Rudolf Steiner
Allgemeine Anforderungen,
die ein jeder an sich selbst stellen muß,
der eine okkulte Entwickelung durchmachen will
In dem Folgenden werden die
Bedingungen dargestellt, die einer okkulten Entwickelung zugrunde
liegen müssen. Es sollte niemand denken, daß er durch irgendwelche
Maßnahmen des äußeren oder inneren Lebens vorwärtskommen könne,
wenn er diese Bedingungen nicht erfüllt. Alle Meditations- und
Konzentrations- und sonstigen Übungen werden wertlos, ja, in einer
gewissen Beziehung sogar schädlich sein, wenn das Leben nicht im
Sinne dieser Bedingungen sich regelt. Man kann dem Menschen keine
Kräfte geben; man kann nur die in ihm schon liegenden zur
Entwickelung bringen. Sie entwickeln sich nicht von selbst, weil es
äußere und innere Hindernisse für sie gibt. Die äußeren
Hindernisse werden behoben durch die folgenden Lebensregeln. Die
inneren durch die besonderen Anweisungen über Meditation und
Konzentration usw.
Die erste Bedingung ist die Aneignung
eines vollkommen klaren Denkens. Man muß zu diesem Zwecke sich, wenn
auch nur eine ganz kurze Zeit des Tages, etwa fünf Minuten (je mehr,
desto besser) freimachen von dem Irrlichtelieren der Gedanken. Man
muß Herr in seiner Gedankenwelt werden. Man ist nicht Herr, wenn
äußere Verhältnisse, Beruf, irgendwelche Tradition,
gesellschaftliche Verhältnisse, ja, selbst die Zugehörigkeit zu
einem gewissen Volkstum, wenn Tageszeit, bestimmte Verrichtungen usw.,
usw., bestimmen, daß man einen Gedanken hat, und wie man ihn
ausspinnt. Man muß sich also in obiger Zeit ganz nach freiem Willen
leer machen in der Seele von dem gewöhnlichen, alltäglichen
Gedankenablauf und sich aus eigener Initiative einen Gedanken in den
Mittelpunkt der Seele rücken. Man braucht nicht zu glauben, daß dies
ein hervorragender oder interessanter Gedanke sein muß; was in
okkulter Beziehung erreicht werden soll, wird sogar besser erreicht,
wenn man anfangs sich bestrebt, einen möglichst
uninteressanten und unbedeutenden Gedanken zu wählen. Dadurch wird
die selbsttätige Kraft des Denkens, auf die es ankommt, mehr erregt,
während bei einem Gedanken, der interessant ist, dieser selbst das
Denken fortreißt. Es ist besser, wenn diese Bedingung der
Gedankenkontrolle mit einer Stecknadel, als wenn sie mit Napoleon dem
Großen vorgenommen wird. Man sagt sich: Ich gehe jetzt von diesem
Gedanken aus und reihe an ihn durch eigenste innere Initiative alles,
was sachgemäß mit ihm verbunden werden kann. Der Gedanke soll dabei
am Ende des Zeitraumes noch ebenso farbenvoll und lebhaft vor der
Seele stehen wie am Anfang. Man mache diese Übung Tag für Tag,
mindestens einen Monat hindurch; man kann jeden Tag einen neuen
Gedanken vornehmen; man kann aber auch einen Gedanken mehrere Tage
festhalten. Am Ende einer solchen Übung versuche man, das innere
Gefühl von Festigkeit und Sicherheit, das man bei subtiler
Aufmerksamkeit auf die eigene Seele bald bemerken wird, sich voll zum
Bewußtsein zu bringen, und dann beschließe man die Übungen dadurch,
daß. man an sein Haupt und an die Mitte des Rückens (Hirn und
Rückenmark) denkt, so wie wenn man jenes Gefühl in diesen
Körperteil hineingießen wollte.
Hat man sich etwa einen Monat also geübt, so lasse man eine zweite
Forderung hinzutreten. Man versuche irgendeine Handlung zu erdenken,
die man nach dem gewöhnlichen Verlaufe seines bisherigen Lebens ganz
gewiß nicht vorgenommen hätte. Man mache sich nun diese Handlung
für jeden Tag selbst zur Pflicht. Es wird daher gut sein, wenn man
eine Handlung wählen kann, die jeden Tag durch einen möglichst
langen Zeitraum vollzogen werden kann. Wieder ist es besser, wenn man
mit einer unbedeutenden Handlung beginnt, zu der man sich sozusagen
zwingen muß, zum Beispiel man nimmt sich vor, zu einer bestimmten
Stunde des Tages eine Blume, die man sich gekauft hat, zu begießen.
Nach einiger Zeit soll eine zweite dergleichen Handlungen zur ersten
hinzutreten, später eine dritte und so fort, soviel man bei
Aufrechterhaltung seiner sämtlichen anderen Pflichten ausführen
kann. Diese Übung soll wieder einen Monat lang dauern. Aber man soll,
soviel man kann, auch während dieses zweiten Monats der ersten Übung
obliegen, wenn man sich diese letztere auch nicht mehr so zur
ausschließlichen Pflicht macht wie im ersten Monat. Doch darf sie
nicht außer acht gelassen werden, sonst würde man bald bemerken, wie
die Früchte des ersten Monats bald verloren sind und der alte
Schlendrian der unkontrollierten Gedanken wieder beginnt. Man muß
überhaupt darauf bedacht sein, daß man diese Früchte, einmal
gewonnen, nie wieder verliere. Hat man eine solche durch die zweite
Übung vollzogene Initiativ-Handlung hinter sich, so werde man sich
des Gefühles von innerem Tätigkeitsantrieb innerhalb der Seele in
subtiler Aufmerksamkeit bewußt und gieße dieses Gefühl gleichsam so
in seinen Leib, daß man es vom Kopfe bis über das Herz herabströmen
lasse.
Im dritten Monat soll als neue Übung in den Mittelpunkt des Lebens
gerückt werden die Ausbildung eines gewissen Gleichmutes gegenüber
den Schwankungen von Lust und Leid, Freude und Schmerz, das
«Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt» soll mit Bewußtsein durch
eine gleichmäßige Stimmung ersetzt werden. Man gibt auf sich acht,
daß keine Freude mit einem durchgehe, kein Schmerz einen zu Boden
drücke, keine Erfahrung einen zu maßlosem Zorn oder Ärger
hinreiße, keine Erwartung einen mit Ängstlichkeit oder Furcht
erfülle, keine Situation einen fassungslos mache, usw., usw. Man
befürchte nicht, daß eine solche Übung einen nüchtern und
lebensarm mache; man wird vielmehr alsbald bemerken, daß an Stelle
dessen, was durch diese Übung vorgeht, geläutertere Eigenschaften
der Seele auftreten; vor allem wird man eines Tages eine innere Ruhe
im Körper durch subtile Aufmerksamkeit spüren können; diese gieße
man, ähnlich wie in den beiden oberen Fällen, in den Leib, indem man
sie vom Herzen nach den Händen, den Füßen und zuletzt nach dem
Kopfe strahlen läßt. Dies kann natürlich in diesem Falle nicht nach
jeder einzelnen Übung vorgenommen werden, da man es im Grunde nicht
mit einer einzelnen Übung zu tun hat, sondern mit einer
fortwährenden Aufmerksamkeit auf sein inneres Seelenleben. Man muß
sich jeden Tag wenigstens einmal diese
innere Ruhe vor die Seele rufen und dann die Übung des Ausströmens
vom Herzen vornehmen. Mit den Übungen des ersten und zweiten Monats
verhalte man sich, wie mit der des ersten Monats im zweiten.
Im vierten Monat soll man als neue
Übung die sogenannte Positivität aufnehmen. Sie besteht darin, allen
Erfahrungen, Wesenheiten und Dingen gegenüber stets das in ihnen
vorhandene Gute, Vortreffliche, Schöne usw. aufzusuchen. Am besten
wird diese Eigenschaft der Seele charakterisiert durch eine persische
Legende über den Christus Jesus. Als dieser mit seinen Jüngern
einmal einen Weg machte, sahen sie am Wegrande einen schon sehr in
Verwesung übergegangenen Hund liegen. Alle Jünger wandten sich von
dem häßlichen Anblick ab, nur der Christus Jesus blieb stehen,
betrachtete sinnig das Tier und sagte: Welch wunderschöne Zähne hat
das Tier! Wo die ändern nur das Häßliche, Unsympathische gesehen
hatten, suchte er das Schöne. So muß der esoterische Schüler
trachten, in einer jeglichen Erscheinung und in einem jeglichen Wesen
das Positive zu suchen. Er wird alsbald bemerken, daß unter der
Hülle eines Häßlichen ein verborgenes Schönes, daß selbst unter
der Hülle eines Verbrechers ein verborgenes Gutes, daß unter der
Hülle eines Wahnsinnigen die göttliche Seele irgendwie verborgen
ist. Diese Übung hängt in etwas zusammen mit dem, was man die
Enthaltung von Kritik nennt. Man darf diese Sache nicht so auffassen,
als ob man schwarz weiß und weiß schwarz nennen sollte. Es gibt aber
einen Unterschied zwischen einer Beurteilung, die von der eigenen
Persönlichkeit bloß ausgeht und Sympathie und Antipathie nach dieser
eigenen Persönlichkeit beurteilt. Und es gibt einen Standpunkt, der
sich liebevoll in die fremde Erscheinung oder das fremde Wesen
versetzt und sich überall fragt: Wie kommt dieses Andere dazu, so zu
sein oder so zu tun? Ein solcher Standpunkt kommt ganz von selbst
dazu, sich mehr zu bestreben, dem Unvollkommenen zu helfen, als es
bloß zu tadeln und zu kritisieren. Der Einwand, daß die
Lebensverhältnisse von vielen Menschen verlangen, daß sie tadeln und
richten, kann hier nicht gemacht werden. Denn dann sind diese
Lebensverhältnisse eben solche, daß der Betreffende eine richtige
okkulte Schulung nicht durchmachen kann. Es sind eben viele
Lebensverhältnisse vorhanden, die eine solche okkulte Schulung in
ausgiebigem Maße nicht möglich machen. Da sollte eben der Mensch
nicht ungeduldig verlangen, trotz alledem Fortschritte zu machen, die
eben nur unter gewissen Bedingungen gemacht werden können. Wer einen
Monat hindurch sich bewußt auf das Positive in allen seinen
Erfahrungen hinrichtet, der wird nach und nach bemerken, daß sich ein
Gefühl in sein Inneres schleicht, wie wenn seine Haut von allen
Seiten durchlässig würde und seine Seele sich weit öffnete
gegenüber allerlei geheimen und subtilen Vorgängen in seiner
Umgebung, die vorher seiner Aufmerksamkeit völlig entgangen waren.
Gerade darum handelt es sich, die in jedem Menschen vorhandene
Aufmerksamlosigkeit gegenüber solchen subtilen Dingen zu bekämpfen.
Hat man einmal bemerkt, daß dies beschriebene Gefühl wie eine Art
von Seligkeit sich in der Seele geltend macht, so versuche man dieses
Gefühl im Gedanken nach dem Herzen hinzulenken und es von da in die
Augen strömen zu lassen, von da hinaus in den Raum vor und um den
Menschen herum. Man wird bemerken, daß man ein intimes Verhältnis zu
diesem Raum dadurch erhält. Man wächst gleichsam über sich hinaus.
Man lernt ein Stück seiner Umgebung noch wie etwas betrachten, das zu
einem selber gehört. Es ist recht viel Konzentration zu dieser Übung
notwendig und vor allen Dingen ein Anerkennen der Tatsache, daß alles
Stürmische, Leidenschaftliche, Affektreiche völlig vernichtend auf
die angedeutete Stimmung wirkt. Mit der Wiederholung der Übungen von
den ersten Monaten hält man es wieder so, wie für frühere Monate
schon angedeutet ist.
Im fünften Monat versuche man dann in
sich das Gefühl auszubilden, völlig unbefangen einer jeden neuen
Erfahrung gegenüberzutreten. Was uns entgegentritt, wenn die Menschen
gegenüber einem eben Gehörten und Gesehenen sagen: «Das habe ich
noch nie gehört, das habe ich noch nie gesehen, das glaube ich nicht,
das ist eine Täuschung», mit dieser Gesinnung muß der esoterische
Schüler vollständig brechen. Er muß bereit sein, jeden
Augenblick eine völlig neue Erfahrung entgegenzunehmen. Was er bisher
als gesetzmäßig erkannt hat, was ihm als möglich erschienen ist,
darf keine Fessel sein für die Aufnahme einer neuen Wahrheit. Es ist
zwar radikal ausgesprochen, aber durchaus richtig, daß wenn jemand zu
dem esoterischen Schüler kommt und ihm sagt: «Du, der Kirchturm der
X-Kirche steht seit dieser Nacht völlig schief», so soll der
Esoteriker sich eine Hintertür offen lassen für den möglichen
Glauben, daß seine bisherige Kenntnis der Naturgesetze doch noch eine
Erweiterung erfahren könne durch eine solche scheinbar unerhörte
Tatsache. Wer im fünften Monat seine Aufmerksamkeit darauf lenkt, so
gesinnt zu sein, der wird bemerken, daß sich ein Gefühl in seine
Seele schleicht, als ob in jenem Raum, von dem bei der Übung im
vierten Monat gesprochen wurde, etwas lebendig würde, als ob sich
darin etwas regte. Dieses Gefühl ist außerordentlich fein und
subtil. Man muß versuchen, dieses subtile Vibrieren in der Umgebung
aufmerksam zu erfassen und es gleichsam einströmen zu lassen durch
alle fünf Sinne, namentlich durch Auge, Ohr und durch die Haut,
insofern diese letztere den Wärmesinn enthält. Weniger
Aufmerksamkeit verwende man auf dieser Stufe der esoterischen
Entwickelung auf die Eindrücke jener Regungen in den niederen Sinnen,
des Geschmacks, Geruchs und des Tastens. Es ist auf dieser Stufe noch
nicht gut möglich, die zahlreichen schlechten Einflüsse, die sich
unter die auch vorhandenen guten dieses Gebiets einmischen, von diesen
zu unterscheiden; daher überläßt der Schüler diese Sache einer
späteren Stufe.
Im sechsten Monat soll man dann versuchen, systematisch in einer
regelmäßigen Abwechslung alle fünf Übungen immer wieder und wieder
vorzunehmen. Es bildet sich dadurch allmählich ein schönes
Gleichgewicht der Seele heraus. Man wird namentlich bemerken, daß
etwa vorhandene Unzufriedenheiten mit Erscheinung und Wesen der Welt
vollständig verschwinden. Eine allen Erlebnissen versöhnliche
Stimmung bemächtigt sich der Seele, die keineswegs Gleichgültigkeit
ist, sondern im Gegenteil erst befähigt, tatsächlich bessernd und
fortschrittlich in der Welt zu arbeiten. Ein ruhiges Verständnis von
Dingen eröffnet sich, die früher der Seele völlig verschlossen
waren. Selbst Gang und Gebärde des Menschen ändern sich unter dem
Einfluß solcher Übungen, und kann der Mensch gar eines Tages
bemerken, daß seine Handschrift einen anderen Charakter angenommen
hat, dann darf er sich sagen, daß er eine erste Sprosse auf dem Pfade
aufwärts eben im Begriffe zu erreichen ist. Noch einmal muß
zweierlei eingeschärft werden:
Erstens, daß die besprochenen sechs Übungen den schädlichen
Einfluß, den andere okkulte Übungen haben können, paralysieren, so
daß nur das Günstige vorhanden bleibt. Und zweitens, daß sie den
positiven Erfolg der Meditations- und Konzentrationsarbeit eigentlich
allein sichern. Selbst die bloße noch so gewissenhafte Erfüllung
landläufiger Moral genügt für den Esoteriker noch nicht, denn diese
Moral kann sehr egoistisch sein, wenn sich der Mensch sagt: Ich will
gut sein, damit ich für gut befunden werde. - Der Esoteriker tut das
Gute nicht, weil er für gut befunden werden soll, sondern weil er
nach und nach erkennt, daß das Gute allein die Evolution vorwärts
bringt, das Böse dagegen und das Unkluge und das Häßliche dieser
Evolution Hindernisse in den Weg legen.
aus GA 245 (1968), S 15 ff.
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