der Welt ergreift und lebendig nach den ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten gestaltet. Es gibt hier keine Kluft zwischen Denken und Tun – die in der Natur wesende Intelligenz ist eine durch und durch unvermittelt waltende Wirklichkeit. Ganz anders der menschliche Verstand. Er gibt uns zunächst maximal ein sehr karges abstraktes Gedankenbild von den in der Natur waltenden Gesetzmäßigkeiten, und dieses vorerst völlig wesenlose Bild bewirkt von sich aus unmittelbar gar nichts. Wir müssen erst unsere Hände rege machen, um unsere Gedanken in Taten umzusetzen. Unsere verstandesmäßig erfassten Gedanken haben überhaupt keine Wirklichkeit, sondern sind höchstens ein blasses Bild einer Wirklichkeit – nämlich ein Bild der in der Natur wirkenden Weisheit. Inwieweit uns unser Verstand ein richtiges Bild dieser Naturintelligenz gibt, mag noch offen bleiben; jedenfalls ist es ein sehr, sehr eingeschränktes und völlig kraftloses Bild. Und je mehr wir uns im Verstandesdenken üben, desto mehr entfernen wir uns eigentlich von der Wirklichkeit.

Schon im 18. Jh. hatte der Philosoph Immanuel Kant gemeint, dass das Ding an sich, d.h. die wahre Wirklichkeit, unserem Erkenntnisvermögen notwendig für immer verborgen bleiben müsse, und im 19. Jh. wurde es geradezu zum stehenden philosophischen Dogma, dass der Mensch nur etwas von seinen letztlich selbstgemachten Vorstellungen wissen könne, aber niemals der Sprung in die unmittelbare Wirklichkeit gelingen würde. Heute hat es die Philosophie längst aufgegeben, sichere Aussagen über die Wirklichkeit machen zu wollen; man beschränkt sich darauf, die formale Folgerichtigkeit des Verstandesdenkens zu präzisieren und abzusichern. Zwar haben sich viele unserer modernen Theorien, namentlich im naturwissenschaftlichen Bereich, sehr gut bewährt und wesentlich zum äußeren Fortschritt unserer Zivilisation beigetragen – zu einem tieferen Verständnis der Natur sind wir dadurch eingestandenermaßen nicht gelangt. Tatsächlich scheint sich die zivilisierte Menschheit mittlerweile so dicht in ihre selbstgemachten Gedankennetze eingesponnen zu haben, dass uns dadurch jegliche wirkliche Einsicht in die Wirklichkeit verwehrt wird. Ja es scheint uns heute geradezu unmöglich, neue Erfahrungen anders zu beurteilen als durch die verengende Brille der tradierten Gedankengebilde, die wir seit dem Erwachen des logischen Denkens in der griechischen Antike aufgehäuft haben, und so ist jedes Verstandesurteil, das wir fällen, im Grunde ein Vorurteil, das unseren geistigen Blick auf die Wahrheit trübt.

Alles Verstandesdenken wird damit letztlich zur spekulativen Metaphysik (nicht zufällig hat Aristoteles, der Begründer der Logik, zugleich die erste Metaphysik geschrieben!): Wir entwerfen uns abstrakte Gedankenmodelle einer Wirklichkeit, die wir ganz und gar nicht kennen. Es geht uns wie den Blinden, die über die sinnlich sichtbare Welt der Formen und Farben diskutieren wollen. Derart hat uns die spekulative Theologie die lebendige Einsicht in die geistig-göttliche Welt, wie sie einstmals den Menschen weltweit eigen war und in den alten Mythen bezeugt wird, längst restlos verdunkelt, und heute ist die über und über theoriebeladene – und damit spekulativ metaphysische - Naturforschung dabei, unseren Blick auf die physisch-materielle Welt zu blenden. Das geht soweit, dass die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung in der wissenschaftlichen Betrachtung eine immer geringere Rolle spielt und durch die instrumentelle Messung ersetzt wird, die uns direkt jene Zahlenwerte liefert, die wir bequem mittels unserer Theorien interpretieren können. Die Messinstrumente selbst sind natürlich auch wieder nur von uns künstlich geschaffene Apparate, die gemäß der von uns entworfenen Theorien funktionieren. Und damit beginnen sich unsere Gedanken endgültig nur mehr um ihre eigene Achse zu drehen. Ein Art von erkenntnistheoretischem Autismus beginnt, durch den wir die wirkliche Welt verlieren und es nur mehr mit den von uns selbst geschaffenen wesenlosen Gedankengebilden zu tun haben.

Damit scheint ein vernichtendes und vielleicht sehr hochmütig anmutendes Urteil über die tragende Säule unseres modernen Zivilisationslebens gefällt zu sein. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Dass das spekulative logische Denken gepflegt wurde, war für die Menschheitsentwicklung unumgänglich notwendig und bedeutete einen nicht hoch genug einzuschätzenden Fortschritt gegenüber den alten Erkenntnisweisen. Und niemand, der in der Erkenntnis voranschreiten will, sollte meinen, dass das möglich wäre, ohne sich zuerst ein durchgreifend logisches Verstandesdenken erworben zu haben. Nur liegt die Bedeutung des Verstandes nicht darin, uns näher an die Wirklichkeit heranzubringen – im Gegenteil, er ist gerade dadurch für uns so bedeutend, dass er uns praktisch vollkommen von der Wirklichkeit isoliert und uns ganz auf uns selbst zurückwirft. Nur dadurch, dass wir im Verstandesdenken nicht mehr an die Wirklichkeit herankommen, und diese im Verstand nicht mehr auf uns wirken kann. können wir erstens selbstbewusste, und zweitens geistig freie Wesen werden! Nicht umsonst hat René Descartes, angeregt durch Augustinus, der schon ähnliche Ideen formuliert hatte, den vielzitierten Satz ausgerufen: „Ich denke, also bin ich!“ Im Denken erfahre ich mich selbst als einen Tätigen – und zwar als den einzigen, der darin tätig ist. Hier weiß ich, wie alles gemacht wird, denn hier mache ich alles selbst. Da bin ich der uneingeschränkte Herr des Geschehens. Ich bin vom Anfang bis zum Ende der logischen Kette restlos mit meinem wachen Bewusstsein dabei. Wie phantastisch die so entworfenen Gedankengebilde auch sein mögen, ich weiß genau: Ich mache sie. An jeglicher Erkenntnis über die Welt mag ich zweifeln oder sogar verzweifeln, eines bleibt dabei stets wie ein Fels in der Brandung bestehen: Ich selbst bin es, der zweifelt, ich bin es, der denkt! Genau diese elementare Erfahrung, die wir heute schon gar nicht mehr besonders beachten, weil sie uns geradezu selbstverständlich geworden ist, hebt uns entschieden über die Stufe der altorientalischen Kulturvölker hinaus. Die geradezu instinktive Weisheit, die uns innig mit der Welt verwoben hat, ging uns verloren, aber wir haben unseren eigenen Verstand gewonnen und uns dadurch auf den Weg zu uns selbst gemacht – und dadurch beginnt das Menschsein überhaupt erst so richtig.

Allerdings hat die ganze Sache, über den tragischen, aber unvermeidlichen Wirklichkeitsverlust hinaus, der uns immer mehr in aus purer Uneinsichtigkeit provozierte Katastrophen hineinstürzen wird, noch ein paar weitere Schönheitsfehler. Da sind einmal die schon erwähnten Denkgewohnheiten, denen wir seit der Antike immer mehr verfallen sind. Das allermeiste von dem, was wir heute so tagein tagaus denken, sind gar nicht unsere eigenen kühn entworfenen Gedanken, sondern vielmehr eine Collage jener Gedankengebilde, die längst andere vor uns geschaffen haben und die uns durch unsere schulische oder anderweitige Ausbildung einsuggeriert wurden. Und so haben wir heute recht viele und recht logische Gedanken, aber wir denken selbst eigentlich zumeist recht wenig – auch wenn das die wenigsten gerne zugeben würden, denn wie stolz sind wir nicht zumeist auf unsere eigene Meinung. Dennoch, viel mehr als die meisten ahnen, sind unsere Gedanken geprägt durch den Ort und die Zeit und das soziale Umfeld, in das wir hineingeboren wurden. Dem können wir im Grunde kaum entfliehen; wir müssen einigermaßen Zeitgenossen sein, um unsere Lebensaufgaben in diesem Erdenleben zu bewältigen, und es wäre ganz und gar fatal, wenn wir die wesentlichen Gedanken, die unsere Zivilisation prägen, nicht kennenlernen wollten. Es würde sich dann der Sinn dieses Erdenlebens gar nicht erfüllen, durch das wir sehr spezifische Anregungen für unser Selbstbewusstsein erfahren. Wer sich den gegenwärtigen abstrakten naturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Denkformen ganz entziehen wollte, wird das Bewusstsein seiner selbst nicht weiterentwickeln können. Das ist die notwendige Basis, um überhaupt unser wahres Selbst verwirklichen zu können. Das Selbstbewusstsein, das uns der logische Verstand beschert, indem sich unser Ich in den zeitgenössischen Gedankenformen spiegelt, gibt uns aber zunächst nur ein blasses unwirkliches Bild unseres Selbst.

Damit sind wir zugleich beim zweiten kleinen Schönheitsfehler angelangt, der dem Verstandesdenken anhaftet. Wir erfahren zwar zunächst dieses „Ich denke, also bin ich.“, aber besser sollte es eigentlich heißen: „Ich denke, also bin ich nicht!“, denn durch den Verstand lernen wir unser wirkliches unsterbliches geistiges Ich überhaupt nicht kennen, sondern nur dessen kraftloses abstraktes Bild. Schon jede Nacht, wenn wir schlafen, erlischt dieses Bild, es garantiert uns nicht einmal die Fortdauer unserer Existenz von einem Tag auf dem nächsten – und noch viel weniger sagt es uns über unser bewusstes geistiges Fortbestehen nach dem Tod. Gerade die zentralen Lebensfragen, wie sie Kant formuliert hat: „Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was soll ich tun?“, kann der Verstand nicht beantworten. Er sagt uns nichts von unserer geistigen Präexistenz vor unserem Erdenleben, nichts von unserer Postexistenz nach dem Tod, und nicht nichts von den moralischen Impulsen, die unseren Taten im Erdenleben, durch die wir unser Selbst erst wahrhaftig verwirklichen, ihr ganz individuelles geistiges Gütesigel aufprägen müssen. Im Gegenteil, der Verstand gibt uns nicht nur keine Auskunft darüber, was wir tun sollen, er lähmt sogar unsere Entschlusskraft, wie es ja von Shakespeare so schön in dem berühmten Hamlet-Monolog ausgesprochen wird:

Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt;
Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck,
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
Verlieren so der Handlung Namen.

William Shakespeare, Hamlet, 3. Akt, 1. Szene

Keck ausgedrückt: Um unser Ich durch unsere (moralischen) Taten zu verwirklichen, müssen wir unseren Verstand verlieren – wobei stets zu bedenken ist, dass wir nur das verlieren oder überwinden können, was wir uns zuvor erworben haben!

Nun ist es aber nicht so leicht, den einmal erworbenen Verstand auch nur für kleine Augenblicke beiseite zu schieben und darüber hinauszukommen, denn er hat sich im Laufe des Lebens bis tief in unsere körperlichen Strukturen eingegraben, die unseren Geist nun wie stählerne Fesseln umklammern. Es ist zwar prinzipiell ein blanker Unsinn, wenn man meinte, dass es das Gehirn sei, das denke. Das Gehirn denkt überhaupt nicht, sondern es ist vielmehr genau umgekehrt: Das lebendig wirkende Denken baut das Gehirn. Wir haben ja schon gesehen, dass in der Natur eine ungeheure Intelligenz waltet, die ganz und gar nicht auf ein Gehirn angewiesen ist, und die den Lebewesen ihre komplexe weisheitsvolle Form verleiht. Das ist auch hier auf ganz spezifische Weise der Fall. Unser wirkliches lebendiges Denken ist von gleicher Art wie jene Lebenskräfte, welche die Natur gestalten. Dieses lebendige Denken ist uns aber zunächst gar nicht bewusst, sondern nur dessen blasses, abgetötetes Spiegelbild, welches das Gehirn in unsere Seele zurückwirft. Je öfter wir gewisse Gedankenformen durchleben, desto ausgeprägter und unverrückbarer werden die entsprechenden Nervenverbindungen. Das führt aber dazu, dass endlich unser anfangs überschäumendes lebendiges Denken immer mehr in bestimmte ausgetretene Bahnen kanalisiert wird und immer mehr von seinen ursprünglichen Gestaltungsreichtum verliert: Das Gehirn tötet das lebendige Denken. Und so paradox es scheinen mag: je mehr wir an Verstand gewinnen, desto mehr verlieren wir an wirklichem, lebendigen Denkvermögen. Es mag ja sein, dass wir mit zunehmendem Alter immer gescheiter werden; aber wir verlieren zugleich auch immer mehr an wirklicher Weisheit – wenn es uns nicht auf andere Weise als durch den alternden Verstand gelingt, die kindliche Weisheit wiederzugewinnen:

Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Mt 18,3)

Das geht nur, wenn es gelingt, das lebendige Denken aus der Umklammerung des Gehirns zu erlösen und immer beweglicher zu machen, ohne dabei das zunächst durch das Gehirndenken erworbene Selbstbewusstsein zu verlieren – denn sonst würden wir ja bloß zu jenem im Grunde vormenschlichen Urzustand zurückkehren, in dem unser Selbst noch gar nicht richtig erwacht war. Dazu ist aber eine hohe geistige Willenskraft nötig, die uns von den eingefahrenen Gedankenbahnen unserer gehegten und gepflegten Lieblingsmeinungen losreißt. Sich völlig selbstlos in Gedankenformen einzuleben, die den unseren vielleicht ganz und gar widersprechen, ist äußerst heilsam. Wir kommen so von uns selbst los, um uns auf einer höheren, wirklichkeitsgemäßeren Ebene wiederzufinden. Denn was wir so gewöhnlich für unser Selbst halten, hat in Wahrheit mit unserem wirklichen Ich recht wenig zu tun, sondern ist mehr ein Sammelsurium der vorgefassten Ideen, Meinungen, Wünsche und Begierden, die uns im Laufe unseres Lebens unbewusst eingeprägt wurden. Oder man nehme sich einen Gedankengang her, von dem man felsenfest überzeugt ist, dass er eine unverrückbare Wahrheit darstellt, und durchdenke folgerichtig und konsequent das genaue Gegenteil davon. Das heißt ja nicht, dass man sich dieses Gegenteil dann sogleich zur neuen Lebensmaxime machen soll – schlicht und einfach durchdenken soll man es. Man wird dann übrigens meist feststellen, dass dieser völlige Widerspruch zu unserer tiefsten intellektuellen Überzeugung in gewissen Fällen und gewissen Lebensbereichen durchaus auch seine Berechtigung hat - was unseren geistigen Horizont beträchtlich erweitert. Vorallem aber reißen uns solche Denkübungen, wenn man sie regelmäßig macht, sehr energisch von den Ketten los, die uns an unser Gehirn fesseln.

Eines ist nun noch besonders bedeutsam: Wir müssen unser Bewusstsein dahin lenken, den Denkprozess selbst sehr wachsam zu beobachten. Das tun wir nämlich normalerweise nicht. Wenn wir unseren Verstand gebrauchen, sind wir ganz auf die Sache konzentriert, über die wir nachdenken, während der eigentliche lebendige Denkvorgang verborgen bleibt und uns nur sein toter erstarrter Schatten bewusst wird. Dann kommen wir allmählich dazu, die eigentliche Wirklichkeit des Denkens zu spüren, die dem bloßen Verstandesdenken ganz und gar mangelt. Wir entwickeln ein rechtes Wirklichkeitsempfinden nämlich nur dort, wo es uns gelingt, Denken und Beobachtung miteinander zu einem Ganzen zu verbinden. Das Verstandesdenken, aber auch die äußere sinnliche oder die innere seelische Wahrnehmung für sich genommen, stellen noch keine Wirklichkeit dar, sondern sind jeweils nur die eine oder andere Hälfte derselben. Es liegt einfach an der menschlichen Organisation, dass die Wirklichkeit unserem Bewusstsein zunächst von zwei Seiten zufließt, die wir aktiv durch die Tätigkeit unseres selbstbewussten Ichs verbinden müssen. Gerade dadurch kommen wir überhaupt erst zum Ichbewusstsein. Wenn ich in die Natur schaue und dabei ein Konglomerat grünlicher und bräunlicher Flecken erlebe, die sich in den unterschiedlichsten verwirrenden Formen gestalten, spüre ich von der Wirklichkeit des Gesehenen noch nichts. Wenn sich aber daran das Denken entzündet und das Ganze als Kastanienbaum erkennt, fühle ich mich zurecht einem wirklichen Kastanienbaum gegenübergestellt. In der Wirklichkeit draußen sind die sinnlichen Qualitäten der Dinge untrennbar mit den Lebensgesetzen verbunden, durch die sie sich zum Kastanienbaum formen. Wir erleben die sinnlichen Qualitäten und die für uns nur durch das Denken zu erfassenden Lebensgesetze zunächst auf getrennten Wegen, und erst wenn wir diese zusammenführen, landen wir wieder bei der Wirklichkeit. Der äußeren Natur gegenüber, in der wir aufgewachsen sind, geht das meist so schnell, dass wir gar nicht mehr recht bemerken, dass dabei das Denken rege wird. Aber wenn wir einen Kastanienbaum als Kastanienbaum anschauen, d.h. als einen solchen erkennen, war schon das Denken beteiligt. Dieses Denken, das uns den Kastanienbaum erkennen lässt, und das wir so ganz und gar verschlafen, ist übrigens schon jenes ursprüngliche lebendige Denken, das in der Natur draußen wirklich den Kastanienbaum lebendig in seine charakteristische Form heranreifen lässt, und nicht bloß der abstrakte Gedankenschatten, der entsteht, wenn wir uns später einmal vielleicht wissenschaftlich mit dem Wesen der Kastanienbäume beschäftigen. Geling es uns, ersteres ins Bewusstsein zu heben, kommen wir schon an das wirkliche Denken heran, das mit der in der Natur waltenden Weisheit identisch ist.

Und noch etwas kommt hinzu, was einem geradezu zur erschütternden Lebenserfahrung in einem solchen Denkerlebnis werden kann. Hatte man beim Verstandesdenken die deutliche Erfahrung des „Ich denke“ gemacht, so erlebt man nun sehr intensiv: „Es denkt in mir“. Nicht ich denke nun über den Kastanienbaum nach, sondern der Kastanienbaum, oder besser gesagt, was geistig gestaltend in ihm wirkt, denkt nun in mir. Oder noch besser ausgedrückt: Ich tauche mit meinem wachen Ichbewusstsein in eine geistige Außenwelt ein, die sich zunächst in einem webenden und wogenden lebendigen Denken um mich herum entfaltet. Diesem Denken gegenüber erfährt man ein hochgradig gesteigertes Wirklichkeitsempfinden, das noch viel größer als jenes ist, mit dem wir der äußeren sinnlichen Welt gegenübertreten. Kein Stein, an dem wir uns die Füße blutig stoßen, kann so wirklich erscheinen wie jenes Gedankenleben, das sich uns nun eröffnet.

Wenn sich diese Erfahrung noch weiter steigert, spüren wir allmählich, dass es keine herrenlos durch die geistige Welt streifenden Weltengedanken sind, die wir nun erleben, sondern dass sie ganz konkret wesenhaften Charakter haben. Geistige Wesen sind es, die diese lebendigen Gedankenformen erregen. Das können Tote sein, die nun ihr lebendiges geistiges Wesen regsam machen. Das können aber auch geistige Wesen sein, die den Menschen deutlich an geistiger Kraft überragen, aber niemals körperlich die Sinneswelt betreten haben. Namentlich ein uns zugeordnetes Geistwesen, das uns geistig leitet, solange wir das nicht selbst vermögen, kann dabei sehr deutlich hervortreten. Dieses wird für uns gleichsam zum Vermittler und Boten für die ganze übrige geistige Welt. Dass man den Kindern von ihrem Schutzengel erzählt, beruht nicht auf einer bloßen Erdichtung, sondern stammt aus solchen oder ähnlichen Erlebnissen. Lebendiges, hirnloses (man verzeihe diesen paradox scheinenden Ausdruck) Denken zu entwickeln, bedeutet eigentlich: Mit seinem Engel denken zu können.

Und obwohl wir nun bei alle dem gerade nicht dieses „Ich denke“ erleben, das uns das Selbstbewusstsein auf erster Stufe gegeben hat, so verlieren wir uns dennoch nicht, sondern finden uns jetzt erst so richtig und zwar interessanterweise zuerst derart, dass wir uns, die wir unser Verstandesdenken verstummen ließen, gleichsam wie einen völlig leeren Hohlraum in der geistigen Welt empfinden, von dem wir unmittelbar wissen, dass er für alle Ewigkeit für uns reserviert ist und dass nur wir selbst ihn durch unsere eigenen geistigen Taten erfüllen können. Wenn wir das auch nur ansatzweise erleben können, beginnen wir zu ahnen, was unser geistiges Ich wirklich ist, und dass seine Heimat in der geistigen Welt bereitet ist, und dann treten wir schon mitten im Erdenleben die geistige Himmelfahrt an, die uns ganz neue Kräfte gibt, unser weiteres Erdenleben so fruchtbar als möglich zum Heil der Welt zu gestalten.

 

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