Forum für Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Goetheanistische Naturwissenschaft
Home
 
Home


Home
Suchen
Vorträge
Rudolf Steiner

Veranstaltungen

Service-Seiten

Adressen
Ausbildung


Bücher
Bibliothek
Links

Link hinzufügen
Stellenangebote

FTP Download

Impressum

Email
http://www.rudolf-steiner.org      http://rudolfsteiner.anthroposophie.net      http://rudolf-steiner.de.vu

Die okkulte Grundlage in Goethes Schaffen

Autoreferat vom Vortrag beim Kongreß der Förderation europäischer Sektionen der Theosophischen Gesellschaft, London, 10. Juli 1905

Rudolf Steiner

Die theosophische Wirksamkeit wird ihre allgemeine große Mission in der gegenwärtigen Kultur nur erfüllen können, wenn sie die besonderen Aufgaben wird erfassen können, die ihr in jedem Lande durch die geistigen Besitztümer des Volkes erwachsen. In Deutschland werden diese besonderen Aufgaben mitbestimmt durch das Erbe, das seinem Geistesleben durch die großen Genien hinterlassen worden ist, die um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts gelebt haben. Wer an diese, an Lessing, Herder, Schiller, Goethe, an Novalis, Jean Paul und viele andere mit theosophischer Gesinnung und Lebensauffassung herantritt, der wird zwei wichtige Erlebnisse haben. Das eine ist, daß ihm von einer geistig vertieften Anschauung ein neues Licht auf das Wirken und die Werke dieser Genien fällt; das andere, daß von ihnen Lebenssaft in die Theosophie einströmt, der in ungeahnter Weise befruchtend und kräftigend wirken muß. Man kann, ohne Übertreibung, sagen, der Deutsche wird die Theosophie verstehen, wenn er dem Besten Verständnis entgegenbringt, was seine führenden Geister gewollt und in ihren Werken verkörpert haben.

Es wird die Aufgabe kommender Zeiten sein, die theosophischen und okkulten Grundlagen des großen Aufschwunges im deutschen Geistesleben um die gekennzeichnete Zeit darzulegen. Dann wird es sich zeigen, wie vertraut und intim man mit den Werken dieser Zeit als Theosoph werden kann. Hier kann nur mit wenigen Andeutungen auf den einen Genius hingewiesen werden, der im Mittelpunkte dieser Zeitkultur stand, auf Goethe. Es gibt eine Möglichkeit, das theosophische Wirken mit Goethes Gedankenformen und mit seiner Gesinnung zu beleben; und diese Belebung kann zur Folge haben, daß Theosophie in Deutschland nach und nach als etwas dem Volksgeiste Verwandtes erscheinen muß, daß man erkennen wird: die Grundlage theosophischer Auffassung sei keine andere als diejenige, aus der Deutschlands großer Dichter und Denker auch die Kraft zu seinem Schaffen gewonnen hat.

Die Einsichtsvollsten, die mit oder um Goethe gelebt haben, gestanden ihm uneingeschränkt zu, daß es keinen Zweig des Geisteslebens gäbe, der nicht befruchtet werden könnte durch die Art, wie er Welt und Leben anschaute. Man darf sich nur nicht irre machen lassen durch die Tatsache, daß der Geisteskern Goethes unter der äußeren Oberfläche seiner Werke verborgen ist. Man muß intim mit diesem Geisteskern werden, wenn man zum vollkommenen Verständnisse vordringen will. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß man sich unempfänglich machen soll für das Formschöne und unmittelbar Künstlerische in Goethes Werken. Nicht in eine abstrakte Deutung Goethescher Kunst durch Verstandessymbole und Allegorien soll verfallen werden. Aber wie eine edle Gesichtsphysiognomie nichts verlieren kann an Bewunderung der Formschönheit, wenn für den Betrachter die Größe der Seele durch diese Schönheit hindurchstrahlt, so kann auch Goethes Kunst nichts verlieren, sondern nur unendlich gewinnen, wenn man die äußeren Ausdrücke seines Schaffens durchleuchtet mit der Tiefe der Weltauffassung, die in seiner Seele gelebt hat.

Goethe hat es selbst oft angedeutet, wie eine solch vertiefte Auffassung seines Schaffens vollberechtigt ist. Am 29. Januar 1827 sagte er zu seinem ergebenen Sekretär Eckermann in bezug auf seinen «Faust»: «Es ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen».

Es bedarf nur eines wirklich unbefangenen Einlebens in Goethes Schaffen, um zu erkennen, daß bei ihm nur eine esoterische Auffassung zu einem vollen Verständnis seines Wirkens führen kann. In ihm lebte der Drang, in allen sinnlichen Erscheinungen die verborgenen geistigen Kräfte zu finden. Eine Grundregel seines Forschens war es, daß in den äußeren Tatsachen innere Geheimnisse sich ausdrücken, und daß nur derjenige die Natur verstehen könne, der die Erscheinungen wie Buchstaben betrachte, welche den inneren Sinn des geistigen Wirkens lesbar machen müssen. Nicht bloß als dichterischer Einfall, sondern wie das Ergebnis seiner ganzen Weltbetrachtung stehen im Chorus mysticus am Ende seines «Faust» die Worte: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis». Und in der Kunst sah er nichts anderes als eine Auslegung tiefster Weltgeheimnisse. Nach seiner Ansicht sollten durch sie Dinge offenbar werden, welche schaffend in der Natur wirken, aber mit den Mitteln dieser selbst nicht zum Ausdrucke gelangen können. Denselben Geist suchte er in den Erscheinungen der Natur und in den Werken des schaffenden Künstlers; nur die Mittel der Darstellung waren ihm für beide verschieden. - Immer mehr arbeitet er sich eine Anschauung aus von einer sich entwickelnden Stufenfolge aller Welterscheinungen und Wesen, um den Menschen als eine Zusammenfassung anderer Reiche zu begreifen. Der Geist im Menschen ist ihm die Offenbarung eines Allgeistes, und die anderen Naturreiche mit ihren Formen zeigen sich ihm als der Weg der Entwickelung zum Menschen hin. Und all das bleibt bei ihm nicht Theorie, sondern wird lebendiges Element seines Schaffens, fließt ihm in alles, was er wirkt. In schöner Weise hat Schiller diese Eigenart des Goetheschen Geistes gekennzeichnet in dem Briefe, mit dem er die vertraute Freundschaft der beiden einleitet (23. August 1794): «Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben, mit immer erneuter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf . . .» In seiner Schrift über Winckelmann hat Goethe ausgesprochen, wie er die Stellung des Menschen im Werdegange der Naturreiche empfindet: «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.»

Es war Goethes Lebensarbeit, sich über diesen Werdegang der Wesensreiche immer klarer zu werden. Als er die Stufe seiner Einsichten nach seiner Übersiedelung nach Weimar (etwa 1780) zusammenfaßte in dem schönen Prosahymnus «Die Natur», da hat das Ganze noch eine abstrakte pantheistische Färbung. Er muß noch Worte gebrauchen, um die verborgenen Wesenskräfte zu kennzeichnen, die bald seiner vertieften Anschauung nicht mehr genügen. Aber auch in diesen Worten ist schon die Anlage zu dem enthalten, was dann in ihm sich in so vollkommener Form ausbildete. Er sagt da unter anderem: «Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen, . . . Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder; alles ist neu, und doch immer das Alte . . . Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff; und doch macht alles eins aus . . . Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen, allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann . . . Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte . . . Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. . . Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe . . . Sie hat alles isoliert, um alles zusammenzuziehen . . . Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit.» Als Goethe dann, auf der Höhe seiner Einsicht (1828) zurückblickte auf diese Stufe, da sprach er sich so darüber aus: «Ich möchte die Stufe damaliger Einsicht einen Komparativ nennen, der seine Richtung gegen einen noch nicht erreichten Superlativ zu äußern angedrängt ist ... Die Erfüllung aber, die ihm fehlt, ist die Anschauung der zwei großen Triebräder der Natur: der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig nennen, angehörig. Jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, sowie sich's der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen.» - Mit diesen Vorstellungen trat Goethe an das Tierreich, das Pflanzenreich und an die mineralische Welt heran, um in der offenbaren Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erscheinungen die verborgene geistige Einheit zu begreifen. Was er «Urpflanze», «Urtier» nannte, ergab sich ihm auf diese Weise. Und hinter diesen Vorstellungen stand bei ihm als die tätige Geisteskraft die Intuition. Sein ganzes Wesen strebte danach, in seine Betrachtung der Dinge das aufzunehmen, was man in der Theosophie Toleranz (Uparati) nennt. Und immer mehr und mehr suchte er sich durch die strengste innere Selbsterziehung diese Eigenschaft anzueignen. Zahlreich sind die Äußerungen, in denen er von dieser seiner Selbsterziehung spricht. Hier sei nur die eine charakteristische aus der «Kampagne in Frankreich» (1792) angeführt. «Wie ich überhaupt ziemlich unbewußt lebte und mich vom Tag zum Tage führen ließ, wobei ich mich, besonders die letzten Jahre, nicht übel befand, so hatte ich die Eigenschaft, niemals weder eine nächst zu erwartende Person noch eine irgend zu betretende Stelle vorauszudenken, sondern diesen Zustand unvorbereitet auf mich einwirken zu lassen. Der Vorteil, der daraus entsteht, ist groß: man braucht von einer vorgefaßten Idee nicht wieder zurückzukommen, nicht ein selbstbeliebig gezeichnetes Bild wieder auszulöschen und mit Unbehagen die Wirklichkeit an dessen Stelle aufzunehmen.» So suchte er sich immer höher, bis zu dem Gesichtspunkt der Unterscheidung des Realen von dem Unrealen zu erheben (Viveka).

Nur andeutend hat Goethe über die eigentliche Grundlage dieses seines Wesens gesprochen. Er tut es zum Beispiel in dem Gedicht «Geheimnisse», das sein Bekenntnis zum Rosenkreuzertum enthält. Es ist in der Mitte der achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts entstanden und wurde von denjenigen, die Goethe intim kannten, als eine reine Offenbarung seines Wesens genommen. Im Jahre 1816 wurde er dann von einer «Gesellschaft studierender Jünglinge in einer der ersten Städte Norddeutschlands» aufgefordert, sich über den tieferen Sinn des Gedichtes zu äußern. Er gab eine Erklärung, die ganz wohl als eine Umschreibung der drei Programmpunkte der Theosophischen Gesellschaft angesehen werden kann.

Nur wenn man solche Dinge bei Goethe in ihrer vollen Tiefe zu würdigen versteht, ist man in der Lage, den «höheren Sinn» zu erkennen, den Goethe, nach seinem eigenen Ausspruche, für die «Eingeweihten» in seinen «Faust» gelegt hat. - Im zweiten Teil dieses dramatischen Gedichtes liegt tatsächlich, was Goethe über das Verhältnis des Menschen zu den «drei Welten», der physischen, astralischen und spirituellen, zu sagen hatte. Von diesem Gesichtspunkte aus stellt sich die Dichtung dar als der Ausdruck für die Inkarnation des Menschen. - Eine Figur, die dem Verständnisse, das sich nicht auf eine okkulte Grundlage stellen will, unübersteigliche Schwierigkeiten macht, ist der Homunculus. Jeder Zug, jedes Wort wird aber klar, wenn man von dieser Grundlage ausgeht. Homunculus wird mit Hilfe des Mephistopheles erzeugt. Dieser ist der Repräsentant der hemmenden und zerstörenden Kräfte des Universums, die sich im Reiche des Menschlichen als das Böse kundgeben. Goethe will den Anteil charakterisieren, welchen das Böse an der Entstehung des Homunculus hat. Und aus diesem soll ja ein Mensch werden. Deshalb soll er auf dem Boden der «Klassischen Walpurgisnacht» durch die niederen Reiche der Natur hindurchgeführt werden. Er ist, bevor er diese Wanderung unternimmt, nur ein Teil der Menschennatur. Bezeichnend ist, was er über diese seine Beziehung zur «irdischen» Menschennatur selbst sagt:

Ich schwebe so von Stell' zu Stelle
Und möchte gern im besten Sinn entstehn,
Voll Ungeduld, mein Glas entzwei zu schlagen;
Allein, was ich bisher gesehn,
Hinein da möcht' ich mich nicht wagen.
Nur, um dir's im Vertrauen zu sagen:
Zwei Philosophen bin ich auf der Spur;
Ich horchte zu, es hieß: Natur! Natur!
Von diesen will ich mich nicht trennen,
Sie müssen doch das irdische Wesen kennen,
Und ich erfahre wohl am Ende,
Wohin ich mich am allerklügsten wende.

Ganz deutlich wird das Wesen des Homunculus, wenn von ihm gesagt wird:

Er fragt um Rat, und möchte gern entstehn. 
Er ist, wie ich von ihm vernommen,
Gar wundersam nur halb zur Welt gekommen. 
Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften, 
Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtighaften. 
Bis jetzt gibt ihm das Glas allein Gewicht, 
Doch war' er gern zunächst verkörperlicht.

Dazu wird noch hinzugefügt:

Er ist, mich dünkt, hermaphroditisch.

Goethe hat die Absicht, den Astralleib des Menschen vor der Inkarnation in die irdische Stofflichkeit darzustellen. Deutlich macht er das noch dadurch, daß er Homunculus mit hellseherischen Kräften ausstattet. Dieser sieht nämlich den Traum Faustens im Laboratorium, in dem mit Hilfe des Mephistopheles gearbeitet wird. - Dann wird im weiteren Verlauf der Klassischen Walpurgisnacht die Verkörperung des Homunculus, also des Astralmenschen, geschildert. Er wird an Proteus, den Geist der Verwandlungen durch die Naturreiche gewiesen:

Hinweg zu Proteus! Fragt den Wundermann, 
Wie man entstehn und sich verwandeln kann.

Und dieser schildert den Weg, den der astralische Mensch durch die Naturreiche zu nehmen hat, um zur irdischen Verkörperung, zu einem physischen Leib zu kommen:

Im weiten Meere mußt du anbeginnen! 
Da fängt man erst im Kleinen an 
Und freut sich, Kleinste zu verschlingen, 
Man wächst so nach und nach heran 
Und bildet sich zu höherem Vollbringen.

Es ist damit der Durchgang des Menschen durch das Mineralreich geschildert. Besonders anschaulich macht Goethe den Eintritt des Homunculus in das Pflanzenreich. Homunculus sagt:

Hier weht gar eine weiche Luft,
Es grunelt so, und mir behagt der Duft!

Wie erklärend fügt der anwesende Philosoph Thales zu dem Vorgange die Worte hinzu:

Gib nach dem löblichen Verlangen, 
Von vorn die Schöpfung anzufangen! 
Zu raschem Wirken sei bereit! 
Da regst du dich nach ewigen Normen 
Durch tausend, abertausend Formen, 
Und bis zum Menschen hast du Zeit.

Auch der Augenblick, wo das ungeschlechtliche Menschenwesen die Zweigeschlechtlichkeit und damit die sinnliche Liebe eingepflanzt erhält, wird dargestellt:

Und rings ist alles vom Feuer umronnen; 
So herrsche denn Eros, der alles begonnen!

Daß wirklich die Umkleidung des Astralleibes mit dem aus den irdischen Elementen gebauten physischen Körper gemeint ist, wird noch besonders ausgesprochen in den Schlußversen des zweiten Akts:

Heil den mildgewognen Lüften! 
Heil geheimnisreichen Grüften! 
Hochgefeiert seid allhier, 
Element' ihr alle vier!

Die Entwickelung der Wesen im Laufe der Erdbildung bringt Goethe hier in Zusammenhang mit der Inkarnation des Menschen als eines besonderen Wesens. Dieses wiederholt als solches die Vorgänge, welche die Menschheit durchgemacht hat, um zu ihrer gegenwärtigen Gestalt zu gelangen. Mit diesen Ideen stand er ganz auf dem Boden der Evolutionslehre des Okkultismus. Die niederen Wesen dachte er sich in ihrer Entstehung so, daß der Impuls, der zu Höherem hinstrebt, auf einer gewissen Stufe festgehalten wird. In seinem Tagebuche der Schweizer Reise von 1797 notiert er ein in dieser Beziehung interessantes Gespräch mit dem Tübinger Professor Kielmeyer, in dem die Worte enthalten sind: «Über die Idee, daß die höheren organischen Naturen in ihrer Entwickelung einige Stufen vorwärts machen, auf denen die anderen hinter ihnen zurückbleiben.» Von dieser Idee sind seine Pflanzen-, Tier- und Menschenstudien ganz durchdrungen; und im «Faust» sucht er in der Menschwerdung des Homunculus dieser Auffassung eine künstlerische Form zu geben. Als er bekannt wird mit Howards Wolkenbildungslehre, spricht er seinen Gedanken über die Beziehung der geistigen Urbilder zu den sich wandelnden Formen mit den Worten aus:

Wenn Gottheit Kamarupa, hoch und hehr, 
Durch Lüfte schwankend wandelt leicht und schwer, 
Des Schleiers Falten sammelt, sie zerstreut, 
Am Wechsel der Gestalten sich erfreut, 
Jetzt starr sich hält, dann schwindet wie ein Traum, 
Da staunen wir und traun dem Auge kaum.

Nun kommt aber im «Faust» auch zur Darstellung, wie die unvergängliche geistige Wesenheit zu den vergänglichen Hüllen des Menschen in Beziehung steht. Dieses Unvergängliche muß Faust bei den «Müttern» aufsuchen. Und damit ergibt sich ungezwungen die Erklärung dieser wichtigen Szene im zweiten Teile des «Faust». Als eine Dreiheit (in Übereinstimmung mit der theosophischen Lehre von Atma-Buddhi-Manas) stellt sich Goethe das eigentliche Wesen des Menschen vor. Und den Gang zu den «Müttern» kann man, in theosophischer Sprache ausgedrückt, ein Eindringen Fausts in das devachanische Reich nennen. Dort soll er finden, was von Helena vorhanden ist. Sie soll sich ja wiederverkörpern, das heißt, sie soll aus dem Reiche der «Mütter» zurückkehren auf die Erde. Im dritten Akt sehen wir sie in der Tat wiederverkörpert. Dazu war notwendig eine Vereinigung der drei Naturen des Menschen: der astralischen, physischen und spirituellen. Am Ende des zweiten Aktes hat sich das Astralische (Homunculus) mit der physischen Hülle umgeben, und diese Vereinigung kann jetzt die höhere Natur in sich aufnehmen. In solcher Auffassung kommt innere dramatische Einheit in die Dichtung, während bei einem nicht okkulten Eindringen die einzelnen Geschehnisse nur eine willkürliche Zusammenfügung poetischer Aggregate blieben. Ohne auf die okkulte Grundlage der Dichtung Rücksicht zu nehmen, hat schon der Frankfurter Professor Veit Valentin auf den inneren Zusammenhang des Homunculus und der Helena in einem interessanten Buche aufmerksam gemacht («Goethes Faustdichtung in ihrer künstlerischen Einheit», 1894). Doch kann der Inhalt dieser Schrift nur eine geistvolle Hypothese bleiben, wenn man nicht bis zum okkulten Untergrunde des Ganzen vordringt. Goethe denkt sich den Mephistopheles als ein Wesen, dem das devachanische Reich unbekannt ist. Er ist nur im Astralischen heimisch. Daher kann er Dienste leisten beim Entstehen des Homunculus; aber er kann Faust nicht in das Reich der «Mütter» begleiten. Ja, für ihn ist dies Reich sogar ein «Nichts». Er sagt zu Faust, indem er ihm von dieser Welt spricht:

Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne, 
Den Schritt nicht hören, den du tust, 
Nichts Festes finden, wo du ruhst.

Doch Faust ahnt sogleich in seiner spirituellen Begabung, daß er in diesem Reiche das eigentliche Wesen des Menschen finden werde:

Nur immer zu! Wir wollen es ergründen: 
In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden.

Und in der Beschreibung, die Mephistopheles gibt von der Welt, die er nicht betreten darf, erkennt man genau, was Goethe sagen will:

Versinke denn! Ich könnt' auch sagen: steige! 
's ist einerlei. Entfliehe dem Entstandnen 
In der Gebilde losgebundne Reiche; 
Ergetze dich am längst nicht mehr Vorhandnen; 
Wie Wolkenzüge schlingt sich das Getreibe . . . 
Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund, 
Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund. 
Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn; 
Die einen sitzen, andre stehn und gehn, 
Wie's eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung, 
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung. 
Umschwebt von Bildern aller Kreatur... 

Erst durch das «Urbild», das Faust aus dem devachanischen Reich der «Mütter» holt, kann der durch das Physische hindurchgegangene astralische Homunculus geistbegabter Mensch werden, eben die Helena, die dann im dritten Akt wirklich auftritt. Goethe hat dafür gesorgt, daß Tieferblickende seine Meinung verstehen können, denn in den Gesprächen mit Eckermann hat er den Schleier von der Sache gezogen, soweit es ihm angängig erschien. Am 16. Dezember 1829 sagte er über den Homunculus: «Denn solche geistige Wesen wie der Homunculus, die durch eine vollkommene Menschwerdung noch nicht verdüstert und beschränkt worden, zählte man zu den Dämonen.» Und weiter deutet er an demselben Tage an, wie dem Homunculus noch das Mentale fehlte: «Das Räsonieren ist nicht seine Sache; er will handeln.»

Der ganze weitere Fortgang der dramatischen Handlung im «Faust» schließt sich nach dieser Auffassung zwanglos an das Vorhergehende. Faust ist mit den Geheimnissen der «drei Welten» bekannt geworden. Er schaut deshalb im weiteren als Mystiker die Welt an. Man könnte nun Szene für Szene in diesem Sinne deuten. Doch soll nur noch auf Einzelnes hier aufmerksam gemacht werden. Als gegen den Schluß die «Sorge» an Faust herantritt, wird er äußerlich blind. Allein er hat auf seinem Entwickelungsgange die Fähigkeit des «inneren Schauens» sich erworben:

Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, 
Allein im Innern leuchtet helles Licht.

Goethe hat auf die einmal an ihn gestellte Frage, wie Faust endige, ausdrücklich die Antwort gegeben: er werde am Schlüsse Mystiker. Und nur in dieser Art sind die bedeutungsvollen Worte des Chorus mysticus zu deuten, in welche das Gedicht ausklingt. - Im «West-östlichen Diwan» spricht er sich ja auch deutlich über die «geistige Menschwerdung» aus. Es ist für ihn die Vereinigung der Menschenseele mit dem «höheren Selbst». Die Illusion, daß der wahre Mensch in seinen äußeren Hüllen bestehe, muß absterben; dann entsteht («wird») der «höhere Mensch». Deshalb beginnt er sein Gedicht «Selige Sehnsucht» mit den Worten:

Sagt es niemand, nur den Weisen, 
Weil die Menge gleich verhöhnet: 
Das Lebendge will ich preisen, 
Das nach Flammentod sich sehnet.

Und er schließt:

Und so lang du das nicht hast, 
Dieses: Stirb und werde! 
Bist du nur ein trüber Gast 
Auf der dunklen Erde.

Ganz im Einklang damit ist der Chorus mysticus. Denn nichts anderes spricht dieser aus als das Folgende: Den vergänglichen Erscheinungen der äußeren Welt liegt das Geistig-Unvergängliche zum Grunde, und man gelangt zu dem letzteren, wenn man das Vergängliche nur als ein Sinnbild des verborgenen Geistigen ansieht:

Alles Vergängliche 
Ist nur ein Gleichnis.

Was der auf die Sinnenwelt und ihre Formen hingeordnete Verstand nicht erreichen kann, das enthüllt sich in wirklicher Anschauung vor dem «geistigen Schauen», und was dieser Verstand nicht beschreiben kann, das ist eine «Tat» in den Regionen des Geistigen:

Das Unzulängliche, 
Hier wirds Ereignis; 
Das Unbeschreibliche, 
Hier ists getan . . .

Und im Einklänge mit aller mystischen Symbolik stellt Goethe die höhere Natur des Menschen als ein «Weibliches» dar, das mit dem göttlichen Geiste sich vereinigt. Denn nur diese Befruchtung der geläuterten und zum Göttlichen hinanziehenden Menschenseele meint Goethe in den Endzeilen zu charakterisieren:

Das Ewig-Weibliche 
Zieht uns hinan.

Alle nicht im Sinne der Mystik gegebenen Deutungen versagen hier.

Goethe hielt die Zeit noch nicht gekommen, in welcher man sich über gewisse Geheimnisse des Daseins anders als in der Art aussprechen kann, wie er es in einigen seiner Dichtungen tat. Und vor allem sah er seine eigene Mission in einer solchen Form des Ausdruckes. - Im Beginne seines Freundschaftsbundes mit Schiller trat an ihn die Frage heran: Wie hat man sich den Zusammenhang der physischen mit der geistigen Natur des Menschen vorzustellen? Schiller hatte in philosophischer Art diese Frage in seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» zu beantworten gesucht. Ihm war es zu tun um die Veredelung, Läuterung des Menschen. Ungeläutert erschien ihm ein Mensch, welcher unter dem Naturzwange der sinnlichen Triebe und Begierden steht. Aber ebenso wenig hielt er denjenigen für geläutert, der die Triebe und Begierden als Feind empfindet und sich unter den Zwang der moralischen oder abstrakten Vernunftnotwendigkeit stellen muß. Erst der Mensch hat die innere Freiheit erlangt, welcher die moralische Ordnung so in sein inneres Wesen aufgenommen hat, daß er gar nichts anderes will, als ihr folgen. Ein solcher hat die niedere Natur so veredelt, daß sie durch sich selbst ein Ausdruck wird des höheren Geistigen; und er hat das Geistige so in das Irdisch-Menschliche eingeführt, daß es unmittelbares sinnliches Dasein hat. Die Auseinandersetzungen, die Schiller in diesen «Briefen» gibt, sind vorzügliche Erziehungsmaßregeln, denn sie wollen die Evolution des Menschen so fördern, daß dieser auf einen erhöhten, freien Standpunkt der Weltbetrachtung komme, indem er den höheren idealischen Menschen in sich aufnimmt. In seiner Art weist Schiller auf das «höhere Selbst» des Menschen hin: «Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen, idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.» Von weittragendster Bedeutung ist alles, was Schiller in diesem Zusammenhange ausspricht. Denn wer wirklich die gestellten Forderungen durchführt, vollzieht in sich selbst eine Erziehung, die ihn unmittelbar zu derjenigen inneren Verfassung bringt, welche zum «inneren Schauen» des Geistigen vorbereitet. - Goethe fand sich durch diese Ideen im tiefsten Sinne befriedigt. Er schreibt darüber an Schiller, der ihm die Handschrift mitgeteilt hatte: «Das mir übersandte Manuskript habe ich sogleich mit großem Vergnügen gelesen; ich schlürfte es auf einen Zug hinunter. Wie uns ein köstlicher, unserer Natur analoger Trunk willig hinunterschleicht und auf der Zunge schon durch gute Stimmung des Nervensystems seine heilsame Wirkung zeigt, so waren mir diese Briefe angenehm und wohltätig, und wie sollte es anders sein, da ich das, was ich für recht seit langer Zeit erkannte, was ich teils lebte, teils zu leben wünschte, auf eine so zusammenhängende und edle Weise vorgetragen fand.»

Und nun versuchte Goethe seinerseits dieselbe Idee aus der Tiefe seiner Weltanschauung heraus - allerdings in Bildern verhüllt — in dem Rätselmärchen «Von der grünen Schlange und der schönen Lilie» darzustellen. Es ist in den Goethe-Ausgaben am Schlüsse der «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter» enthalten. Man hat oft die «Faust»-Dichtung «Goethes Evangelium» genannt. Dieses Märchen kann man aber seine «Apokalypse» nennen. Denn in ihm stellt er — märchenhaft - den inneren Entwickelungsgang des Menschen dar. Auch hier kann nur wieder in Kürze auf einiges hingedeutet werden. Denn man müßte ein ausführliches Buch schreiben, wollte man darstellen, wie «Goethes Theosophie» in diese Dichtung hineingeheimnist ist.

Die «drei Welten» sind hier repräsentiert durch zwei Gebiete, die durch einen Fluß voneinander geschieden sind. Der Fluß selbst stellt die astralische Welt dar. Diesseits desselben ist das physische Reich, jenseits das geistige (Devachan). Jenseits wohnt die «schöne Lilie», die Repräsentantin der höheren Menschennatur. In ihr Reich muß der Mensch streben, wenn er seine niedere mit seiner höheren Natur vereinigen soll. In den Klüften, das heißt, in der physischen Welt, wohnt die «Schlange». Diese repräsentiert das «Selbst» des Menschen. Aber auch der «Tempel» der Einweihung ist in dieser Welt vorhanden. In ihm walten vier Könige, ein goldener, silberner, eherner und ein vierter, der in unregelmäßiger Weise aus den drei Metallen gemischt ist. Goethe, der Freimaurer war, hat mit freimaurerischer Terminologie ausgesprochen, was er aus seinen mystischen Erlebnissen heraus zu sagen hatte. Die drei Könige stellen die drei höheren Menschenkräfte dar: Weisheit (Gold), Schönheit (Silber) und Stärke (Erz). Solange der Mensch in seiner niederen Natur lebt, sind diese drei Kräfte in ungeordneter, chaotischer Weise in ihm vorhanden. Diese Periode der Menschheitsevolution wird durch den gemischten König angedeutet. Wenn aber der Mensch sich so läutert, daß die drei Kräfte in voller Harmonie zusammenwirken, und der Mensch sich in freier Weise ihrer bedienen kann, dann ist für ihn der Weg in das Reich des Geistigen offen. - Der noch ungeläuterte Mensch wird durch einen «Jüngling» dargestellt, der, ohne die innere Reinheit erlangt zu haben, sich mit der «schönen Lilie» vereinigen wollte. Er ist durch diese Vereinigung gelähmt worden. Goethe wollte damit auf die Gefahr hinweisen, welcher der Mensch sich aussetzt, der ohne die Abtötung der niederen Selbstheit in die Region des Übersinnlichen dringen will. Erst wenn die Liebe den ganzen Menschen durchdrungen hat, erst wenn das niedere Selbst geopfert ist, kann die Einweihung in die höheren Wahrheiten und Kräfte beginnen. Diese Opferung kommt dadurch zum Ausdrucke, daß die Schlange sich selbst ganz aufgibt und aus ihrem eigenen Leibe eine Brücke bildet zwischen den beiden Reichen, dem sinnlichen und dem geistigen, über den Fluß, das ist das Astralische, hinüber. Vorher muß der Mensch die höheren Wahrheiten in der Form aufnehmen, wie sie ihm im Bilde der verschiedenen Religionen gegeben werden. Diese Form ist charakterisiert in der Person eines «Mannes mit der Lampe». Diese Lampe hat die Eigenschaft, nur da zu leuchten, wo schon ein anderes Licht vorhanden ist. Das heißt, die religiösen Wahrheiten setzen das empfängliche, gläubige Gemüt voraus. Ihr Licht leuchtet, wo das Licht des Glaubens vorhanden ist. Diese Lampe hat aber auch noch die andere Eigenschaft, «alle Steine in Gold, alles Holz in Silber, tote Tiere in Edelsteine zu verwandeln und alle Metalle zu vernichten». Die Kraft des Glaubens, der die innere Natur der Wesen wandelt, ist damit angedeutet. So sind etwa zwanzig Figuren in dem Märchen enthalten, alle Repräsentanten für gewisse Kräfte in der Menschennatur; und mit dem Gang der Handlung ist die Hinaufläuterung des Menschen geschildert zu der Höhe, wo er in der Vereinigung mit seinem höheren Selbst die Einweihung in die Geheimnisse des Daseins erlangen kann. Dieser Zustand wird dadurch angedeutet, daß der «Tempel», der vorher verborgen in den Klüften war, zuletzt an die Oberfläche geführt wird und sich erhebt über dem Flusse, dem astralischen Reich. Jeder Zug, jeder Satz in dem Märchen ist bedeutsam. Je mehr man sich in die Dichtung vertieft, desto verständlicher und durchsichtiger wird das Ganze. Und wer den esoterischen Kern dieses Märchens darstellt, hat zugleich den Inhalt der theosophischen Weltanschauung gegeben.

Goethe hat nicht im unklaren darüber gelassen, aus welchen Tiefen er geschöpft hat. In einem andern Märchen «Der neue Paris» stellt er verhüllt die Geschichte seiner eigenen inneren Erleuchtung dar. Viele werden ungläubig bleiben, wenn hier gesagt wird, daß Goethe in diesem Traum sich selbst an die Grenzscheide stellt zwischen die dritte und vierte Unterrasse unserer fünften Wurzelrasse. Für ihn ist der Mythus von Paris und Helena die symbolische Darstellung dieser Grenzscheide. Und indem er sich - im Traume - in einer neuen Form das Märchen von Paris vor Augen stellt, glaubt er, einen tiefen Blick zu tun in die Entwickelung der Menschheit. - Was dem «innern Auge» ein solcher Blick in die Vergangenheit ist, darüber spricht Goethe in den «Weissagungen des Bakis», die ebenfalls ganz erfüllt von okkulten Andeutungen sind:

Auch Vergangenes zeigt euch Bakis; denn selbst das Vergangne 
Ruht, verblendete Welt, oft als ein Rätsel vor dir.
Wer das Vergangene kennte, der wüßte das Künftige: beides 
Schließt an Heute sich rein als ein Vollendetes an.

Noch vieles wäre anzuführen über die okkulten Grundlagen in dem Märchen «Die neue Melusine», in dem «Pandora»-Fragment und vielen anderen Schriften. Geradezu meisterhaft hat Goethe das Bild einer Hellseherin in Makarie im Roman «Wilhelm Meisters Wanderjahre» gegeben. Makariens Anschauungsvermögen erhebt sich bis zu einer völligen inneren Durchdringung der Geheimnisse des Planetensystems. Sie «befindet sich zu unserm Sonnensystem in einem Verhältnis, welches man auszusprechen kaum wagen darf. Im Geiste, der Seele, der Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art. Sie wandelt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend. Wenn man annehmen darf, daß die Wesen, insofern sie körperlich sind, nach dem Zentrum, insofern sie geistig sind, nach der Peripherie streben, so gehört unsere Freundin zu den geistigsten; sie scheint nur geboren, um sich von dem Irdischen zu entbinden, um die nächsten und fernsten Räume des Daseins zu durchdringen. Diese Eigenschaft, so herrlich sie ist, ward ihr doch seit den frühsten Jahren als eine schwere Aufgabe verliehen. Sie erinnert sich von klein auf ihr inneres Selbst als von leuchtenden Wesen durchdrungen, von einem Licht erhellt, welchem sogar das hellste Sonnenlicht nichts anhaben konnte. Oft sah sie zwei Sonnen, eine innere nämlich und eine außen am Himmel, zwei Monde, wovon der äußere in seiner Größe bei allen Phasen sich gleich blieb, der innere sich immer mehr und mehr verminderte.» — Schon diese Worte Goethes deuten in einer klaren Weise an, wie bewandert er in diesen Dingen ist; und wer den ganzen Abschnitt liest, wird erkennen, daß Goethe sich zwar zurückhaltend, doch aber so ausspricht, daß der Tieferblickende über die okkulte Grundlage in seinem Wesen sich aufklären kann.

Goethe betrachtete seine Mission als Dichter stets im Zusammenhange mit seinem Streben nach den verborgenen Gesetzen des Daseins. Er mußte oft vernehmen, wie Freunde diesen Zug seines Wesens nicht verstehen konnten. So schildert er, wie er unverstanden blieb in bezug auf seine Naturbetrachtungen in der «Kampagne in Frankreich»: «Die ernstliche Leidenschaft, womit ich diesem Geschäft nachhing, konnte niemand begreifen, niemand sah, wie sie aus meinem Innersten entsprang; sie hielten dieses löbliche Bestreben für einen grillenhaften Irrtum; ihrer Meinung nach könnt' ich was Besseres tun ... Sie glaubten sich hiezu um so mehr berechtigt, als meine Denkweise sich an die ihrige nicht anschloß, vielmehr in den meisten Punkten gerade das Gegenteil aussprach. Man kann sich keinen isoliertem Menschen denken, als ich damals war und lange Zeit blieb. Der Hylozoismus, oder wie man es nennen will, dem ich anhing, und dessen tiefen Grund ich in seiner Würde und Heiligkeit unberührt ließ, machte mich unempfänglich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellte.»

Nur auf dem Untergrunde der tiefsten Wahrheitsdurchdringung konnte sich Goethe das künstlerische Wirken denken. Als Künstler wollte er aussprechen, was in der Natur veranlagt, aber nicht voll ausgesprochen ist. Die Natur erschien ihm als ein Schaffen derselben Wesenheit, die auch in der künstlerischen Menschenkraft wirkt; nur ist dort diese Kraft auf einer niedrigeren Stufe stehen geblieben. Für Goethe ist Kunst Fortsetzung der Natur, Offenbarerin dessen, was in der bloßen Natur okkult ist. «Denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt» (Buch über Winckelmann). - Erkennen der Welt ist für Goethe Leben in dem Geiste der Welttatsachen. Deshalb spricht er von einer «anschauenden Urteilskraft» (intellectus archetypus), durch welche sich der Mensch den Geheimnissen des Daseins immer mehr nähert: «Wenn wir ja im Sittlichen, durch den Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen, so dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten.» - So stellte sich für Goethe der Mensch hin als das Organ der Welt, durch das deren okkulte Kräfte offenbar werden sollen. Einer seiner Kernsprüche war dieser: «Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt... Ja, man kann sagen, was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können?»

 

aus GA 35 (1984), S 19 ff

Home Suchen Vorträge Veranstaltungen Adressen Bücher Link hinzufügen
Diese Seite als PDF drucken Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Tel/Fax: +43-1-86 59 103, Mobil: +43-676-9 414 616 
www.anthroposophie.net       Impressum       Email: Wolfgang.PETER@anthroposophie.net
Free counter and web stats