Magazin für Literatur 1900, 69. Jg., Nr. 14,15,16,17
Rudolf Steiner
Es darf doch
wohl als ein merkwürdiges Symptom der Zeit angesehen werden, daß
gelegentlich des Jubiläums derjenigen Körperschaft des Deutschen
Reiches, welche die gelehrteste sein sollte, ein Theologe im
Mittelpunkte des Festes stand. Zwar wird man sagen: der Professor Adolf
Harnack sei ein freisinniger Theologe. Aber eines
bleibt doch wahr: die Theologie kann nur so weit freisinnig sein, als
es ihr gewisse Grundanschauungen gestatten, ohne deren Anerkennung sie
sich selbst aufheben würde. Ja, sie kann wissenschaftlich nur
so weit sein, als ihr wesentlich zugehörige dogmatische Vorstellungen
dies erlauben. Die Frage: «Ist die Theologie Wissenschaft im modernen
Sinne?» kann nur mit einem klaren Nein beantwortet werden. Die
Wissenschaft muß, wenn sie diesen Namen verdienen soll, souverän,
von der menschlichen Vernunft aus zu einer Weltanschauung kommen. Wir
hören das zwar heute in allen Variationen immer und immer wieder
betonen. Wenn aber eine wissenschaftliche Körperschaft ersten Ranges
ein großes Fest feiert, dann erwählt sie sich nicht einen Mann der
Wissenschaft, sondern einen Theologen zum Hauptsprecher und zum
Darsteller ihrer Geschichte. Theologische Anschauungen spielten bei
diesem Feste ja auch sonst eine so bedeutsame Rolle, daß die
ultramontansten Preßorgane mit besonderer Freude von ihm sprechen.
Für viele
unserer Zeitgenossen waren erst die schrillen Mißklänge der lex
Heinze-Debatten notwendig, um sie zum Aufmerken darauf zu bringen, wie
mächtig die reaktionärsten Gesinnungen in unser Leben eingreifen.
Für feinere Zeichen, wie das beim Akademiefest zutage getretene, sind
selbst die Artikelschreiber «freisinniger» Journale seelenblind.
Allerdings
liegen die Gründe für den reaktionären Kurs der Gegenwart tief. Sie
sind in der Tatsache zu suchen, daß die offiziellen Philosophen der
Gegenwart absolut macht-, ja ratlos dem Anstürme unwissenschaftlicher
Zeitströmungen entgegenstehen. Wir werden, um diese Gründe
darzustellen, auf die Elemente blicken müssen, die den gegenwärtigen
Bestand der Kathederphilosophie bewirkt haben. Meine Ansicht ist, daß
diese Philosophie in der Tat ungeeignet ist, den Kampf gegen veraltete
Vorstellungen an der Seite der freiheitlichen Naturwissenschaft zu
führen. Ich will bei dem Beweise für diese Behauptung von dem Manne
ausgehen, der den tiefgreifendsten Einfluß auf das philosophische
Denken der Gegenwart ausübt, auf Kant, und ich will versuchen zu
zeigen, daß dieser Einfluß ein verderblicher ist.
I
Kant wurde
durch die Bekanntschaft mit Humes Anschauung in der Überzeugung
erschüttert, die er in früheren Jahren hatte. Daß wirklich alle
unsere Erkenntnisse mit Hilfe der Erfahrung gewonnen werden, daran
zweifelte er bald nicht mehr. Aber gewisse wissenschaftliche
Lehrsätze schienen ihm doch einen solchen Charakter von Notwendigkeit
zu haben, daß er an ein bloß gewohnheitsmäßiges Festhalten an
denselben nicht glauben wollte. Kant konnte sich weder entschließen,
den Radikalismus Humes mitzumachen, noch vermochte er bei den
Bekennern der Leibniz-Wolffschen Wissenschaft zu bleiben. Jener schien
ihm alles Wissen zu vernichten, in dieser fand er keinen wirklichen
Inhalt. Richtig angesehen, stellte sich der Kantsche Kritizismus als
ein Kompromiß zwischen Leibniz-Wolff einerseits und Hume andererseits
heraus. Und die Kantsche Grundfrage lautet mit Rücksicht darauf: Wie
können wir zu Urteilen kommen, die im Sinne von Leibniz und Wolff
notwendig gültig sind, wenn wir zugleich zugeben, daß wir nur durch
die Erfahrung zu einem wirklichen Inhalte unseres Wissens gelangen?
Aus der in dieser Frage liegenden Tendenz läßt sich die Gestalt der
Kantschen Philosophie begreifen. Hatte Kant einmal zugegeben, daß wir
unsere Erkenntnisse aus der Erfahrung gewinnen, so mußte er der
letzteren eine solche Gestalt geben, daß sie die Möglichkeit von
allgemein- und notwendiggültigen Urteilen nicht ausschloß. Das
erreichte er dadurch, daß er unseren Wahrnehmungs- und
Verstandesorganismus zu einer Macht erhob, der die Erfahrung
miterzeugt. Unter dieser Voraussetzung konnte er sagen: Was auch immer
aus der Erfahrung von uns aufgenommen wird, es muß sich den Gesetzen
fügen, nach denen unsere Sinnlichkeit und unser Verstand allein
auffassen können. Was sich diesen Gesetzen nicht fügt, das kann für
uns nie ein Gegenstand der Wahrnehmung werden. Was uns erscheint, das
hängt also von den Dingen außer uns ab; wie uns die letzteren
erscheinen, das ist von der Natur unseres Organismus bedingt. Die
Gesetze, unter denen sich derselbe etwas vorstellen kann, sind somit
die allgemeinsten Naturgesetze. In diesen liegt auch das Notwendige
und Allgemeingültige des Weltlaufes. Wir sehen: im Kantschen Sinne
sind die Gegenstände nicht deshalb in räumlicher Anordnung, weil die
Räumlichkeit eine ihnen zukommende Eigenschaft ist, sondern weil der
Raum eine Form ist, unter welcher unser Sinn die Dinge wahrzunehmen
befähigt ist; zwei Ereignisse verknüpfen wir nicht deshalb nach dem
Begriffe der Ursachlich-keit, weil dies einen Grund in der Wesenheit
derselben hat, sondern weil unser Verstand so organisiert ist, daß er
zwei in aufeinanderfolgenden Zeitmomenten wahrgenommene Prozesse
diesem Begriff gemäß verknüpfen muß. So schreiben unsere
Sinnlichkeit und unser Verstand der Erfahrungswelt die Gesetze vor.
Und von diesen Gesetzen, die wir selbst in die Erscheinungen legen,
können wir uns natürlich auch notwendig gültige Begriffe machen.
Klar ist es
aber auch, daß diese Begriffe einen Inhalt nur von außen, von der
Erfahrung erhalten können. An sich sind sie leer und bedeutungslos.
Wir wissen durch sie zwar, wie uns ein Gegenstand erscheinen
muß, wenn er uns überhaupt gegeben wird. Daß er uns aber
gegeben wird, daß er in unseren Gesichtskreis eintritt, das hängt
von der Erfahrung ab. Wie die Dinge an sich, abgesehen von unserer
Erfahrung, sind, darüber können wir durch unsere Begriffe also
nichts ausmachen.
Auf diese
Weise hat Kant ein Gebiet gerettet, auf dem es Begriffe von
notwendiger Geltung gibt, aber er hat zugleich die Möglichkeit
abgeschnitten, mit Hilfe dieser Begriffe über die eigentliche,
absolute Wesenheit der Dinge etwas auszumachen. Kant hat, um die
Notwendigkeit unserer Begriffe zu retten, deren absolute Anwendbarkeit
geopfert. Um der letzteren willen wurde aber die erstere in der
Vor-Kantschen Philosophie geschätzt. Kants Vorgänger wollten aus der
Gesamtheit unseres Wissens einen zentralen Kern bloßlegen, der seiner
Natur nach auf alles, also auch auf die absoluten Wesenheiten der
Dinge, auf das «Innere der Natur», anwendbar ist. Das Ergebnis der
Kantschen Philosophie ist aber, daß dieses Innere, dieses «An sich
der Objekte», niemals in den Bereich unserer Erkenntnis treten, nie
ein Gegenstand unseres Wissens werden kann. Wir müssen uns mit der
subjektiven Erscheinungswelt begnügen, welche in uns entsteht, wenn
die Außenwelt auf uns einwirkt. Kant setzt also unserem
Erkenntnisvermögen unübersteigliche Schranken. Von dem «An sich der
Dinge» können wir nichts wissen. Ein offizieller Philosoph der
Gegenwart hat dieser Ansicht folgenden präzisen Ausdruck gegeben:
«Solange das Kunststück, um die Ecke zu schauen, das heißt ohne
Vorstellung vorzustellen, nicht erfunden ist, wird es bei der stolzen
Selbstbescheidenheit Kants sein Bewenden haben, daß vom Seienden
dessen Daß, niemals aber dessen Was erkennbar ist», das heißt wir
wissen, daß etwas da ist, welches die subjektive Erscheinung des
Dinges in uns bewirkt, was aber hinter der letzteren eigentlich
steckt, bleibt uns verborgen.
Wir haben
gesehen, daß Kant diese Ansicht angenommen hat, um von jeder der zwei
entgegengesetzten philosophischen Lehren, von denen er ausging,
möglichst viel zu retten. Aus dieser Tendenz heraus entwickelte sich
eine gekünstelte Auffassung unseres Erkennens, die wir nur mit dem zu
vergleichen brauchen, was die unmittelbare und unbefangene Beobachtung
ergibt, um die ganze Haltlosigkeit
des Kantschen Gedankengebäudes einzusehen. Kant denkt sich unsere
Erfahrungserkenntnis aus zwei Faktoren zustande gekommen: aus den
Eindrücken, welche die Dinge außer uns auf unsere Sinnlichkeit
machen, und aus den Formen, in denen unsere Sinnlichkeit und unser
Verstand diese Eindrücke anordnen. Die ersteren sind subjektiv, denn
ich nehme nicht das Ding wahr, sondern nur die Art und Weise, wie
meine Sinnlichkeit davon affiziert wird. Mein Organismus erleidet eine
Veränderung, wenn von außen etwas einwirkt. Diese Veränderung, also
ein Zustand meines
Selbst, meine Empfindung ist es, was mir gegeben ist. Im Akte des
Auffassens nun ordnet unsere Sinnlichkeit diese Empfindungen räumlich
und zeitlich, der Verstand wieder das Räumliche und Zeitliche nach
Begriffen. Auch diese Gliederung der Empfindungen, der zweite Faktor
unseres Erkennens, ist somit ganz und gar subjektiv. Diese Theorie ist
weiter nichts als eine willkürliche Gedankenkonstruktion, die vor der
Beobachtung nicht Standhalten kann. Legen wir uns einmal zuerst die
Frage vor: Tritt irgendwo für uns eine einzelne Empfindung auf,
einzeln für sich und
abgesondert von anderen Elementen der Erfahrung? Blicken wir auf den
Inhalt der uns gegebenen Welt. Er ist eine kontinuierliche Ganzheit.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf irgendeinen Punkt unseres
Erfahrungsgebietes richten, so finden wir, daß sich ringsherum
anderes anschließt. Ein Abgesondertes, für sich allein Bestehendes
gibt es hier nirgends. Eine Empfindung schließt sich an die andere.
Wir können sie nur künstlich herausheben aus unserer Erfahrung, in
Wahrheit ist sie mit dem Ganzen der uns gegebenen Wirklichkeit
verbunden. Hier liegt ein Fehler, den Kant gemacht hat. Er hatte eine
ganz falsche Vorstellung von der Beschaffenheit unserer Erfahrung. Die
letztere besteht nicht, wie er glaubt, aus unendlich vielen
Mosaiksteinchen, aus denen wir durch rein subjektive Vorgänge ein
Ganzes machen, sondern sie ist uns als eine Einheit gegeben: eine
Wahrnehmung geht in die andere ohne bestimmte Grenze über.
II
Die Gründe der Reaktion innerhalb der modernen
Wissenschaft
Eine
Weltanschauung strebt darnach, die Gesamtheit der uns gegebenen
Erscheinungen zu begreifen. Wir können aber stets nur Einzelheiten
der Wirklichkeit zum Gegenstande unserer Erfahrungserkenntnis machen.
Wollen wir eine Einzelheit für sich abgesondert betrachten, dann
müssen wir sie erst künstlich aus dem Zusammenhange herausheben, in
dem sie sich befindet. Nirgends ist uns zum Beispiel die
Einzelempfindung des Rot als solche gegeben, allseitig ist sie von
anderen Qualitäten umgeben, zu denen sie gehört und ohne die sie
nicht bestehen könnte. Wir müssen von allem übrigen absehen und
unsere Aufmerksamkeit auf die eine Wahrnehmung richten, wenn wir sie
in ihrer Vereinzelung betrachten wollen. Dieses Herausheben eines
Dinges aus seinem Zusammenhange ist für uns eine Notwendigkeit, wenn
wir die Welt überhaupt betrachten wollen. Wir sind so organisiert,
daß wir die Welt nicht als Ganzes, als eine einzige Wahrnehmung
auffassen können. Das Rechts und Links, das Oben und Unten, das Rot
neben dem Grün in meinem Gesichtsfelde sind in Wirklichkeit in
ununterbrochener Verbindung und gegenseitiger Zusammengehörigkeit.
Wir können den Blick aber nur nach einer Richtung wenden und das in
der Natur Verbundene nur getrennt wahrnehmen. Unser Auge kann immer
nur einzelne Farben aus einem vielgliedrigen Farbenganzen wahrnehmen,
unser Verstand einzelne Begriffsglieder aus einem in sich
zusammenhängenden Ideengebäude. Die Absonderung einer
Einzelempfindung aus dem Weltzusammenhange ist somit ein seelischer
Akt, bedingt durch die eigentümliche Einrichtung unseres Geistes. Wir
müssen die einheitliche Welt in Einzelempfindungen auflösen, wenn
wir sie betrachten wollen.
Wir müssen
uns aber darüber klar sein, daß diese unendliche Vielheit und
Vereinzelung in Wahrheit gar nicht besteht, daß sie ohne alle
objektive Bedeutung für die Wirklichkeit selbst ist. Wir schaffen ein
zunächst von der Wirklichkeit abweichendes Bild derselben, weil uns
die Organe fehlen, sie in ihrer ureigenen Gestalt in einem Akte
aufzufassen. Aber das Trennen ist nur der eine Teil unseres
Erkenntnisprozesses. Wir sind beständig damit beschäftigt, jede
Einzelwahrnehmung, die an uns herantritt, einer Gesamtvorstellung
einzuverleiben, die wir uns von der Welt machen.
Die sich hier
notwendig anschließende Frage ist nun die: Nach welchen Gesetzen
verknüpfen wir das, was wir erst getrennt haben? Die Trennung ist
eine Folge unserer Organisation, sie hat mit der Sache selbst nichts
zu tun. Deshalb kann auch der Inhalt einer Einzelwahrnehmung durch den
Umstand nicht verändert werden, daß sie für uns zunächst aus dem
Zusammenhange gerissen erscheint, in den sie gehört. Da aber dieser
Inhalt durch den Zusammenhang bedingt ist, so erscheint er in seiner
Absonderung zunächst ganz unverständlich. Daß an einer bestimmten
Stelle des Raumes gerade die Wahrnehmung des Rot auftrete, ist von den
mannigfaltigsten Umständen bewirkt. Wenn ich nun das Rot wahrnehme,
ohne gleichzeitig auf diese Umstände meine Aufmerksamkeit zu richten,
so bleibt es mir unverständlich, woher das Rot kommt. Erst wenn ich
andere Wahrnehmungen heranziehe, und zwar solche Dinge und Vorgänge,
an die sich jene Wahrnehmung des Rot anschließt, dann verstehe ich
die Sache. Jede Wahrnehmung weist mich also über sich selbst hinaus,
weil sie aus sich selbst nicht zu erklären ist. Ich verbinde deswegen
die durch meine Organisation aus dem Weltganzen abgesonderten
Einzelheiten gemäß ihrer eigenen Natur zu einem Ganzen. In
diesem zweiten Akte wird somit das wiederhergestellt, was in dem
ersten zerstört wurde: die Einheit des Wirklichen tritt wieder in ihr
Recht gegenüber der von meinem Geiste zunächst in sich aufgenommenen
Vielheit.
Der Grund,
warum wir uns der objektiven Gestalt der Welt nur auf dem
gekennzeichneten Umwege bemächtigen können, liegt in der Doppelnatur
des Menschen. Als vernünftiges Wesen ist er sehr wohl imstande, sich
den Kosmos als eine Einheit vorzustellen, in der jedes Einzelne als
Glied des Ganzen erscheint. Als sinnliches Wesen jedoch ist er an Ort
und Zeit gebunden, er kann nur einzelne der unendlich vielen Glieder
des Kosmos wahrnehmen. Die Erfahrung kann daher nur eine durch die
Beschränktheit unserer Individualität bedingte Gestalt der
Wirklichkeit liefern, aus welcher die Vernunft erst das gewinnen muß,
was den einzelnen Dingen und Vorgängen innerhalb der Wirklichkeit
ihren gesetzmäßigen Zusammenhang gibt. Die sinnenfällige Anschauung
entfernt uns also von der Wirklichkeit, die vernünftige Betrachtung
führt uns darauf wieder zurück. Ein Wesen, dessen Sinnlichkeit in
einem Akte die Welt anschauen könnte, bedürfte der Vernunft nicht.
Ihm lieferte eine einzelne Wahrnehmung, was wir mit unserer geistigen
Organisation nur durch das Zusammenfassen unendlich vieler einzelner
Erfahrungsakte erreichen können. Die eben angestellte Untersuchung
unseres Erkenntnisvermögens führt uns zu der Ansicht, daß die
Vernunft uns die eigentliche Gestalt der Wirklichkeit liefert, wenn
sie die einzelnen Erfahrungserkenntnisse in entsprechender Weise
verarbeitet. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen durch den Umstand,
daß die Vernunft scheinbar ganz innerhalb unseres Selbst liegt. Wir
haben gesehen, daß in Wahrheit ihre Tätigkeit dazu bestimmt ist,
gerade den unwirklichen Charakter, den unsere Erfahrung durch die
sinnliche Wahrnehmung erhält, aufzuheben. Durch diese Tätigkeit
stellen die Wahrnehmungsinhalte selbst in unserem Geiste den
objektiven Zusammenhang wieder her, aus dem sie unsere Sinne gerissen
haben.
Wir sind nun
an dem Punkte, wo wir das Irrtümliche der Kant-schen Auffassung
durchschauen können. Was eine Folge unserer Organisation ist: das
Auftreten der Wirklichkeit als unendlich viele getrennte Einzelheiten,
das faßt Kant als objektiven Tatbestand auf; und die Verbindung, die
sich wieder herstellt, weil sie der objektiven Wahrheit entspricht,
die ist ihm eine Folge U unserer subjektiven Organisation. Gerade das
Umgekehrte von dem ist wahr, was Kant behauptet hat. Ursache und
Wirkung zum Beispiel sind ein zusammengehöriges Ganzes. Ich nehme sie
gell trennt wahr und verbinde sie in der Weise, wie sie selbst
zueinander streben. Kant hat sich durch Hume in den Irrtum
hineintreiben lassen. Letzterer sagt: Wenn wir zwei Ereignisse immer
und immer wieder in der Weise wahrnehmen, daß das eine auf : das
andere folgt, so gewöhnen wir uns an dieses Zusammensein, erwarten es
auch in künftigen Fällen und bezeichnen das eine als ; Ursache, das
andere als Wirkung. - Das widerspricht den Tatsachen. Wir bringen zwei
Ereignisse nur dann in eine ursächliche Verbindung, wenn eine solche
aus ihrem Inhalte folgt. Diese Verbindung ist nicht weniger gegeben
als der Inhalt der Ereignisse selbst. : Von diesem Gesichtspunkte aus
betrachtet findet die alltäglichste sowohl wie die höchste
wissenschaftliche Denkarbeit ihre Erklärung. Könnten wir die ganze
Welt mit einem Blick umspannen, dann wäre diese Arbeit nicht
notwendig. Ein Ding erklären, verständlich machen heißt nichts
anderes, als es wieder in denZusammenhang hineinsetzen,
aus dem es unsere Organisation herausgerissen hat. Ein Ding, das an
sich vom Weltganzen abgetrennt ist, gibt es nicht. Alle Sonderung hat
bloß eine subjektive Geltungtl für uns. Für uns legt sich das
Weltganze auseinander in Oben und Unten, Vor und Nach, Ursache und
Wirkung, Gegenstand und Vorstellung, Stoff und Kraft, Objekt und
Subjekt und so weiter. p Alle diese Gegensätze sind aber nur
möglich, wenn uns das Ganze, an dem sie auftreten, als Wirklichkeit
gegenübertritt. Wo das nicht der Fall ist, können wir auch nicht von
Gegensätzen sprechen.
Ein
unmöglicher Gegensatz ist der, den Kant als «Erscheinung» und
«Ding an sich» bezeichnet. Dieser letztere Begriff ist ganz
bedeutungslos. Wir haben nicht die geringste Veranlassung, ihn zu
bilden. Er hätte nur für ein Bewußtsein Berechtigung, das außer
der Welt, die uns gegeben ist, noch eine zweite kennt, und welches
beobachten kann, wie diese Welt auf unseren Organismus einwirkt und
das von Kant als Erscheinung Bezeichnete zur Folge hat. Ein solches
Bewußtsein könnte dann sagen: die Welt der Menschen ist nur eine
subjektive Erscheinung jener zweiten, mir bekannten Welt. Die Menschen
selbst aber können nur Gegensätze innerhalb der ihnen gegebenen Welt
anerkennen. Die Summe alles Gegebenen zu etwas anderem in Gegensatz
bringen ist sinnlos. Das Kantsche «Ding an sich» folgt nicht aus dem
Charakter der uns gegebenen Welt. Es ist hinzuerfunden.
Solange wir
mit solchen willkürlichen Annahmen, wie das «Ding an sich» eine
ist, nicht brechen, können wir niemals zu einer befriedigenden
Weltanschauung kommen. Unerklärlich ist uns etwas nur, solange wir
das nicht kennen, was notwendig damit zusammenhängt. Dies haben wir
aber innerhalb, nicht außerhalb unserer Welt zu suchen.
Die
Rätselhaftigkeit eines Dinges besteht nur, solange wir es in seiner
Besonderheit betrachten. Diese ist aber von uns hervorgebracht und
kann auch von uns wieder aufgehoben werden. Eine Wissenschaft, welche
die Natur des menschlichen Erkenntnisprozesses versteht, kann nur so
verfahren, daß sie alles, was sie zur Erklärung einer Erscheinung
braucht, auch innerhalb der uns gegebenen Welt sucht. Eine solche
Wissenschaft kann als Monismus oder einheitliche Naturauffassung
bezeichnet werden. Ihr steht der Dualismus oder die Zweiweltentheorie
gegenüber, welche zwei voneinander absolut verschiedene Welten
annimmt und die Erklärungsprinzipien für die eine in der ändern
enthalten glaubt. Diese letztere Lehre beruht auf einer falschen
Auslegung der Tatsachen unseres Erkenntnisprozesses. Der Dualist
trennt die Summe alles Seins in zwei Gebiete, von denen jedes seine
eigenen Gesetze hat und die einander äußerlich gegenüberstehen. Er
vergißt, daß jede Trennung, jede Absonderung der einzelnen
Seinsgebiete nur eine subjektive Geltung hat. Was eine Folge seiner
Organisation ist, das hält er für eine außer ihm liegende objektive
Naturtatsache.
Ein solcher
Dualismus ist auch der Kantianismus. Denn für diese Weltanschauung
sind Erscheinung und «An sich der Dinge» nicht Gegensätze innerhalb
der gegebenen Welt, sondern die eine Seite, das «An sich», liegt
außerhalb des Gegebenen. Solange wir das letztere in Teile trennen,
mögen dieselben noch so klein sein im Verhältnis zum Universum,
folgen wir einfach einem Gesetze unserer Persönlichkeit; betrachten
wir aber alles Gegebene, alle Erscheinungen als den einen Teil und
stellen ihm dann einen zweiten entgegen, dann philosophieren wir ins
Blaue hinein. Wir haben es dann mit einem bloßen Spiel mit Begriffen
zu tun. Wir konstruieren einen Gegensatz, können aber für das zweite
Glied keinen Inhalt gewinnen, denn ein solcher kann nur aus dem
Gegebenen geschöpft werden. Jede Art des Seins, die außerhalb des
letzteren angenommen wird, ist in das Gebiet der unberechtigten
Hypothesen zu verweisen. In diese Kategorie gehört das Kantsche
«Ding an sich» und nicht weniger die Vorstellung, welche ein großer
Teil der modernen Physiker von der Materie und deren atomistischer
Zusammensetzung hat. Wenn mir irgendeine Sinnesempfindung gegeben ist,
zum Beispiel Farbe- oder Wärme-Empfindung, dann kann ich innerhalb
dieser Empfindung qualitative und quantitative Sonderungen vornehmen;
ich kann die räumliche Gliederung und den zeitlichen Verlauf, die ich
wahrnehme, mit mathematischen Formeln umspannen, ich kann die
Erscheinungen gemäß ihrer Natur als Ursache und Wirkung ansehen und
so weiter: ich muß aber mit diesem meinem Denkprozesse innerhalb
dessen bleiben, was mir gegeben ist. Wenn wir eine sorgfältige
Selbstkritik an uns üben, so finden wir auch, daß alle unsere
abstrakten Anschauungen und Begriffe nur einseitige Bilder der
gegebenen Wirklichkeit sind und nur als solche Sinn und Bedeutung
haben. Wir können uns einen allseitig geschlossenen Raum vorstellen,
in dem sich eine Menge elastischer Kugeln nach allen Richtungen
bewegt, die sich gegenseitig stoßen, an die Wände an- und von diesen
abprallen; aber wir müssen uns dar
über klar
sein, daß dies eine einseitige Vorstellung ist, die einen Sinn erst
gewinnt, wenn wir uns das rein mathematische Bild mit einem
sinnenfällig wirklichen Inhalt erfüllt denken. Wenn wir aber
glauben, einen wahrgenommenen Inhalt ursächlich durch einen
unwahrnehmbaren Seinsprozeß, der dem geschilderten mathematischen
Gebilde entspricht und der außerhalb unserer gegebenen Welt sich
abspielt, erklären zu können, so fehlt uns jede Selbstkritik. Den
beschriebenen Fehler macht die moderne mechanische Wärmetheorie. Wenn
wir sagen, das «Rot» ist nur eine subjektive Empfindung, wie es die
moderne Physiologie tut, und außen im Räume sei ein mechanischer
Vorgang, eine Bewegung, als Ursache dieses «Rot» anzunehmen, so
begehen wir eine Inkonsequenz. Wenn das «Rot» nur subjektiv wäre,
so wären auch alle mechanischen Vorgänge, die mit dem «Rot»
zusammenhängen, nur subjektiv. Sobald wir etwas von der in sich
zusammenhängenden Wahrnehmungswelt in den Geist hereinnehmen, so
müssen wir alles, auch die Atome und ihre Bewegungen, hereinnehmen.
Wir müßten die ganze Außenwelt leugnen.
Ganz dasselbe
kann in bezug auf die moderne Farbentheorie gesagt werden. Auch sie
verlegt etwas, was nur ein einseitiges Bild der Sinnenwelt ist, hinter
diese als Ursache derselben. Die ganze Wellentheorie des Lichtes ist
nur ein mathematisches Bild, das die räumlich-zeitlichen
Verhältnisse dieses bestimmten Erscheinungsgebietes einseitig
darstellt. Die Undulationstheorie macht dieses Bild zu einer realen
Wirklichkeit, die nicht mehr wahrgenommen werden kann, sondern die
vielmehr die Ursache dessen sein soll, was wir wahrnehmen.
III
Die Gründe der Reaktion innerhalb der Wissenschaft
Es ist nun
gar nicht zu verwundern, daß es dem dualistischen Denker nicht
gelingt, den Zusammenhang zwischen den beiden von ihm angenommenen
Welten - der subjektiven in uns und der objektiven außer uns —
begreiflich zu machen. Die eine ist ihm erfahrungsmäßig gegeben, die
andere von ihm hinzugedacht. Er kann also auch folgerichtig alles, was
die eine enthält, nur durch Erfahrung, was in der ändern enthalten
ist, nur durch Denken gewinnen. Da aber aller Erfahrungsinhalt nur
eine Wirkung des hinzugedachten wahren Seins ist, so kann in der
unserer Beobachtung zugänglichen Welt nie die Ursache selbst gefunden
werden. Ebensowenig ist das Umgekehrte möglich: aus der gedachten
Ursache die erfahrungsmäßig gegebene Wirklichkeit abzuleiten. Dies
letztere deshalb nicht, weil nach unseren bisherigen
Auseinandersetzungen alle solche erdachten Ursachen nur einseitige
Bilder der vollen Wirklichkeit sind. Wenn wir ein solches Bild
überblicken, so können wir mittels eines bloßen Gedankenprozesses
nie das darin finden, was nur in der beobachteten Wirklichkeit damit
verbunden ist. Aus diesen Gründen wird derjenige, welcher zwei Welten
annimmt, die durch sich selbst getrennt sind, niemals zu einer
befriedigenden Erklärung ihrer Wechselbeziehung kommen können.
Wer die
eigentlichen wirklichen Wesenheiten außerhalb der Welt
der Erfahrung ihr Wesen treiben läßt, der setzt unserer Erkenntnis
Grenzen. Denn wir nähmen, wenn seine Voraussetzung richtig ist, nur
die Wirkung wahr, welche die wirklichen Wesen auf uns ausüben. Diese,
als die Ursachen, sind ein uns gänzlich unbekanntes Land. Und hiermit
sind wir bei der Pforte angelangt, wo die moderne Wissenschaft alle
alten religiösen Vorstellungen einlassen kann. Bis hierher und nicht
weiter, sagt diese Wissenschaft. Warum sollte der Herr Pastor mit
seinem Glauben nun nicht dort anfangen, wo Du Bois-Reymond mit seinem
wissenschaftlichen Erkennen aufhört.
Der Anhänger
der monistischen Weltanschauung weiß, daß die Ursachen zu den ihm
gegebenen Wirkungen im Bereiche seiner Welt liegen müssen. Mögen die
ersteren von den letzteren räumlich oder zeitlich noch so weit
entfernt liegen: sie müssen sich im Bereiche der Erfahrung finden.
Der Umstand, daß von zwei Dingen, die einander gegenseitig erklären,
ihm augenblicklich nur das eine gegeben ist, erscheint ihm nur als
eine Folge seiner Individualität, nicht als etwas im Objekte selbst
Begründetes. Der Bekenner einer dualistischen Ansicht glaubt die
Erklärung für ein Bekanntes in einem willkürlich hinzugedachten
Unbekannten annehmen zu müssen. Da er dieses letztere
unberechtigterweise mit solchen Eigenschaften ausstattet, daß es sich
in unserer ganzen Welt nicht finden kann, so statuiert er hier eine
Grenze des Erkennens. Unsere Auseinandersetzungen haben den Beweis
geliefert, daß alle Dinge, zu denen unser Erkenntnisvermögen
angeblich nicht gelangen kann, erst zu der Wirklichkeit künstlich
hinzugedacht werden müssen. Wir erkennen nur dasjenige nicht, was wir
erst unerkennbar gemacht haben. Kant gebietet unserem Erkennen Halt
vor einem Geschöpfe seiner Phantasie, vor dem «Ding an sich», und
Du Bois-Reymond stellt fest, daß die unwahrnehmbaren Atome der
Materie durch ihre Lage und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen,
um dann zu dem Schlüsse zu kommen: wir können niemals zu einer
befriedigenden Erklärung darüber gelangen, wie Materie und Bewegung
Empfindung und Gefühl erzeugen, denn «es ist eben durchaus und für
immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-,
Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. -Atomen nicht sollte
gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und
sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in
keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewußtsein
entstehen könne». Diese ganze Schlußfolgerung fällt in nichts
zusammen, wenn man erwägt, daß die sich bewegenden und in bestimmter
Weise gelagerten Atome ein Geschöpf des abstrahierenden Verstandes
sind, dem ein absolutes, von dem wahrnehmbaren Geschehen abgesondertes
Dasein gar nicht zugeschrieben werden darf.
Eine
wissenschaftliche Zergliederung unserer Erkenntnistätigkeit führt,
wie wir gesehen haben, zu der Überzeugung, daß die Fragen, die wir
an die Natur zu stellen haben, eine Folge des eigentümlichen
Verhältnisses sind, in dem wir zur Welt stehen. Wir sind beschränkte
Individualitäten und können deshalb die Welt nur stückweise
wahrnehmen. Jedes Stück an und für sich betrachtet ist ein Rätsel
oder anders ausgedrückt eine Frage für unser Erkennen. Je mehr der
Einzelheiten wir aber kennenlernen, desto klarer wird uns die Welt.
Eine Wahrnehmung erklärt die andere. Fragen, welche die Welt an uns
stellt und die mit den Mitteln, die sie uns bietet, nicht zu
beantworten wären, gibt es nicht. Für den Monismus existieren
demnach keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen. Es kann zu irgendeiner
Zeit dies oder jenes unaufgeklärt sein, weil wir zeitlich oder
räumlich noch nicht in der Lage waren, die Dinge aufzufinden, welche
dabei im Spiele sind. Aber was heute noch nicht gefunden ist, kann es
morgen werden. Die hierdurch bedingten Grenzen sind nur zufällige,
die mit dem Fortschreiten der Erfahrung und des Denkens verschwinden.
In solchen Fällen tritt dann die Hypothesenbildung in ihr Recht ein.
Hypothesen dürfen nicht über etwas aufgestellt werden, das unserer
Erkenntnis prinzipiell unzugänglich sein soll. Die atomistische
Hypothese ist eine völlig unbegründete, wenn sie nicht bloß als ein
Hilfsmittel des abstrahierenden Verstandes, sondern als eine Aussage
über wirkliche, außerhalb der Empfindungsqualitäten liegende
wirkliche Wesen gedacht werden soll. Eine Hypothese kann nur eine
Annahme über einen Tatbestand sein, der uns aus zufälligen Gründen
nicht zugänglich ist, der aber seinem Wesen nach der uns gegebenen
Welt angehört. Berechtigt ist zum Beispiel eine Hypothese über einen
bestimmten Zustand unserer Erde in einer längst verflossenen Periode.
Zwar kann dieser Zustand nie Objekt der Erfahrung werden, weil
mittlerweile ganz andere Bedingungen eingetreten sind. Wenn aber ein
wahrnehmendes Individuum zu der vorausgesetzten Zeit dagewesen wäre,
dann hätte es den Zustand wahrgenommen. Unberechtigt dagegen ist die
Hypothese, daß alle Empfindungsqualitäten nur quantitativen
Vorgängen ihre Entstehung verdanken, weil qualitätslose Vorgänge
nicht wahrgenommen werden können.
Der Monismus
oder die einheitliche Naturerklärung geht aus einer kritischen
Selbstbetrachtung des Menschen hervor. Diese Betrachtung führt uns
zur Ablehnung aller außerhalb der Welt gelegenen erklärenden
Ursachen derselben. Wir können diese Auffassung aber auch auf das
praktische Verhältnis des Menschen zur Welt ausdehnen. Das
menschliche Handeln ist ja nur ein spezieller Fall des allgemeinen
Weltgeschehens. Seine Erklärungsprinzipien dürfen daher gleichfalls
nur innerhalb der uns gegebenen Welt gesucht werden. Der Dualismus,
der die Grundkräfte der uns vorliegenden Wirklichkeit in einem uns
unzugänglichen Reiche sucht, versetzt dahin auch die Gebote und
Normen unseres Handelns. Auch Kant ist in diesem Irrtume befangen. Er
hält das Sittengesetz für ein Gebot, das von einer uns fremden Welt
dem Menschen auferlegt ist, für einen kategorischen Imperativ, dem er
sich zu fügen hat, auch dann, wenn seine eigene Natur Neigungen
entfaltet, die einer solchen aus einem Jenseits in unser Diesseits
hereintönenden Stimme sich widersetzen. Man braucht sich nur an Kants
bekannte Apostrophe an die Pflicht zu erinnern, um das erhärtet zu
finden: «Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes,
was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern
Unterwerfung verlangst», der du «ein Gesetz aufstellst..., vor dem
alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich insgeheim ihm
entgegenwirken.» Einem solchen von außen der menschlichen Natur
aufgedrungenen Imperativ setzt der Monismus die aus der Menschenseele
selbst geborenen sittlichen Motive entgegen. Es ist eine Täuschung,
wenn man glaubt, der Mensch könne nach anderen als selbstgemachten
Geboten handeln. Die jeweiligen Neigungen und Kulturbedürfnisse
erzeugen gewisse Maximen, die wir als unsere sittlichen Grundsätze
bezeichnen. Da gewisse Zeitalter oder Völker ähnliche Neigungen und
Bestrebungen haben, so werden die Menschen, die denselben angehören,
auch ähnliche Grundsätze aufstellen, um sie zu befriedigen.
Jedenfalls aber sind solche Grundsätze, die dann als ethische Motive
wirken, durchaus nicht von außen eingepflanzt, sondern aus den
Bedürfnissen heraus geboren, also innerhalb der Wirklichkeit erzeugt,
in der wir leben. Der Moralkodex eines Zeitalters oder Volkes ist
einfach der Ausdruck dafür, wie Anpassung und Vererbung innerhalb der
ethischen Natur des Menschen wirken. So wie die Naturwirkungen aus
Ursachen entspringen, die innerhalb der gegebenen Natur liegen, so
sind unsere sittlichen Handlungen die Ergebnisse von Motiven, die
innerhalb unseres Kulturprozesses liegen. Der Monismus sucht also den
Grund unserer Handlungen im strengsten Sinne des Wortes innerhalb der
Natur. Er macht dadurch den Menschen aber auch zu seinem eigenen
Gesetzgeber.
Der Mensch
hat keine andere Norm als die aus den Naturgesetzen sich ergebenden
Notwendigkeiten. Er setzt die Wirkungen der Natur im Gebiete des
sittlichen Handelns fort.
Der Dualismus
fordert Unterwerfung unter die von irgend-woher geholten sittlichen
Gebote; der Monismus weist den Menschen auf sich selbst und auf die
Natur, also auf seine autonome Wesenheit. Er macht ihn zum Herrn
seiner selbst. Erst vom Standpunkte des Monismus aus können wir den
Menschen als wahrhaft freies Wesen im ethischen Sinne auffassen. Nicht
von einem anderen Wesen stammende Pflichten sind ihm auferlegt,
sondern sein Handeln richtet sich einfach nach den Grundsätzen, von
denen jeder findet, daß sie ihn zu den Zielen führen, die von ihm
als erstrebenswert angesehen werden. Eine dem Boden des Monismus
entsprungene sittliche Anschauung ist die Feindin alles blinden
Autoritätsglaubens. Der autonome Mensch folgt eben nicht der
Richtschnur, von der er bloß glauben soll, daß sie ihn zum Ziele
führt, sondern er muß einsehen, daß sie ihn dahin führe, und das
Ziel selbst muß ihm individuell als ein erwünschtes erscheinen.
Der autonome
Mensch will nach Gesetzen regiert werden, die er sich selbst gegeben
hat. Er hat nur eine einzige Vorbilderin - die Natur. Er setzt das
Geschehen da fort, wo die unter ihm stehende organische Natur
stehengeblieben ist. Unsere ethischen Grundsätze finden sich
vorgebildet auf primitiverer Stufe in den Instinkten der Tiere. Kein
kategorischer Imperativ ist etwas anderes als ein entwickelter
Instinkt.
IV
Wahrhaft
lähmend auf die Ausbildung eines allseitig ausgreifenden Denkens hat
die durch den «Rückgang zu Kant» bewirkte Annahme von Grenzen des
menschlichen Erkennens gewirkt. Gedeihen kann eine vorurteilslose
Weltanschauung nur, wenn das Denken den Mut hat, bis in die letzten
Schlupfwinkel des Seins, bis auf die Höhen der Wesenheiten zu
dringen. Die reaktionären Weltanschauungen werden immer ihre Rechnung
finden, wenn sich das Denken selbst seine Flügel beschneidet. Eine
Erkenntnislehre, die von einem unerkennbaren «Ding an sich» spricht,
kann die beste Verbündete der rückschrittlichsten Theologie sein. Es
wäre interessant, das psychologische Problem zu verfolgen, welchen
Anteil bei den Theoretikern der Erkenntnisgrenzen die unbewußte,
geheime Sehnsucht hat, der Theologie doch ein Hintertürchen
offenzulassen. Es ist doch nichts charakteristischer für die
menschliche Natur, als was man sonst ausgezeichneten Denkern als
große Freude anmerken kann. Diese kommt über sie, wenn ihnen
scheinbar der Beweis gelingt, daß es etwas gibt, wohin kein Wissen
dringt — wo daher ein braver Glaube einsetzen darf. Mit wahrhaftem
Entzücken hört man verdienstvolle Forscher sagen: seht, dahin kommt
keine Erfahrung, keine Vernunft; dahin darf man dem Herrn Pfarrer
folgen.
Man versuche
es, sich auszumalen, wo wir heute stünden, wenn wir in den letzten
Jahrzehnten in unseren höheren Bildungsstätten nicht die Lehre von
allen möglichen Erkenntnisgrenzen gehabt hätten, sondern die
Goethesche Forschergesinnung, in jedem Augenblicke mit dem Denken so
weit zu dringen, als es die Erfahrungen gestatten, und alles übrige
als Problem nicht als unerkennbar hinzustellen, sondern ruhig der
Zukunft zu überlassen. Bei einer solchen Maxime hätte die
Philosophie den in den fünfziger Jahren zwar etwas ungeschickt, aber
doch in nicht unrichtiger Weise begonnenen Streit gegen den
theologischen Glauben bis heute zu einem schönen Punkte bringen
können. Wir wären vielleicht doch heute so weit, die theologischen
Fakultäten mit einem Lächeln wie lebendige Anachronismen zu
betrachten. Theologisierende Philosophen, wie zum Beispiel Lotze,
haben unerhörtes Unglück angerichtet. Ihnen hat die
Ungeschicklichkeit eines Carl Vogt, der auf dem ganz richtigen Wege
war, das Spiel leicht gemacht. O, dieser Vogt! Hätte er doch statt
des unglückseligen Vergleiches: die Gedanken verhalten sich zu dem
Gehirn wie der Urin zu den Nieren, einen besseren gewählt. Man konnte
ihm leicht einwenden, die Nieren sondern Stoff ab; kann man den
Gedanken mit einem Stoff vergleichen? Und wenn, muß nicht das
Abgesonderte schon vor der Absonderung in einer bestimmten Form
vorhanden sein? Nein, Vogt der Dicke hätte sagen müssen, die
Gedanken verhalten sich zu den Gehirnvorgängen wie die bei einem
Reibungsvorgang entwickelte Wärme zu diesem Reibungsvorgang. Sie sind
eine Funktion des Gehirns, nicht ein von ihm abgesonderter Stoff. Da
hätte der biedere philosophische Struwwelpeter Lotze nichts einwenden
können. Denn ein solcher Vergleich hält allen Tatsachen stand, die
sich nach naturwissenschaftlicher Methode über den Zusammenhang von
Gehirn und Denken feststellen lassen. Die Materialisten der fünfziger
Jahre führten einen ungeschickten Vorpostenkampf. Dann kamen die
«Rückgänger auf Kant» mit ihren Erkenntnisgrenzen und fielen den
wissenschaftlichen Fortschrittsmännern in den Rücken.
Die Reaktion
auf allen Gebieten des Lebens macht sich heute wieder breit. Und die
Erkenntnis, die die einzige wirkliche Kämpferin gegen sie sein kann,
hat sich die Hände gebunden. Was nützt es, daß der Naturforscher in
seinem Laboratorium und auf seiner Lehrkanzel seinen Schülern die
Augen über die Gesetze der Natur öffnet, wenn sein Kollege, der
Philosoph, doch sagt: alles, was ihr da von dem Naturforscher hört,
ist nur Außenwerk, ist Erscheinung, bis über eine gewisse Grenze
kann unser Wissen nicht dringen. Ich muß gestehen, daß es für mich
unter solchen Verhältnissen kein Wunder ist, wenn neben der
fortgeschrittensten Wissenschaft der blindeste Köhlerglaube sein
Haupt kühn erhebt. Weil die Wissenschaft mutlos ist, ist das Leben
reaktionär. Kämpfer sollt ihr sein, ihr Philosophen, vordringen
sollt ihr immer weiter ins Unbegrenzte. Aber nicht Aufpasser sollt ihr
abgeben, damit die moderne Weltanschauung die Grenzen nicht
überschreite, über die die veraltete Theologie doch in jedem
Augenblick hinausgeht. Es ist doch wahrlich sonderbar, daß die
Pfarrer jeden Tag die Geheimnisse derjenigen Welt enthüllen dürfen,
über die der vorurteilslose Denker sorgsames Schweigen sich
auferlegen soll. Je feiger die Philosophie ist, desto kühner ist die
Theologie. Und gar die Ansichten, die über das Wesen unserer Schulen
herrschen. Man sucht womöglich alles aus dem Unterrichte
fernzuhalten, was die Naturwissenschaft als Weltanschauungskonsequenz
an ihre festgestellten Tatsachen knüpft, weil in die Schule
unbewiesene Hypothesen - wie man sagt - nicht gehören, sondern nur
unbedingt sichere Tatsachen. Aber in dem Religionsunterricht! Ja,
Bauer, das ist etwas anderes. Da dürfen die «unbewiesenen»
Glaubensartikel ruhig weiter kultiviert werden. Der Religionslehrer,
der weiß, wovon der Geologe «nichts wissen kann». Die Gründe
liegen tief. Man stelle sich nur einmal vor, daß die moderne
Naturwissenschaft alles bestätigt hätte, was die Bibel gelehrt hat;
man denke sich, daß Darwin, statt seiner bösen Abstammungslehre des
Menschen von den Tieren, eine auf naturwissenschaftliche Grundlagen
aufgebaute Bestätigung des Offenbarungsglaubens geliefert hätte: o,
dann hörten wir heute des guten Darwins Ruhm von allen Kanzeln
verkünden, dann dürften die Religionslehrer davon reden. Den Kindern
dürfte es dann wohl schon beigebracht werden, daß die sieben Bücher
des Moses durch einen englischen Naturforscher vollauf gerechtfertigt
sind. Vielleicht hätten wir dann aber keine Theorien über
Erkenntnisgrenzen. Ein Überschreiten von Grenzen, durch das man in
die Theologie kommt, würde man vermutlich gestatten. Was anderes ist
es allerdings, wenn diese Grenzüberschreitung zu rein natürlichen
Ursachen der Welterscheinungen führt.