Rudolf Steiner
Der
Lichtseelenprozeß
aus
"Die
Sendung Michaels"
(GA
194)
SECHSTER
VORTRAG Dornach, 30. November 1919
Sie haben gesehen aus den
Darstellungen der letzten Tage, wie zum völligen
Verständnis der menschlichen Wesenheit notwendig ist,
einzugehen auf die Gliederung des Menschen, vor allen
Dingen zu unterscheiden, welch tiefgreifender Unterschied
besteht zwischen dem, was wir nennen können menschliche
Hauptesorganisation, menschliche Kopforganisation, und
dem, was wir nennen können die Organisation des übrigen
Menschen. Zwar wissen Sie ja, daß wir auch diesen
übrigen Menschen wiederum gliedern, so daß wir im
Ganzen auch da eine Dreigliederung bekommen, aber
zunächst ist für das Verständnis der bedeutsamen
Impulse in der Menschheitsentwickelung, denen wir
gegenwärtig und in der nächsten Zukunft
gegenüberstehen, die Unterscheidung in Kopfmenschen und
in die Organisation des übrigen Menschen wichtig.
Nun, wenn wir
geisteswissenschaftlich so über den Menschen sprechen,
daß wir sagen: Kopfmensch, übriger Mensch, dann sind
uns die Kopfes oder Hauptesorganisation und die
Organisation des übrigen Menschen zunächst mehr Bilder,
von der Natur selbst geschaffene Bilder für das
Seelische, für das Geistige, dessen Ausdruck, dessen
Offenbarung sie sind. Der Mensch steht in der gesamten
Erdenmenschheitsentwickelung in einer Weise darinnen, die
man eigentlich nur verstehen kann, wenn man das
verschiedene Darinnenstehen der Kopfesorganisation und
der übrigen Organisation des Menschen betrachtet.
Dasjenige, was an die Hauptesorganisation geknüpft ist,
was also namentlich als das Vorstellungsleben des
Menschen durch das Haupt sich offenbart, das ist ja
etwas, was wenn wir zunächst nur bleiben in der Zeit der
nachatlantischen Menschheitsentwickelung weit zurückgeht
in dieser nachatlantischen Menschheitsentwickelung. Wenn
wir die Zeit ins Auge fassen, die unmittelbar auf die
große atlantische Katastrophe folgte, das ist also im
6., 7., 8. Jahrtausend vor der christlichen Zeitrechnung,
dann kommen wir allerdings zurück für die Gegenden, die
damals für die zivilisierte Welt in Betracht kommen, zu
einer Seelenstimmung der Menschheit, die sich kaum mehr
mit der unsrigen vergleichen läßt. Dasjenige, was
dazumal der Mensch in seinem Bewußtsein hatte, was des
Menschen Auffassung der Welt charakterisierte, das ist
schwer mit dem zu vergleichen, was jetzt unsere
Sinnesanschauung, unsere Gedankenauffassung der Welt
charakterisiert. In meiner «Geheimwissenschaft im
Umriß» habe ich diese Kultur, die in so alte Zeiten
zurückreicht, die urindische genannt. Wir können sagen:
Bis zu dem Grade war die Menschheitsorganisation, die
dazumal vorzugsweise an das Haupt gebunden war, von der
unsrigen verschieden, daß eigentlich das Rechnen mit
Raum und Zeit, wie es uns eigen ist, dieser alten
Bevölkerung gar nicht eigen war. Es war im Überschauen
der Welt mehr ein Überblick über unermeßliche
Raumesweiten, und es war auch ein Ineinanderschauen der
verschiedenen Zeitmomente. Dieses starke Betonen von Raum
und Zeit in der Weltauffassung, das war in dieser alten
Zeit nicht vorhanden.
Davon finden wir die
ersten Anklänge erst gegen das 5., 4. Jahrtausend,
namentlich in der Zeit, die wir bezeichnen als die
urpersische Zeit. Da ist aber auch noch die ganze
Stimmung des seelischen Lebens eine solche, die sich
schwer mit dem vergleichen läßt, was in unserer Zeit
des Menschen Seelen und Weltenstimmung ist. Da ist vor
allen Dingen der Mensch immer darauf aus in dieser alten
Zeit, alle Dinge so sich zu Interpretieren, daß er
Abstimmungen eines Lichten, Hellen und eines Finsteren,
Dunklen überall erblickt. Jene Abstraktionen, in denen
wir heute leben, die sind jener alten Erdenbevölkerung
noch völlig fremd. Es ist noch etwas von einer
universellen Gesamtanschauung vorhanden, ein Bewußtsein
des Durchdrungenseins alles Anschaubaren vom Lichte und
seines Abschattierens in Dunkelheiten. So sah man auch
die moralische Weltordnung an. Man empfand einen
Menschen, der wohlwollend war, gütig war, als licht, als
hell, einen Menschen, der mißtrauisch war, eigensüchtig
war, als einen dunklen Menschen. Man sah gewissermaßen
noch aurisch um den Menschen herum dasjenige, was seine
moralische Individualität war. Und wenn man zu einem
Menschen dieser alten urpersischen Zeit gesprochen hätte
von dem, was wir heute Naturordnung nennen, da hätte er
gar nichts davon verstanden. Naturordnung in unserem
Sinne gab es in seiner Licht und Schattenwelt nicht. Denn
für ihn war Licht und Schattenwelt da, und er nannte zum
Beispiel in der Tonwelt auch eine gewisse Nuance des
Tönens hell, licht, eine gewisse Nuance des Tönens
dunkel, schattig. Für ihn war die Welt eine Licht und
Schattenwelt. Und das, was sich ausdrückte durch dieses
Hell-Dunkel, das waren ihm geistige und zugleich
Naturgewalten. Es war für ihn kein Unterschied zwischen
geistigen und Naturgewalten. So etwas, wie wir heute
unterscheiden zwischen Naturnotwendigkeit und
menschlicher Freiheit, das wäre ihm als Wahnsinn
erschienen, denn für ihn gab es diese Zweiheit nicht,
menschliche Willkür und Naturnotwendigkeit. Für ihn war
gewissermaßen alles zu umfassen unter einer
geistigphysischen Einheit. Soll ich bildlich Ihnen etwas
aufzeichnen die Bedeutung wird es erst erhalten durch
das, was folgen wird , wie der Charakter dieser
urpersischen Weltanschauung war, so müßte ich ungefähr
solch eine Linie hinzeichnen, wie die Weltenschlange, das
Symbol des Alls, die einheitlich die
Menschheitsanschauung umfaßte.

Dann, nachdem etwas über
zwei Jahrtausende die Seelenstimmung der Menschen so war,
trat ja dasjenige auf, dessen Nachklänge wir noch
wahrnehmen in der chaldäischen Weltanschauung, in der
ägyptischen Weltanschauung und in einer besonderen Form
in derjenigen Weltanschauung, deren Abglanz uns im Alten
Testamente erhalten ist. Da tritt in einer gewissen Weise
schon etwas auf, was näher ist unserer gegenwärtigen
Weltanschauung. Da bekommt man schon die Nuance von einer
gewissen Naturnotwendigkeit herein in das menschliche
Vorstellen. Aber diese Naturnotwendigkeit ist noch weit
entfernt von dem, was wir heute die mechanische oder auch
nur die vitale Naturordnung nennen. Es fällt noch
zusammen für diese Zeit das Naturgeschehen mit dem
göttlichen Wollen, mit der Vorsehung. Vorsehung und
Naturgeschehen ist noch eines. Der Mensch wußte: Wenn er
seine Hand bewegt, so ist es das Göttliche eigentlich in
ihm, das ihn durchdringt, das seine Hand bewegt, seinen
Arm bewegt. Wenn ein Baum durch den Wind geschüttelt
wurde, so war ihm die Anschauung dieses sich
schüttelnden Baumes nicht anders als die Anschauung des
bewegten Armes. Er sah dieselbe göttliche Macht als
Vorsehung in seinen eigenen Bewegungen und in den
Bewegungen des Baumes. Aber man unterschied schon den
Gott außerhalb und den Gott innerhalb; nur dachte man
ihn als einheitlich, den Gott in der Natur, den Gott im
Menschen, nur war er derselbe. Und man war sich klar in
dieser Zeit, daß allerdings im Menschen etwas ist, womit
gewissermaßen die Vorsehung, die außen in der Natur
ist, und die Vorsehung, die innen im Menschen ist,
einander begegnen.
So empfand man in dieser
Zeit den Atmungsprozeß des Menschen. Man sagte, wenn ein
Baum sich schüttelt, das ist der Gott außerhalb, und
wenn ich meinen Arm bewege, das ist der Gott innerhalb.
Wenn ich die Luft einziehe, innerlich verarbeite und
wiederum nach außen lasse, dann ist das der Gott von
außen, der hereingeht und wiederum hinausgeht. So
empfand man dasselbe Göttliche draußen, drinnen, aber
in einem Punkt zugleich draußen, drinnen. Man sagte
sich: Indem ich Atmungswesen bin, bin ich zugleich ein
Wesen der Natur draußen, zu gleicher Zeit ich selbst.
Soll ich ebenso, wie ich
die urpersische Weltanschauung Ihnen charakterisiert habe
durch diese Linie (vorhergehende Zeichnung), soll ich
Ihnen die des dritten Zeitalters charakterisieren, so
müßte ich sie durch diese Linie charakterisieren (in
das Oval wird eine Lemniskate gezeichnet, siehe S. 106
oben).
Diese Linie würde
darstellen auf der einen Seite draußen das Naturdasein,
auf der anderen Seite das Menschendasein, aber in dem
einen Punkt, im Atmungsprozesse, sich überkreuzend.

Das wird anders im vierten
Zeitalter, in dem griechisch-lateinischen Zeitalter. Da
tritt vor die Menschen schroff hin der Gegensatz des
Außen und des Innen, des Naturdaseins und des
menschlichen Daseins. Da beginnt der Mensch sich im
Gegensatz zu fühlen gegen die Natur. Und wenn ich Ihnen
wiederum charakteristisch bezeichnen soll, wie jetzt der
Mensch beginnt zu fühlen im griechischen Zeitalter, so
müßte ich das so zeichnen (es wird in die Lemniskate
hineingezeichnet):

Auf der einen Seite
empfindet er das Äußere, auf der anderen Seite das
Innere, und zwischen beiden ist nicht mehr der
überkreuzende Punkt.
Es bleibt gewissermaßen
dieses, was der Mensch mit der Natur gemeinsam hat,
außerhalb des Bewußtseins. Es fällt schon aus dem
Bewußtsein hinaus. In der indischen Jogakultur versucht
man es wieder hereinzubekommen. Daher ist die indische
Jogakultur ein atavistisches Zurückgehen auf frühere
Entwicklungsstufen der Menschheit, weil man wieder
hereinzubekommen sucht ins Bewußtsein den
Atmungsprozeß, den man im dritten Zeitalter naturgemäß
als das empfand, worinnen man sich zugleich draußen und
zugleich drinnen fühlte. Dieses vierte Zeitalter beginnt
ja im 8. vorchristlichen Jahrhundert. Und da begannen
dann auch jene spätindischen Jogaübungen, die wiederum
zurückzurufen suchten atavistisch dasjenige, was man
früher gehabt hatte, insbesondere auch in der indischen
Kultur hatte, was aber verlorengegangen war.
Also dieses Bewußtsein
des Atmungsprozesses, das ging verloren. Und wenn man
sich fragt: Warum versuchte es die indische Jogakultur
wiederum zurückzurufen, was glaubte sie eigentlich
dadurch zu erringen? so muß man sagen: Ja,
was dadurch errungen werden sollte, das war ein
wirkliches Verständnis der Außenwelt. Denn dadurch,
daß der Atmungsprozeß verstanden wurde im dritten
Kulturzeitalter, dadurch verstand man innerlich in sich
etwas, was zu gleicher Zeit ein Äußerliches war.
Das ist es, was auf einem
anderen Wege wiederum errungen werden muß. Denn wir
leben noch das vierte Zeitalter hört ja erst auf etwa
mit dem Jahre 1413, also überhaupt erst in der Mitte des
15. Jahrhunderts unter den Nachwirkungen dieser Kultur,
die durchaus in der menschlichen Seelenstimmung ein
Zwiefaches hat. Wir haben durch unsere
Hauptesorganisation eine unvollständige Naturanschauung,
das, was wir die Außenwelt nennen, und wir haben durch
unsere Innenorganisation, durch die Organisation des
übrigen Menschen, ein unvollständiges Wissen von uns
selbst. (Es werden zwei voneinander getrennte Gebilde
skizziert.) Dazwischen bleibt uns dasjenige aus, fällt
uns hinweg, in dem wir zugleich einen Prozeß der Welt
und einen Prozeß von uns selbst sehen würden.
Nun handelt es sich darum,
daß wiederum errungen werden muß, aber jetzt in
bewußter Weise wiederum errungen werden muß dasjenige,
was verlorengegangen ist. Das heißt, wir müssen
wiederum zum Erfassen von etwas kommen, was im Inneren
des Menschen ist, was zu gleicher Zeit der Außenwelt und
dem Inneren angehört, was sich wiederum übergreift. (Um
die beiden Gebilde wird eine Lemniskate gezogen.)

Das muß das Bestreben des
fünften nachatlantischen Zeitraums sein. Das Bestreben
des fünften nachatlantischen Zeitraums muß sein,
wiederum etwas im Menscheninneren zu finden, wo sich in
dem, was wir in uns finden, zu gleicher Zeit ein
äußerer Prozeß abspielt.
Sie werden sich wohl
erinnern, daß ich auf dieses wichtige Faktum bereits
hingedeutet habe; daß ich hingedeutet habe in meinem
letzten Aufsatz der «Sozialen Zukunft», wo ich
scheinbar die Bedeutung dieser Dinge für das soziale
Leben behandelt habe, wo aber deutlich gerade darauf
hingedeutet ist, daß etwas gefunden werden muß, wo der
Mensch zu gleicher Zeit etwas in sich ergreift, was er
erkennt als einen Prozeß der Welt. Wir können als
Menschen der Gegenwart dies nicht etwa dadurch erreichen,
daß wir zurückgreifen auf die Jogakultur; die ist etwas
Vergangenes. Denn, sehen Sie, der Atmungsprozeß selbst
hat sich verändert. Das können Sie natürlich heute
nicht auf der Klinik nachweisen. Aber der Atmungsprozeß
des Menschen ist seit dem dritten nachatlantischen
Kulturzeitalter ein anderer geworden. Grob gesprochen
könnte man sagen: Im dritten nachatlantischen
Kulturzeitalter atmete der Mensch noch Seele, jetzt atmet
er Luft. Nicht bloß etwa unsere Vorstellungen sind
materialistisch geworden, die Realität selber hat ihre
Seele verloren.
Ich bitte Sie, in dem, was
ich jetzt sage, nicht etwas Unerhebliches zu sehen. Denn
denken Sie, was das bedeutet, daß sich die Realität, in
der die Menschheit lebt, selber so umgewandelt hat, daß
unsere Atemluft etwas anderes ist, als sie etwa vor vier
Jahrtausenden war. Nicht etwa bloß das Bewußtsein der
Menschheit hat sich verändert, o nein, in der
Atmosphäre der Erde war Seele. Die Luft war die Seele.
Das ist sie heute nicht mehr, beziehungsweise sie ist es
in anderer Art. Die geistigen Wesenheiten elementarer
Natur, von denen ich gestern gesprochen habe, die dringen
wiederum in sie ein, die kann man atmen, wenn man heute
Jogaatmen treibt. Aber dasjenige, was in der normalen
Atmung vor drei Jahrtausenden erlangbar war, das kann
nicht auf künstliche Weise zurückgebracht werden. Daß
das zurückgebracht werden könne, ist die große
Illusion der Orientalen. Das, was ich jetzt sage, ist
etwas, was durchaus eine Realität beschreibt. Jene
Beseelung der Luft, die zu dem Menschen gehört, die ist
nicht mehr da. Und deshalb können die Wesen, ich möchte
sie die antimichaelischen Wesen nennen, von denen ich
gestern gesprochen habe, in die Luft eindringen und durch
die Luft in den Menschen, und auf diese Weise gelangen
sie in die Menschheit, so wie ich das gestern beschrieben
habe. Und wir können sie nur vertreiben, wenn wir an die
Stelle des Jogamäßigen das Richtige setzen von heute.
Wir müssen uns klarwerden darüber, daß dieses Richtige
angestrebt werden muß. Dieses Richtige kann nur
angestrebt werden, wenn wir uns einer viel feineren
Beziehung des Menschen zur Außenwelt bewußt werden, so
daß mit Bezug auf unseren Ätherleib etwas stattfindet,
das immer mehr und mehr in unser Bewußtsein hereinkommen
muß, ähnlich wie der Atmungsprozeß. Wie wir beim
Atmungsprozeß frische Sauerstoffluft einatmen und
unbrauchbare Kohlenstoffluft ausatmen, so ist ein
ähnlicher Prozeß vorhanden in allen unseren
Sinneswahrnehmungen. Denken Sie einmal, Sie sehen etwas.
Nehmen wir einen radikalen Fall. Nehmen wir an, Sie sehen
eine Flamme an, Sie schauen auf eine Flamme hin. Da
geschieht etwas, was sich vergleichen läßt, nur viel
feiner ist es, mit dem Einatmen. Machen Sie dann das Auge
zu und Sie können ähnliche Dinge mit jedem der Sinne
machen , machen Sie dann das Auge zu, so haben Sie
das Nachbild der Flamme, das sich sogar nach und nach
verändert, wie Goethe sagt, abklingt. An diesem
Prozeß des Aufnehmens des Lichteindruckes und des
nachherigen Abklingens ist im wesentlichen außer dem,
was rein physiologisch ist, der menschliche Ätherleib
sehr beteiligt. Aber in diesem Prozeß steckt etwas sehr,
sehr Bedeutsames. Da drinnen ist nunmehr das Seelische,
das vor drei Jahrtausenden mit der Luft ein und
ausgeatmet worden ist. Und wir müssen lernen, in einer
ähnlichen Weise den Sinnesprozeß in seiner Durchseelung
einzusehen, wie man vor drei Jahrtausenden den
Atmungsprozeß eingesehen hat.
Das hängt zusammen damit,
daß man sagen kann, der Mensch lebte vor drei
Jahrtausenden in einer Art Nachtkultur. Jahve gab sich
durch seine Propheten kund aus den Träumen der Nacht
heraus. Wir aber müssen die Feinheiten unseres Verkehres
mit der Welt ausbilden so, daß wir in unserem Aufnehmen
der Welt nicht bloß sinnliche Wahrnehmungen haben,
sondern Geistiges haben. Wir müssen uns gewiß werden,
daß wir mit jedem Lichtstrahl, mit jedem Ton, mit jeder
Wärmeempfindung und deren Abklingen in seelischen
Wechselverkehr mit der Welt treten, und dieser seelische
Wechselverkehr muß für uns etwas Bedeutsames werden.
Aber wir können uns auch unterstützen, so daß es so
mit uns werde.
Ich habe Ihnen ja
dargestellt, daß das Mysterium von Golgatha
hereingefallen ist in den vierten nachatlantischen
Zeitraum, der etwa, wenn wir genau rechnen wollen,
beginnt mit dem Jahre 747 vor Christus, und schließt mit
dem Jahre 1413 nach Christus. In das erste Drittel dieses
Zeitraumes fällt das Mysterium von Golgatha. Dasjenige
aber, wodurch die Menschen zunächst dieses Mysterium von
Golgatha begriffen haben, das waren noch die Nachklänge
der alten Denkweise, der alten Kultur. Die Art des
Begreifens des Mysteriums von Golgatha, die muß eine
durchaus neue werden. Denn die alte Art, das Mysterium
von Golgatha zu begreifen, ist abgebraucht. Sie ist nicht
mehr gewachsen dem Mysterium von Golgatha. Und viele
Versuche, die gemacht worden sind, das menschliche Denken
fähig zu machen, das Mysterium von Golgatha zu
begreifen, haben sich als nicht mehr geeignet erwiesen,
heraufzureichen zu dem Mysterium von Golgatha.
Sehen Sie, alle die Dinge,
die äußerlich materiell auftreten, sie haben auch ihre
geistigseelische Seite. Und alle die Dinge, die
geistigseelisch auftreten, sie haben auch ihre
äußerlich materielle Seite. Daß die Luft der Erde
entseelt worden ist, so daß der Mensch nicht mehr die
ursprünglich beseelte Luft atmet, das hatte eine
bedeutsame geistige Wirkung in der Entwickelung der
Menschheit. Denn der Mensch hatte, indem er hereinbekam
mit der Atmung die Seele, mit der er selber ursprünglich
verwandt war, wie es am Beginne des Alten Testamentes
steht: Und der Gott blies dem Menschen den Odem ein als
lebendige Seele , er hatte durch dieses Einatmen
des Seelischen eine Möglichkeit:
er bekam ein Bewußtsein
von der Präexistenz des Seelischen, von dem Bestehen der
Seele, bevor sie heruntergestiegen ist in den physischen
Leib durch die Geburt oder durch die Empfängnis. Und in
demselben Maße, in dem der Atmungsprozeß aufhörte
beseelt zu sein, verlor der Mensch das Bewußtsein der
Präexistenz des Seelischen. Und schon sogar als Aristoteles
auftrat in diesem vierten nachatlantischen Zeitraum, da
war keine Möglichkeit mehr vorhanden, mit menschlicher
Fassungskraft die seelische Präexistenz zu durchschauen.
Keine Möglichkeit war dafür mehr vorhanden.
Wir stehen eben historisch
vor dem merkwürdigen Faktum, daß das größte Ereignis
hereinbricht in die Erdenentwickelung, das
Christus-Ereignis, daß aber die Menschheit erst
heranreifen muß, um es zu verstehen. Sie ist noch
fähig, mit den alten Resten des Fassungsvermögens, das
aus der Urkultur herrührt, aufzufangen die Strahlen des
Mysteriums von Golgatha. Dann aber verliert sich diese
Fassungskraft, und die Dogmatik entfernt sich immer mehr
und mehr vom Verständnis des Mysteriums von Golgatha.
Die Kirche verbietet an die Präexistenz zu glauben nicht
deshalb, weil die Präexistenz nicht mit dem Mysterium
von Golgatha vereinbar wäre, sondern weil die
menschliche Fassungskraft durch die Entseelung der Luft
aufhörte, das Bewußtsein in die Seele als Kraft
hereinzubekommen, das Bewußtsein von der Präexistenz.
Aus all dem, was Kopfbewußtsein wurde, verschwindet die
Präexistenz. Wenn wir das Beseeltsein unserer
Sinnesempfindungen wieder haben werden, dann werden wir
wiederum einen Kreuzungspunkt haben, und in diesem Punkt
werden wir den menschlichen Willen, der heraufströmt aus
der dritten Bewußtseinsschichte, wie ich es Ihnen in
diesen Tagen charakterisiert habe, erfassen. Da werden
wir zu gleicher Zeit etwas Subjektiv-Objektives haben,
wonach Goethe so lechzte. Da werden wir wiederum die
Möglichkeit haben, in feiner Art zuerst zu erfassen, wie
merkwürdig eigentlich dieser Sinnesprozeß des Menschen
im Verhältnis zur Außenwelt ist. Das sind ja alles
grobe Vorstellungen, als wenn die Außenwelt auf uns
bloß wirkte und wir dann bloß reagierten darauf. All
das Zeug, das da geredet wird, das sind ja bloß
grobklotzige Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist vielmehr
diese, daß ein seelischer Prozeß vor sich geht von
außen nach innen, der erfaßt wird durch den tief
unterbewußten, inneren seelischen Prozeß, so daß die
Prozesse sich übergreifen. Von außen wirken die
Weltgedanken in uns herein, von innen wirkt der
Menschheitswille hinaus. Und es durchkreuzen sich
Menschheitswillen und Weltengedanken in diesem
Kreuzungspunkte, wie sich im Atem das Objektive mit dem
Subjektiven einstmals überkreuzt hat. Wir müssen
fühlen lernen, wie durch unsere Augen unser Wille wirkt,
und wie in der Tat die Aktivität der Sinne leise sich
hineinmischt in die Passivität, wodurch sich
Weltengedanken mit Menschheitswille kreuzen. Diesen neuen
Jogawillen, den müssen wir entwickeln. Damit wird uns
wiederum etwas Ähnliches vermittelt, wie vor drei
Jahrtausenden den Menschen in dem Atmungsprozeß
vermittelt wurde. Unsere Auffassung muß eine viel
seelischere, eine viel geistigere werden.
Nach solchen Dingen
strebte die Goethesche Weltanschauung. Goethe wollte das
reine Phänomen erkennen, was er das Urphänomen nannte,
wo er nur zusammenstellte dasjenige, was in der
Außenwelt auf den Menschen wirkt, wo sich nicht
hineinmischt der luziferische Gedanke, der aus dem Kopf
des Menschen selbst kommt. Dieser Gedanke sollte nur zur
Zusammenstellung der Phänomene dienen. Goethe strebte
nicht nach dem Naturgesetz, sondern nach dem Urphänomen.
Das ist das Bedeutsame bei ihm. Kommen wir aber zu diesem
reinen Phänomen, zu diesem Urphänomen, dann haben wir
in der Außenwelt etwas, was uns möglich macht, auch die
Entfaltung unseres Willens im Anschauen der Außenwelt zu
verspüren, und dann werden wir uns aufschwingen wiederum
zu etwas Objektiv-Subjektivem, wie es zum Beispiel die
alte hebräische Lehre noch hatte. Wir müssen lernen,
nicht immer nur von dem Gegensatz zu sprechen zwischen
dem Materiellen und dem Geistigen, sondern wir müssen
das Ineinanderspiel des Materiellen und des Geistigen in
einer Einheit gerade im sinnlichen Auffassen erkennen.
Geradeso wie das, was vor drei Jahrtausenden die
JahveKultur war, so wird für uns dasjenige sein, was
eintritt, wenn wir die Natur nicht mehr materiell sehen,
und auch nicht wie etwa Gustav Theodor Fechner in
die Natur etwas Seelisches hineinphantasieren. Wenn wir
in der Natur das Seelische mitempfangen lernen mit der
Sinnesanschauung, dann werden wir das ChristusVerhältnis
zu der äußeren Natur haben. Da wird das
Christus-Verhältnis zur äußeren Natur etwas sein wie
eine Art geistigen Atmungsprozesses.
Wir können uns dadurch
unterstützen, daß wir immer mehr einsehen, aber jetzt
einsehen durch den gesunden Menschenverstand: Ja,
Präexistenz ist etwas, was unserem Seelendasein zugrunde
liegt. Und wir müssen die rein egoistische Vorstellung
von der Postexistenz, die eine rein egoistische ist, die
nur aus unserem Bedürfnis, nach dem Tode da zu sein,
entspringt, wir müssen diese egoistische
Postexistenzvorstellung ergänzen durch das Wissen von
der Präexistenz des Seelischen. Wir müssen uns auf eine
andere Art wiederum aufschwingen zu der Anschauung der
wirklichen Ewigkeit der Seele. Das ist dasjenige, was man
die Michael-Kultur nennen kann. Wenn wir durch die Welt
schreiten in dem Bewußtsein, mit jedem Blick, mit jedem
Ton, den wir hören, strömt Geistiges, Seelisches
wenigstens in uns ein, und zu gleicher Zeit strömen wir
in die Welt Seelisches hinaus, dann, dann haben wir das
Bewußtsein errungen, das die Menschheit für die Zukunft
braucht.
Ich komme noch einmal auf
das Bild zurück. Sie sehen eine Flamme. Sie schließen
die Augen, haben das Nachbild, das abklingt. Ist das
bloß ein subjektiver Prozeß? Der heutige Physiologe
sagt so. Es ist nicht wahr. In dem Weltenäther bedeutet
das einen objektiven Prozeß, wie in der Luft die
Anwesenheit der Kohlensäure, die Sie ausatmen, einen
objektiven Prozeß bedeutet. Sie prägen dem Weltenäther
ein das Bild, das Sie nur wie ein abklingendes Nachbild
empfinden. Das ist nicht bloß subjektiv, das ist ein
objektiver Vorgang. Hier haben Sie das Objektive. Hier
haben Sie die Möglichkeit, zu erkennen, wie etwas, was
sich in Ihnen abspielt, in feiner Art zu gleicher Zeit
ein Weltenvorgang ist, wenn Sie sich nur bewußt werden:
Sehe ich eine Flamme an, mache die Augen zu, lasse sie
abklingen es klingt ja auch ab, wenn Sie die Augen offen
lassen, nur bemerken Sie es dann nicht , dann ist das
etwas, was nicht bloß in mir vorgeht, das ist etwas, was
in der Welt vorgeht. Das ist aber nicht bloß bei der
Flamme so. Trete ich einem Menschen gegenüber und sage:
Dieser Mensch hat das oder jenes gesagt, was wahr oder
nicht wahr sein kann , so ist das eine Beurteilung, eine
moralische oder eine intellektuelle Handlung im Inneren.
Das klingt ebenso ab wie die Flamme. Das ist ein
objektiver Weltenvorgang. Wenn Sie über Ihren
Nebenmenschen Gutes denken: es klingt ab, ist im
Weltenäther als ein objektiver Vorgang; wenn Sie Böses
denken: es klingt ab als ein objektiver Vorgang. Sie
können nicht etwa in Ihrem Kämmerchen abschließen
dasjenige, was Sie über die Welt wahrnehmen oder
urteilen. Sie machen es zwar scheinbar für Ihre
Auffassung in sich, aber es ist zu gleicher Zeit ein
objektiver Weltenvorgang. Wie sich das dritte Zeitalter
bewußt war, daß der Atmungsprozeß zu gleicher Zeit
etwas ist, was im Menschen vorgeht und was ein objektiver
Prozeß ist, so muß die Menschheit sich in der Zukunft
bewußt werden, daß das Seelische, von dem ich
gesprochen habe, zu gleicher Zeit ein objektiver
Weltenvorgang ist.
Diese Wandlung des
Bewußtseins, das ist etwas, was fordert, daß größere
Stärke in der menschlichen Seelenstimmung Platz greife,
als sie heute der Mensch gewöhnt ist. Das ist das
Einlassen der Michael-Kultur: das Sich-Durchdringen mit
diesem Bewußtsein. Wir müssen gewissermaßen, wenn wir
das Licht als den allgemeinen Repräsentanten der
Sinneswahrnehmung hinstellen, uns dazu aufschwingen, das
Licht beseelt zu denken, so wie es selbstverständlich
war für den Menschen des 2., des 3. vorchristlichen
Jahrtausends, die Luft beseelt zu denken, weil sie das
auch war. Wir müssen uns gründlich abgewöhnen,
dasjenige in dem Lichte zu sehen, was das
materialistische Zeitalter gewöhnt ist, in dem Lichte zu
sehen. Wir müssen uns gründlich abgewöhnen zu glauben,
daß von der Sonne ausstrahlen bloß jene Schwingungen,
von denen uns unsere Physik und das allgemeine
Menschheitsbewußtsein heute redet. Wir müssen uns
klarwerden darüber, daß da Seele durch den Weltenraum
dringt auf den Schwingen des Lichtes. Und zu gleicher
Zeit müssen wir einsehen, daß das so nicht war in der
Zeit, die unserem Zeitalter vorangegangen ist. In der
Zeit, die unserem Zeitalter vorangegangen ist, ist
dasselbe an die Menschheit durch die Luft herangekommen,
was jetzt an uns herankommt durch das Licht. Sehen Sie,
das ist ein objektiver Unterschied in dem Erdenprozeß.
Und wenn wir im Großen denken, so können wir sagen:
Luftseelenprozeß, Lichtseelenprozeß. (Es wird an die
Tafel geschrieben:)

Und das ist etwa
dasjenige, was wir in der Entwickelung der Erde
beobachten können. Und mitten hinein fällt, den
Übergang des einen in das andere bedeutend, das
Mysterium von Golgatha. Es genügt nicht für die
Gegenwart und für die Zukunft der Menschheit, daß man
in Abstraktionen von dem Geistigen fabelt, daß man in
irgendeinen nebulosen Pantheismus oder dergleichen
verfällt, sondern es handelt sich darum, daß man
dasjenige, was die heutige Menschheit eigentlich nur
empfindet wie einen materiellen Prozeß, daß man das
anfängt auch in seiner Beseeltheit zu erkennen.
Es handelt sich darum,
daß man anfangen lerne zu sprechen: Es gab eine Zeit vor
dem Mysterium von Golgatha, da hatte die Erde eine
Atmosphäre. In dieser Atmosphäre war die Seele, die zum
Seelischen des Menschen gehörte. Jetzt hat die Erde eine
Atmosphäre, die ist entleert des Seelischen, das zum
Seelischen des Menschen gehört. Dafür ist in das Licht,
das uns vom Morgen bis zum Abend umfaßt; eingezogen
dasselbe Seelische, das vorher in der Luft war. Daß der
Christus sich mit der Erde verbunden hat, das gab die
Möglichkeit dazu. So daß Luft und Licht auch
geistigseelisch etwas anderes geworden sind im Laufe der
Erdenentwickelung.
Es ist eine kindsköpfige
Darstellung, wenn man Luft und Licht in gleicher Weise
rein materiell beschreibt für die Jahrtausende, in denen
sich die Erdenentwickelung abgespielt hat. Luft und Licht
sind innerlich etwas anderes geworden. Wir leben in einer
anderen Atmosphäre, in einem anderen Lichtkreis, als
unsere Seelen in früheren Erdenverkörperungen gelebt
haben. Erkennen lernen dasjenige, was äußerlich
materiell ist, als GeistigSeelisches, darauf kommt es an.
Das wird nicht eine wirkliche Geisteswissenschaft geben,
wenn die Leute auf der einen Seite das rein materielle
Dasein beschreiben, so wie man es heute gewohnt ist, und
dann ja, so wie eine Dekoration nebenher sagen:
Aber in diesem Materiellen
ist überall auch Geistiges! Ja, in dieser Beziehung sind
die Menschen ganz merkwürdig, in dieser Beziehung wollen
sie heute durchaus sich auf das Abstrakte zurückziehen.
Dasjenige aber, was notwendig ist, das ist: in der
Zukunft nicht in abstrakter Weise ein Materielles und ein
Geistiges zu unterscheiden, sondern in dem Materiellen
selber das Geistige zu suchen, daß man es beschreiben
könne als das Geistige zugleich, und in dem Geistigen
den Übergang ins Materielle, die Wirkungsweise im
Materiellen zu erkennen. Dann erst werden wir auch
wirklich wiederum, wenn wir das haben, eine Erkenntnis
des Menschen selbst erringen. «Blut ist ein ganz
besonderer Saft», aber das, wovon man heute redet in der
Physiologie, das ist kein ganz besonderer Saft, das ist
halt ein Saft, dessen chemische Zusammensetzung man
versucht ebenso anzugeben wie irgendeine andere
Stoffzusammensetzung. Das ist ja nichts Besonderes. Aber
wenn man den Ausgangspunkt erst gewinnt, die Metamorphose
von Luft und Licht seelisch richtig einsehen zu können,
dann wird man allmählich aufsteigen können, auch den
Menschen selber wiederum in allen seinen einzelnen
Gliedern geistseelisch zu begreifen, dann wird man nicht
abstrakten Stoff und abstrakten Geist haben, sondern
Geist, Seele und Leib ineinanderwirkend. Das wird
Michael-Kultur sein.
Das ist etwas, was unsere
Zeit fordert. Das ist etwas, das mit allen Fasern des
seelischen Lebens von den Menschen, die heute die Zeit
verstehen wollen, aufgefaßt werden sollte. Es ist seit
langer Zeit immer Widerstand geleistet worden gegen alles
dasjenige, was als ein Ungewohntes in die menschliche
Weltanschauung hereingetragen werden mußte. Ich habe ja
öfter das niedliche Beispiel, das an etwas Grobklotziges
sich gewendet hat, angeführt: 1835 also wir sind
noch nicht ein Jahrhundert drüber hinaus ist das
gelehrte Medizinalkollegium in Bayern gefragt worden, als
man die erste Eisenbahn von Fürth nach Nürnberg bauen
wollte, ob es hygienisch ist, solch eine Eisenbahn zu
bauen? Da sagte das Medizinalkollegium das
Dokument ist vorhanden, es ist kein Märchen , man
solle keine Eisenbahn bauen, denn die Leute würden
nervös werden, die in dieser Weise sich über den
Erdboden bewegen würden. Aber dann setzte man noch
hinzu: Wenn es schon solche Menschen geben würde, die
durchaus wollten Eisenbahnen fordern, dann müsse man
links und rechts hohe Bretterwände aufführen, damit
diejenigen, an denen die Eisenbahnen vorbeifahren, nicht
Gehirnerschütterung kriegen. Ja, sehen Sie: Eines ist
ein solches Urteil, das man fällt, ein anderes ist der
Entwickelungsgang der Menschheit. Wir lächeln heute
über ein solches Dokument, wie es das bayerische
Medizinalkollegium 1835 geliefert hat. Aber nun, nicht
wahr, so ohne weiteres haben wir kein Recht zu lachen:
trifft uns heute etwas ähnliches, verhalten wir uns
wieder geradeso. Denn so absolut unrecht können wir auch
nicht wiederum dem bayerischen Medizinalkollegium geben.
Wenn man den Nervenzustand der gegenwärtigen Menschheit
vergleicht mit dem Nervenzustande derjenigen Menschheit,
die vor zwei Jahrhunderten da war, so sind die Leute
nervös geworden. Vielleicht hat das Medizinalkollegium
bloß etwas übertrieben, aber nervös geworden sind die
Leute. Nur handelt es sich bei der Fortentwickelung der
Menschheit nicht um solche Dinge, sondern darum, daß
gewisse Impulse, die herein wollen, wirklich hereinkommen
in die Erdenentwickelung, daß sie nicht zurückgewiesen
werden. Und es ist schon etwas gegen die Bequemlichkeit
der Menschen, was da herein will von Zeit zu Zeit in die
menschliche Kulturentwickelung, und man muß ablesen
dasjenige, was Pflicht ist in bezug auf die menschliche
Kulturentwickelung aus der Objektivität, nicht aus der
menschlichen Bequemlichkeit heraus, nicht einmal aus der
besseren menschlichen Bequemlichkeit heraus. Und ich
schließe heute aus dem Grunde mit diesen Worten, weil ja
es ganz zweifellos ist, von allen Seiten kündigt es sich
an, daß ein gewisser, schon recht stark anschwellender
Kampf gerade zwischen dem anthroposophischen Erkennen und
den verschiedenen Bekenntnissen eintreten wird. Die
Bekenntnisse, die in altgewohnten Geleisen bleiben
wollen, die sich nicht aufschwingen wollen zu einer
Neuerkenntnis des Mysteriums von Golgatha, sie werden die
starke Kampfposition, die sie bereits eingenommen haben,
immer mehr verstärken, und es wäre sehr, sehr
leichtsinnig, wenn wir uns nicht bewußt würden, daß
dieser Kampf losgeht.
Nun, sehen Sie, ich bin
durchaus gar nicht erpicht auf einen solchen Kampf,
insbesondere nicht auf den Kampf mit der katholischen
Kirche, der, wie es scheint, von der anderen Seite jetzt
in solcher Heftigkeit aufgedrängt wird. Derjenige, der
auch die tieferen historischen Impulse der heutigen
Bekenntnisse schließlich gut kennt, der wird sehr
unwillig das Altehrwürdige bekämpfen. Aber wenn der
Kampf aufgedrängt wird, dann ist er eben nicht zu
vermeiden. Und das heutige Priestertum ist durchaus nicht
geneigt, irgendwie hereinkommen zu lassen dasjenige, was
hereinkommen muß: das Geisteswissenschaftliche. Man kann
auch voraussehen, daß der notwendige Kampf gegen so
etwas, wie ich es Ihnen neulich vorgelesen habe, ja
eigentlich grotesk ist: daß also gesagt wird, man solle
sich unterrichten über anthroposophisch orientierte
Geisteswissenschaft aus den mir gegnerischen Schriften,
denn meine eigenen Schriften seien ja durch den Papst
verboten für die Katholiken. Das ist gar nicht
lächerlich, das ist eine tiefernste Sache! Ein Kampf,
der in dieser Weise grotesk auftritt, der fähig ist,
solches Urteil in die Welt zu senden, ein solcher Kampf
ist nicht leichthin zu nehmen. Und insbesondere ist er
dann nicht leichthin zu nehmen, wenn man ihn gar nicht
gern eingeht. Denn sehen Sie, nehmen wir das Beispiel der
katholischen Kirche. Mit der evangelischen ist es ja
nicht anders, die katholische ist nur mächtiger, da
haben wir die altehrwürdigen Einrichtungen. Man braucht
nur dasjenige, was den Priester umhüllt, wenn er Messe
liest, jedes einzelne Stück des Meßgewandes, man
braucht nur jeden einzelnen Akt der Messe zu verstehen,
dann hat man uraltheilige, ehrwürdige Einrichtungen,
Einrichtungen, die sogar älter sind als das Christentum,
denn das Meßopfer ist nur im christlichen Sinne
umgewandelter, uralter Mysterienkultus. Darinnen steckt
das heutige Priestertum, das sich solcher Kampfmittel
bedient! Wenn man also auf der einen Seite die
allertiefste Verehrung hat sowohl für Kultus wie für
Symbolik desjenigen, was da ist, und auf der anderen
Seite sieht, mit welch schlechten Mitteln verteidigt wird
dasjenige, was da ist, und mit welch schlechten Mitteln
angegriffen wird dasjenige, was in die
Menschheitsentwickelung herein will, dann sieht man erst,
welcher Ernst heute notwendig ist, um zu diesen Dingen
Stellung zu nehmen. Es ist ganz wahrhaftig etwas, was
wohl studiert, was wohl durchdrungen werden muß. Und
dasjenige, was von dieser Seite angekündigt ist, es ist
erst im Anfange. Und es ist nicht an der Zeit, nicht
richtig, dem gegenüber zu schlafen, sondern durchaus die
Augen dafür zu schärfen! Nicht wahr, wir konnten uns
lange, durch zwei Jahrzehnte hindurch, durch die ja
nahezu die anthroposophische Bewegung in Mitteleuropa
getrieben wird, das sektiererisch Schläfrige gönnen,
das so schwer in unseren eigenen Kreisen zu bekämpfen
war, und das noch so tief im Gemüte der Menschen
drinnensteckt, die in der anthroposophischen Bewegung
drinnenstehen. Aber die Zeit ist vorüber, wo wir uns
gönnen könnten, schläfriges Sektierertum zu treiben.
Das ist tief wahr, was ich öfter hier betont habe, daß
wir nötig haben, die weltgeschichtliche Bedeutung der
anthroposophischen Bewegung wirklich ins Auge zu fassen
und über Kleinigkeiten hinwegzusehen, aber auch die
kleinen Impulse ernst und groß zu nehmen.
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