Die Bedeutung zu schildern,
welche der vor einigen Tagen verstorbene Physiologe Rudolf Heidenhain
für seine Fachwissenschaft hat, gehört nicht zu den Aufgaben dieser
Wochenschrift. Nicht unberücksichtigt aber soll bleiben, daß in dem
Breslauer Universitätslaboratorium Heidenhains Arbeiten gemacht
worden sind, die für jeden wichtig sind, der nach einer allgemeinen
Weltauffassung Bedürfnis hat. In unserer Zeit des Spezialistentums
dringen die Ergebnisse gelehrter Einzelarbeit nicht leicht in das
allgemeine Bewußtsein der Gebildeten. Diesem Umstände ist es zum
Teile zuzuschreiben, daß Heidenhains Untersuchungen über das Leben
der Zelle auf unsere moderne Weltanschauung nicht den Einfluß
ausgeübt haben, den sie ihrer Natur nach hätten ausüben müssen.
Allerdings kommt noch etwas anderes dazu, das ich später erwähnen
will.
Unsere Naturauffassung strebt
deutlich dem Ziele zu, das Leben der Organismen nach denselben
Gesetzen zu erklären, nach denen auch die Erscheinungen der leblosen
Natur erklärt werden müssen. Mechanische, physikalische, chemische
Gesetzmäßigkeit wird im tierischen und pflanzlichen Körper gesucht.
Dieselbe Art von Gesetzen, die eine Maschine beherrschen, sollen, nur
in unendlich komplizierter und schwer zu erkennender Form, auch im
Organismus tätig sein. Nichts soll zu diesen Gesetzen hinzutreten, um
das Phänomen, das wir Leben nennen, möglich zu machen. Sie sollen es
in vielfältiger Verkettung allein imstande sein. Diese mechanistische
Auffassung der Lebenserscheinungen gewinnt immer mehr an Boden. Sie
wird aber denjenigen nie befriedigen, der fähig ist, einen tieferen
Blick in die Naturvorgänge zu tun. Ein solcher wird erkennen, daß in
dem Organismus Gesetze höherer Art wirksam sind als in der leblosen
Natur. Es wird ihm klar werden, daß nur derjenige solche Gesetze
leugnen kann, der sie nicht sieht. Der tiefer Blickende wird sich mit
niemandem gerne über die Gesetze des organischen Lebens streiten, wie
sich der Farbensehende mit dem Farbenblinden nicht über die Farben
streitet. Ein solcher tiefer Blickender weiß, daß schon in der
kleinsten Zelle Gesetze höherer Art wirksam sind als in der Maschine.
Durch Untersuchungen wie
diejenigen Heidenhains gewinnen die Ideen über besondere Gesetze der
Organismen bestimmten Inhalt im einzelnen. Dieser Forscher hat
gezeigt, daß die Zellen der Speicheldrüsen in lebendiger Tätigkeit
begriffen sind, wenn das Absonderungsprodukt derselben erzeugt wird.
Es wird also die Absonderung nicht durch bloße physikalische
Ursachen, sondern durch das aktive Leben der kleinen Organe bewirkt.
Ein Ähnliches hat Heidenhain für die Zellen der Niere und der
Darmwandungen nachgewiesen. Nicht der bloße mechanische Blutdruck
oder die chemischen Kräfte, die in Betracht kommen, sind allein
tätig, sondern besondere organische Triebkräfte. Diese Triebkräfte
können unter bestimmten Bedingungen allein, unabhängig von
mechanischen Wirkungen arbeiten, unter bestimmten ändern in
Kombination mit jenen ändern.
Charakteristisch für die
Denkart der modernen Naturforscher bleibt es, daß Heidenhain aus
seinen Versuchen selbst nicht den Schluß gezogen hat, daß das Leben
der Zellen höheren Gesetzen gehorcht als die Dinge der unorganischen
Natur. Er lebte in dem Wahne, daß das Eigenleben, das er in den
Zellen wahrnahm, sich doch noch werde aus physikalischen und
chemischen Vorgängen erklären lassen. Man begegnet hier der
Anschauungsweise, welche sogleich in Mystizismus zu verfallen glaubt,
wenn sie den Boden der einfachen Gesetzmäßigkeit verläßt, nach der
ein Stein zur Erde fällt oder nach der zwei Flüssigkeiten sich
mischen. Man glaubt in das Gebiet des Wunders, der Gesetzlosigkeit zu
kommen, wenn man aus dem Bereiche der rein mechanischen Naturgesetze
heraustritt. Dies ist der zweite Grund, warum Heidenhains Versuche auf
die Weltanschauung der Zeit nicht genügend gewirkt haben. Die
Naturforscher von heute sind in ihrem Denken zu feige. Wo ihnen die
Weisheit ihrer mechanischen Erklärungen ausgeht, da sagen sie: für
uns ist die Sache nicht erklärbar. Die Zukunft wird Aufschluß
bringen. Sie wagen sich nicht weiter vor, als sie mit den armseligen
Gesetzen der Mechanik, Physik und Chemie dringen können. Ein kühnes
Denken erhebt sich zu einer höheren Anschauungsweise. Es versucht,
nach höheren Gesetzen zu erklären, was nicht mechanischer Art ist.
All unser naturwissenschaftliches Denken bleibt hinter unserer
naturwissenschaftlichen Erfahrung zurück. Man rühmt heute die
naturwissenschaftliche Denkart sehr. Man spricht davon, daß wir im
naturwissenschaftlichen Zeitalter leben. Aber im Grunde ist dieses
naturwissenschaftliche Zeitalter das ärmlichste, das die Geschichte
zu verzeichnen hat. Hängenbleiben an den bloßen Tatsachen und an den
mechanischen Erklärungsarten ist sein Charakteristikum. Das Leben
wird von dieser Denkart nie begriffen, weil zu einem solchen Begreifen
eine höhere Vorstellungsweise gehört als zur Erklärung einer
Maschine.