Wien, 9. November 1888 (Autoreferat)
erstmals veröffentlicht in
Deutsche Worte 1889, Heft 4
herausgegeben von Engelbert Pernerstorfer
Rudolf Steiner
Vorbemerkungen zur
zweiten Auflage
Dieser Vortrag, der
hiermit in zweiter Auflage erscheint, ist vor mehr als zwanzig Jahren
im Wiener Goethe-Verein gehalten worden. Anläßlich dieser Neuausgabe
einer meiner früheren Schriften darf vielleicht das Folgende gesagt
werden. Es ist vorgekommen, daß man Änderungen meiner Anschauungen
während meiner schriftstellerischen Laufbahn gefunden hat. Wo gibt es
ein Recht hierzu, wenn eine mehr als zwanzig Jahre alte Schrift von
mir heute so erscheinen kann, daß auch nicht ein einziger Satz
geändert zu werden braucht? Und wenn man insbesondere in meinem
geisteswissenschaftlichen -anthroposophischen - Wirken einen Umschwung
in meinen Ideen hat finden wollen, so kann dem erwidert werden, daß
mir jetzt beim Durchlesen dieses Vertrags die in ihm entwickelten
Ideen als ein gesunder Unterbau der Anthroposophie erscheinen. Ja,
sogar erscheint es mir, daß gerade anthroposophische Vorstellungsart
zum Verständnisse dieser Ideen berufen ist. Bei anderer Ideenrichtung
wird man das Wichtigste, was gesagt ist, kaum wirklich ins Bewußtsein
aufnehmen. Was damals vor zwanzig Jahren hinter meiner Ideenwelt
stand, ist seit jener Zeit von mir nach den verschiedensten Richtungen
ausgearbeitet worden; das ist die vorliegende Tatsache, nicht eine
Änderung der Weltanschauung.
Ein paar Anmerkungen,
die zur Verdeutlichung am Schlüsse angehängt werden, hätten
ebensogut vor zwanzig Jahren geschrieben werden können. Nun könnte
noch die Frage aufgeworfen werden, ob denn das im Vortrage Gesagte
auch heute noch in bezug auf die Ästhetik gilt. Denn in den letzten
zwei Jahrzehnten ist doch auch manches auf diesem Felde gearbeitet
worden. Da scheint mir, daß es gegenwärtig sogar noch mehr gilt als
vor zwanzig Jahren. Mit Bezug auf die Entwickelung der Ästhetik darf
der groteske Satz gewagt werden: die Gedanken dieses Vertrags sind
seit ihrem ersten Erscheinen noch wahrer geworden, obgleich sie sich
gar nicht geändert haben.
Basel, 15. September
1909
Die Zahl der Schriften
und Abhandlungen, die in unserer Zeit erscheinen mit der Aufgabe, das
Verhältnis Goethes zu den verschiedensten Zweigen der modernen
Wissenschaften und des modernen Geisteslebens überhaupt zu bestimmen,
ist eine erdrückende. Die bloße Anführung der Titel würde wohl ein
stattliches Bändchen füllen. Dieser Erscheinung liegt die Tatsache
zugrunde, daß wir uns immer mehr bewußt werden, wir stehen in Goethe
einem Kulturfaktor gegenüber, mit dem sich alles, was an dem
geistigen Leben der Gegenwart teilnehmen will, notwendig
auseinandersetzen muß. Ein Vorübergehen bedeutete in diesem Falle
ein Verzichten auf die Grundlage unserer Kultur, ein Herumtummeln in
der Tiefe ohne den Willen, sich zu erheben bis zur lichten Höhe, von
der alles Licht unserer Bildung ausgeht. Nur wer es vermag, sich in
irgendeinem Punkte an Goethe und seine Zeit anzuschließen, der kann
zur Klarheit darüber kommen, welchen Weg unsere Kultur einschlägt,
der kann sich der Ziele bewußt werden, welche die moderne Menschheit
zu wandeln hat; wer diese Beziehung zu dem größten Geiste der neuen
Zeit nicht findet, wird einfach mitgezogen von seinen Mitmenschen und
geführt wie ein Blinder. Alle Dinge erscheinen uns in einem neuen
Zusammenhange, wenn wir sie mit dem Blick betrachten, der sich an
diesem Kulturquell geschärft hat.
So erfreulich aber das
erwähnte Bestreben der Zeitgenossen ist, irgendwo an Goethe
anzuknüpfen, so kann doch keineswegs zugestanden werden, daß die
Art, in der es geschieht, eine durchwegs glückliche ist. Nur zu oft
fehlt es an der gerade hier so notwendigen Unbefangenheit, die sich
erst in die volle Tiefe des Goetheschen Genius versenkt, bevor sie
sich auf den kritischen Stuhl setzt. Man hält Goethe in vielen Dingen
nur deswegen für überholt, weil man seine ganze
Bedeutung nicht erkennt. Man glaubt weit über Goethe hinaus zu sein,
während das Richtige meist darinnen läge, daß wir seine umfassenden
Prinzipien, seine großartige Art, die Dinge anzuschauen, auf unsere
jetzt vollkommeneren wissenschaftlichen Hilfsmittel und Tatsachen
anwenden sollten. Bei Goethe kommt es gar niemals darauf an, ob das
Ergebnis seiner Forschungen mit dem der heutigen Wissenschaft mehr
oder weniger übereinstimmt, sondern stets nur darauf, wie er die
Sache angefaßt hat. Die Ergebnisse tragen den Stempel seiner Zeit,
das ist, sie gehen so weit, als wissenschaftliche Behelfe und die
Erfahrung seiner Zeit reichten; seine Art zu denken, seine Art, die
Probleme zu stellen, aber ist eine bleibende Errungenschaft, der man
das größte Unrecht antut, wenn man sie von oben herab behandelt.
Aber unsere Zeit hat das Eigentümliche, daß ihr die produktive
Geisteskraft des Genies fast bedeutungslos erscheint. Wie sollte es
auch anders sein in einer Zeit, in der jedes Hinausgehen über die
physische Erfahrung in der Wissenschaft wie in der Kunst verpönt ist.
Zum bloßen sinnlichen Beobachten braucht man weiter nichts als
gesunde Sinne, und Genie ist dazu ein recht entbehrliches Ding.
Aber der wahre
Fortschritt in den Wissenschaften wie in der Kunst ist niemals durch
solches Beobachten oder sklavisches Nachahmen der Natur bewirkt
worden. Gehen doch Tausende und aber Tausende an einer Beobachtung
vorüber, dann kommt einer und macht an derselben Beobachtung die
Entdeckung eines großartigen wissenschaftlichen Gesetzes. Eine
schwankende Kirchenlampe hat wohl mancher vor Galilei gesehen;
doch dieser geniale Kopf mußte kommen, um an ihr die für die Physik
so bedeutungsvollen Gesetze der Pendelbewegung zu finden. «War' nicht
das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken», ruft
Goethe aus; er will damit sagen, daß nur der in die Tiefen der Natur
zu blicken vermag, der die notwendige Veranlagung dazu hat und die
produktive Kraft, im Tatsächlichen mehr zu sehen als die bloßen
äußeren Tatsachen. Das will man nicht einsehen. Man sollte die
gewaltigen Errungenschaften, die wir dem Genie Goethes verdanken,
nicht verwechseln mit den Mängeln, die seinen Forschungen infolge des
damaligen beschränkten Standes der Erfahrungen anhaften. Goethe
selbst hat das Verhältnis seiner wissenschaftlichen Resultate zum
Fortschritte der Forschung in einem trefflichen Bilde charakterisiert;
er bezeichnet die letzteren als Steine, mit denen er sich auf dem
Brette vielleicht zu weit vorgewagt, aus denen man aber den Plan des
Spielers erkennen solle. Beherzigt man diese Worte, dann erwächst uns
auf dem Gebiete der Goethe-Forschung folgende hohe Aufgabe: Sie muß
überall auf die Tendenzen, die Goethe hatte, zurückgehen. Was er
selbst als Ergebnisse gibt, mag nur als Beispiel gelten, wie er seine
großen Aufgaben mit beschränkten Mitteln zu lösen versuchte. Wir
müssen sie in seinem Geiste, aber mit unseren größeren Mitteln und
auf Grund unserer reicheren Erfahrungen zu lösen suchen. Auf diesem
Wege werden alle Zweige der Forschung, denen Goethe seine
Aufmerksamkeit zugewendet, befruchtet werden können und, was mehr
ist: sie werden ein einheitliches Gepräge tragen, durchaus Glieder
einer einheitlichen großen Weltanschauung sein. Die bloße
philologische und kritische Forschung, der ihre Berechtigung
abzusprechen ja eine Torheit wäre, muß von dieser Seite her ihre
Ergänzung finden. Wir müssen uns der Gedanken- und Ideenfülle, die
in Goethe liegt, bemächtigen und, von ihr ausgehend, wissenschaftlich
weiterarbeiten. Hier soll es meine Aufgabe sein, zu zeigen, inwiefern
die entwickelten Grundsätze auf eine der jüngsten und zugleich am
meisten umstrittenen Wissenschaften, auf die Ästhetik, Anwendung
finden. Die Ästhetik, das ist die Wissenschaft, die sich mit der
Kunst und ihren Schöpfungen beschäftigt, ist kaum hundert Jahre alt.
Mit vollem Bewußtsein, damit ein neues wissenschaftliches Gebiet zu
eröffnen, ist erst Alexander Gottlieb Baumgarten im Jahre 1750
hervorgetreten. In dieselbe Zeit fallen die Bemühungen Winckelmanns
und Lessings, über prinzipielle Fragen der Kunst zu einem
gründlichen Urteile zu kommen. Alles, was vorher auf diesem Felde
versucht worden ist, kann nicht einmal als elementarster Ansatz zu
dieser Wissenschaft bezeichnet werden. Selbst der große
Aristoteles, dieser geistige Riese, der auf alle Zweige der
Wissenschaft einen so maßgebenden Einfluß geübt hat, ist für die
Ästhetik ganz unfruchtbar geblieben. Er hat die bildenden Künste
ganz aus dem Kreise seiner Betrachtung ausgeschlossen, woraus
hervorgeht, daß er den Begriff der Kunst überhaupt nicht gehabt hat,
und außerdem kennt er kein anderes Prinzip als das der Nachahmung der
Natur, was uns wieder zeigt, daß er die Aufgabe des Menschengeistes
bei seinen Kunstschöpfungen nie begriffen hat.
Die Tatsache, daß die
Wissenschaft des Schönen so spät erst entstanden ist, ist nun kein
Zufall. Sie war früher gar nicht möglich, einfach weil die
Vorbedingungen dazu fehlten. Welche sind nun diese? Das Bedürfnis
nach der Kunst ist so alt wie die Menschheit, jenes nach dem Erfassen
ihrer Aufgabe konnte erst sehr spät auftreten. Der griechische Geist,
der vermöge seiner glücklichen Organisation aus der unmittelbar uns
umgebenden Wirklichkeit seine Befriedigung schöpfte, brachte eine
Kunstepoche hervor, die ein Höchstes bedeutet; aber er tat es in
ursprünglicher Naivität, ohne das Bedürfnis, sich in der Kunst eine
Welt zu erschaffen, die eine Befriedigung bieten soll, die uns von
keiner anderen Seite werden kann. Der Grieche fand in der Wirklichkeit
alles, was er suchte; allem, wonach sein Herz verlangte, wonach sein
Geist dürstete, kam die Natur reichlich entgegen. Nie sollte es bei
ihm dazu kommen, daß in seinem Herzen die Sehnsucht entstände nach
einem Etwas, das wir vergebens in der uns umgebenden Welt suchen. Der
Grieche ist nicht herausgewachsen aus der Natur, deshalb sind alle
seine Bedürfnisse durch sie zu befriedigen. In ungetrennter Einheit
mit seinem ganzen Sein mit der Natur verwachsen, schafft sie in ihm
und weiß dann ganz gut, was sie ihm anerschaffen darf, um es auch
wieder befriedigen zu können. So bildete denn bei diesem naiven Volke
die Kunst nur eine Fortsetzung des Lebens und Treibens innerhalb der
Natur, war unmittelbar aus ihr herausgewachsen. Sie befriedigte
dieselben Bedürfnisse wie ihre Mutter, nur im höheren Maße. Daher
kommt es, daß Aristoteles kein höheres Kunstprinzip kannte als die
Naturnachahmung. Man brauchte nicht mehr als die Natur zu erreichen,
weil man in der Natur schon den Quell aller Befriedigung hatte. Was
uns nur leer und bedeutungslos erscheinen müßte, die bloße
Naturnachahmung, war hier völlig ausreichend. Wir haben verlernt, in
der bloßen Natur das Höchste zu sehen, wonach unser Geist verlangt;
deswegen könnte
uns der bloße Realismus, der uns die jenes Höheren bare Wirklichkeit
bietet, nimmer befriedigen. Diese Zeit mußte kommen. Sie war eine
Notwendigkeit für die sich zu immer höheren Stufen der
Vollkommenheit fortentwickelnde Menschheit. Der Mensch konnte sich nur
so lange ganz innerhalb der Natur halten, solange er sich dessen nicht
bewußt war. Mit dem Augenblicke, da er sein eigenes Selbst in voller
Klarheit erkannte, mit dem Augenblicke, als er einsah, daß in seinem
Innern ein jener Außenwelt mindestens ebenbürtiges Reich lebt, da
mußte er sich losmachen von den Fesseln der Natur.
Jetzt konnte er sich
ihr nicht mehr ganz ergeben, auf daß sie mit ihm schalte und walte,
daß sie seine Bedürfnisse erzeuge und wieder befriedige. Jetzt
mußte er ihr gegenübertreten, und damit hatte er sich faktisch von
ihr losgelöst, hatte sich in seinem Innern eine neue Welt erschaffen,
und aus dieser fließt jetzt seine Sehnsucht, aus dieser kommen seine
Wünsche. Ob diese Wünsche, jetzt abseits von der Mutter Natur
erzeugt, von dieser auch befriedigt werden können, bleibt natürlich
dem Zufall überlassen. Jedenfalls trennt den Menschen jetzt eine
scharfe Kluft von der Wirklichkeit, und er muß die Harmonie erst
herstellen, die früher in ursprünglicher Vollkommenheit da war.
Damit sind die Konflikte des Ideals mit der Wirklichkeit, des
Gewollten mit dem Erreichten, kurz alles dessen gegeben, was eine
Menschenseele in ein wahres geistiges Labyrinth führt. Die Natur
steht uns da gegenüber seelenlos, bar alles dessen, was uns unser
Inneres als ein Göttliches ankündigt. Die nächste Folge ist das
Abwenden von allem, was Natur ist, die Flucht vor dem unmittelbar
Wirklichen. Dies ist das gerade Gegenteil des Griechentums. So wie das
letztere alles in der Natur gefunden hat, so findet diese
Weltanschauung gar nichts in ihr. Und in diesem Lichte muß uns das
christliche Mittelalter erscheinen. Sowenig das Griechentum das Wesen
der Kunst zu erkennen vermochte, weil sie deren Hinausgehen über die
Natur, das Erzeugen einer höheren Natur gegenüber der unmittelbaren,
nicht begreifen konnte, ebensowenig konnte es die christliche
Wissenschaft des Mittelalters zu einer Kunsterkenntnis bringen, weil
ja die Kunst doch nur mit den Mitteln der Natur arbeiten
konnte und die Gelehrsamkeit es nicht fassen konnte, wie man innerhalb
der gottlosen Wirklichkeit Werke schaffen kann, die den nach
Göttlichem strebenden Geist befriedigen können. Auch hier tat die
Hilflosigkeit der Wissenschaft der Kunstentwickelung keinen Abbruch.
Während die erstere nicht wußte, was sie darüber denken solle,
entstanden die herrlichsten Werke christlicher Kunst. Die Philosophie,
die in jener Zeit der Theologie die Schleppe nachtrug, wußte der
Kunst ebensowenig einen Platz in dem Kulturfortschritte einzuräumen,
wie es der große Idealist der Griechen, der «göttliche Plato»,
vermochte. Plato erklärte ja die bildende Kunst und die
Dramatik einfach für schädlich, von einer selbständigen Aufgabe der
Kunst hat er so wenig einen Begriff, daß er der Musik gegenüber nur
deshalb Gnade für Recht walten läßt, weil sie die Tapferkeit im
Kriege befördert.
In der Zeit, in der
Geist und Natur so innig verbunden waren, konnte die Kunstwissenschaft
nicht entstehen, sie konnte es aber auch nicht in jener, in der sie
sich als unversöhnte Gegensätze gegenüberstanden. Zur Entstehung
der Ästhetik war jene Zeit notwendig, in der der Mensch frei und
unabhängig von den Fesseln der Natur den Geist in seiner ungetrübten
Klarheit erblickte, in der aber auch schon wieder ein Zusammenfließen
mit der Natur möglich ist. Daß der Mensch sich über den Standpunkt
des Griechentums erhebt, hat seinen guten Grund. Denn in der Summe von
Zufälligkeiten, aus denen die Welt zusammengesetzt ist, in die wir
uns versetzt fühlen, können wir nimmer das Göttliche, das
Notwendige finden. Wir sehen ja nichts um uns als Tatsachen, die
ebensogut auch anders sein könnten; wir sehen nichts als Individuen,
und unser Geist strebt nach dem Gattungsmäßigen, Urbildlichen; wir
sehen nichts als Endliches, Vergängliches, und unser Geist strebt
nach dem Unendlichen, Unvergänglichen, Ewigen. Wenn also der der
Natur entfremdete Menschengeist zur Natur zurückkehren sollte, so
mußte dies zu etwas anderem sein als zu jener Summe von
Zufälligkeiten. Und diese Rückkehr bedeutet Goethe: Rückkehr zur
Natur, aber Rückkehr mit dem vollen Reichtum des entwickelten
Geistes, mit der Bildungshöhe der neuen Zeit.
Goethes Anschauungen
entspricht die grundsätzliche Trennung von Natur und Geist nicht; er
will in der Welt nur ein großes Ganzes erblicken, eine einheitliche
Entwickelungskette von Wesen, innerhalb welcher der Mensch ein Glied,
wenn auch das höchste, bildet. «Natur! Wir sind von ihr umgeben und
umschlungen - unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend,
tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in
den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir
ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.» Und im Buche über
Winckelmann: «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes
wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen,
würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm
ein reines, freies Entzücken gewährt: dann würde das Weltall, wenn
es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt,
aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.»
Hierinnen liegt das echt Goethesche weite Hinausgehen über die
unmittelbare Natur, ohne sich auch nur im geringsten von dem zu
entfernen, was das Wesen der Natur ausmacht. Fremd ist ihm, was er
selbst bei vielen besonders begabten Menschen findet: «Die Eigenheit,
eine Art von Scheu vor dem wirklichen Leben zu empfinden, sich in sich
selbst zurückzuziehen, in sich selbst eine eigene Welt zu erschaffen
und auf diese Weise das Vortrefflichste nach innen bezüglich zu
leisten.» Goethe flieht die Wirklichkeit nicht, um sich eine
abstrakte Gedankenwelt zu schaffen, die nichts mit jener gemein hat;
nein, er vertieft sich in dieselbe, um in ihrem ewigen Wandel, in
ihrem Werden und Bewegen, ihre unwandelbaren Gesetze zu finden, er
stellt sich dem Individuum gegenüber, um in ihm das Urbild zu
erschauen. So erstand in seinem Geiste die Urpflanze, so das Urtier,
die ja nichts anderes sind als die Ideen des Tieres und der Pflanze.
Das sind keine leeren Allgemeinbegriffe, die einer grauen Theorie
angehören, das sind die wesentlichen Grundlagen der Organismen mit
einem reichen, konkreten Inhalt, lebensvoll und anschaulich.
Anschaulich freilich nicht für die äußeren Sinne, sondern nur für
jenes höhere Anschauungsvermögen, das Goethe in dem Aufsatze über
«Anschauende Urteilskraft» bespricht. Die Ideen im Goetheschen Sinne
sind ebenso
objektiv wie die Farben und Gestalten der Dinge, aber sie sind nur
für den wahrnehmbar, dessen Fassungsvermögen dazu eingerichtet ist,
so wie Farben und Formen nur für den Sehenden und nicht für den
Blinden da sind. Wenn wir dem Objektiven eben nicht mit einem
empfänglichen Geiste entgegenkommen, enthüllt es sich nicht vor uns.
Ohne das instinktive Vermögen, Ideen wahrzunehmen, bleiben uns diese
immer ein verschlossenes Feld. Tiefer als jeder andere hat hier Schiller
in das Gefüge des Goetheschen Genius geschaut.
Am 23. August 1794
klärte er Goethe über das Wesen, das seinem Geist zugrunde liegt,
mit folgenden Worten auf: «Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um
über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer
Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum
auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt,
zu der mehr verwickelten auf, um endlich die verwickeltste von allen,
den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes
zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen,
suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen.» In diesem
Nacherschaffen liegt ein Schlüssel zum Verständnis der
Weltanschauung Goethes. Wollen wir wirklich zu den Urbildern der
Dinge, zu dem Unwandelbaren im ewigen Wechsel aufsteigen, dann dürfen
wir nicht das Fertiggewordene betrachten, denn dieses entspricht nicht
mehr ganz der Idee, die sich in ihm ausspricht, wir müssen auf das
Werden zurückgehen, wir müssen die Natur im Schaffen belauschen. Das
ist der Sinn der Goetheschen Worte in dem Aufsatze «Anschauende
Urteilskraft»: «Wenn wir ja im Sittlichen durch Glauben an Gott,
Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das
erste Wesen annähern sollen, so dürfte es wohl im Intellektuellen
derselbe Fall sein, daß wir uns durch das Anschauen einer immer
schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen
würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb
auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen.» Die Goetheschen
Urbilder sind also nicht leere Schemen, sondern sie sind die
treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen.
Das ist die «höhere
Natur» in der Natur, der sich Goethe bemächtigen will. Wir sehen
daraus, daß in keinem Falle die Wirklichkeit, wie sie vor unseren
Sinnen ausgebreitet daliegt, etwas ist, bei dem der auf höherer
Kulturstufe angelangte Mensch stehenbleiben kann. Nur indem der
Menschengeist diese Wirklichkeit überschreitet, die Schale zerbricht
und zum Kerne vordringt, wird ihm offenbar, was diese Welt im
Innersten zusammenhält. Nimmermehr können wir am einzelnen
Naturgeschehen, nur am Naturgesetze, nimmermehr am einzelnen
Individuum, nur an der Allgemeinheit Befriedigung finden. Bei Goethe
kommt diese Tatsache in der denkbar vollkommensten Form vor. Was auch
bei ihm stehenbleibt, ist die Tatsache, daß für den modernen Geist
die Wirklichkeit, das einzelne Individuum keine Befriedigung bietet,
weil wir nicht schon in ihm, sondern erst, wenn wir über dasselbe
hinausgehen, das finden, in dem wir das Höchste erkennen, das wir als
Göttliches verehren, das wir in der Wissenschaft als Idee ansprechen.
Während die bloße Erfahrung zur Versöhnung der Gegensätze nicht
kommen kann, weil sie wohl die Wirklichkeit, aber noch nicht die Idee
hat, kann die Wissenschaft zu dieser Aussöhnung nicht kommen, weil
sie wohl die Idee, aber die Wirklichkeit nicht mehr hat. Zwischen
beiden bedarf der Mensch eines neuen Reiches; eines Reiches, in dem
das Einzelne schon und nicht erst das Ganze die Idee darstellt, eines
Reiches, in dem das Individuum schon so auftritt, daß ihm der
Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit innewohnt. Eine solche
Welt ist aber in der Wirklichkeit nicht vorhanden, eine solche Welt
muß sich der Mensch erst selbst erschaffen, und diese Welt ist die
Welt der Kunst: ein notwendiges drittes Reich neben dem der Sinne und
dem der Vernunft.
Und die Kunst als
dieses dritte Reich zu begreifen, hat die Ästhetik als ihre Aufgabe
anzusehen. Das Göttliche, dessen die Naturdinge entbehren, muß ihnen
der Mensch selbst einpflanzen, und hierinnen liegt eine hohe Aufgabe,
die den Künstlern erwächst. Sie haben sozusagen das Reich Gottes auf
diese Erde zu bringen. Diese, man darf es wohl so nennen, religiöse
Sendung der Kunst spricht Goethe - im Buch über Winckelmann - in
folgenden herrlichen Worten aus:
«Indem der Mensch auf
den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine
ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat.
Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und
Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft
und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt, das neben
seinen übrigen Taten und Werken einen glänzenden Platz einnimmt. Ist
es einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor
der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste
hervor; denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig
entwickelt, so nimmt es alles Herrliche, Verehrungs- und
Liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche
Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst, schließt seinen
Lebens- und Tatenkreis ab und vergöttert ihn für die Gegenwart, in
der das Vergangene und Künftige begriffen ist. Von solchen Gefühlen
wurden die ergriffen, die den olympischen Jupiter erblickten, wie wir
aus den Beschreibungen, Nachrichten und Zeugnissen der Alten uns
entwickeln können. Der Gott war zum Menschen geworden, um den
Menschen zum Gott zu erheben. Man erblickte die höchste Würde und
ward für die höchste Schönheit begeistert.»
Damit war der Kunst
ihre hohe Bedeutung für den Kulturfortschritt der Menschheit
zuerkannt. Und es ist bezeichnend für das gewaltige Ethos des
deutschen Volkes, daß ihm zuerst diese Erkenntnis aufging,
bezeichnend, daß seit einem Jahrhundert alle deutschen Philosophen
danach ringen, die würdigste wissenschaftliche Form für die
eigentümliche Art zu finden, wie im Kunstwerke Geistiges und
Natürliches, Ideales und Reales miteinander verschmelzen. Nichts
anderes ist ja die Aufgabe der Ästhetik, als diese Durchdringung in
ihrem Wesen zu begreifen und in den einzelnen Formen, in denen sie
sich in den verschiedenen Kunstgebieten darlebt, durchzuarbeiten. Das
Problem, zuerst in der von uns angedeuteten Weise angeregt und damit
alle ästhetischen Hauptfragen eigentlich in Fluß gebracht zu haben,
ist das Verdienst der im Jahre 1790 erschienenen «Kritik der
Urteilskraft» Kants, deren Auseinandersetzungen Goethe
sogleich sympathisch berührten. Bei allem Ernst der Arbeit aber, der
auf die Sache verwandt wurde, müssen wir doch heute gestehen, daß
wir eine allseitig befriedigende Lösung der ästhetischen Aufgaben
nicht haben.
Der Altmeister unserer
Ästhetik, der scharfe Denker und Kritiker Friedrich Theodor
Vischer, hat bis zu seinem Lebensende an der von ihm
ausgesprochenen Überzeugung festgehalten: «Ästhetik liegt noch in
den Anfängen.» Damit hat er eingestanden, daß alle Bestrebungen auf
diesem Gebiete, seine eigene fünfbändige Ästhetik mit inbegriffen,
mehr oder weniger Irrwege bezeichnen. Und so ist es auch. Dies ist -
wenn ich hier meine Überzeugung aussprechen darf - nur auf den
Umstand zurückzuführen, weil man Goethes fruchtbare Keime auf diesem
Gebiete unberücksichtigt gelassen hat, weil man ihn nicht für
wissenschaftlich voll nahm. Hätte man das getan, dann hätte man
einfach die Ideen Schillers ausgebaut, die ihm in der Anschauung des
Goetheschen Genius aufgegangen sind und die er in den «Briefen über
ästhetische Erziehung» niedergelegt hat. Auch diese Briefe werden
vielfach von den systematisierenden Ästhetikern nicht für genug
wissenschaftlich genommen, und doch gehören sie zu dem Bedeutendsten,
was die Ästhetik überhaupt hervorgebracht hat. Schiller geht von
Kant aus. Dieser Philosoph hat die Natur des Schönen in mehrfacher
Hinsicht bestimmt. Zuerst untersucht er den Grund des Vergnügens, das
wir an den schönen Werken der Kunst empfinden. Diese Lustempfindung
findet er ganz verschieden von jeder anderen. Vergleichen wir sie mit
der Lust, die wir empfinden, wenn wir es mit einem Gegenstande zu tun
haben, dem wir etwas uns Nutzenbringendes verdanken. Diese Lust ist
eine ganz andere. Diese Lust hängt innig mit dem Begehren nach dem
Dasein dieses Gegenstandes zusammen. Die Lust am Nützlichen
verschwindet, wenn das Nützliche selbst nicht mehr ist. Das ist bei
der Lust, die wir dem Schönen gegenüber empfinden, anders. Diese
Lust hat mit dem Besitze, mit der Existenz des Gegenstandes nichts zu
tun. Sie haftet demnach gar nicht am Objekte, sondern nur an der
Vorstellung von demselben. Während beim Zweckmäßigen, Nützlichen
sogleich das Bedürfnis entsteht, die Vorstellung in Realität
umzusetzen, sind wir beim Schönen mit dem bloßen Bilde zufrieden.
Deshalb nennt Kant
das Wohlgefallen am Schönen ein von jedem realen Interesse
unbeeinflußtes, ein «interesseloses Wohlgefallen». Es wäre aber
die Ansicht ganz falsch, daß damit von dem Schönen die
Zweckmäßigkeit ausgeschlossen wird; das geschieht nur mit dem
äußeren Zwecke. Und daraus fließt die zweite Erklärung des
Schönen: «Es ist ein in sich zweckmäßig Geformtes, aber ohne einem
äußeren Zwecke zu dienen.» Nehmen wir ein anderes Ding der Natur
oder ein Produkt der menschlichen Technik wahr, dann kommt unser
Verstand und fragt nach Nutzen und Zweck. Und er ist nicht früher
befriedigt, bis seine Frage nach dem «Wozu» beantwortet ist. Beim
Schönen liegt das Wozu in dem Dinge selbst, und der Verstand braucht
nicht über dasselbe hinauszugehen. Hier setzt nun Schiller an. Und er
tut dies, indem er die Idee der Freiheit in die Gedankenreihe
hineinverwebt in einer Weise, die der Menschennatur die höchste Ehre
macht. Zunächst stellt Schiller zwei unablässig sich geltend
machende Triebe des Menschen einander gegenüber. Der erste ist der
sogenannte Stofftrieb oder das Bedürfnis, unsere Sinne der
einströmenden Außenwelt offenzuhalten. Da dringt ein reicher Inhalt
auf uns ein, aber ohne daß wir selbst auf seine Natur einen
bestimmenden Einfluß nehmen könnten. Mit unbedingter Notwendigkeit
geschieht hier alles. Was wir wahrnehmen, wird von außen bestimmt;
wir sind hier unfrei, unterworfen, wir müssen einfach dem Gebote der
Naturnotwendigkeit gehorchen. Der zweite ist der Formtrieb. Das ist
nichts anderes als die Vernunft, die in das wirre Chaos des
Wahrnehmungsinhaltes Ordnung und Gesetz bringt. Durch ihre Arbeit
kommt System in die Erfahrung. Aber auch hier sind wir nicht frei,
findet Schiller. Denn bei dieser ihrer Arbeit ist die Vernunft den
unabänderlichen Gesetzen der Logik unterworfen. Wie dort unter der
Macht der Naturnotwendigkeit, so stehen wir hier unter jener der
Vernunftnotwendigkeit. Gegenüber beiden sucht die Freiheit eine
Zufluchtstätte. Schiller weist ihr das Gebiet der Kunst an, indem er
die Analogie der Kunst mit dem Spiel des Kindes hervorhebt. Worinnen
liegt das Wesen des Spieles? Es werden Dinge der Wirklichkeit genommen
und in ihren Verhältnissen in beliebiger Weise verändert. Dabei ist
bei dieser Umformung der Realität nicht ein Gesetz der logischen Notwendigkeit
maßgebend, wie wenn wir zum Beispiel eine Maschine bauen, wo wir uns
strenge den Gesetzen der Vernunft unterwerfen müssen, sondern es wird
einzig und allein einem subjektiven Bedürfnis gedient. Der Spielende
bringt die Dinge in einen Zusammenhang, der ihm Freude macht; er legt
sich keinerlei Zwang auf. Die Naturnotwendigkeit achtet er nicht, denn
er überwindet ihren Zwang, indem er die ihm überlieferten Dinge ganz
nach Willkür verwendet; aber auch von der Vernunftnotwendigkeit
fühlt er sich nicht abhängig, denn die Ordnung, die er in die Dinge
bringt, ist seine Erfindung. So prägt der Spielende der Wirklichkeit
seine Subjektivität ein, und dieser letzteren hinwiederum verleiht er
objektive Geltung. Das gesonderte Wirken der beiden Triebe hat
aufgehört; sie sind in eins zusammengeflossen und damit frei
geworden: Das Natürliche ist ein Geistiges, das Geistige ein
Natürliches. Schiller nun, der Dichter der Freiheit, sieht so in der
Kunst nur ein freies Spiel des Menschen auf höherer Stufe und ruft
begeistert aus: «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, . .
. und er spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch
ist.» Den der Kunst zugrunde liegenden Trieb nennt Schiller den
Spieltrieb. Dieser erzeugt im Künstler Werke, die schon in ihrem
sinnlichen Dasein unsere Vernunft befriedigen und deren Vernunftinhalt
zugleich als sinnliches Dasein gegenwärtig ist. Und das Wesen des
Menschen wirkt auf dieser Stufe so, daß seine Natur zugleich geistig
und sein Geist zugleich natürlich wirkt. Die Natur wird zum Geiste
erhoben, der Geist versenkt sich in die Natur. Jene wird dadurch
geadelt, dieser aus seiner unanschaulichen Höhe in die sichtbare Welt
gerückt. Die Werke, die dadurch entstehen, sind nun freilich deshalb
nicht völlig naturwahr, weil in der Wirklichkeit sich nirgends Geist
und Natur decken; wenn wir daher die Werke der Kunst mit jenen der
Natur zusammenstellen, so erscheinen sie uns als bloßer Schein. Aber
sie müssen Schein sein, weil sie sonst nicht wahrhafte Kunstwerke
wären. Mit dem Begriffe des Scheines in diesem Zusammenhange steht
Schiller als Ästhetiker einzig da, unübertroffen, unerreicht. Hier
hätte man weiter bauen sollen und die zunächst nur einseitige
Lösung des Schönheitsproblemes durch die Anlehnung an Goethes Kunstbetrachtung
weiterführen sollen. Statt dessen tritt Schelling mit einer
vollständig verfehlten Grundansicht auf den Plan und inauguriert
einen Irrtum, aus dem die deutsche Ästhetik nicht wieder
herausgekommen ist. Wie die ganze moderne Philosophie findet auch
Schelling die Aufgabe des höchsten menschlichen Strebens in dem
Erfassen der ewigen Urbilder der Dinge. Der Geist schreitet hinweg
über die wirkliche Welt und erhebt sich zu den Höhen, wo das
Göttliche thront. Dort geht ihm alle Wahrheit und Schönheit auf. Nur
was ewig ist, ist wahr und ist auch schön. Die eigentliche Schönheit
kann also nach Schelling nur der schauen, der sich zur höchsten
Wahrheit erhebt, denn sie sind ja nur eines und dasselbe. Alle
sinnliche Schönheit ist ja nur ein schwacher Abglanz jener
unendlichen Schönheit, die wir nie mit den Sinnen wahrnehmen können.
Wir sehen, worauf das hinauskommt: Das Kunstwerk ist nicht um seiner
selbst willen und durch das, was es ist, schön, sondern weil es die
Idee der Schönheit abbildet. Es ist dann nur eine Konsequenz dieser
Ansicht, daß der Inhalt der Kunst derselbe ist wie jener der
Wissenschaft, weil sie ja beide die ewige Wahrheit, die zugleich
Schönheit ist, zugrunde legen. Für Schelling ist Kunst nur die
objektiv gewordene Wissenschaft. Worauf es nun hier ankommt, das ist,
woran sich unser Wohlgefallen am Kunstwerke knüpft. Das ist hier nur
die ausgedrückte Idee. Das sinnliche Bild ist nur Ausdrucksmittel,
die Form, in der sich ein übersinnlicher Inhalt ausspricht. Und
hierin folgen alle Ästhetiker der idealistischen Richtung Schellings.
Ich kann nämlich nicht übereinstimmen mit dem, was der neueste
Geschichtsschreiber und Systematiker der Ästhetik, Eduard von
Hartmann, findet, daß Hegel wesentlich über Schelling in
diesem Punkte hinausgekommen ist. Ich sage in diesem Punkte, denn es
gibt vieles andere, wo er ihn turmhoch überragt. Hegel sagt ja auch:
«Das Schöne ist das sinnliche Scheinen der Idee.» Damit gibt auch
er zu, daß er in der ausgedrückten Idee das sieht, worauf es in der
Kunst ankommt. Noch deutlicher wird dies aus folgenden Worten: «Die
harte Rinde der Natur und der gewöhnlichen Welt machen es dem Geiste
saurer, zur Idee durchzudringen, als die Werke der Kunst.» Nun,
darinnen ist doch ganz klar gesagt, daß das Ziel der Kunst dasselbe
ist wie das der Wissenschaft, nämlich zur Idee vorzudringen.
Die Kunst suche nur zu
veranschaulichen, was die Wissenschaft unmittelbar in der Gedankenform
zum Ausdrucke bringt. Friedrich Theodor Vischer nennt die Schönheit
«die Erscheinung der Idee» und setzt damit gleichfalls den Inhalt
der Kunst mit der Wahrheit identisch. Man mag dagegen einwenden, was
man will; wer in der ausgedrückten Idee das Wesen des Schönen sieht,
kann es nimmermehr von der Wahrheit trennen. Was dann die Kunst neben
der Wissenschaft noch für eine selbständige Aufgabe haben soll, ist
nicht einzusehen. Was sie uns bietet, erfahren wir auf dem Wege des
Denkens ja in reinerer, ungetrübterer Gestalt, nicht erst verhüllt
durch einen sinnlichen Schleier. Nur durch Sophisterei kommt man vom
Standpunkte dieser Ästhetik über die eigentliche kompromittierende
Konsequenz hinweg, daß in den bildenden Künsten die Allegorie und in
der Dichtkunst die didaktische Poesie die höchsten Kunstformen seien.
Die selbständige Bedeutung der Kunst kann diese Ästhetik nicht
begreifen. Sie hat sich daher auch als unfruchtbar erwiesen. Man darf
aber nicht zu weit gehen und deswegen alles Streben nach einer
widerspruchslosen Ästhetik aufgeben. Und es gehen in dieser Richtung
zu weit jene, die alle Ästhetik in Kunstgeschichte auflösen wollen.
Diese Wissenschaft kann denn, ohne sich auf authentische Prinzipien zu
stützen, nichts anderes sein als ein Sammelplatz für
Notizensammlungen über die Künstler und ihre Werke, an die sich mehr
oder weniger geistreiche Bemerkungen schließen, die aber, ganz der
Willkür des subjektiven Raisonnements entstammend, ohne Wert sind.
Von der anderen Seite ist man der Ästhetik zu Leibe gegangen, indem
man ihr eine Art Physiologie des Geschmacks gegenüberstellt. Man will
die einfachsten, elementarsten Fälle, in denen wir eine
Lustempfindung haben, untersuchen und dann zu immer komplizierteren
Fällen aufsteigen, um so der «Ästhetik von oben» eine «Ästhetik
von unten» entgegenzusetzen. Diesen Weg hat Fechner in seiner
«Vorschule der Ästhetik» eingeschlagen. Es ist eigentlich
unbegreiflich, daß ein solches Werk bei einem Volke, das einen Kant
gehabt hat, Anhänger finden kann. Die Ästhetik soll von der
Untersuchung der Lustempfindung ausgehen; als ob jede Lustempfindung
schon eine ästhetische wäre und als ob wir die ästhetische Natur
einer Lustempfindung von der einer anderen durch irgend etwas anderes
unterscheiden könnten als durch den Gegenstand, durch den sie
hervorgebracht wird. Wir wissen nur, daß eine Lust eine ästhetische
Empfindung ist, wenn wir den Gegenstand als einen schönen erkennen,
denn psychologisch als Lust unterscheidet sich die ästhetische in
nichts von einer ändern. Es handelt sich immer um die Erkenntnis des
Objektes. Wodurch wird ein Gegenstand schön? Das ist die Grundfrage
aller Ästhetik.
Viel besser als die
«Ästhetiker von unten» kommen wir der Sache bei, wenn wir uns an
Goethe anlehnen. Merck bezeichnet einmal Goethes Schaffen mit
den Worten: «Dein Bestreben, Deine unablenkbare Richtung ist, dem
Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die ändern suchen das
sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt
nichts wie dummes Zeug.» Damit ist ungefähr dasselbe gesagt wie mit
Goethes Worten im zweiten Teil des «Faust»: «Das Was bedenke, mehr
bedenke Wie.» Es ist deutlich gesagt, worauf es in der Kunst ankommt.
Nicht auf ein Verkörpern eines Übersinnlichen, sondern um ein
Umgestalten des Sinnlich-Tatsächlichen. Das Wirkliche soll nicht zum
Ausdrucksmittel herabsinken: nein, es soll in seiner vollen
Selbständigkeit bestehen bleiben; nur soll es eine neue Gestalt
bekommen, eine Gestalt, in der es uns befriedigt. Indem wir irgendein
Einzelwesen aus dem Kreise seiner Umgebung herausheben und es in
dieser gesonderten Stellung vor unser Auge stellen, wird uns daran
sogleich vieles unbegreiflich erscheinen. Wir können es mit dem
Begriffe, mit der Idee, die wir ihm notwendig zugrunde legen müssen,
nicht in Einklang bringen. Seine Bildung in der Wirklichkeit ist eben
nicht nur die Folge seiner eigenen Gesetzlichkeit, sondern es ist die
angrenzende Wirklichkeit unmittelbar mitbestimmend. Hätte das Ding
sich unabhängig und frei, unbeeinflußt von anderen Dingen entwickeln
können, dann nur lebte es seine eigene Idee dar. Diese dem Dinge
zugrunde liegende, aber in der Wirklichkeit in freier Entfaltung
gestörte Idee muß der Künstler ergreifen und sie zur Entwickelung
bringen. Er muß in dem
Objekte den Punkt finden, aus dem sich ein Gegenstand in seiner
vollkommensten Gestalt entwickeln läßt, in der er sich aber in der
Natur selbst nicht entwickeln kann. Die Natur bleibt eben in jedem
Einzelding hinter ihrer Absicht zurück; neben dieser Pflanze schafft
sie eine zweite, dritte und so fort; keine bringt die volle Idee zu
konkretem Leben; die eine diese, die andere jene Seite, soweit es die
Umstände gestatten. Der Künstler muß aber auf das zurückgehen, was
ihm als die Tendenz der Natur erscheint. Und das meint Goethe, wenn er
sein Schaffen mit den Worten ausspricht: «Ich raste nicht, bis ich
einen prägnanten Punkt finde, von dem sich vieles ableiten läßt.»
Beim Künstler muß das ganze Äußere seines Werkes das ganze Innere
zum Ausdruck bringen; beim Naturprodukt bleibt jenes hinter diesem
zurück, und der forschende Menschengeist muß es erst erkennen. So
sind die Gesetze, nach denen der Künstler verfährt, nichts anderes
als die ewigen Gesetze der Natur, aber rein, unbeeinflußt von jeder
Hemmung. Nicht was ist, liegt also den Schöpfungen der Kunst
zugrunde, sondern was sein könnte, nicht das Wirkliche, sondern das
Mögliche. Der Künstler schafft nach denselben Prinzipien, nach denen
die Natur schafft; aber er behandelt nach diesen Prinzipien die
Individuen, während, um mit einem Goetheschen Worte zu reden, die
Natur sich nichts aus den Individuen macht. «Sie baut immer und
zerstört immer», weil sie nicht mit dem Einzelnen, sondern mit dem
Ganzen das Vollkommene erreichen will. Der Inhalt eines Kunstwerkes
ist irgendein sinnenfällig wirklicher - dies ist das Was; in der
Gestalt, die ihm der Künstler gibt, geht sein Bestreben dahin, die
Natur in ihren eigenen Tendenzen zu übertreffen, das, was mit ihren
Mitteln und Gesetzen möglich ist, in höherem Maße zu erreichen, als
sie es selbst imstande ist.
Der Gegenstand, den der
Künstler vor uns stellt, ist vollkommener, als er in seinem
Naturdasein ist; aber er trägt doch keine andere Vollkommenheit als
seine eigene an sich. In diesem Hinausgehen des Gegenstandes über
sich selbst, aber doch nur auf Grundlage dessen, was in ihm schon
verborgen ist, liegt das Schöne. Das Schöne ist also kein
Unnatürliches; und Goethe kann mit Recht sagen: «Das Schöne ist
eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne dessen Erscheinung
ewig wären verborgen geblieben», oder an einem anderen Orte: «Wem
die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der
empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten
Auslegerin, der Kunst.» In demselben Sinne, in dem man sagen kann,
das Schöne sei ein Unreales, Unwahres, es sei bloßer Schein, denn
was es darstellt, finde sich in dieser Vollkommenheit nirgends in der
Natur, kann man auch sagen: das Schöne sei wahrer als die Natur,
indem es das darstellt, was die Natur sein will und nur nicht sein
kann. Über diese Frage der Realität in der Kunst sagt Goethe: «Der
Dichter» - und wir können seine Worte ganz gut auf die gesamte Kunst
ausdehnen -, «der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das
Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, das
heißt, wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig
sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können.»
Goethe findet: «Es ist in der Natur nichts schön, was nicht
naturgesetzlich als wahr motiviert wäre.» Und die andere Seite des
Scheines, das Übertreffen des Wesens durch sich selbst, finden wir
als Goethes Ansicht ausgesprochen in «Sprüchen in Prosa»: «In den
Blüten tritt das vegetabilische Gesetz in seine höchste Erscheinung,
und die Rose wäre nur wieder der Gipfel dieser Erscheinung . . . Die
Frucht kann nie schön sein, denn da tritt das vegetabilische Gesetz
in sich (ins bloße Gesetz) zurück.» Nun, da haben wir es doch ganz
deutlich, wo sich die Idee ausbildet und auslebt, da tritt das Schöne
ein, wo wir in der äußeren Erscheinung unmittelbar das Gesetz
wahrnehmen; wo hingegen, wie in der Frucht, die äußere Erscheinung
formlos und plump erscheint, weil sie von dem der Pflanzenbildung
zugrunde liegenden Gesetz nichts verrät, da hört das Naturding auf,
schön zu sein. Deshalb heißt es in demselben Spruch weiter: «Das
Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der größten Freiheit, nach
seinen eigensten Bedingungen, bringt das Objektiv-Schöne hervor,
welches freilich würdige Subjekte finden muß, von denen es
aufgefaßt wird.» Und in entschiedenster Weise kommt diese Ansicht
Goethes in folgendem Ausspruch zum Vorschein, den wir in den
Gesprächen mit Eckermann finden (III. 108): «Der Künstler muß
freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden . .. allein in
den höhern Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild
zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf
hier sogar zu Fiktionen schreiten.» Als die höchste Aufgabe der
Kunst bezeichnet Goethe: «durch den Schein die Täuschung einer
höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben sei es aber,
den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines
Wirkliche übrigbleibt.»
Fragen wir uns jetzt
einmal nach dem Grund des Vergnügens an Gegenständen der Kunst. Vor
allem müssen wir uns klar sein darüber, daß die Lust, welche an den
Objekten des Schönen befriedigt wird, in nichts nachsteht der rein
intellektuellen Lust, die wir am rein Geistigen haben. Es bedeutet
immer einen entschiedenen Verfall der Kunst, wenn ihre Aufgabe in dem
bloßen Amüsement, in der Befriedigung einer niederen Lust gesucht
wird. Es wird also der Grund des Vergnügens an Gegenständen der
Kunst kein anderer sein als jener, der uns gegenüber der Ideenwelt
überhaupt jene freudige Erhebung empfinden läßt, die den ganzen
Menschen über sich selbst hinaushebt. Was gibt uns nun eine solche
Befriedigung an der Ideenwelt? Nichts anderes als die innere
himmlische Ruhe und Vollkommenheit, die sie in sich birgt. Kein
Widerspruch, kein Mißton regt sich in der in unserem eigenen Innern
aufsteigenden Gedankenwelt, weil sie ein Unendliches in sich ist.
Alles, was dieses Bild zu einem vollkommenen macht, liegt in ihm
selbst. Diese der Ideenwelt eingeborene Vollkommenheit, das ist der
Grund unserer Erhebung, wenn wir ihr gegenüberstehen. Soll uns das
Schöne eine ähnliche Erhebung bieten, dann muß es nach dem Muster
der Idee aufgebaut sein. Und dies ist etwas ganz anderes, als was die
deutschen idealisierenden Ästhetiker wollen. Das ist nicht die «Idee
in Form der sinnlichen Erscheinung», das ist das gerade Umgekehrte,
das ist eine «sinnliche Erscheinung in der Form der Idee». Der
Inhalt des Schönen, der demselben zugrunde liegende Stoff ist also
immer ein Reales, ein unmittelbar Wirkliches, und die Form seines
Auftretens ist die ideelle. Wir sehen, es ist gerade das Umgekehrte
von dem richtig, was die deutsche Ästhetik sagt; diese hat die Dinge
einfach auf den Kopf gestellt. Das
Schöne ist nicht das Göttliche in einem sinnlich-wirklichen Gewande;
nein, es ist das Sinnlich-Wirkliche in einem göttlichen Gewande.
Der Künstler bringt das Göttliche nicht dadurch auf die Erde, daß
er es in die Welt einfließen läßt, sondern dadurch, daß er die
Welt in die Sphäre der Göttlichkeit erhebt. Das Schöne ist Schein,
weil es eine Wirklichkeit vor unsere Sinne zaubert, die sich als
solche wie eine Idealwelt darstellt. Das Was bedenke, mehr bedenke
Wie, denn in dem Wie liegt es, worauf es ankommt. Das Was bleibt ein
Sinnliches, aber das Wie des Auftretens wird ein Ideelles. Wo diese
ideelle Erscheinungsform am Sinnlichen am besten erscheint, da
erscheint auch die Würde der Kunst am höchsten. Goethe sagt
darüber: «Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am
eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden
müßte. Sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und veredelt alles,
was sie ausdrückt.» Die Ästhetik nun, die von der Definition
ausgeht: «das Schöne ist ein sinnliches Wirkliche, das so erscheint,
als wäre es Idee», diese besteht noch nicht. Sie muß geschaffen
werden. Sie kann schlechterdings bezeichnet werden als die «Ästhetik
der Goetheschen Weltanschauung». Und das ist die Ästhetik der
Zukunft. Auch einer der neuesten Bearbeiter der Ästhetik, Eduard von
Hartmann, der in seiner «Philosophie des Schönen» ein ganz
ausgezeichnetes Werk geschaffen hat, huldigt dem alten Irrtum, daß
der Inhalt des Schönen die Idee sei. Er sagt ganz richtig, der
Grundbegriff, wovon alle Schönheitswissenschaft auszugehen hat, sei
der Begriff des ästhetischen Scheines. Ja, aber ist denn das
Erscheinen der Idealwelt als solcher je als Schein zu betrachten! Die
Idee ist doch die höchste Wahrheit; wenn sie erscheint, so erscheint
sie eben als Wahrheit und nicht als Schein. Ein wirklicher Schein aber
ist es, wenn das Natürliche, Individuelle in einem ewigen,
unvergänglichen Gewände, ausgestattet mit dem Charakter der Idee,
erscheint; denn dieses kommt ihr eben in Wirklichkeit nicht zu.
In diesem Sinne
genommen, erscheint uns der Künstler als der Fortsetzer des
Weltgeistes; jener setzt die Schöpfung da fort, wo dieser sie aus den
Händen gibt. Er erscheint uns in inniger Verbrüderung mit dem
Weltengeiste und die Kunst als die freie Fortsetzung des
Naturprozesses. Damit erhebt sich der Künstler über das gemeine wirkliche
Leben, und er erhebt uns, die wir uns in seine Werke vertiefen, mit
ihm. Er schafft nicht für die endliche Welt, er wächst über sie
hinaus. Goethe läßt diese seine Ansicht in seiner Dichtung
«Künstlers Apotheose» von der Muse dem Künstler mit den Worten
zurufen:
So wirkt mit
Macht der edle Mann
Jahrhunderte auf seinesgleichen:
Denn was ein guter Mensch erreichen kann,
Ist nicht im engen Raum des Lebens zu erreichen.
Drum lebt er auch nach seinem Tode fort
Und ist so wirksam, als er lebte;
Die gute Tat, das schöne Wort,
Es strebt unsterblich, wie er sterblich strebte.
So lebst auch du (der Künstler) durch ungemeßne Zeit;
Genieße der Unsterblichkeit.
Dieses Gedicht bringt
überhaupt Goethes Gedanken über diese, ich möchte sagen, kosmische
Sendung des Künstlers vortrefflich zum Ausdruck.
Wer hat wie Goethe die
Kunst in solcher Tiefe erfaßt, wer wußte ihr eine solche Würde zu
geben! Wenn er sagt: «Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die
höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen
Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete
fällt zusammen: da ist die Notwendigkeit, da ist Gott», so spricht
dies wohl genugsam für die volle Tiefe seiner Ansichten. Eine
Ästhetik in seinem Geiste kann gewiß nicht schlecht sein. Und das
wird wohl auch noch für manch anderes Kapitel unserer modernen
Wissenschaften gelten.
Als Walter von
Goethe, des Dichters letzter Nachkomme, am 15. April 1885 starb
und die Schätze des Goethehauses der Nation zugänglich wurden, da
mochte wohl mancher achselzuckend auf den Eifer der Gelehrten blicken,
der sich auch der kleinsten Überbleibsel aus dem Nachlasse Goethes
annahm und ihn wie eine teure Reliquie behandelte, die man im
Hinblicke auf die Forschung keineswegs geringschätzend ansehen
dürfe. Aber das Genie Goethes ist ein unerschöpfliches,
das nicht mit einem Blick zu überschauen ist, dem wir uns nur von
verschiedenen Seiten immer mehr annähern können. Und dazu muß uns
alles willkommen sein. Auch was im einzelnen wertlos erscheint,
gewinnt Bedeutung, wenn wir es im Zusammenhange mit der umfassenden
Weltanschauung des Dichters betrachten. Nur wenn wir den vollen
Reichtum der Lebensäußerungen durchlaufen, in denen sich dieser
universelle Geist ausgelebt hat, tritt uns sein Wesen, tritt uns seine
Tendenz, aus der bei ihm alles entspringt und die einen Höhepunkt der
Menschheit bezeichnet, vor die Seele. Erst wenn diese Tendenz
Gemeingut aller geistig Strebenden wird, wenn der Glaube ein
allgemeiner sein wird, daß wir die Weltansicht Goethes nicht nur
verstehen sollen, sondern daß wir in ihr, sie in uns leben muß, erst
dann hat Goethe seine Sendung erfüllt. Diese Weltansicht muß für
alle Glieder des deutschen Volkes und weit über dieses hinaus das
Zeichen sein, in dem sie sich als in einem gemeinsamen Streben
begegnen und erkennen.
Einige Bemerkungen
Zu Seite 14 f. Es ist
hier von der Ästhetik als einer selbständigen Wissenschaft die Rede.
Man kann natürlich Ausführungen über die Künste bei leitenden
Geistern früherer Zeiten durchaus finden. Ein Geschichtsschreiber der
Ästhetik könnte aber alles dieses nur so behandeln, wie man
sachgemäß alles philosophische Streben der Menschheit vor dem
wirklichen Beginn der Philosophie in Griechenland mit Thales
behandelt.
Zu Seiten 18 und 19. Es
könnte auffallen, daß in diesen Ausführungen gesagt wird: das
mittelalterliche Denken finde «gar nichts» in der Natur. Man könnte
dagegenhalten die großen Denker und Mystiker des Mittelalters. Nun
beruht aber ein solcher Einwand auf einem völligen Mißverständnis.
Es ist hier nicht gesagt, daß mittelalterliches Denken nicht imstande
gewesen wäre, sich Begriffe zu bilden von der Bedeutung der
Wahrnehmung und so weiter, sondern lediglich, daß der Menschengeist
in jener Zeit dem Geistigen als solchem, in seiner ureigenen Gestalt,
zugewendet war und keine Neigung verspürte, mit den Einzeltatsachen
der Natur sich auseinanderzusetzen.
Zu Seite 27. Mit der
«verfehlten Grundansicht» Schellings ist keineswegs gemeint das
Erheben des Geistes «zu den Höhen, wo das Göttliche thront»,
sondern die Anwendung, die Schelling davon auf die Betrachtung der
Kunst macht. Es soll das besonders hervorgehoben werden, damit das
hier gegen Schelling Gesagte nicht mit den Kritiken verwechselt werde,
die vielfach gegenwärtig im Umlauf sind gegen diesen Philosophen und
gegen den philosophischen Idealismus überhaupt. Man kann Schelling
sehr hoch stellen, wie es der Verfasser dieser Abhandlung tut, und
dennoch gegen Einzelheiten in seinen Leistungen viel einzuwenden
haben.
Zu Seiten 29 und 30. Es
wird die sinnliche Wirklichkeit in der Kunst verklärt dadurch, daß
sie so erscheint, als wenn sie Geist wäre. Insofern ist das
Kunstschaffen nicht eine Nachahmung von irgend etwas schon
Vorhandenem, sondern eine aus der menschlichen Seele entsprungene
Fortsetzung des Weltprozesses. Die bloße Nachahmung des Natürlichen
schafft ebensowenig ein Neues wie die Verbildlichung des schon
vorhandenen Geistes. Als einen wirklich starken Künstler kann man
nicht den empfinden, welcher auf den Beobachter den Eindruck von
treuer Wiedergabe eines Wirklichen macht, sondern denjenigen, welcher
zum Mitgehen mit ihm zwingt, wenn er schöpferisch den Weltprozeß in
seinen Werken fortführt.