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ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE

Literarischer Merkur 1893, XIII. Jg., Nr. 12

Rudolf Steiner

Menschen von umfassendem, weltmännischem Geiste finden oft das erlösende Wort für eine Sache, um die sich stubensitzende Gelehrte lange Zeiträume hindurch vergeblich die Köpfe zerbrochen haben.

Was soll die Philosophie neben und über den einzelnen Spezialwissenschaften? Die Vertreter der letzteren sind wohl gegenwärtig nicht abgeneigt, diese Frage einfach dahin zu beantworten: sie soll überhaupt nichts. Das ganze Gebiet der Wirklichkeit wird, nach ihrer Ansicht, von den Spezialwissenschaften umspannt. Wozu noch etwas, das über diese hinausgeht. Derjenige, der den prägnantesten Ausdruck dafür gebraucht hat, ist der — Arbeiterapostel Ferdinand Lassalle. «Die Philosophie kann nichts sein als das Bewußtsein, welches die empirischen Wissenschaften über sich selbst erlangen.» Das sind seine Worte. Eine bessere Formel für die Sache kann man wohl kaum finden.

Alle Wissenschaften betrachten es als ihre Aufgabe, die Wahrheit zu erforschen. Unter Wahrheit kann nichts anderes verstanden werden als ein System von Begriffen, welches in einer mit den Tatsachen übereinstimmenden Weise die Erscheinungen der Wirklichkeit in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhange abspiegelt. Bleibt jemand nun dabei stehen und sagt, für ihn habe das Netz von Begriffen, das ihm ein gewisses Gebiet der Wirklichkeit abbildet, einen absoluten Wert, und er braucht nichts darüber, so kann man ihm ein höheres Interesse nicht andemonstrieren. Nur wird uns ein solcher nicht erklären können, warum seine Begriffs-Sammlung einen höheren Wert hat als zum Beispiel eine Briefmarkensammlung, die doch auch, entsprechend systematisch geordnet, gewisse Zusammenhänge der Wirklichkeit abbildet. Hierinnen liegt der Grund, warum der Streit über den Wert der Philosophie mit vielen Naturforschern zu keinem Resultate führt. Sie sind Begriffsliebhaber in dem Sinne, wie es Marken- oder Münzenliebhaber gibt. Es gibt aber ein Interesse, das darüber hinausgeht. Dieses sucht mit Hilfe und auf Grund der Wissenschaften den Menschen über seine Stellung zum Universum aufzuklären, oder mit anderen Worten: dieses Interesse bringt den Menschen dahin, daß er sich in eine solche Beziehung zur Welt setzt, wie es nach Maßgabe der in den Wissenschaften gewonnenen Resultate möglich und notwendig ist.

In den einzelnen Wissenschaften stellt sich der Mensch der Natur gegenüber, er sondert sich von ihr ab und betrachtet sie, er entfremdet sich ihr. In der Philosophie sucht er sich wieder mit ihr zu vereinigen. Er sucht das abstrakte Verhältnis, in das er in der wissenschaftlichen Betrachtung geraten ist, zu einem realen, konkreten, zu einem lebendigen zu machen. Der wissenschaftliche Forscher will sich durch die Erkenntnis ein Bewußtsein von der Welt und ihren Wirkungen erwerben, der Philosoph will sich mit Hilfe dieses Bewußtseins zu einem lebensvollen Gliede des Weltganzen machen. Die Einzelwissenschaft ist in diesem Sinne eine Vorstufe der Philosophie. Wir haben ein ähnliches Verhältnis in den Künsten. Der Komponist arbeitet auf Grund der Kompositionslehre. Die letztere ist eine Summe von Erkenntnissen, die eine notwendige Vorbedingung des Komponierens sind. Das Komponieren verwandelt die Gesetze der Musikwissenschaft in Leben, in reale Wirklichkeit. Wer nicht begreift, daß ein ähnliches Verhältnis auch zwischen Philosophie und Wissenschaft besteht, der taugt nicht zum Philosophen. Alle wirklichen Philosophen waren freie Begriffskünstler. Bei ihnen wurden die menschlichen Ideen zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche Methode zur künstlerischen Technik. Dadurch wird das abstrakte wissenschaftliche Bewußtsein zum konkreten Leben erhoben. Unsere Ideen werden Lebensmächte. Wir haben nicht bloß ein Wissen von den Dingen, sondern wir haben das Wissen zum realen, sich selbst beherrschenden Organismus gemacht; unser wirkliches, tätiges Bewußtsein hat sich über ein bloßes passives Aufnehmen von Wahrheiten gestellt. Hierinnen suche ich den Sinn der Lassalleschen Worte.

Mit dieser Auffassung der Philosophie sollten sich insbesondere jene durchdringen, die die historische Entwickelung derselben schriftstellerisch darstellen oder im akademischen Lehrvortrage vorbringen wollen. Gegenüber mancher unerfreulichen Erscheinung auf diesem Gebiete begrüßen wir mit Freuden ein eben erschienenes Buch: «Die Hauptprobleme der Philosophie in ihrer Entwicklung und teilweisen Lösung von Thales bis Robert Hamerling. Vorlesungen, gehalten an der K. K. Wiener Universität von Vinzenz Knauer (Wien 1892).»

Schon aus der Darstellung der Geschichte der Philosophie von demselben Verfasser (Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Neuzeit. Zweite verbesserte Auflage. 1882) haben wir den Eindruck erhalten, daß wir in Vinzenz Knauer mit einer philosophischen Natur im wahrsten Sinne des Wortes zu tun haben. Nicht ein äußerlicher Betrachter, sondern ein in der Ideenwelt lebender Mann schildert da die Erscheinungen der Philosophie in alter und neuer Zeit. Und durch das neue Buch sind wir in dieser Überzeugung nur bestärkt worden. Die Vorlesungen sind in hohem Grade geeignet, das philosophische Denken anzuregen. Wir haben es nicht mit dem Historiker zu tun, der über ein System nach dem ändern ein Referat bringt und dann von irgendeinem Standpunkte eine Kritik anfügt - solche Künste haben J. H. Kirchmann, Thilo und andere bis zum Ekel getrieben —, sondern mit einem Philosophen, der die Probleme lebendig seinen Zuhörern und Lesern entwickelt.

Es gibt Leute, die es für Objektivität halten, wenn sie den von ihnen behandelten Problemen so äußerlich wie möglich gegenüberstehen. Sie wollen alles aus der Vogelperspektive betrachten. Solche sogenannte Objektivität bringt es aber zu keiner wahrhaften Vergegenwärtigung ihres Gegenstandes. Knauer hat eine andere, die echte Objektivität; er dringt in die Ideen eines Philosophen so tief ein, daß er sie vor unserem Geiste in möglichst unverfälschter Weise wieder auferstehen läßt. Er weiß das dramatische Element, das den Ideengängen jedes wahren Philosophen eignet, wieder zu beleben. Wo wir so oft nur «der Herren eigenen Geist» verspüren, da führt uns Knauer wirklich in den «Geist der Zeiten» ein.

All das ist natürlich nur möglich bei jenem hohen Maße von Beherrschung des Stoffes, die wir an Knauer bewundern. Jeder Satz zeugt für ein langes, gründliches Einleben in die philosophischen Weltanschauungen.

Ganz uneingeschränkt möchte ich dieses Lob dem ersten Teile des Buches, den ich bis zu Thomas von Aquino ausdehne, zuerkennen. Von Thomas von Aquino ab scheint mir die Hinneigung Knauers zu dualistischen und pluralistischen Vorstellungen die freie historische Darstellung zu beeinträchtigen. Ich für meine Person habe das in dem zweiten Teile schmerzlich empfunden. Ich zähle Knauers Darstellung der aristotelischen Philosophie zu den klarsten, durchsichtigsten und richtigsten, die es gibt; seine Behandlung der modernen Philosophie scheint mir noch nicht so weit von scholastischen Begriffen frei zu sein, um der monistischen Philosophie gerecht werden zu können. Knauer verkennt den Unterschied zwischen abstraktem und konkretem Monismus. Der erstere sucht eine Einheit neben und über den Einzeldingen des Kosmos. Dieser Monismus kommt immer in Verlegenheit, wenn er die Vielheit der Dinge aus der verabsolutierten Einheit ableiten und begreiflich machen soll. Die Folge ist gewöhnlich, daß er die Vielheit für Schein erklärt, was eine vollständige Verflüchtigung der gegebenen Wirklichkeit zur Folge hat. Schopenhauers und Schellings erstes System sind Beispiele für diesen abstrakten Monismus. Der konkrete Monismus verfolgt das einheitliche Weltprinzip in der lebendigen Wirklichkeit. Er sucht keine metaphysische Einheit neben der gegebenen Welt, sondern er ist überzeugt, daß diese gegebene Welt die Entwickelungsmomente enthält, in die sich das einheitliche Weltprinzip in sich selbst gliedert und auseinanderlegt.

Dieser konkrete Monismus sucht nicht die Einheit in der Vielheit, sondern er will die Vielheit als Einheit begreifen. Der dem konkreten Monismus zugrunde liegende Begriff der Einheit faßt die letztere als substantielle, die den Unterschied in sich selbst setzt. Ihr steht gegenüber jene Einheit, welche überhaupt unterschiedslos in sich, also absolut einfach ist (die Herbartschen Realen), und jene, welche von den in diesen Dingen enthaltenen Gleichheiten die ersteren zusammenfaßt zu einer formalen Einheit, etwa wie wir zehn Jahre zu einem Dezennium zusammenfassen. Nur die beiden letzteren Einheitsbegriffe kennt Knauer. Der erstere kann, da er die unterschiedenen Dinge der Wirklichkeit nur aus dem Zusammenwirken vieler einfacher Realen erklären kann, zum Pluralismus führen; der letztere kommt zum abstrakten Monismus, weil seine Einheit keine den Dingen immanente, sondern eine neben und über denselben existierende ist. Knauer neigt zum Pluralismus hin. Die konkret-monistischen Elemente der neueren Philosophie übersieht er. Deswegen erscheint mir dieser Teil seiner Vorlesungen mangelhaft.

Ich bekenne mich zum konkreten Monismus. Mit seiner Hilfe bin ich imstande, die Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft, namentlich der Goethe-Darwin-Haeckelschen Organik, zu verstehen. Hätte Knauer die Wissenschaft vom Organischen bei seinen Auseinandersetzungen ebenso berücksichtigt, wie er es mit vollem Recht mit der des Unorganischen (Wärmeäquivalent, Erhaltung der Kraft, zweiter Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie) tut, so hätte er die Schwierigkeit der Anwendung des Pluralismus durchschauen müssen. Es ist unmöglich, die Entwickelungslehre (und ihre Konsequenzen: Vererbungs-, Anpassungstheorie und biogenetisches Grundgesetz) mit Hilfe des Zusammenwirkens unterschiedener einfacher Realen widerspruchslos zu begreifen.

Diese Einwände sollen mich aber durchaus nicht abhalten, die große Bedeutung auch des zweiten Teiles des Knauerschen Buches anzuerkennen. Neben der klaren, originellen Auseinandersetzung über die Herbartschen Gedankengänge sehe ich diese Bedeutung in der umfassenden und gerechten Behandlung des Hamerlingschen Philosophierens. Daß Hamerling in so vorurteilsfreier, rückhaltsloser Weise der Reihe der Philosophen angegliedert erscheint, ist ein nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst, das sich Knauer durch diese Vorlesungen erworben hat. Er hat damit als Philosophiehistoriker ein Wort zuerst gesprochen. Wer nur die von jedermann anerkannten philosophischen Systeme in einer neuen Weise zusammenstellt und auseinanderentwickelt, der läßt sich gar nicht vergleichen mit demjenigen, welcher als erster die Bedeutung einer Erscheinung erkennt. Das an diesen Vorlesungen anzuerkennen, hindert mich der Umstand nicht, daß ich selbst mich ganz anders zu Hamerling stelle als Knauer. Ich schätze die philosophische Auffassung des Dichterphilosophen wegen der vielen monistischen Elemente, die sie trotz der Hinneigung zur dualistischen und pluralistischen Weltanschauung hat. Dieser Umstand kann meiner Auffassung nach so lange nicht richtig beurteilt werden, als sich die deutsche Philosophie in der den freien Blick in die Weltverhältnisse vollständig trübenden Abhängigkeit von Kant befindet. Die Kantsche Philosophie ist eine dualistische. Sie gründet den Dualismus auf die Einrichtung des menschlichen Erkenntnis-Organismus. Und daß die Sätze, die Kant für die Subjektivität des Erkennens beigebracht hat, in mehr oder weniger modifizierter Gestalt unantastbar seien, gilt heute sozusagen als Grunddogma der Philosophie. Wer daran zweifelt, wird von vielen als ungeeignet zum philosophischen Denken erklärt. Wer unabhängig von diesem Vorurteile eine eigene Meinung hat, der kann heute schlimme Erfahrungen machen. Ich habe es jüngst selbst erfahren. Als man in Deutschland im vorigen Jahre eine «Gesellschaft für ethische Kultur» nach dem Muster ähnlicher Vereinigungen in England und Amerika bildete, da ergriff ich die Gelegenheit, um meine Meinung über eine solch rückständige Gründung öffentlich auszusprechen (u. a. im «Literar. Merkur», Jahrg. XII. 1892, Nr. 40, und «Zukunft», 1892, I. Band, Nr. 5). Meine diesbezüglichen Ansichten wurzeln in meinen erkenntnistheoretischen Überzeugungen, die ich zuletzt in meiner Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» begründet habe. Die letzteren stellen eine von Kant unabhängige, den Lehren des modernen Monismus gewachsene Erkenntnistheorie dar. Sie liefern den vollen Beweis dafür, daß ich zu meinen Ansichten ganz unabhängig von Nietzsche gelangt bin. Trotzdem wurde ich von deutschen Philosophen, die doch von der Sache etwas verstehen sollten, einfach des Nietzscheanismus beschuldigt und mir nicht nur Mangel an Verstand, sondern auch unmoralische Gesinnung vorgeworfen. Mich beirrt das nicht weiter. Über meinen Verstand denkt doch mancher anders als die Herren von der «ethischen Kultur»; und was meine Moral betrifft: in den Schulzeugnissen steht: «musterhaft», später hieß es: «den akademischen Gesetzen vollkommen gemäß»; seither hat mir jede Obrigkeit, die ich in Anspruch nahm, ein gutes Sittenzeugnis gegeben. Ich habe also, wie es scheint, doch nichts getan, was einen deutschen Gelehrten veranlassen sollte, mich vor einen «moralischen Richterstuhl» zu fordern (vgl. Ferd. Tönnies, «Ethische Kultur und ihr Geleite»). Oder gehört es zu den Erkenntnissen der neuen «ethischen Kultur», daß man wegen seiner theoretischen Ansichten moralisch verurteilt wird?

 

aus GA 30 (1961), S 327 ff

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