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EINHEITLICHE NATURANSCHAUUNG UND ERKENNTNISGRENZEN

Monatsblätter des wissenschaftlichen Clubs in Wien, 1892/93, XIV. Jg., S. 89-99

Rudolf Steiner

Die Ansichten über den Wert und die Fruchtbarkeit der Philosophie haben innerhalb unserer Nation in der jüngsten Zeit eine tiefgehende Veränderung erfahren. Während zu Anfang des Jahrhunderts Fichte, Schelling und Hegel mit kühnem Denkermute an der Lösung der Welträtsel arbeiteten und das menschliche Erkenntnisvermögen fähig hielten, in die tiefsten Geheimnisse des Daseins einzudringen, vermeidet man es heute, auf die zentralen Probleme der Wissenschaften einzugehen, denn man ist überzeugt, daß die Beantwortung der letzten und höchsten Fragen dem menschlichen Geiste unmöglich ist. Das Vertrauen in das Denken ist uns verlorengegangen. Die Mutlosigkeit auf philosophischem Gebiete wird immer allgemeiner. Wir können das an der Wandlung sehen, die ein bedeutender und verdienstvoller Philosoph der Gegenwart seit seinem in die Mitte der siebziger Jahre fallenden ersten Auftreten durchgemacht hat. Ich meine Johannes Volkelt. In scharfen Worten tadelte dieser Gelehrte 1875 in der Einleitung zu seinem Buche über «Die Traum-Phantasie» die Halbheit und Kraftlosigkeit des Denkens seiner Zeitgenossen, das nicht in die Tiefen der Gegenstände eindringen will, sondern zaghaft und unsicher an der Oberfläche derselben herumtastet. Und als er im Jahre 1883 bei Übernahme der Philosophie-Professur in Basel seine Antrittsrede hielt, da hatte diese Zaghaftigkeit ihn selbst bis zu dem Grade ergriffen, daß er es als notwendige Forderung beim philosophischen Denken proklamierte, auf eindeutige, allseitig befriedigende Lösungen der letzten Fragen zu verzichten und sich mit der Auffindung der verschiedenen Lösungsmöglichkeiten sowie der Mittel und Wege, die zum Ziele führen könnten, zu begnügen. Das heißt aber doch die Unsicherheit zu einer charakteristischen Eigenschaft aller in die Tiefen gehenden Forschung erklären. Ein deutlicher Beweis für die Entmutigung auf philosophischem Gebiete ist die Entstehung einer Unzahl von Schriften über Erkenntnistheorie. Niemand wagt es heute, sein Erkenntnisvermögen bei Erforschung des Weltgeschehens anzuwenden, bevor er ängstlich geprüft hat, ob das Instrument zu einem solchen Beginnen auch tauglich sei. Der Philosoph Lotze hat diese wissenschaftliche Tätigkeit mit den Worten verspottet: das ewige Messerwetzen sei bereits langweilig geworden. — Diesen Spott verdient die Erkenntnistheorie allerdings nicht, denn ihr kommt es zu, die große Frage zu lösen: Inwieferne ist der Mensch imstande, sich durch sein Wissen in den Besitz der Weltgeheimnisse zu setzen? — Haben wir darauf eine Antwort gefunden, so ist damit ein wichtiger Teil des großen Lebensproblems gelöst: In welchem Verhältnisse stehen wir zur Welt? - Unmöglich können wir uns der Aufgabe entziehen, zu einer solch wichtigen Arbeit unsere Werkzeuge zu prüfen und zu schärfen. Nicht der Betrieb der erkenntnistheoretischen Forschung ist das Beklagenswerte, wohl aber erscheint uns ein betrübendes Bild, wenn wir auf die Ergebnisse dieser Forschung in den letzten Jahrzehnten blicken. Das «Wetzen der Messer» hat nichts genützt, sie sind stumpf geblieben. Die Erkenntnistheoretiker sind fast ausnahmslos zu der Ansicht gekommen, daß die Zaghaftigkeit im Gebiete der Philosophie mit Notwendigkeit aus dem Wesen unseres Erkenntnisvermögens folge; sie glauben, daß letzteres wegen der ihm gesetzten unüberschreitbaren Grenzen bis zum Grund der Dinge überhaupt nicht dringen könne. Eine Anzahl Philosophen behaupten, die Erkenntniskritik führe zur Überzeugung, daß es eine Philosophie neben den einzelnen Erfahrungswissenschaften nicht geben könne und daß alles philosophische Denken nur die Aufgabe habe, der empirischen Einzelforschung eine methodische Grundlegung zu liefern. Wir haben akademische Lehrer der Philosophie, die ihre eigentliche Sendung darin erblicken, das Vorurteil zu zerstören, daß es eine Philosophie gebe.

Diese Ansicht schädigt das gesamte wissenschaftliche Leben der Gegenwart. Die Philosophen, denen selbst jeder Halt innerhalb ihres Gebietes fehlt, vermögen auch auf die einzelnen Spezialwissenschaften nicht mehr jenen Einfluß auszuüben, der zur Vertiefung der Forschung wünschenswert wäre. Wir haben in jüngster Zeit an einem charakteristischen Beispiele gesehen, daß die Vertreter der Einzelforschung alle Fühlung mit der Philosophie verloren haben. Sie zogen aus der Richtung der Kantianer, die sie mit Recht als unfruchtbar für wahre Wissenschaft bezeichnen, den falschen Schluß, daß die Philosophie als solche überflüssig sei. Daher sehen sie die Beschäftigung mit derselben nicht mehr als ein notwendiges Bedürfnis des Gelehrten an. Die Folge davon ist, daß sie alles Verständnis für eine tiefere Auffassung der Welt verlieren und gar nicht ahnen, daß ein im echten Sinne philosophischer Blick sie überschaut und ihre Probleme viel gründlicher zu fassen weiß, als sie selbst es können. Im Jahre 1869 erschien Eduard von Hartmanns «Philosophie des Unbewußten». Der Verfasser versuchte in einem Kapitel des Buches, sich mit dem Darwinismus philosophisch auseinanderzusetzen. Er fand, daß die damals herrschende Auffassung desselben einem folgerechten Denken gegenüber nicht standhalten könne, und suchte sie zu vertiefen. Die Folge davon war, daß er von Seiten der Naturforscher des Dilettantismus beschuldigt und auf die denkbar schärfste Art verurteilt wurde. In zahlreichen Aufsätzen und Schriften wurde ihm Einsichtslosigkeit in naturwissenschaftlichen Dingen vorgeworfen. Unter den gegnerischen Schriften befand sich auch die eines Anonymus. Das darin Gesagte wurde von angesehenen Naturforschern als das Beste und Sachgemäßeste bezeichnet, was gegen Hartmanns Ansichten vorgebracht werden könne. Die Fachgelehrten hielten den Philosophen für vollständig widerlegt. Der berühmte Zoologe Dr. Oskar Schmidt sagte, die Schrift des Anonymus habe «alle, welche nicht auf das Unbewußte eingeschworen sind, in ihrer Überzeugung vollkommen bestätigt, daß der Darwinismus» — und Schmidt meint die von den Naturforschern vertretene Auffassung desselben — «im Rechte sei». Und der auch von mir als der größte deutsche Naturforscher der Gegenwart verehrte Ernst Haeckel schrieb: «Diese ausgezeichnete Schrift sagt im wesentlichen alles, was ich selbst über die Philosophie des Unbewußten den Lesern der Schöpfungsgeschichte hätte sagen können...»

Als später eine zweite Auflage der Schrift erschien, stand auf dem Titelblatte als Name des Verfassers — Eduard von Hartmann. Der Philosoph hatte zeigen wollen, daß es ihm durchaus nicht unmöglich ist, sich in den naturwissenschaftlichen Gedankenkreis einzuleben und in der Sprache der Naturforscher zu reden, wenn er will. Hartmann hat damit den Beweis geliefert, daß es nicht den Philosophen an Verständnis für die Naturwissenschaft, sondern umgekehrt den Vertretern der letztern an Einsicht in die Philosophie fehlt.

Nicht besser steht es mit der Literaturgeschichte. Die Anhänger Scherers, welche gegenwärtig dieses Feld beherrschen, zeigen in ihren Schriften, daß ihnen jegliche philosophische Bildung fehlt. Scherer selbst stand der Philosophie fremd und ablehnend gegenüber. Mit einer solchen Gesinnung kann man aber die deutschen Klassiker unmöglich verstehen, denn deren Schöpfungen sind ganz von dem philosophischen Geiste ihrer Zeit durchsetzt und nur aus diesem heraus verständlich.

Wollen wir diese Tatsachen mit wenigen Worten zusammenfassen, so müssen wir sagen: der Glaube an die Philosophie hat in den weitesten Kreisen eine tiefe Erschütterung erfahren.

Nach meiner Überzeugung, für die ich sogleich einige Beweise bringen werde, ist die hiermit gekennzeichnete Strömung eine der traurigsten wissenschaftlichen Verirrungen. Bevor ich aber meine eigene Ansicht zum Ausdrucke bringe, sei es mir gestattet, anzugeben, worin der Grund des Irrtums zu suchen ist.

Unsere philosophische Wissenschaft steht unter dem mächtigen Einflüsse des Kantianismus. Dieser Einfluß ist heute bedeutender, als er zu irgendeiner Zeit gewesen ist. Im Jahre 1865 hat Otto Liebmann in seiner Schrift «Kant und die Epigonen» die Forderung erhoben: wir müssen in der Philosophie zu Kant zurückkehren. — In der Erfüllung dieser Forderung sieht er das Heil seiner Wissenschaft. Er hat damit nur der Ansicht der überwiegenden Mehrheit der Philosophen unserer Zeit Ausdruck gegeben. Und auch die Naturforscher, insofern sich dieselben um philosophische Begriffe noch bekümmern, sehen in der Kantschen Lehre die einzig mögliche Form der Zentralwissenschaft. Von Philosophen und Naturforschern ausgehend, ist diese Meinung auch in die weiteren Kreise der Gebildeten gedrungen, die ein Interesse für Philosophie haben. Damit hat die Kantsche Anschauungsweise die Bedeutung einer treibenden Kraft in unserem wissenschaftlichen Denken erlangt. Ohne je eine Zeile von Kant gelesen oder einen Satz aus seiner Lehre gehört zu haben, sehen die meisten unserer Zeitgenossen das Weltgeschehen in seiner Art an. Seit einem Jahrhundert wird immer wieder und wieder das stolz klingende Wort ausgesprochen: Kant habe die denkende Menschheit von den Fesseln des philosophischen Dogmatismus befreit, welcher leere Behauptungen über das Wesen der Dinge aufstellte, ohne eine kritische Untersuchung darüber anzustellen, ob der menschliche Geist auch fähig sei, über dieses Wesen etwas schlechthin Gültiges auszumachen. — Für viele, welche dies Wort aussprechen, ist aber an die Stelle des alten Dogmas nur ein neues getreten, nämlich das von der unumstößlichen Wahrheit der Kantschen Grundanschauungen. Diese lassen sich in folgende Sätze zusammenfassen: Ein Ding kann von uns nur wahrgenommen werden, wenn es auf uns einen Eindruck macht, eine Wirkung ausübt. Dann ist es aber immer nur diese Wirkung, die wir wahrnehmen, niemals das «Ding an sich». Von dem letzteren können wir uns keinerlei Begriff machen. Die Wirkungen der Dinge auf uns sind nun unsere Vorstellungen. Was uns von der Welt bekannt ist, sind also nicht die Dinge, sondern unsere Vorstellungen von den Dingen. Die uns gegebene Welt ist nicht eine Welt des Seins, sondern eine Vorstellungs- oder Erscheinungswelt. Die Gesetze, nach denen die Einzelheiten dieser Vorstellungswelt verknüpft sind, können dann natürlich auch nicht die Gesetze der «Dinge an sich» sein, sondern jene unseres subjektiven Organismus. Was für uns Erscheinung werden soll, muß sich den Gesetzen unseres Subjektes fügen. Die Dinge können uns nur so erscheinen, wie es unserer Natur gemäß ist. Der Welt, die uns erscheint - und diese allein kennen wir —, schreiben wir selbst die Gesetze vor.

Was Kant mit diesen Anschauungen für die Philosophie gewonnen zu haben glaubte, wird klar, wenn man einen Blick auf die wissenschaftlichen Strömungen wirft, aus denen er herausgewachsen ist und denen er sich gegenüberstellt. Vor der Kantschen Reform waren die Lehren der Leibniz-Wolffschen Schule in Deutschland die alleinherrschenden. Die Anhänger dieser Richtung wollten auf dem Wege des rein begrifflichen Denkens zu den Grundwahrheiten über das Wesen der Dinge kommen. Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse galten als die klaren und notwendigen gegenüber den durch sinnliche Erfahrung gewonnenen, die man für verworren und zufällig ansah. Nur durch reine Begriffe glaubte man auch zu wissenschaftlichen Einsichten in den tieferen Zusammenhang der Weltereignisse, in die Natur der Seele und Gottes, also zu den sogenannten absoluten Wahrheiten, zu gelangen. Auch Kant war in seiner vorkritischen Zeit ein Anhänger dieser Schule. Seine ersten Schriften sind ganz in ihrem Sinne gehalten. Ein Umschwung in seinen Anschauungen trat ein, als er mit den Ausführungen des englischen Philosophen Hume bekannt wurde. Dieser suchte den Nachweis zu führen, daß es andere als Erfahrungserkenntnisse nicht gibt. Wir nehmen den Sonnenstrahl wahr, und hierauf bemerken wir, daß der Stein, auf den ersterer fällt, sich erwärmt hat. Dies nehmen wir immer wieder und wieder wahr und gewöhnen uns daran. Deshalb setzen wir voraus, daß sich der Zusammenhang zwischen Sonnenstrahl und Erwärmung des Steines auch in aller Zukunft in derselben Weise geltend machen wird. Eine sichere und notwendige Erkenntnis ist damit aber keineswegs gewonnen. Nichts verbürgt uns, daß ein Geschehen, das wir gewohnt sind, in einer bestimmten Weise zu sehen, nicht bei nächster Gelegenheit ganz anders ablaufe. Alle Sätze in unseren Wissenschaften sind nur durch Gewohnheit festgesetzte Ausdrücke für oft bemerkte Zusammenhänge der Dinge. Daher kann es auch über jene Objekte, um die sich die Philosophen bemühen, kein Wissen geben. Es fehlt uns hier die Erfahrung, welche die einzige Quelle unserer Erkenntnis ist. Über diese Dinge muß der Mensch sich mit dem bloßen Glauben begnügen. Will sich die Wissenschaft damit beschäftigen, so artet sie in ein leeres Spiel mit Begriffen ohne Inhalt aus. Diese Sätze gelten, im Sinne Humes, nicht nur von den letzten psychologischen und theologischen Erkenntnissen, sondern schon von den einfachsten Naturgesetzen, zum Beispiel von dem Satze, daß jede Wirkung eine Ursache haben müsse. Auch dieses Urteil ist nur aus der Erfahrung gewonnen und durch Gewohnheit festgelegt. Als unbedingt gültig und notwendig läßt Hume nur jene Sätze gelten, bei denen das Prädikat im Grunde schon im Subjekte eingeschlossen ist, wie das nach seiner Ansicht bei den mathematischen Urteilen der Fall ist.

Kant wurde durch die Bekanntschaft mit Humes Anschauung in seiner bisherigen Überzeugung erschüttert. Daß wirklich alle unsere Erkenntnisse mit Hilfe der Erfahrung gewonnen werden, daran zweifelte er bald nicht mehr. Aber gewisse wissenschaftliche Lehrsätze schienen ihm doch einen solchen Charakter von Notwendigkeit zu haben, daß er an ein bloß gewohnheitsmäßiges Festhalten an denselben nicht glauben wollte. Kant konnte sich weder entschließen, den Radikalismus Humes mitzumachen, noch vermochte er bei den Bekennern der Leibniz-Wolffschen Wissenschaft zu bleiben. Jener schien ihm alles Wissen zu vernichten, in dieser fand er keinen wirklichen Inhalt. Richtig angesehen, stellt sich der Kantsche Kritizismus als ein Kompromiß zwischen Leibniz-Wolff einerseits und Hume andererseits heraus. Und die Kantsche Grundfrage lautet mit Rücksicht darauf: Wie können wir zu Urteilen kommen, die im Sinne von Leibniz und Wolff notwendig gültig sind, wenn wir zugleich zugeben, daß wir nur durch die Erfahrung zu einem wirklichen Inhalte unseres Wissens gelangen? Aus der in dieser Frage liegenden Tendenz läßt sich die Gestalt der Kantschen Philosophie begreifen. Hatte Kant einmal zugegeben, daß wir unsere Erkenntnisse aus der Erfahrung gewinnen, so mußte er der letzteren eine solche Gestalt geben, daß sie die Möglichkeit von allgemein- und notwendig-gültigen Urteilen nicht ausschloß. Das erreichte er dadurch, daß er unseren Wahr-nehmungs- und Verstandesorganismus zu einer Macht erhob, der die Erfahrung miterzeugt. Unter dieser Voraussetzung konnte er sagen: Was auch immer aus der Erfahrung von uns aufgenommen wird, es muß sich den Gesetzen fügen, nach denen unsere Sinnlichkeit und unser Verstand allein auffassen können. Was sich diesen Gesetzen nicht fügt, das kann für uns nie ein Gegenstand der Wahrnehmung werden. Was uns erscheint, das hängt also von den Dingen außer uns ab, wie uns die letzteren erscheinen, das ist von der Natur unseres Organismus bedingt. Die Gesetze, unter denen sich derselbe etwas vorstellen kann, sind somit die allgemeinsten Naturgesetze. In diesen liegt auch das Notwendige und Allgemeingültige des Weltlaufes. Wir sehen im Kantschen Sinne die Gegenstände nicht deshalb in räumlicher Anordnung, weil die Räumlichkeit eine ihnen zukommende Eigenschaft ist, sondern weil der Raum eine Form ist, unter welcher unser Sinn die Dinge wahrzunehmen befähigt ist; zwei Ereignisse verknüpfen wir nicht deshalb nach dem Begriffe der Ursächlichkeit, weil dies einen Grund in der Wesenheit derselben hat, sondern weil unser Verstand so organisiert ist, daß er zwei in aufeinanderfolgenden Zeitmomenten wahrgenommene Prozesse diesem Begriff gemäß verknüpfen muß. So schreiben unsere Sinnlichkeit und unser Verstand der Erfahrungswelt die Gesetze vor. Und von diesen Gesetzen, die wir selbst in die Erscheinungen legen, können wir uns natürlich auch notwendig gültige Begriffe machen.

Klar ist es aber auch, daß diese Begriffe einen Inhalt nur von außen, von der Erfahrung erhalten können. An sich sind sie leer und bedeutungslos. Wir wissen durch sie zwar, wie uns ein Gegenstand erscheinen muß, wenn er uns überhaupt gegeben wird. Daß er uns aber gegeben wird, daß er in unseren Gesichtskreis eintritt, das hängt von der Erfahrung ab. Wie die Dinge an sich, abgesehen von unserer Erfahrung, sind, darüber können wir durch unsere Begriffe also nichts ausmachen.

Auf diese Weise hat Kant ein Gebiet gerettet, auf dem es Begriffe von notwendiger Geltung gibt; aber er hat zugleich die Möglichkeit abgeschnitten, mit Hilfe dieser Begriffe über die eigentliche, absolute Wesenheit der Dinge etwas auszumachen. Kant hat, um die Notwendigkeit unserer Begriffe zu retten, deren absolute Anwendbarkeit geopfert. Um der letzteren willen wurde aber die erstere in der Vor-Kantschen Philosophie geschätzt. Kants Vorgänger wollten aus der Gesamtheit unseres Wissens einen zentralen Kern bloßlegen, der seiner Natur nach auf alles, also auch auf die absoluten Wesenheiten der Dinge, auf das «Innere der Natur» anwendbar ist. Das Ergebnis der Kantschen Philosophie ist aber, daß dieses Innere, dieses «An-sich der Objekte» niemals in den Bereich unserer Erkenntnis treten, nie ein Gegenstand unseres Wissens werden kann. Wir müssen uns mit der subjektiven Erscheinungswelt begnügen, welche in uns entsteht, wenn die Außenwelt auf uns einwirkt. Kant setzt also unserem Erkenntnisvermögen unübersteigliche Schranken. Von dem «An-sich der Dinge» können wir nichts wissen. Ein namhafter Philosoph der Gegenwart hat dieser Ansicht folgenden präzisen Ausdruck gegeben: «Solange das Kunststück, um die Ecke zu schauen, das heißt ohne Vorstellung vorzustellen, nicht erfunden ist, wird es bei der stolzen Selbstbescheidung Kants sein Bewenden haben, daß vom Seienden dessen Daß, niemals aber dessen Was erkennbar ist» — das heißt: wir wissen, daß etwas da ist, welches die subjektive Erscheinung des Dinges in uns bewirkt, was aber hinter der letzteren eigentlich steckt, bleibt uns verborgen.

Wir haben gesehen, daß Kant diese Ansicht angenommen hat, um von jeder der zwei entgegengesetzten philosophischen Lehren, von denen er ausging, möglichst viel zu retten. Aus dieser Tendenz heraus entwickelte sich eine gekünstelte Auffassung unseres Erkennens, die wir nur mit dem zu vergleichen brauchen, was die unmittelbare und unbefangene Beobachtung ergibt, um die ganze Haltlosigkeit des Kantschen Gedankengebäudes einzusehen. Kant denkt sich unsere Erfahrungserkenntnis aus zwei Faktoren zustande gekommen: aus den Eindrücken, welche die Dinge außer uns auf unsere Sinnlichkeit machen, und aus den Formen, in denen unsere Sinnlichkeit .und unser Verstand diese Eindrücke anordnen. Die ersteren sind subjektiv, denn ich nehme nicht das Ding wahr, sondern nur die Art und Weise, wie meine Sinnlichkeit davon affiziert wird. Mein Organismus erleidet eine Veränderung, wenn von außen etwas einwirkt. Diese Veränderung, also ein Zustand meines Selbst, meine Empfindung ist es, was mir gegeben ist. Im Akte des Auffassens nun ordnet unsere Sinnlichkeit diese Empfindungen räumlich und zeitlich, der Verstand wieder das Räumliche und Zeitliche nach Begriffen. Auch diese Gliederung der Empfindungen, der zweite Faktor unseres Erkennens, ist somit ganz und gar subjektiv. — Diese Theorie ist weiter nichts als eine willkürliche Gedankenkonstruktion, die vor der Beobachtung nicht standhalten kann. Legen wir uns einmal zuerst die Frage vor: Tritt irgendwo für uns eine einzelne Empfindung auf, einzeln für sich und abgesondert von anderen Elementen der Erfahrung? — Blicken wir auf den Inhalt der uns gegebenen Welt. Er ist eine kontinuierliche Ganzheit. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf irgendeinen Punkt unseres Erfahrungsgebietes richten, so finden wir, daß sich ringsherum anderes anschließt. Ein Abgesondertes, für sich allein Bestehendes gibt es hier nirgends. Eine Empfindung schließt sich an die andere. Wir können sie nur künstlich herausheben aus unserer Erfahrung; in Wahrheit ist sie mit dem Ganzen der uns gegebenen Wirklichkeit verbunden. Hier liegt ein Fehler, den Kant gemacht hat. Er hatte eine ganz falsche Vorstellung von der Beschaffenheit unserer Erfahrung. Die letztere besteht nicht, wie er glaubt, aus unendlich vielen Mosaiksteinchen, aus denen wir durch rein subjektive Vorgänge ein Ganzes machen, sondern sie ist uns als eine Einheit gegeben: eine Wahrnehmung geht in die andere ohne bestimmte Grenze über. Wollen wir eine Einzelheit für sich abgesondert betrachten, dann müssen wir sie erst künstlich aus dem Zusammenhange herausheben, in dem sie sich befindet. Nirgends ist uns zum Beispiel die Einzelempfindung des Rot als solche gegeben; allseitig ist sie von anderen Qualitäten umgeben, zu denen sie gehört und ohne die sie nicht bestehen könnte. Wir müssen von allem übrigen absehen und unsere Aufmerksamkeit auf die eine Wahrnehmung richten, wenn wir sie in ihrer Vereinzelung betrachten wollen. Dieses Herausheben eines Dinges aus seinem Zusammenhange ist für uns eine Notwendigkeit, wenn wir die Welt überhaupt betrachten wollen. Wir sind so organisiert, daß wir die Welt nicht als Ganzes, als eine einzige Wahrnehmung auffassen können. Das Rechts und Links, das Oben und Unten, das Rot neben dem Grün in meinem Gesichtsfelde sind in Wirklichkeit in ununterbrochener Verbindung und gegenseitiger Zusammengehörigkeit. Wir können den Blick aber nur nach einer Richtung wenden und das in der Natur Verbundene nur getrennt wahrnehmen. Unser Auge kann immer nur einzelne Farben aus einem vielgliedrigen Farbenganzen wahrnehmen, unser Verstand einzelne Begriffsglieder aus einem in sich zusammenhängenden Ideengebäude. Die Absonderung einer Einzelempfindung aus dem Weltzusammenhange ist somit ein subjektiver Akt, bedingt durch die eigentümliche Einrichtung unseres Geistes. Wir müssen die einheitliche Welt in Einzelempfindungen auflösen, wenn wir sie betrachten wollen.

Wir müssen uns aber darüber klar sein, daß diese unendliche Vielheit und Vereinzelung in Wahrheit gar nicht besteht, daß sie ohne alle objektive Bedeutung für die Wirklichkeit selbst ist. Wir schaffen ein zunächst von der Wirklichkeit abweichendes Bild derselben, weil uns die Organe fehlen, sie in ihrer ureigenen Gestalt in einem Akte aufzufassen. Aber das Trennen ist nur der eine Teil unseres Erkenntnisprozesses. Wir sind beständig damit beschäftigt, jede Einzelwahrnehmung, die an uns herantritt, einer Gesamtvorstellung einzuverleiben, die wir uns von der Welt machen.

Die sich hier notwendig anschließende Frage ist nun die: Nach welchen Gesetzen verknüpfen wir das im Wahrnehmungsakte Getrennte? - Die Trennung ist eine Folge unserer Organisation; sie hat mit der Sache selbst nichts zu tun. Deshalb kann auch der Inhalt einer Einzelwahrnehmung durch den Umstand nicht verändert werden, daß sie für uns zunächst aus dem Zusammenhange gerissen erscheint, in den sie gehört. Da aber dieser Inhalt durch den Zusammenhang bedingt ist, so erscheint er in seiner Absonderung zunächst ganz unverständlich. Daß an einer bestimmten Stelle des Raumes gerade die Wahrnehmung des Rot auftrete, ist von den mannigfaltigsten Umständen bewirkt. Wenn ich nun das Rot wahrnehme, ohne gleichzeitig auf diese Umstände meine Aufmerksamkeit zu richten, so bleibt es mir unverständlich, woher das Rot kommt. Erst wenn ich andere Wahrnehmungen, und zwar die jener Umstände gemacht habe, an die sich jene Wahrnehmung des Rot notwendig anschließt, dann verstehe ich die Sache. Jede Wahrnehmung weist mich also über sich selbst hinaus, weil sie aus sich selbst nicht zu erklären ist. Ich verbinde deswegen die durch meine Organisation aus dem Weltganzen abgesonderten Einzelheiten gemäß ihrer eigenen Natur zu einem Ganzen. In diesem zweiten Akte wird somit das wiederhergestellt, was in dem ersten zerstört wurde, die Einheit des Objektiven tritt wieder in ihr Recht gegenüber der subjektiv bedingten Vielheit. 

Der Grund, warum wir uns der objektiven Gestalt der Welt nur auf dem gekennzeichneten Umwege bemächtigen können, liegt in der Doppelnatur des Menschen. Als vernünftiges Wesen ist er sehr wohl imstande, sich den Kosmos als eine Einheit vorzustellen, in der jedes Einzelne als Glied des Ganzen erscheint; als sinnliches Wesen jedoch ist er an Ort und Zeit gebunden, er kann nur einzelne der unendlich vielen Glieder des Kosmos wahrnehmen. Die Erfahrung kann daher nur eine durch die Beschränktheit unserer Individualität bedingte Gestalt der Wirklichkeit liefern, aus welcher die Vernunft erst das Objektive gewinnen muß. Die sinnenfällige Anschauung entfernt uns also von der Wirklichkeit, die vernünftige Betrachtung führt uns darauf wieder zurück. Ein Wesen, dessen Sinnlichkeit in einem Akte die Welt anschauen könnte, bedürfte der Vernunft nicht. Ihm lieferte eine einzelne Wahrnehmung, was wir nur durch das Zusammenfassen unendlich vieler erreichen können.

Die eben angestellte Untersuchung unseres Erkenntnisvermögens führt uns zu der Ansicht, daß die Vernunft das Organ der Objektivität ist oder daß sie uns die eigentliche Gestalt der Wirklichkeit liefert. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen durch den Umstand, daß die Vernunft scheinbar ganz innerhalb unserer Subjektivität liegt. Wir haben gesehen, daß in Wahrheit ihre Tätigkeit dazu bestimmt ist, gerade den subjektiven Charakter, den unsere Erfahrung durch die sinnliche Wahrnehmung erhält, aufzuheben. Durch diese Tätigkeit stellen die Wahrnehmungsinhalte selbst in unserem Geiste den objektiven Zusammenhang wieder her, aus dem sie unsere Sinne gerissen haben.

Wir sind nun an dem Punkte, wo wir das Irrtümliche der Kantschen Auffassung durchschauen können. Was eine Folge unserer Organisation ist: das Auftreten der Wirklichkeit als unendlich viele getrennte Einzelheiten, das faßt Kant als objektiven Tatbestand auf; und die Verbindung, die sich wieder herstellt, weil sie der objektiven Wahrheit entspricht, die ist ihm eine Folge unserer subjektiven Organisation. Gerade das Umgekehrte von dem ist wahr, was Kant behauptet hat. Ursache und Wirkung zum Beispiel sind ein zusammengehöriges Ganzes. Ich nehme sie getrennt wahr und verbinde sie in der Weise, wie sie selbst zueinander streben. Kant hat sich durch Hume in den Irrtum hineintreiben lassen. Letzterer sagt: Wenn wir zwei Ereignisse immer und immer wieder in der Weise wahrnehmen, daß das eine auf das andere folgt, so gewöhnen wir uns an dieses Zusammensein, erwarten es auch in künftigen Fällen und bezeichnen das eine als Ursache, das andere als Wirkung. — Das widerspricht den Tatsachen. Wir bringen zwei Ereignisse nur dann in eine ursächliche Verbindung, wenn eine solche aus ihrem Inhalte folgt. Diese Verbindung ist nicht weniger gegeben als der Inhalt der Ereignisse selbst.

Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, findet die alltäglichste sowohl wie die höchste wissenschaftliche Denkarbeit ihre Erklärung. Könnten wir die ganze Welt mit einem Blick umspannen, dann wäre diese Arbeit nicht notwendig. Ein Ding erklären, verständlich machen heißt nichts anderes, als es wieder in den Zusammenhang hineinsetzen, aus dem es unsere Organisation herausgerissen hat. Ein Ding, das an sich vom Weltganzen abgetrennt ist, gibt es nicht. Alle Sonderung hat bloß eine subjektive Geltung für uns. Für uns legt sich das Weltganze auseinander in: Oben und Unten, Vor und Nach, Ursache und Wirkung, Gegenstand und Vorstellung, Stoff und Kraft, Objekt und Subjekt und so weiter. Alle diese Gegensätze sind aber nur möglich, wenn uns das Ganze, an dem sie auftreten, als Wirklichkeit gegenübertritt. Wo das nicht der Fall ist, können wir auch nicht von Gegensätzen sprechen. Ein unmöglicher Gegensatz ist der, den Kant als «Erscheinung» und «Ding an sich» bezeichnet. Dieser letztere Begriff ist ganz bedeutungslos. Wir haben nicht die geringste Veranlassung, ihn zu bilden. Er hätte nur für ein Bewußtsein Berechtigung, das außer der Welt, die uns gegeben ist, noch eine zweite kennt und welches beobachten kann, wie diese Welt auf unseren Organismus einwirkt und das von Kant als Erscheinung Bezeichnete zur Folge hat. Ein solches Bewußtsein könnte dann sagen: Die Welt der Menschen ist nur eine subjektive Erscheinung jener zweiten, mir bekannten Welt. Die Menschen selbst aber können nur Gegensätze innerhalb der ihnen gegebenen Welt anerkennen. Die Summe alles Gegebenen zu etwas anderem in Gegensatz bringen ist sinnlos. Das Kantsche «Ding an sich» folgt nicht aus dem Charakter der uns gegebenen Welt. Es ist hinzuerfunden.

Solange wir mit solchen willkürlichen Annahmen, wie das «Ding an sich» eine ist, nicht brechen, können wir niemals zu einer befriedigenden Weltanschauung kommen. Unerklärlich ist uns etwas nur, solange wir das nicht kennen, was notwendig damit zusammenhängt. Dies haben wir aber innerhalb, nicht außerhalb unserer Welt zu suchen.

Die Rätselhaftigkeit eines Dinges besteht nur, solange wir es in seiner Besonderheit betrachten. Diese ist aber von uns hervorgebracht und kann auch von uns wieder aufgehoben werden. Eine Wissenschaft, welche die Natur des menschlichen Erkenntnisprozesses versteht, kann nur so verfahren, daß sie alles, was sie zur Erklärung einer Erscheinung braucht, auch innerhalb der uns gegebenen Welt sucht. Eine solche Wissenschaft kann als Monismus oder einheitliche Naturauffassung bezeichnet werden. Ihr steht der Dualismus oder die Zweiweltentheorie gegenüber, welche zwei voneinander absolut verschiedene Welten annimmt und die Erklärungsprinzipien für die eine in der ändern enthalten glaubt.

Diese letztere Lehre beruht auf einer falschen Auslegung der Tatsachen unseres Erkenntnisprozesses. Der Dualist trennt die Summe alles Seins in zwei Gebiete, von denen jedes seine eigenen Gesetze hat und die einander äußerlich gegenüberstehen. Er vergißt, daß jede Trennung, jede Absonderung der einzelnen Seinsgebiete nur eine subjektive Geltung hat. Was eine Folge seiner Organisation ist, das hält er für eine außer ihm liegende, objektive Naturtatsache.

Ein solcher Dualismus ist auch der Kantianismus. Erscheinung und An-sich der Dinge sind nicht Gegensätze innerhalb der gegebenen Welt, sondern die eine Seite, das An-sich, liegt außerhalb des Gegebenen. — Solange wir das letztere in Teile trennen - mögen dieselben noch so klein sein im Verhältnis zum Universum -, folgen wir einfach einem Gesetze unserer Persönlichkeit; betrachten wir aber alles Gegebene, alle Erscheinungen als den einen Teil und stellen ihm dann einen zweiten entgegen, dann philosophieren wir ins Blaue hinein. Wir haben es dann mit einem bloßen Spiel mit Begriffen zu tun. Wir konstruieren einen Gegensatz, können aber für das zweite Glied keinen Inhalt gewinnen, denn ein solcher kann nur aus dem Gegebenen geschöpft werden. Jede Art des Seins, die außerhalb des letzteren angenommen wird, ist in das Gebiet der unberechtigten Hypothesen zu verweisen. In diese Kategorie gehört das Kantsche «Ding an sich» und nicht weniger die Vorstellung, welche ein großer Teil der modernen Physiker von der Materie und deren atomistischer Zusammensetzung hat. Wenn mir irgendeine Sinnesempfindung gegeben ist, zum Beispiel Farbe- oder Wärmeempfindung, dann kann ich innerhalb dieser Empfindung qualitative und quantitative Sonderungen vornehmen; ich kann die räumliche Gliederung und den zeitlichen Verlauf, die ich wahrnehme, mit mathematischen Formeln umspannen, ich kann die Erscheinungen gemäß ihrer Natur als Ursache und Wirkung ansehen und so weiter: ich muß aber mit diesem meinem Denkprozesse innerhalb dessen bleiben, was mir gegeben ist. Wenn wir eine sorgfältige Selbstkritik an uns üben, so finden wir auch, daß alle unsere abstrakten Anschauungen und Begriffe nur einseitige Bilder der gegebenen Wirklichkeit sind und nur als solche Sinn und Bedeutung haben. Wir können uns einen allseitig geschlossenen Raum vorstellen, in dem sich eine Menge elastischer Kugeln nach allen Richtungen bewegt, die sich gegenseitig stoßen, an die Wände an- und von diesen abprallen; aber wir müssen uns darüber klar sein, daß dies eine einseitige Vorstellung ist, die einen Sinn erst gewinnt, wenn wir uns das rein mathematische Bild mit einem sinnenfällig wirklichen Inhalt erfüllt denken. Wenn wir aber glauben, einen wahrgenommenen Inhalt ursächlich durch einen unwahrnehmbaren Seinsprozeß, der dem geschilderten mathematischen Gebilde entspricht und der außerhalb unserer gegebenen Welt sich abspielt, erklären zu können, so fehlt uns jede Selbstkritik. Den beschriebenen Fehler macht die moderne mechanische Wärmetheorie. Ganz dasselbe kann in bezug auf die moderne Farbentheorie gesagt werden. Auch sie verlegt etwas, was nur ein einseitiges Bild der Sinnenwelt ist, hinter diese als Ursache derselben. Die ganze Wellentheorie des Lichtes ist nur ein mathematisches Bild, das die räumlich-zeitlichen Verhältnisse dieses bestimmten Erscheinungsgebietes einseitig darstellt. Die Undulationstheorie macht dieses Bild zu einer realen Wirklichkeit, die nicht mehr wahrgenommen werden kann, sondern die vielmehr die Ursache dessen ist, was wir wahrnehmen. Es ist nun gar nicht zu verwundern, daß es dem dualistischen Denker nicht gelingt, den Zusammenhang zwischen den beiden von ihm angenommenen Weltprinzipien begreiflich zu machen. Das eine ist ihm erfahrungsmäßig gegeben, das andere von ihm hinzugedacht. Er kann also auch folgerichtig alles, was das eine enthält, nur durch Erfahrung, was in dem ändern enthalten ist, nur durch Denken gewinnen. Da aber aller Erfahrungsinhalt nur eine Wirkung des hinzugedachten wahren Seins ist, so kann in der unserer Beobachtung zugänglichen Welt nie die Ursache selbst gefunden werden. Ebensowenig ist das Umgekehrte möglich: aus der gedachten Ursache die erfahrungsmäßig gegebene Wirklichkeit abzuleiten. Dies letztere deshalb nicht, weil nach unseren bisherigen Auseinandersetzungen alle solchen erdachten Ursachen nur einseitige Bilder der vollen Wirklichkeit sind. Wenn wir ein solches Bild überblicken, so können wir mittels eines bloßen Gedankenprozesses nie das darinnen finden, was nur in der beobachteten Wirklichkeit damit verbunden ist. Aus diesen Gründen wird derjenige, welcher zwei Welten annimmt, die durch sich selbst getrennt sind, niemals zu einer befriedigenden Erklärung ihrer Wechselbeziehung kommen können.

Und hierinnen liegt die Veranlassung zur Annahme von Erkenntnisgrenzen. Der Anhänger der monistischen Weltanschauung weiß, daß die Ursachen zu den ihm gegebenen Wirkungen im Bereiche seiner Welt liegen müssen. Mögen die ersteren von den letzteren räumlich oder zeitlich noch so weit entfernt liegen: sie müssen sich im Bereiche der Erfahrung finden. Der Umstand, daß von zwei Dingen, die einander gegenseitig erklären, ihm augenblicklich nur das eine gegeben ist, erscheint ihm nur als eine Folge seiner Individualität, nicht als etwas im Objekte selbst Begründetes. Der Bekenner einer dualistischen Ansicht glaubt die Erklärung für ein Bekanntes in einem willkürlich hinzugedachten Unbekannten annehmen zu müssen. Da er dieses letztere unberechtigterweise mit solchen Eigenschaften ausstattet, daß es sich in unserer ganzen Welt nicht finden kann, so statuiert er hier eine Grenze des Erkennens. Unsere Auseinandersetzungen haben den Beweis geliefert, daß alle Dinge, zu denen unser Erkenntnisvermögen angeblich nicht gelangen kann, erst zu der Wirklichkeit künstlich hinzugedacht werden müssen. Wir erkennen nur dasjenige nicht, was wir erst unerkennbar gemacht haben. Kant gebietet unserem Erkennen Halt vor dem Geschöpfe seiner Phantasie, vor dem «Ding an sich», und Du Bois-Reymond stellt fest, daß die unwahrnehmbaren Atome der Materie durch ihre Lage und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, um dann zu dem Schlüsse zu kommen: wir können niemals zu einer befriedigenden Erklärung darüber gelangen, wie Materie und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, denn «es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewußtsein entstehen könne». — Diese ganze Schlußfolgerung fällt in nichts zusammen, wenn man erwägt, daß die sich bewegenden und in bestimmter Weise gelagerten Atome eine Abstraktion sind, der ein absolutes, von dem wahrnehmbaren Geschehen abgesondertes Dasein gar nicht zugeschrieben werden darf.

Eine wissenschaftliche Zergliederung unserer Erkenntnistätigkeit führt, wie wir gesehen haben, zu der Überzeugung, daß die . Fragen, die wir an die Natur zu stellen haben, eine Folge des eigentümlichen Verhältnisses sind, in dem wir zur Welt stehen. Wir sind beschränkte Individualitäten und können deshalb die Welt nur stückweise wahrnehmen. Jedes Stück, an und für sich betrachtet, ist ein Rätsel oder, anders ausgedrückt, eine Frage für unser Erkennen. Je mehr der Einzelheiten wir aber kennenlernen, desto klarer wird uns die Welt. Eine Wahrnehmung erklärt die andere. Fragen, welche die Welt an uns stellt und die mit den Mitteln, die sie uns bietet, nicht zu beantworten wären, gibt es nicht. Für den Monismus existieren demnach keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen. Es kann zu irgendeiner Zeit dies oder jenes unaufgeklärt sein, weil wir zeitlich oder räumlich noch nicht in der Lage waren, die Dinge aufzufinden, welche dabei im Spiele sind. Aber was heute noch nicht gefunden ist, kann es morgen werden. Die hierdurch bedingten Grenzen sind nur zufällige, die mit dem Fortschreiten der Erfahrung und des Denkens verschwinden. In solchen Fällen tritt dann die Hypothesenbildung in ihr Recht ein. Hypothesen dürfen nicht über etwas aufgestellt werden, das unserer Erkenntnis prinzipiell unzugänglich sein soll. Die atomistische Hypothese ist eine völlig unbegründete. Eine Hypothese kann nur eine Annahme über einen Tatbestand sein, der uns aus zufälligen Gründen nicht zugänglich ist, der aber seinem Wesen nach der uns gegebenen Welt angehört. Berechtigt ist zum Beispiel eine Hypothese über einen bestimmten Zustand unserer Erde in einer längst verflossenen Periode. Zwar kann dieser Zustand nie Objekt der Erfahrung werden, weil mittlerweile ganz andere Bedingungen eingetreten sind. Wenn aber ein wahrnehmendes Individuum zu der vorausgesetzten Zeit dagewesen wäre, dann hätte es den Zustand wahrgenommen. Unberechtigt dagegen ist die Hypothese, daß alle Empfindungsqualitäten nur quantitativen Vorgängen ihre Entstehung verdanken, weil qualitätslose Vorgänge nicht wahrgenommen werden können.

Der Monismus oder die einheitliche Naturerklärung geht aus einer kritischen Selbstbetrachtung des Menschen hervor. Diese Betrachtung führt uns zur Ablehnung aller außerhalb der Welt gelegenen erklärenden Ursachen derselben. Wir können diese Auffassung aber auch auf das praktische Verhältnis des Menschen zur Welt ausdehnen. Das menschliche Handeln ist ja nur ein spezieller Fall des allgemeinen Weltgeschehens. Seine Erklärungsprinzipien dürfen daher gleichfalls nur innerhalb der uns gegebenen Welt gesucht werden. Der Dualismus, der die Grundkräfte der uns vorliegenden Wirklichkeit in einem uns unzugänglichen Reiche sucht, versetzt dahin auch die Gebote und Normen unseres Handelns. Auch Kant ist in diesem Irrtume befangen. Er hält das Sittengesetz für ein Gebot, das von einer uns fremden Welt dem Menschen auferlegt ist, für einen kategorischen Imperativ, dem er sich zu fügen hat, auch dann, wenn seine eigene Natur Neigungen entfaltet, die einer solchen aus einem Jenseits in unser Diesseits hereintönenden Stimme sich widersetzen. Man braucht sich nur an Kants bekannte Apostrophe an die Pflicht zu erinnern, um das erhärtet zu finden: «Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst», der du «ein Gesetz aufstellst..., vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich im geheimen ihm entgegenwirken.» Einem solchen von außen der menschlichen Natur aufgedrungenen Imperativ setzt der Monismus die aus der Menschenseele selbst geborenen sittlichen Motive entgegen. Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, der Mensch könne nach anderen als selbstgemachten Geboten handeln. Die jeweiligen Neigungen und Kulturbedürfnisse erzeugen gewisse Maximen, die wir als unsere sittlichen Grundsätze bezeichnen. Da gewisse Zeitalter oder Völker ähnliche Neigungen und Bestrebungen haben, so werden die Menschen, die denselben angehören, auch ähnliche Grundsätze aufstellen, um sie zu befriedigen. Jedenfalls aber sind solche Grundsätze, die dann als ethische Motive wirken, durchaus nicht von außen eingepflanzt, sondern aus den Bedürfnissen heraus geboren, also innerhalb der Wirklichkeit erzeugt, in der wir leben. Der Moralkodex eines Zeitalters oder Volkes ist einfach der Ausdruck dafür, wie man innerhalb derselben den herrschenden Kulturzielen am besten sich zu nähern glaubt. So wie die Naturwirkungen aus Ursachen entspringen, die innerhalb der gegebenen Natur liegen, so sind unsere sittlichen Handlungen die Ergebnisse von Motiven, die innerhalb unseres Kulturprozesses liegen. Der Monismus sucht also den Grund unserer Handlungen im strengsten Sinne des Wortes innerhalb der menschlichen Natur. Er macht dadurch den Menschen aber auch zu seinem eigenen Gesetzgeber. Der Dualismus fordert Unterwerfung unter die von irgendwoher geholten sittlichen Gebote; der Monismus weist den Menschen auf sich selbst, auf seine autonome Wesenheit. Er macht ihn zum Herrn seiner selbst. Erst vom Standpunkte des Monismus aus können wir den Menschen als wahrhaft freies Wesen im ethischen Sinne auffassen. Nicht von einem ändern Wesen stammende Pflichten sind ihm auferlegt, sondern sein Handeln richtet sich einfach nach den Grundsätzen, von denen jeder findet, daß sie ihn zu den Zielen führen, die von ihm als erstrebenswert angesehen werden. Eine dem Boden des Monismus entsprungene sittliche Anschauung ist die Feindin alles blinden Autoritätsglaubens. Der autonome Mensch folgt eben nicht der Richtschnur, von der er bloß glauben soll, daß sie ihn zum Ziele führe, sondern er muß einsehen, daß sie ihn dahin führe, und das Ziel selbst muß ihm individuell als ein erwünschtes erscheinen. Hier ist auch der Grundgedanke des modernen Staates zu suchen, der auf die Volksvertretung gestützt ist. Der autonome Mensch will nach Gesetzen regiert werden, die er sich selbst gegeben hat. Wären die sittlichen Maximen ein für allemal fest bestimmt, dann brauchten sie einfach kodifiziert zu werden, und die Regierung hätte sie zu vollstrecken. Zur Regierung wäre die Kenntnis des allgemein-menschlichen Moralkodex hinreichend. Wenn dann immer der Weiseste, der den Inhalt dieses heiligen Buches am besten kennt, an der Spitze des Staates stünde, so wäre das Ideal einer menschlichen Verfassung erreicht. In dieser Weise etwa hat sich Plato die Sache gedacht. Der Weiseste hätte zu befehlen und die anderen zu gehorchen. Die Volksvertretung hat nur einen Sinn unter der Voraussetzung, daß die Gesetze der Ausfluß der Kulturbedürfnisse einer Zeit sind, und diese letzteren wurzeln wieder in den Bestrebungen und Wünschen der einzelnen Individualität. Durch die Volksvertretung soll erreicht werden, daß das Individuum nach Gesetzen regiert wird, von denen es sich sagen kann, daß sie seinen eigenen Neigungen und Zielen entsprechen. Der Staatswille soll auf diese Weise in die möglichste Kongruenz gebracht werden mit dem Individualwillen. Mit Hilfe der Volksvertretung gibt der autonome Mensch sich selbst seine Gesetze. Durch die moderne Staatsverfassung soll also dasjenige zur Geltung kommen, was im Gebiete des Sittlichen allein Wirklichkeit hat, nämlich die Individualität, im Gegensatze zu dem Staate, der sich auf Autorität und Gehorsam stützt und der keinen Sinn hat, wenn man nicht den abstrakten sittlichen Normen eine objektive Realität zusprechen wollte. Ich will nicht behaupten, daß wir gegenwärtig diesen von mir gekennzeichneten Idealstaat überall als wünschenswert hinstellen dürfen. Dazu sind die Neigungen der Menschen, die zu unseren Volksgemeinschaften gehören, zu ungleiche. Ein großer Teil des Volkes wird von zu niedrigen Bedürfnissen beherrscht, als daß wir wünschen sollten, der Staatswille solle der Ausdruck solcher Bedürfnisse sein. Aber die Menschheit ist in fortwährender Entwickelung begriffen, und eine vernünftige Volkspädagogik wird den allgemeinen Bildungsstand so zu heben versuchen, daß jeder Mensch fähig sein kann, sein eigener Herr zu sein. In dieser Richtung muß sich unsere Kulturentwickelung bewegen. Nicht durch Bevormundungsgesetze, welche die Menschen davor bewahren, zum Spielballe ihrer blinden Triebe zu werden, fördern wir die Kultur, sondern dadurch, daß wir die Menschen dazu bringen, nur in den höheren Neigungen ein erstrebenswertes Ziel zu suchen. Dann können wir sie auch ohne Gefahr ihre eigenen Gesetzgeber werden lassen. In der Erweiterung der Erkenntnis liegt also allein die Aufgabe der Kultur. Wenn dagegen in unserer Zeit sich Vereinigungen bilden, welche die Sittlichkeit für unabhängig von der Erkenntnis erklären wollen, wie etwa die «Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur», so ist das ein verhängnisvoller Irrtum. Diese Gesellschaft will die Menschen dazu veranlassen, den allgemein-menschlichen sittlichen Normen gemäß zu leben. Ja, sie will auch einen Kodex solcher Normen zu einem integrierenden Bestandteil unseres Unterrichtes machen. Damit komme ich auf ein Gebiet, welches bis jetzt noch am wenigsten von den Lehren des Monismus berührt worden ist. Ich meine die Pädagogik. Was ihr am meisten obliegt: die freie Entfaltung der Individualität, der einzigen Realität auf dem Gebiete der Kultur, das wird bisher am meisten vernachlässigt, und der angehende Mensch dafür in ein Netz von Normen und Geboten eingespannt, die er in seinem künftigen Leben befolgen soll. Daß jeder, auch der Geringste, etwas in sich hat, einen individuellen Fonds, der ihn befähigt, Dinge zu leisten, die nur er allein in einer ganz bestimmten Weise leisten kann: das wird dabei vergessen. Dafür spannt man ihn auf die Folter allgemeiner Begriffs-Systeme, legt ihm das Gängelband konventioneller Vorurteile an und untergräbt seine Individualität. Für den wahren Erzieher gibt es keine allgemeinen Erziehungsnormen, wie sie etwa die Herbartsche Schule aufstellen will. Für den echten Pädagogen ist jeder Mensch ein Neues, noch nie Dagewesenes, ein Studienobjekt, aus dessen Natur er die ganz individuellen Prinzipien entnimmt, nach denen er in diesem Falle erziehen soll. Die Forderung des Monismus ist die: statt den angehenden Pädagogen allgemeine methodische Grundsätze einzupflanzen, sie zu Psychologen zu bilden, welche imstande sind, die Individualitäten zu begreifen, die sie erziehen sollen. So ist der Monismus geeignet, auf allen Gebieten des Erkennens und Lebens unserem größten Ziele zu dienen: der Entwickelung des Menschen zur Freiheit, was gleichbedeutend ist mit der Pflege des Individuellen in der Menschennatur. Daß unsere Zeit empfänglich ist für solche Lehren, das glaube ich aus dem Umstände entnehmen zu können, daß ein junges Geschlecht dem Manne begeistert zugejubelt hat, der die monistischen Lehren zum ersten Male in populärer Art, wenn auch aus einer kranken Seele gespiegelt, auf das Gebiet der Ethik übertragen hat: ich meine Friedrich Nietzsche. Der Enthusiasmus, den er gefunden hat, ist ein Beweis dafür, daß es unter unseren Zeitgenossen nicht wenige gibt, welche es müde sind, sittlichen Chimären nachzulaufen, und die die Sittlichkeit da suchen, wo sie allein wirklich lebt: in der Menschenseele. Der Monismus als Wissenschaft ist die Grundlage für ein wahrhaft freies Handeln, und unsere Entwickelung kann nur den Gang nehmen: durch den Monismus zur Freiheitsphilosophie.

 

aus GA 30 (1961), S 47 ff

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