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Die Natur und unsere Ideale

Sendschreiben an die Dichterin des «Hermann»: M. E. delle Grazie

Rudolf Steiner 1886

Hochverehrte Dichterin!

Sie haben in Ihrem so gedankenreichen philosophischen Gedichte «Die Natur» der Grundstimmung Ausdruck gegeben, die sich in dem modernen Menschen geltend macht, wenn er die dermalige Natur- und Geistesauffassung auf sich wirken läßt und dabei jene Tiefe des Empfindens besitzt, die ihn die Disharmonie erkennen läßt, die zwischen jener Auffassung und den Idealen unseres Geistes und Herzens besteht. Jawohl, sie sind vorüber, jene Zeiten, da der leichtfertige, flache Optimismus, der in dem Glauben an unsere Gotteskindschaft besteht, den Menschen über jenen Zwiespalt der Natur und des Geistes hinwegführte. Sie sind vorüber, die Zeiten, in denen man oberflächlich genug war, leichten Herzens hinwegzusehen über die tausend Wunden, aus denen die Welt allerorten blutet. Unsere Ideale sind nicht mehr flach genug, um von dieser oft so schalen, so leeren Wirklichkeit befriedigt zu werden.

Dennoch kann ich nicht glauben, daß es keine Erhebung aus dem tiefen Pessimismus gibt, der aus dieser Erkenntnis hervorgeht. Diese Erhebung wird mir, wenn ich auf die Welt unseres Innern schaue, wenn ich an die Wesenheit unserer idealen Welt näher herantrete. Sie ist eine in sich abgeschlossene, in sich vollkommene Welt, die nichts gewinnen, nichts verlieren kann durch die Vergänglichkeit der Außendinge. Sind unsere Ideale, wenn sie wirklich lebendige Individualitäten sind, nicht Wesenheiten für sich, unabhängig von der Gunst oder Ungunst der Natur? Mag immerhin die liebliche Rose vom unbarmherzigen Windstoße zerblättert werden, sie hat ihre Sendung erfüllt, denn sie hat hundert menschliche Augen erfreut; mag es der mörderischen Natur morgen gefallen, den ganzen Sternenhimmel zu vernichten: durch Jahrtausende haben Menschen verehrungsvoll zu ihm emporgeschaut, und damit ist es genug. Nicht das Zeitensein, nein das innere Wesen der Dinge macht sie vollkommen. Die Ideale unseres Geistes sind eine Welt für sich, die sich auch für sich ausleben muß und die nichts gewinnen kann durch die Mitwirkung einer gütigen Natur.

Welch erbarmungswürdiges Geschöpf wäre der Mensch, wenn er nicht innerhalb seiner eigenen Idealwelt Befriedigung gewinnen könnte, sondern dazu erst der Mitwirkung der Natur bedürfte? Wo bliebe die göttliche Freiheit, wenn die Natur uns, gleich unmündigen Kindern, am Gängelbande führend, hegte und pflegte? Nein, sie muß uns alles versagen, damit, wenn uns Glück wird, dieses ganz das Erzeugnis unseres freien Selbstes ist! Zerstöre die Natur täglich, was wir bilden, auf daß wir uns täglich aufs neue des Schaffens freuen können! Wir wollen nichts der Natur, uns selbst alles verdanken!

Diese Freiheit, könnte man sagen, ist doch nur ein Traum. Indem wir uns frei dünken, gehorchen wir der ehernen Notwendigkeit der Natur. Die erhabensten Gedanken, die wir fassen, sind ja nur das Ergebnis der in uns blind waltenden Natur.

Oh, wir sollten doch endlich zugeben, daß ein Wesen, das sich selbst erkennt, nicht unfrei sein kann! Indem wir die ewige Gesetzlichkeit der Natur erforschen, lösen wir jene Substanz aus ihr los, die ihren Äußerungen zugrunde liegt. Wir sehen das Gewebe der Gesetze über den Dingen walten, und das bewirkt die Notwendigkeit. Wir besitzen in unserem Erkennen die Macht, die Gesetzlichkeit der Naturdinge aus ihnen loszulösen und sollten darnach die willenlosen Sklaven dieser Gesetze sein? Die Naturdinge sind unfrei, weil sie die Gesetze nicht erkennen, weil sie, ohne von ihnen zu wissen, durch sie beherrscht werden. Wer sollte sie uns aufdrängen, da wir sie geistig durchdringen? Ein erkennendes Wesen kann nicht unfrei sein. Es bildet die Gesetzlichkeit zuerst in Ideale um und gibt sich diese selbst zum Gesetze. Wir sollten endlich zugeben, daß der Gott, den eine abgelebte Menschheit in den Wolken wähnte, in unserem Herzen, in unse-.rem Geiste wohnt. Er hat sich in voller Selbstentäußerung ganz in die Menschheit ausgegossen. Er hat für sich nichts zu wollen übrig behalten, denn er wollte ein Geschlecht, das frei über sich selbst waltet. Er ist in der Welt aufgegangen. Der Menschen Wille ist sein Wille, der Menschen Ziele seine Ziele. Indem er den Menschen seine ganze Wesenheit eingepflanzt hat, hat er seine eigene Existenz aufgegeben. Es gibt einen «Gott in der Geschichte» nicht; er hat aufgehört zu sein um der Freiheit der Menschen willen, um der Göttlichkeit der Welt willen. Wir haben die höchste Potenz des Daseins in uns aufgenommen. Deswegen kann uns keine äußere Macht, können uns nur unsere eigenen Schöpfungen Befriedigung geben. Alles Wehklagen über ein Dasein, das uns nicht befriedigt, über diese harte Welt, muß schwinden gegenüber dem Gedanken, daß uns keine Macht der Welt befriedigen könnte, wenn wir ihr nicht zuerst selbst jene Zauberkraft verleihen, durch die sie uns erhebt und erfreut. Brächte ein außerweltlicher Gott uns alle Himmelsfreuden, und wir sollten sie so hinnehmen, wie er sie ohne unser Zutun bereitete, wir müßten sie zurückweisen, denn sie wären die Freuden der Unfreiheit. Wir haben keinen Anspruch darauf, daß uns von Mächten Befriedigung werde, die außer uns sind. Der Glaube versprach uns eine Aussöhnung mit den Übeln dieser Welt, wie eine solche ein außerweltlicher Gott herbeiführen sollte. Dieser Glaube ist im Verschwinden begriffen, er wird einst gar nicht mehr sein. Es wird aber die Zeit kommen, wo die Menschheit nicht mehr auf Erlösung von außen hoffen wird, weil sie erkennen wird, daß sie sich selbst ihre Seligkeit bereiten muß, wie sie sich selbst so tiefe Wunden geschlagen hat. Die Menschheit ist die Lenkerin ihres eigenen Geschickes. Von dieser Erkenntnis können uns selbst die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft nicht abbringen, denn sie sind die Erkenntnisse, die wir durch Auffassung der Außenseite der Dinge erlangen, während die Erkenntnis unserer Idealwelt auf dem Eindringen in die innere Tiefe der Sache beruht. Da Sie, verehrte Dichterin, mit Ihrem Gedichte die Kreise der Philosophie so hart bedrängt haben, werden Sie wohl nicht abgeneigt sein, die Antwort dieser letzten zu hören; und damit bin ich in vorzüglicher Hochachtung ergebenst 

Rudolf Steiner

 

aus GA 30 (1961), S 237 ff

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