Weitere Regeln in
Fortsetzung der «Allgemeinen Anforderungen»
Die folgenden Regeln sollten so
aufgefaßt werden, daß jeder esoterische Schüler sein Leben
womöglich so einrichtet, daß er sich fortwährend beobachtet und
lenkt, ob er namentlich in seinem Innern den entsprechenden
Forderungen nachlebt. Alle esoterische Schulung, namentlich wenn sie
in die höheren Regionen aufsteigt, kann nur zum Unheil und zur
Verwirrung des Schülers führen, wenn solche Regeln nicht beobachtet
werden. Dagegen braucht niemand vor einer solchen Schulung
zurückzuschrecken, wenn er sich bestrebt, im Sinne dieser Regeln zu
leben. Dabei braucht er auch nicht zu verzagen, wenn er sich etwa
sagen müßte: «Ich erfülle die damit gestellte Forderung ja doch
noch sehr schlecht.» Wenn er nur das innerliche ehrliche Bestreben
hat, bei seinem ganzen Leben diese Regeln nicht aus dem Auge zu
verlieren, so genügt das schon. Doch muß diese Ehrlichkeit vor allen
Dingen eine Ehrlichkeit vor sich selbst sein. Gar mancher täuscht
sich in dieser Hinsicht. Er sagt: Ich will in reinem Sinne streben.
-Würde er sich aber näher prüfen, so würde er doch bemerken, daß
viel verborgener Egoismus, raffiniertes Persönlichkeitsgefühl im
Hintergrunde lauern; solche Gefühle sind es namentlich, die sich sehr
oft die Maske des selbstlosen Strebens aufsetzen und den Schüler
irreführen. Es kann gar nicht oft genug durch innere Selbstschau
ernstlich geprüft werden, ob man nicht dergleichen Gefühle doch im
Innern seiner Seele verborgen hat. Man wird von solchen Gefühlen
immer mehr durch energische Verfolgung eben der hier zu besprechenden
Regeln frei werden. Diese Regeln sind:
Erstens: Es soll in mein Bewußtsein
keine ungeprüfte Vorstellung eingelassen werden.
Man beobachte einmal, wie viele
Vorstellungen, Gefühle und Willensimpulse in der Seele eines Menschen
leben, die er durch Lebenslage, Beruf, Familienzusammengehörigkeit,
Volkszugehör, Zeitverhältnisse usw. aufnimmt. Solcher Inhalt der
Seele soll nicht etwa so aufgefaßt werden, als wenn die Austilgung
eine für alle Menschen moralische Tat sei. Der Mensch erhält ja
seine Festigkeit und Sicherheit im Leben dadurch, daß ihn Volkstum,
Zeitverhältnisse, Familie, Erziehung usw. tragen. Würde er
leichtsinnig solche Dinge von sich werfen, so würde er bald stützlos
im Leben dastehen. Es ist insbesondere für schwache Naturen nicht
wünschenswert, daß sie nach dieser Richtung zu weit gehen.
Namentlich soll sich ein jeder esoterische Schüler klar machen, daß
mit Beobachtung dieser ersten Regel einhergehen muß die Erwerbung des
Verständnisses für alle Taten, Gedanken und Gefühle auch andrer
Wesen. Es darf niemals dazu kommen, daß die Befolgung dieser Regel
zur Zügellosigkeit oder etwa dahin führe, daß jemand sich sagt, ich
breche mit allen Dingen, in die ich hineingeboren und durch das Leben
hineingestellt worden bin. Im Gegenteil, je mehr man prüft, desto
mehr wird man die Berechtigung dessen einsehen, was in Eines Umgebung
lebt. Nicht um das Bekämpfen und das hochmütige Ablehnen dieser
Dinge handelt es sich, sondern um das innere Freiwerden durch
sorgfältige Prüfung alles dessen, was in einem Verhältnis zu der
eignen Seele steht. Man wird dann aus der Kraft dieser eignen Seele
heraus ein Licht verbreiten über sein ganzes Denken und Verhalten,
das Bewußtsein wird sich dementsprechend erweitern, und man wird sich
überhaupt aneignen, immer mehr und mehr die geistigen Gesetze, die
sich in der Seele offenbaren, sprechen zu lassen, und sich nicht mehr
in die blinde Gefolgschaft der umgebenden Welt stellen. Es liegt nahe,
daß gegenüber dieser Regel geltend gemacht werde: Wenn der Mensch
alles prüfen soll, so wird er ja insbesondere die okkulten und
esoterischen Lehren prüfen müssen, die ihm gerade von seinem
esoterischen Lehrer gegeben werden.-Es handelt sich darum, das Prüfen
im rechten Sinne zu verstehen. Man kann nicht immer eine Sache direkt
prüfen, sondern man muß vielfach indirekt diese Prüfung anstellen.
Es ist zum Beispiel auch heute niemand in der Lage, direkt zu prüfen,
ob Friedrich der Große gelebt hat oder nicht. Er kann lediglich
prüfen, ob der Weg, auf dem die Nachrichten über Friedrich den
Großen auf ihn gekommen sind, ein vertrauenswürdiger ist. Hier muß
die Prüfung am richtigen Ort
einsetzen. So hat man es auch mit allem sogenannten Autoritätsglauben
zu halten. Überliefert einem jemand etwas, was man nicht selbst
unmittelbar emsehen kann, so hat man vor allen Dingen mit dem einem
zur Verfügung stehenden Material zu prüfen, ob er eine glaubwürdige
Autorität ist, ob er Dinge sagt, die eine Ahnung und Empfindung davon
hervorrufen, daß sie wahr sind. An diesem Beispiele wird man ersehen,
daß es sich darum handelt, die Prüfung beim richtigen Punkte
einzusetzen.
Eine zweite Regel ist:
Es soll die lebendige Verpflichtung
vor meiner Seele stehen, die Summe meiner Vorstellungen fortwährend
zu vermehren.
Nichts ist schlimmer für den
esoterischen Schüler, als wenn er bei einer gewissen Summe Begriffe,
die er schon hat, stehen bleiben will, und mit ihrer Hilfe alles
begreifen will. Unendlich wichtig ist es, sich immer neue und neue
Vorstellungen anzueignen. Falls dies nicht geschieht, so würde der
Schüler, falls er zu übersinnlichen Einsichten käme, diesen mit
keinem wohl vorbereiteten Begriff entgegenkommen und von ihnen
überwältigt werden, entweder zu seinem Nachteil oder wenigstens zu
seiner Unbefriedigung; dieses letztere darum, weil er unter solchen
Umständen schon höhere Erfahrungen haben könnte, ohne daß er es
überhaupt merkte. Die Zahl der Schüler ist überhaupt nicht gering,
welche schon ganz umgeben sein könnten von höheren Erfahrungen, aber
nichts davon bemerken, weil sie wegen ihrer Vorstellungsarmut sich
einer ganz anderen Erwartung hingeben bezüglich dieser Erfahrungen,
als die richtige ist. Viele Menschen neigen im äußeren Leben gar
nicht zur Bequemlichkeit, in ihrem Vorstellungsleben aber sind sie
direkt abgeneigt, sich zu bereichern, neue Begriffe zu bilden.
Eine dritte Regel ist:
Mir wird nur Erkenntnis über
diejenigen Dinge, deren Ja und Nein gegenüber ich weder Sympathie
noch Antipathie habe.
Ein alter Eingeweihter schärfte es
immer wieder und wieder seinen Schülern ein: Ihr werdet von der
Unsterblichkeit der Seele erst wissen, wenn ihr ebenso gern hinnehmt,
diese Seele werde nach dem Tode vernichtet, wie sie werde ewig leben.
Solange ihr wünscht, ewig zu leben, werdet ihr keine Vorstellung von
dem Zustande nach dem Tode gewinnen. - Wie in diesem wichtigen Fall
ist es mit allen Wahrheiten. Solange der Mensch noch den leisesten
Wunsch in sich hat, die Sache möge so oder so sein, kann ihm das
reine helle Licht der Wahrheit nicht leuchten. Wer zum Beispiel bei
seiner Selbstschau den wenn auch noch so verborgenen Wunsch hat, es
mögen die guten Eigenschaften bei ihm überwiegen, dem wird dieser
Wunsch ein Gaukelspiel vormachen und keine wirkliche Selbsterkenntnis
erlauben.
Eine vierte Regel ist die:
Es obliegt mir, die Scheu vor dem
sogenannten Abstrakten zu überwinden.
Solange ein esoterischer Schüler an
Begriffen hängt, die ihr Material aus der Sinneswelt nehmen, kann er
keine Wahrheit über die höheren Welten erlangen. Er muß sich
bemühen, sinnlichkeitsfreie Vorstellungen sich anzueignen. Von allen
vier Regeln ist diese die schwerste, insbesondere in den
Lebensverhältnissen unseres Zeitalters. Das materialistische Denken
hat den Menschen in hohem Grade die Fähigkeit genommen, in
sinnlichkeitsfreien Begriffen zu denken. Man muß sich bemühen,
entweder solche Begriffe recht oft zu denken, welche in der äußeren
sinnlichen Wirklichkeit niemals vollkommen, sondern nur annähernd
vorhanden sind, zum Beispiel den Begriff des Kreises. Ein vollkommener
Kreis ist nirgends vorhanden, er kann nur gedacht werden, aber allen
kreisförmigen Gebilden liegt dieser gedachte Kreis als ihr Gesetz
zugrunde. Oder man kann ein hohes sittliches Ideal denken; auch dieses
kann in seiner Vollkommenheit von keinem Menschen ganz verwirklicht
werden, aber es liegt vielen Taten der Menschen zugrunde als ihr
Gesetz. Niemand kommt in einer esoterischen Entwickelung vorwärts,
der nicht die ganze Bedeutung dieses sogenannten Abstrakten für das
Leben einsieht und seine Seele mit den entsprechenden Vorstellungen
bereichert.