Forum für Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Goetheanistische Naturwissenschaft | ||||
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Vom
Wert des Denkens
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Der
angebornen Farbe der Entschließung William Shakespeare, Hamlet, 3. Akt, 1. Szene |
Keck
ausgedrückt: Um unser Ich durch unsere (moralischen) Taten zu
verwirklichen, müssen wir unseren Verstand verlieren – wobei
stets zu bedenken ist, dass wir nur das verlieren oder überwinden können,
was wir uns zuvor erworben haben!
Nun
ist es aber nicht so leicht, den einmal erworbenen Verstand auch nur für
kleine Augenblicke beiseite zu schieben und darüber hinauszukommen,
denn er hat sich im Laufe des Lebens bis tief in unsere körperlichen
Strukturen eingegraben, die unseren Geist nun wie stählerne Fesseln
umklammern. Es ist zwar prinzipiell ein blanker Unsinn, wenn man
meinte, dass es das Gehirn sei, das denke. Das Gehirn denkt überhaupt
nicht, sondern es ist vielmehr genau umgekehrt: Das lebendig
wirkende Denken baut das Gehirn. Wir haben ja schon gesehen, dass
in der Natur eine ungeheure Intelligenz waltet, die ganz und gar nicht
auf ein Gehirn angewiesen ist, und die den Lebewesen ihre komplexe
weisheitsvolle Form verleiht. Das ist auch hier auf ganz spezifische
Weise der Fall. Unser wirkliches lebendiges Denken ist von gleicher
Art wie jene Lebenskräfte, welche die Natur gestalten. Dieses
lebendige Denken ist uns aber zunächst gar nicht bewusst, sondern nur
dessen blasses, abgetötetes Spiegelbild, welches das Gehirn in unsere
Seele zurückwirft. Je öfter wir gewisse Gedankenformen durchleben,
desto ausgeprägter und unverrückbarer werden die entsprechenden
Nervenverbindungen. Das führt aber dazu, dass endlich unser anfangs
überschäumendes lebendiges Denken immer mehr in bestimmte
ausgetretene Bahnen kanalisiert wird und immer mehr von seinen ursprünglichen
Gestaltungsreichtum verliert: Das Gehirn tötet das lebendige
Denken. Und so paradox es scheinen mag: je mehr wir an Verstand
gewinnen, desto mehr verlieren wir an wirklichem, lebendigen Denkvermögen.
Es mag ja sein, dass wir mit zunehmendem Alter immer gescheiter
werden; aber wir verlieren zugleich auch immer mehr an wirklicher
Weisheit – wenn es uns nicht auf andere Weise als durch den
alternden Verstand gelingt, die kindliche Weisheit wiederzugewinnen:
Wahrlich,
ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so
werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Mt
18,3)
Das
geht nur, wenn es gelingt, das lebendige Denken aus der Umklammerung
des Gehirns zu erlösen und immer beweglicher zu machen, ohne
dabei das zunächst durch das Gehirndenken erworbene Selbstbewusstsein
zu verlieren – denn sonst würden wir ja bloß zu jenem im Grunde
vormenschlichen Urzustand zurückkehren, in dem unser Selbst noch gar
nicht richtig erwacht war. Dazu ist aber eine hohe geistige
Willenskraft nötig, die uns von den eingefahrenen Gedankenbahnen
unserer gehegten und gepflegten Lieblingsmeinungen losreißt. Sich völlig
selbstlos in Gedankenformen einzuleben, die den unseren vielleicht
ganz und gar widersprechen, ist äußerst heilsam. Wir kommen so von
uns selbst los, um uns auf einer höheren, wirklichkeitsgemäßeren
Ebene wiederzufinden. Denn was wir so gewöhnlich für unser Selbst
halten, hat in Wahrheit mit unserem wirklichen Ich recht wenig zu tun,
sondern ist mehr ein Sammelsurium der vorgefassten Ideen, Meinungen, Wünsche
und Begierden, die uns im Laufe unseres Lebens unbewusst eingeprägt
wurden. Oder man nehme sich einen Gedankengang her, von dem man
felsenfest überzeugt ist, dass er eine unverrückbare Wahrheit
darstellt, und durchdenke folgerichtig und konsequent das genaue
Gegenteil davon. Das heißt ja nicht, dass man sich dieses Gegenteil
dann sogleich zur neuen Lebensmaxime machen soll – schlicht und
einfach durchdenken soll man es. Man wird dann übrigens meist
feststellen, dass dieser völlige Widerspruch zu unserer tiefsten
intellektuellen Überzeugung in gewissen Fällen und gewissen
Lebensbereichen durchaus auch seine Berechtigung hat - was unseren
geistigen Horizont beträchtlich erweitert. Vorallem aber reißen uns
solche Denkübungen, wenn man sie regelmäßig macht, sehr energisch
von den Ketten los, die uns an unser Gehirn fesseln.
Eines
ist nun noch besonders bedeutsam: Wir müssen unser Bewusstsein dahin
lenken, den Denkprozess selbst sehr wachsam zu beobachten. Das tun wir
nämlich normalerweise nicht. Wenn wir unseren Verstand gebrauchen,
sind wir ganz auf die Sache konzentriert, über die wir nachdenken, während
der eigentliche lebendige Denkvorgang verborgen bleibt und uns nur
sein toter erstarrter Schatten bewusst wird. Dann kommen wir allmählich
dazu, die eigentliche Wirklichkeit des Denkens zu spüren, die dem bloßen
Verstandesdenken ganz und gar mangelt. Wir entwickeln ein rechtes
Wirklichkeitsempfinden nämlich nur dort, wo es uns gelingt, Denken
und Beobachtung miteinander zu einem Ganzen zu verbinden. Das
Verstandesdenken, aber auch die äußere sinnliche oder die innere
seelische Wahrnehmung für sich genommen, stellen noch keine
Wirklichkeit dar, sondern sind jeweils nur die eine oder andere Hälfte
derselben. Es liegt einfach an der menschlichen Organisation, dass die
Wirklichkeit unserem Bewusstsein zunächst von zwei Seiten zufließt,
die wir aktiv durch die Tätigkeit unseres selbstbewussten Ichs
verbinden müssen. Gerade dadurch kommen wir überhaupt erst zum
Ichbewusstsein. Wenn ich in die Natur schaue und dabei ein Konglomerat
grünlicher und bräunlicher Flecken erlebe, die sich in den
unterschiedlichsten verwirrenden Formen gestalten, spüre ich von der
Wirklichkeit des Gesehenen noch nichts. Wenn sich aber daran das
Denken entzündet und das Ganze als Kastanienbaum erkennt, fühle ich
mich zurecht einem wirklichen Kastanienbaum gegenübergestellt. In der
Wirklichkeit draußen sind die sinnlichen Qualitäten der Dinge
untrennbar mit den Lebensgesetzen verbunden, durch die sie sich zum
Kastanienbaum formen. Wir erleben die sinnlichen Qualitäten und die für
uns nur durch das Denken zu erfassenden Lebensgesetze zunächst auf
getrennten Wegen, und erst wenn wir diese zusammenführen, landen wir
wieder bei der Wirklichkeit. Der äußeren Natur gegenüber, in der
wir aufgewachsen sind, geht das meist so schnell, dass wir gar nicht
mehr recht bemerken, dass dabei das Denken rege wird. Aber wenn wir
einen Kastanienbaum als Kastanienbaum anschauen, d.h. als einen
solchen erkennen, war schon das Denken beteiligt. Dieses Denken, das
uns den Kastanienbaum erkennen lässt, und das wir so ganz und gar
verschlafen, ist übrigens schon jenes ursprüngliche lebendige
Denken, das in der Natur draußen wirklich den Kastanienbaum lebendig
in seine charakteristische Form heranreifen lässt, und nicht bloß
der abstrakte Gedankenschatten, der entsteht, wenn wir uns später
einmal vielleicht wissenschaftlich mit dem Wesen der Kastanienbäume
beschäftigen. Geling es uns, ersteres ins Bewusstsein zu heben,
kommen wir schon an das wirkliche Denken heran, das mit der in der
Natur waltenden Weisheit identisch ist.
Und
noch etwas kommt hinzu, was einem geradezu zur erschütternden
Lebenserfahrung in einem solchen Denkerlebnis werden kann. Hatte man
beim Verstandesdenken die deutliche Erfahrung des „Ich denke“
gemacht, so erlebt man nun sehr intensiv: „Es denkt in mir“.
Nicht ich denke nun über den Kastanienbaum nach, sondern der
Kastanienbaum, oder besser gesagt, was geistig gestaltend in ihm
wirkt, denkt nun in mir. Oder noch besser ausgedrückt: Ich tauche mit
meinem wachen Ichbewusstsein in eine geistige Außenwelt ein, die sich
zunächst in einem webenden und wogenden lebendigen Denken um mich
herum entfaltet. Diesem Denken gegenüber erfährt man ein
hochgradig gesteigertes Wirklichkeitsempfinden, das noch viel größer
als jenes ist, mit dem wir der äußeren sinnlichen Welt gegenübertreten.
Kein Stein, an dem wir uns die Füße blutig stoßen, kann so wirklich
erscheinen wie jenes Gedankenleben, das sich uns nun eröffnet.
Wenn
sich diese Erfahrung noch weiter steigert, spüren wir allmählich,
dass es keine herrenlos durch die geistige Welt streifenden
Weltengedanken sind, die wir nun erleben, sondern dass sie ganz
konkret wesenhaften Charakter haben. Geistige Wesen sind es, die diese
lebendigen Gedankenformen erregen. Das können Tote sein, die nun ihr
lebendiges geistiges Wesen regsam machen. Das können aber auch
geistige Wesen sein, die den Menschen deutlich an geistiger Kraft überragen,
aber niemals körperlich die Sinneswelt betreten haben. Namentlich ein
uns zugeordnetes Geistwesen, das uns geistig leitet, solange wir das
nicht selbst vermögen, kann dabei sehr deutlich hervortreten. Dieses
wird für uns gleichsam zum Vermittler und Boten für die ganze übrige
geistige Welt. Dass man den Kindern von ihrem Schutzengel erzählt,
beruht nicht auf einer bloßen Erdichtung, sondern stammt aus solchen
oder ähnlichen Erlebnissen. Lebendiges, hirnloses (man
verzeihe diesen paradox scheinenden Ausdruck) Denken zu entwickeln,
bedeutet eigentlich: Mit seinem Engel denken
zu können.
Und
obwohl wir nun bei alle dem gerade nicht dieses „Ich denke“
erleben, das uns das Selbstbewusstsein auf erster Stufe gegeben hat,
so verlieren wir uns dennoch nicht, sondern finden uns jetzt erst so
richtig und zwar interessanterweise zuerst derart, dass wir uns, die
wir unser Verstandesdenken verstummen ließen, gleichsam wie einen völlig
leeren Hohlraum in der geistigen Welt empfinden, von dem wir
unmittelbar wissen, dass er für alle Ewigkeit für uns reserviert ist
und dass nur wir selbst ihn durch unsere eigenen geistigen Taten erfüllen
können. Wenn wir das auch nur ansatzweise erleben können, beginnen
wir zu ahnen, was unser geistiges Ich wirklich ist, und dass seine
Heimat in der geistigen Welt bereitet ist, und dann treten wir schon
mitten im Erdenleben die geistige Himmelfahrt an, die uns ganz
neue Kräfte gibt, unser weiteres Erdenleben so fruchtbar als möglich
zum Heil der Welt zu gestalten.
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Wolfgang
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