Rudolf Steiner
Das Lukas-Evangelium
Ein Zyklus von zehn
Vorträgen, gehalten in Basel vom 15. bis 26.September 1909
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Erster Vortrag, Basel, 15.
September 1909
Eingeweihte und Hellseher.
Die verschiedenen Aspekte der Einweihung. Die vier Evangelien vom Standpunkte
der Geistesforschung.
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Zweiter Vortrag, 16.
September 1909
Das Lukas-Evangelium als
Ausdruck des Prinzips der Liebe und des Mitleids. Die Aufgaben der
Bodhisattvas und des Buddha.
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Dritter Vortrag, 17.
September 1909
Das Hineinfließen der
buddhistischen Weltanschauung in das Lukas-Evangelium. Die Lehre des Buddha.
Der achtgliedrige Pfad.
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Vierter Vortrag, 18.
September 1909
Führerstätten in der alten
Atlantis. Der Nirmanakaya des Buddha und der nathanische Jesusknabe. Die
Adam-Seele vor dem Sündenfall. Die Wiederverkörperung des Zarathustra in dem
salomonischen Jesusknaben.
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Fünfter Vortrag, 19.
September 1909
Der Zusammenfluß der großen
Geistesströmungen des Buddhismus und des Zarathustra in Jesus von Nazareth.
Der nathanische und der salomonische Jesusknabe.
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Sechster Vortrag, 20.
September 1909
Die Mission des hebräischen
Volkes. Die Lehre des Buddha von der Veredelung des menschlichen Inneren und
die kosmische Lehre des Zarathustra. Elias und Johannes der Täufer.
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Siebenter Vortrag, 21.
September 1909
Die beiden Jesusknaben. Die
Verkörperung des Christus im Jesus von Nazareth. Vishva Karman, Ahura Mazdao,
Jahve. Die Geistloge der zwölf Bodhisattvas und der Dreizehnte.
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Achter Vortrag, 24.
September 1909
Die Bewußtseinsentwickelung
der Menschheit in der nachatlantischen Zeit. Die Mission der
Geisteswissenschaft: Wiedergewinnung der Herrschaft des Geistigen über das
Physische. Die von dem Christus-Ich ausgehenden Wirkungen.
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Neunter Vortrag, 25.
September 1909
Das Gesetz vom Sinai als
letzte Vorverkündigung des Ich. Die Lehre des Buddha von Mitleid und Liebe.
Das Rad des Gesetzes. Der Christus als Bringer der lebendigen Kraft der
Liebe.
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Zehnter Vortrag, 26.
September 1909
Die Lehre von Reinkarnation
und Karma und das Christentum. Zwei Arten der alten Einweihung, Jonas und
Salomon. Das Christus-Prinzip und die neue Art der Einweihung. Das Ereignis
von Golgatha als die auf den äußeren Plan der Weltgeschichte hinausgetragene
Initiation.
Erster Vortrag
Basel, 15. September
1909
Eingeweihte und Hellseher.
Die verschiedenen Aspekte der Einweihung. Die vier Evangelien vom Standpunkte
der Geistesforschung.
Als wir vor einiger Zeit hier versammelt waren, konnten wir
die tieferen Strömungen des Christentums besprechen vom Gesichtspunkte des
Johannes-Evangeliums aus. Und es traten damals vor unser geistiges Auge jene
gewaltigen Bilder und Ideen, welche der Mensch gewinnen kann, wenn er sich in
diese einzigartige Urkunde der Menschheit, eben in das Johannes-Evangelium,
vertieft. Wir haben damals bei verschiedenen Gelegenheiten hervorheben
müssen, wie die tiefsten Tiefen des Christentums zum Vorschein kommen, wenn
man seine Betrachtungen anstellt an der Hand dieser Urkunde. Und es könnte
heute wohl mancher der damaligen Zuhörer oder der Zuhörer eines anderen
Zyklus über das Johannes-Evangelium sich fragen: Ist es nun möglich, die
Gesichtspunkte, welche man in gewisser Hinsicht wirklich als die tiefsten
bezeichnen muß, und die man an der Hand des Johannes-Evangeliums gewinnen
kann, ist es möglich, diese Gesichtspunkte irgendwie zu erweitern oder zu
vertiefen durch die Betrachtung der anderen christlichen Urkunden, zum
Beispiel der drei anderen Evangelien, durch die Betrachtung des
Lukas-Evangeliums, des Matthäus-Evangeliums oder des Markus-Evangeliums? Und
wer, man möchte sagen, die theoretische Bequemlichkeit liebt, der wird sich
fragen: Ist es denn überhaupt nötig, nachdem uns bewußt geworden ist, wie die
tiefsten Tiefen der christlichen Wahrheiten uns entgegentreten aus dem
Johannes-Evangelium, ist es da überhaupt noch nötig, über das Wesen des
Christentums von den anderen Evangelien aus zu verhandeln, namentlich vom
Gesichtspunkte des – wie man ja leicht glauben könnte – weniger tiefen
Lukas-Evangeliums aus?
Wer eine solche Frage aufstellte und wer da glaubte, mit
einem solchen Gesichtspunkt irgend etwas Wesentliches gesagt zu haben, der
würde sich doch einem ganz bedeutsamen Mißverständnis hingeben. Nicht nur,
daß das Christentum als solches in seiner Wesenheit unermeßlich ist und daß
man es von den verschiedensten Gesichtspunkten aus beleuchten kann, sondern
es ist auch das andere richtig – und gerade dieser Zyklus von Vorträgen soll
dafür den Beweis liefern –: trotzdem das Johannes-Evangelium eine so
unendlich tiefe Urkunde ist, kann man durch die Betrachtung des
Lukas-Evangeliums zum Beispiel noch Dinge lernen, die man an der Hand des
Johannes-Evangeliums nicht lernen kann. Dasjenige, was wir dazumal im
Johannes-Evangelium-Zyklus gewohnt worden sind, die tiefen Ideen des
Christentums zu nennen, das ist durchaus noch nicht das Christentum in seiner
vollen Tiefe; sondern es gibt eine Möglichkeit, von einem anderen
Ausgangspunkt aus in die Tiefen des Christentums einzudringen. Und dieser
andere Ausgangspunkt soll eben dadurch gewonnen werden, daß wir diesmal das
Lukas-Evangelium vom anthroposophischen, geisteswissenschaftlichen Standpunkt
aus in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen stellen.
Lassen Sie uns einmal einiges vor unser Auge stellen, um die
Behauptung zu verstehen, daß aus dem Lukas-Evangelium noch etwas zu gewinnen
sei, wenn man auch die Tiefen des Johannes-Evangeliums ausgeschöpft hat. Wir
müssen dabei von dem ausgehen, was uns ja bei der Betrachtung einer jeden
Zeile des Johannes-Evangeliums entgegentritt, daß Urkunden, wie die
Evangelien es sind, sich gerade für den anthroposophischen Betrachter
darstellen als Urkunden, die verfaßt sind von Menschen, die tiefer
hineingeschaut haben in das Wesen des Lebens und in das Wesen des Daseins,
die als Eingeweihte und als Hellseher in die Tiefen der Welt hineingeschaut
haben. Wenn wir so im allgemeinen sprechen, können wir die Ausdrücke
"Eingeweihter" und "Hellseher" als gleichbedeutend
nebeneinander gebrauchen. Wenn wir aber nunmehr im Verlaufe unserer
anthroposophischen Betrachtungen zu tieferen Schichten des Geisteslebens
vordringen wollen, dann müssen wir das, was wir anfangs mit Recht nicht
unterscheiden, den Hellseher und den Eingeweihten, wir müssen sie als zwei
Kategorien von Menschen unterscheiden, die den Weg gefunden haben in die
übersinnlichen Gebiete des Daseins. Es ist in gewisser Beziehung ein
Unterschied zwischen einem Eingeweihten und einem Hellseher, obwohl nichts,
gar nichts dagegen ist, daß der Eingeweihte zugleich ein Hellsehender ist und
der Hellsehende zu gleicher Zeit ein in einem gewissen Grade Eingeweihter.
Wenn Sie genau unterscheiden wollen zwischen diesen beiden Kategorien von
Menschen, dem Eingeweihten und dem Hellseher, dann müssen Sie sich an die
Darstellungen erinnern, die in meiner Auseinandersetzung über "Wie
erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" gegeben sind. Sie müssen
daran denken, daß es im wesentlichen drei Stufen gibt, die hinausführen über
das gewöhnliche Anschauen der Welt.
Diejenige Erkenntnis, die zunächst dem Menschen zugänglich
ist, kann man so charakterisieren, daß der Mensch durch die Sinne die Welt
anschaut und durch den Verstand und die anderen Seelenkräfte das Angeschaute
sich zu eigen macht. Darüber hinaus gibt es drei andere Stufen des Erkennens
der Welt. Die erste ist die der sogenannten imaginativen Erkenntnis, die
zweite Stufe ist die der inspirierten Erkenntnis, und die dritte Stufe ist
die der intuitiven Erkenntnis, wenn wir das Wort intuitiv in seinem wahren,
geisteswissenschaftlichen Sinne erfassen.
Wer besitzt nun die imaginative Erkenntnis? Derjenige, vor
dessen geistigem Auge sich das, was hinter der Sinnenwelt ist, in Bildern
ausbreitet, in einem gewaltigen Weltentableau von Bildern, die aber durchaus
nicht ähnlich sind dem, was man im gewöhnlichen Leben Bilder nennt. Abgesehen
von dem Unterschiede, daß es für diese Bilder der imaginativen Erkenntnis
nicht gibt, was wir die Gesetze des dreidimensionalen Raumes nennen, gibt es
auch noch andere Eigentümlichkeiten dieser imaginativen Bilder, die sich mit
nichts in der gewöhnlichen Sinnenwelt so leicht vergleichen lassen.
Wir können zu einer Vorstellung der imaginativen Welt
gelangen, wenn wir uns denken, eine Pflanze stehe vor uns, und wir würden in
der Lage sein, alles, was dem Sinn des Auges als Farbe wahrnehmbar ist,
herauszuziehen aus der Pflanze, so daß es förmlich frei in der Luft schwebt.
Würden wir nun nichts anderes tun, als diese an der Pflanze befindliche Farbe
herausziehen und frei vor uns schweben lassen, dann hätten wir eine tote
Farbengestalt vor uns. Für den hellsichtigen Menschen aber bleibt diese
Farbengestalt durchaus nicht ein totes Farbenbild, sondern wenn er das, was
in den Dingen Farbe ist, herauszieht aus den Dingen, dann fängt durch seine
Vorbereitungen und Übungen dieses Farbenbild an, von dem Geistigen belebt zu
werden, geradeso wie es in der sinnlichen Welt durch das Stoffliche der
Pflanzen belebt war; und der Mensch hat dann vor sich nicht eine tote
Farbengestalt, sondern, frei schwebend, farbiges Licht, in der
mannigfaltigsten Weise schillernd und sprühend, aber innerlich belebt. So daß
eine jede Farbe der Ausdruck ist der Eigentümlichkeit einer
geistig-seelischen Wesenheit, die in der Sinnenwelt nicht wahrnehmbar ist;
das heißt, es fängt die Farbe in der sinnlichen Pflanze an, für den Hellseher
Ausdruck zu werden für seelisch-geistige Wesenheiten.
Denken Sie sich nun eine Welt, erfüllt von solchen in der
mannigfaltigsten Weise spiegelnden Farbengestalten, sich ewig wandelnd,
umgestaltend, aber nicht den Blick beschränkt auf das Farbige wie etwa bei
einem Gemälde von flimmernden Farbenreflexen, sondern denken Sie sich das
alles als Ausdruck von geistig-seelischen Wesenheiten, so daß Sie sich sagen:
Wenn hier aufblitzt ein grünes Farbenbild, so ist es mir der Ausdruck dafür,
daß ein verständiges Wesen dahinter ist; oder wenn aufblitzt ein
hellrötliches Farbenbild, so ist es mir der Ausdruck von etwas, was eine
leidenschaftliche Wesenheit ist. Denken Sie sich nun dieses ganze Meer von
ineinanderspielenden Farben – ich könnte ebensogut ein anderes Beispiel
nehmen und sagen: ein Meer von ineinanderspielenden Tonempfindungen oder
Geruchs- oder Geschmacksempfindungen, denn das alles sind Ausdrücke von
dahinterstehenden geistig-seelischen Wesenheiten –, dann haben Sie das, was
man die imaginative Welt nennt. Es ist nicht etwas, wofür man wie im
gewöhnlichen Sprachgebrauch das Wort Imagination verwendet, eine Einbildung,
sondern das ist eine reale Welt. Es ist eine andere Art der Auffassung, als
es die sinnesgemäße ist.
Innerhalb dieser imaginativen Welt tritt dem Menschen alles
das entgegen, was hinter der Sinnenwelt ist und was er mit seinen
"sinnlichen Sinnen", wenn wir den Ausdruck gebrauchen wollen, nicht
wahrnimmt, also zum Beispiel des Menschen Ätherleib, des Menschen
astralischer Leib. Wer als ein hellsichtiger Mensch die Welt also kennenlernt
durch diese imaginative Erkenntnis, der lernt höhere Wesenheiten gleichsam
von ihrer Außenseite her kennen, so wie Sie in der Sinnenwelt, wenn Sie auf
der Straße gehen und die Menschen an Ihnen vorbeigehen, diese von ihrer
sinnlichen Außenseite kennenlernen. Sie lernen sie genauer kennen, wenn Sie
Gelegenheit haben, mit den Menschen zu sprechen. Da drücken Ihnen die
Menschen durch ihre Worte noch etwas anderes aus als das, was Sie sehen, wenn
sie Ihnen nur auf der Straße begegnen und sie ansehen. An manchem, an dem Sie
vorbeigehen – um nur das eine zu sagen –, können Sie nicht sehen, ob
innerlicher Schmerz oder Freude in der Seele ist, ob Gram oder Entzücken die
Seele durchglüht. Das alles aber können Sie erfahren, wenn Sie mit einem
Menschen sprechen. Das eine Mal kündet er Ihnen durch das, was Sie sehen
können ohne sein Zutun, seine Außenseite an, das andere Mal spricht er sich
selbst für Sie aus. So ist es auch mit den Wesenheiten der übersinnlichen
Welt.
Wer als Hellseher die Wesenheiten der übersinnlichen Welt
durch die imaginative Erkenntnis kennenlernt, der lernt gleichsam nur die
geistigseelische Außenseite kennen. Aber er hört sie sich selbst aussprechen,
wenn er aufsteigt von der imaginativen Erkenntnis zu der Erkenntnis durch
Inspiration. Da ist es dann wirklich ein richtiger Verkehr mit diesen
Wesenheiten. Da teilen sie ihm aus ihrer eigenen Wesenheit heraus mit, was
sie sind und wer sie sind. Daher ist die Inspiration eine höhere
Erkenntnisstufe als die bloße Imagination, und man erfährt mehr über die
Wesen der geistig-seelischen Welt, wenn man aufsteigt zur Inspiration, als
man durch die imaginative Erkenntnis gewinnen kann.
Eine noch höhere Stufe der Erkenntnis ist dann die
Intuition, sofern man das Wort Intuition nicht wie im gewöhnlichen
Sprachgebrauch anwendet, wo alles Unklare, was einem einfällt, Intuition
genannt wird, sondern wenn man den Begriff Intuition in dem wirklich
geisteswissenschaftlichen Sinne nimmt. Da ist die Intuition eine Erkenntnis,
wo man nicht nur geistig hinhorchen kann auf das, was die Wesenheiten, aus
sich selbst heraus einem mitteilen, sondern wo man eins wird mit diesen
Wesenheiten, wo man in die eigene Wesenheit derselben untertaucht. Das ist
eine hohe Stufe der geistigen Erkenntnis. Denn sie erfordert, daß der Mensch
zuerst jene Liebesentfaltung zu allen Wesenheiten in sich vollzieht, wo er
keinen Unterschied mehr macht zwischen sich und den anderen Wesenheiten in
der geistigen Umgebung, wo er seine Wesenheit sozusagen ausgegossen hat in
die ganze geistige Umgebung, wo er also wirklich nicht mehr außerhalb der
Wesenheiten ist, die mit ihm geistig verkehren, sondern wo er innerhalb
dieser Wesenheiten ist, in ihnen steht. Und weil das nur sein kann gegenüber
einer geistiggöttlichen Welt, so ist der Ausdruck Intuition, das ist "im
Gotte stehen", ganz berechtigt. – So also erscheinen uns zunächst diese
drei Stufen der Erkenntnis der übersinnlichen Welt: die Imagination, die
Inspiration und die Intuition.
Nun gibt es natürlich die Möglichkeit, sich diese drei Stufen
der übersinnlichen Erkenntnis anzueignen. Aber es ist auch möglich, zum
Beispiel in irgendeiner Inkarnation nur vorzudringen bis zu der Stufe der
Imagination; dann bleiben dem betreffenden Hellseher diejenigen Gebiete der
geistigen Welt verborgen, die nur durch die Inspiration und die Intuition zu
erreichen sind. Dann ist der Mensch ein "hellsichtiger" Mensch. –
In unserer heutigen Zeit ist es im allgemeinen nicht üblich, die Menschen zu
den höheren Stufen der übersinnlichen Erkenntnis hinaufzuführen, ohne sie
vorher die Stufe der Imagination durchschreiten zu lassen, so daß für unsere
gegenwärtigen Verhältnisse kaum die Möglichkeit eintreten kann, daß jemand
sozusagen ausläßt die Stufe der Imagination und gleich durchgeführt wird zur
Stufe der Inspiration oder der Intuition. Was aber heute keineswegs das
Richtige wäre, das konnte in gewissen anderen Zeiten der
Menschheitsentwickelung dennoch eintreten und ist auch eingetreten.
Es gab Zeiten in der Menschheitsentwickelung, in denen man
die Stufen der übersinnlichen Erkenntnis sozusagen auf verschiedene
Individuen verteilt hatte: Imagination auf der einen Seite, Inspiration und
Intuition auf der anderen Seite. So daß es zum Beispiel Mysterienstätten
gegeben hat, wo Menschen das geistige Auge so offen hatten, daß sie
hellseherisch waren für das Gebiet der Imagination, daß ihnen zugänglich war
jene symbolische Welt der Bilder. Dadurch, daß diese Menschen, die so weit
hellsichtig waren, sich sagten: Für diese Inkarnation verzichte ich darauf,
die höheren Stufen, Inspiration und Intuition, zu erreichen –, dadurch haben
sie sich geeignet gemacht, genau und deutlich zu sehen innerhalb der Welt des
Imaginativen. Sie haben sich sozusagen in ganz besonderem Maße trainiert, in
dieser Welt des Imaginativen zu sehen.
Nun aber war eines dazu für sie notwendig. Wer nur in der
Welt des Imaginativen sehen will und darauf verzichtet, zu der Welt der
Inspiration und der Intuition vorzudringen, der lebt in einer gewissen Weise
in einer Welt der Unsicherheit. Diese Welt des flutenden, Imaginativen ist
sozusagen uferlos, und man schwimmt darinnen, wenn man sich selbst überlassen
bleibt, mit seiner Seele hin und her, ohne. daß man eigentlich genau Richtung
und Ziel kennt. Daher war es in jenen Zeiten und bei den Völkern, bei denen von
gewissen Menschen auf die höheren Erkenntnisstufen verzichtet wurde,
notwendig, daß sich die hellsichtigen, imaginativen Menschen ganz
hingebungsvoll an ihre Führer anschlössen, an diejenigen, welche offen hatten
das geistige Anschauungsvermögen für die Inspiration und für die Intuition.
Denn erst Inspiration und Intuition geben Sicherheit für die geistige Welt,
so daß man genau weiß: Dahin geht der Weg, dort ist ein Ziel. – Dagegen kann
man sich, wenn einem die inspirierte Erkenntnis mangelt, nicht sagen: Da geht
der "Weg, dahin muß ich gehen, um zu einem Ziele zu kommen. – Kann man
sich also das nicht selbst sagen, dann muß man sich der kundigen Führung
eines Menschen anvertrauen, der einem das sagen kann. Daher wird an so vielen
Orten immer mit Recht betont, daß derjenige, der zunächst aufsteigt zur
imaginativen Erkenntnis, innig sich anzuschließen hat an den Guru, an den
Führer, der ihm Richtung und Ziel gibt in bezug auf das, was er sich nicht
selbst geben kann.
Auf der anderen Seite aber war es auch in gewissen Zeiten
nützlich – heute wird das nicht mehr getan –, andere Menschen die imaginative
Erkenntnis in gewisser Weise überspringen zu lassen und sie gleich
hinaufzuführen zur inspirierten Erkenntnis oder womöglich zur intuitiven
Erkenntnis. Solche Menschen verzichteten darauf, die imaginativen Bilder der
geistigen Welt um sich zu sehen; sie gaben sich nur hin jenen Eindrücken aus
der geistigen Welt, die da Ausflüsse des Inneren der geistigen Wesenheiten
sind. Sie hörten hin mit Geistesohren, was die Wesenheiten der geistigen Welt
sprechen. Es ist so, wie wenn Sie eine Wand hätten zwischen sich und einem
anderen Menschen und diesen Menschen nicht selbst sehen; aber Sie hören ihn
hinter der Wand sprechen. Diese Möglichkeit ist durchaus vorhanden, daß sozusagen
Menschen verzichten auf das Anschauen in der geistigen Welt, um dadurch
schneller geführt zu werden zu dem geistigen Hinhorchen auf die Aussagen der
geistigen Wesenheiten. Ganz gleichgültig, ob jemand die Bilder der
imaginativen Welt sieht oder nicht, wenn er imstande ist, mit Geistesohren zu
vernehmen, was die in der übersinnlichen Welt befindlichen Wesenheiten über
sich selbst zu sagen haben, dann sagen wir von einem solchen Menschen: Er ist
begabt mit dem "inneren Wort" –, im Gegensatz zu dem äußeren Wort,
das wir in der physischen Welt von Mensch zu Mensch haben. So also können wir
uns die Vorstellung bilden, daß es auch Menschen gibt, welche, ohne die
imaginative Welt zu schauen, das innere Wort haben und die Aussprüche der
geistigen Wesenheiten vernehmen und sie mitteilen können.
Es gab eine Zeit in der Entwickelung der Menschheit, da war
es in den Mysterien so, daß diese zwei Arten von übersinnlichen Erfahrungen
der Erkennenden zusammenwirkten. Und weil dadurch, daß ein jeder von ihnen
auf die Anschauung des anderen verzichtete, er das, was er vermochte, genauer
und deutlicher ausbilden konnte, weil das der Fall war, ergab sich ein
schönes, ein wunderschönes Zusammenwirken in gewissen Zeiten innerhalb der
Mysterien. Man hatte sozusagen imaginative Hellseher; die hatten sich
besonders dazu trainiert, die Welt der Bilder zu schauen. Und man hatte
solche, welche die Welt des Imaginativen übersprungen hatten; sie hatten sich
besonders dazu trainiert, das innere Wort, was erfahren wird durch die Inspiration,
in ihre Seele aufzunehmen. Und so konnte der eine dem anderen mitteilen, was
er durch seine besondere Trainierung erfahren hatte. Das war möglich in den
Zeiten, wo von Mensch zu Mensch ein Grad von Vertrauen vorhanden war, der
heute ausgeschlossen ist – einfach durch unsere Zeitentwickelung. Heute
glaubt nicht ein Mensch dem anderen so stark, daß er nur hinhorchen würde auf
das, was der andere schildert als die Bilder der imaginativen Welt, und dann
hinzufügen würde, was er selbst aus der Inspiration weiß, im treuen Glauben
darauf, daß die Schilderungen des ändern richtig sind. Heute will jeder
Mensch selbst sehen. Das ist die berechtigte Art unserer Zeit. Die wenigsten
Menschen würden heute zufrieden sein mit einer einseitigen Ausbildung der
Imagination, wie sie in gewissen Zeiten gang und gäbe war. Deshalb ist es
auch für die heutige Zeit notwendig, daß der Mensch nach und nach geführt
wird durch die drei Stufen der höheren Erkenntnis, ohne die eine oder die
andere auszulassen.
Auf allen Stufen der übersinnlichen Erkenntnis treffen wir
die großen Geheimnisse an, welche sich an jenes Ereignis knüpfen, das wir das
Christus-Ereignis nennen, so daß die imaginative Erkenntnis, die inspirierte
Erkenntnis und die intuitive Erkenntnis vieles, unendlich vieles zu sagen
haben über dieses Christus-Ereignis.
Wenn wir nun, von diesem Gesichtspunkt ausgehend, einmal
unseren Blick auf die vier Evangelien zurückwenden, so dürfen wir sagen, daß
das Johannes-Evangelium geschrieben ist vom Standpunkte eines Eingeweihten,
der drinnen stand in den Geheimnissen der Welt bis zur Intuition hinauf, der
also das Christus-Ereignis für die Anschauung der übersinnlichen Welt bis zur
Intuition hinauf schildert. Wer aber genau eingeht auf die Eigentümlichkeiten
des Johannes-Evangeliums, der wird – wie wir gerade in diesem Vortragszyklus
sehen werden – sich sagen müssen, daß alles das, was uns im
Johannes-Evangelium besonders deutlich entgegentritt, vom Standpunkte der
Inspiration und der Intuition gesagt ist, und daß alles, was sich aus Bildern
der Imagination ergibt, dagegen verblaßt und undeutlich ist. So dürfen wir
den Verfasser des Johannes-Evangeliums – wenn wir absehen von dem, was er
doch noch von der Imagination hereingenommen hat –, wir dürfen ihn nennen den
Botschafter alles dessen in bezug auf das Christus-Ereignis, was sich für den
ergibt, der das innere Wort hat bis hinauf zur Intuition. Deshalb spricht der
Schreiber des Johannes-Evangeliums im wesentlichen so, daß er uns die
Geheimnisse des Christus-Reiches charakterisiert als beeigenschaftet durch
das innere Wort oder den Logos. Eine inspiriert-intuitive Erkenntnis liegt
dem Johannes-Evangelium zugrunde.
Anders ist das bei den anderen drei Evangelien. Und keiner
der anderen Evangelienschreiber hat das, was er eigentlich zu sagen hat, so
klar ausgedrückt wie gerade der Schreiber des Lukas-Evangeliums.
Eine kurze, merkwürdige Vorrede geht dem Lukas-Evangelium
voran, eine Vorrede, die ungefähr sagt, daß sich mancherlei Menschen vor dem
Schreiber des Lukas-Evangeliums schon daran gemacht hätten, allerlei
Erzählungen zu sammeln und darzustellen, die im Umlaufe waren über die
Ereignisse von Palästina, und daß, um dieses genauer und ordentlicher zu
machen, nunmehr der Schreiber des Lukas-Evangeliums es unternimmt, dasjenige
darzustellen, was – und nun kommen bedeutungsvolle Worte – diejenigen
mitzuteilen wissen, die von Anfang an – gewöhnlich wird nun übersetzt –
"Augenzeugen und Diener des Wortes waren" (Lukas 1,1–2). Also der
Schreiber des Lukas-Evangeliums will mitteilen, was diejenigen zu sagen
haben, die Augenzeugen – besser würden wir das Wort "Selbstseher"
gebrauchen – und Diener des Wortes waren. Im Sinne des Lukas-Evangeliums sind
"Selbstseher" solche Menschen, welche die imaginative Erkenntnis
haben, die eindringen können in die Welt der Bilder und dort das
Christus-Ereignis wahrnehmen, die besonders dazu trainiert sind, durch solche
Imaginationen zu schauen, Selbstseher, die genau und deutlich sehen – deren
Mitteilungen legt der Schreiber des Lukas-Evangeliums zugrunde – und die
zugleich "Diener des Wortes" waren. Ein bedeutungsvolles Wort! Er
sagt nicht "Besitzer" des Wortes, denn das wären Leute, welche die
volle inspirierte Erkenntnis haben, sondern "Diener" des Wortes,
Diener derjenigen also, denen nicht in demselben Maße wie ihnen durch ihr
Selbstschauen die Imaginationen zur Verfügung stehen, sondern denen
Kundgebungen der inspirierten Welt zur Verfügung stehen. Ihnen, den Dienern,
wird mitgeteilt, was der Inspirierte wahrnimmt; sie können es verkünden, weil
es ihnen ihre inspirierten Lehrer gesagt haben. Sie sind Diener, nicht
Besitzer des Wortes.
So also geht das Lukas-Evangelium zurück auf
die Mitteilungen derjenigen, die Selbstseher, Selbsterfahrer sind in den
imaginativen Welten, welche gelernt haben, dasjenige, was sie in der
imaginativen Welt schauen, mit den Mitteln auszudrücken, welche der
inspirierte Mensch hat, die sich also zu Dienern des Wortes gemacht haben.
Wiederum haben wir hier ein Beispiel, wie genau in den
Evangelien gesprochen ist und wie wir die Worte genau wörtlich verstehen
müssen. Alles ist exakt und genau in solchen auf Grundlage der
Geisteswissenschaft verfaßten Urkunden, und der moderne Mensch hat oft gar
keine Ahnung von der Genauigkeit, von der Exaktheit, mit der die Worte in
diesen Urkunden gewählt werden.
Nun aber müssen wir – so wie jedesmal, wenn wir vom
anthroposophischen Gesichtspunkt aus solche Betrachtungen anstellen – auch
diesmal daran erinnern, daß für die Geisteswissenschaft nicht im eigentlichen
Sinne die Evangelien Quellen der Erkenntnis sind. Dadurch, daß irgend etwas
in den Evangelien steht, würde es für denjenigen, der streng auf dem Boden
der Geisteswissenschaft steht, durchaus noch nicht eine Wahrheit sein. Der
Geisteswissenschafter schöpft nicht aus geschriebenen Urkunden, sondern der
Geisteswissenschafter schöpft aus dem, was die geisteswissenschaftliche
Forschung selbst zu seiner Zeit gibt. Was zu unserer Zeit die Wesen der
geistigen Welt dem Eingeweihten und dem Hellseher zu sagen haben, das sind
die Quellen für die eigentliche Geisteswissenschaft, für die Eingeweihten und
für die Hellseher. Und diese Quellen sind in unserer Zeit in gewisser
Beziehung dieselben wie in jenen Zeiten, die ich Ihnen eben geschildert habe.
Daher kann man auch heute hellsichtige Menschen diejenigen nennen, welche in
die imaginative Welt Einsicht haben, und Eingeweihte kann man erst solche
nennen, welche sich erheben können zur Stufe der Inspiration und Intuition.
So braucht für diese Zeiten der Ausdruck des Hellsehers nicht
zusammenzufallen mit dem des Eingeweihten.
Was uns im Johannes-Evangelium begegnet, konnte nur auf der
Forschung des Eingeweihten beruhen, der hinaufsteigen konnte bis zur
inspirierten und intuitiven Erkenntnis. Was uns in den anderen Evangelien
entgegentritt, das konnte beruhen auf Mitteilungen von imaginativen, von
hellsichtigen Menschen, die also noch nicht selbst hinaufsteigen konnten in
die inspirierte und intuitive Welt. So beruht, wenn wir den heutigen
Unterschied streng festhalten, das Johannes-Evangelium auf der Einweihung;
die drei übrigen Evangelien, vorzugsweise das Lukas-Evangelium, sogar nach
dem Ausspruche des Schreibers selbst, auf der Hellsichtigkeit. Und weil es
insbesondere auf der Hellsichtigkeit beruht, weil alles zu Hilfe gerufen
wird, was der trainierteste Hellseher zu schauen vermag, bietet sich uns ein
genaues Bild für das, was uns im Johannes-Evangelium nur in verblaßten
Bildern dargestellt werden kann. Um den Unterschied noch genauer
hervorzuheben, möchte ich folgendes sagen.
Nehmen Sie an – was allerdings heute kaum der Fall ist –,
daß ein Mensch eingeweiht würde, so daß die Welt der Inspiration und der
Intuition für ihn offenstände, daß er aber nicht hellsichtig wäre, daß er
also nicht die imaginative Welt erkennen könnte. Ein solcher Mensch begegne einem
ändern Menschen, der vielleicht gar nicht eingeweiht ist, dem aber durch
irgendwelche Umstände die imaginative Welt offensteht, so daß er das ganze
Feld der Imaginationen schauen kann. Ein Mensch der letzteren Art könnte dem
ersteren sehr viel mitteilen, was der erstere nicht schaut, was dieser
erstere vielleicht erst aus der Inspiration heraus erklären kann, was er aber
nicht selbst schauen kann, weil ihm die Hellsichtigkeit fehlt. Menschen, die
hellsichtig sind, ohne eingeweiht zu sein, sind heute sehr zahlreich; das
Umgekehrte ist heute kaum der Fall. Dennoch könnte es sein, daß irgendein
eingeweihter Mensch zwar die Gabe der Hellsichtigkeit hat, aber aus
irgendwelchen Gründen im einzelnen Falle nicht zum Schauen der Imaginationen
kommen kann. Dann könnte ein hellsichtiger Mensch ihm vieles erzählen, was
ihm noch unbekannt ist.
Daß die Anthroposophie oder Geisteswissenschaft nicht auf
etwas anderem als auf den Quellen der Eingeweihten fußt, daß also weder das
Johannes-Evangelium noch die anderen Evangelien Quellen ihrer Erkenntnis
sind, muß immer strenge betont werden. Was heute erforscht werden kann ohne
eine historische Urkunde, das ist die Quelle für das anthroposophische
Erkennen. Dann aber gehen wir an die Urkunden heran und suchen das, was die
Geistesforschung heute finden kann, mit den Urkunden zu vergleichen. Was die
Geistesforschung heute ohne eine Urkunde finden kann über das
Christus-Ereignis – zu jeder Stunde finden kann –, das finden wir in der
großartigsten Weise im Johannes-Evangelium wieder. Und darum ist es eine so
wertvolle Schrift, weil es uns zeigt, daß damals, als es geschrieben wurde,
einer da war, der so geschrieben hat, wie heute einer, der in die geistige
Welt eingeweiht ist, schreiben kann. Sozusagen dieselbe Stimme, die heute wahrgenommen
werden kann, kommt zu uns aus den Tiefen der Jahrhunderte.
Ein Ähnliches ist für die anderen Evangelien und auch für
das Lukas-Evangelium der Fall. Nicht die Bilder, die uns der Schreiber des
Lukas-Evangeliums schildert, sind für uns die Quellen der Erkenntnis der
höheren Welten, sondern das ist für uns die Quelle, was uns die Erhebung in
die übersinnliche Welt selbst gibt. Und wenn wir von dem Christus-Ereignis
sprechen, dann ist für uns die Quelle auch jenes große Tableau der Bilder und
Imaginationen, die sich uns ergeben, wenn wir den Blick hinrichten auf das,
was im Anfange unserer Zeitrechnung dasteht. Und was sich uns selber
darstellt, das vergleichen wir mit den Bildern und Imaginationen, die uns
geschildert werden im Lukas-Evangelium. Und dieser Zyklus von Vorträgen soll
uns zeigen, wie die imaginativen Bilder, die der heutige Mensch gewinnt, sich
ausnehmen gegenüber den Schilderungen, die uns im Lukas-Evangelium
entgegentreten.
Es ist wahr, für die geistige Forschung, wenn sie sich auf
die Ereignisse der Vergangenheit erstreckt, gibt es nur eine Quelle. Diese
Quelle liegt nicht in äußeren Urkunden. Nicht Steine, die wir aus der Erde
graben, nicht Dokumente, die in den Archiven aufbewahrt sind, nicht das, was
die Geschichtsschreiber geschrieben haben, ob inspiriert oder nicht
inspiriert, sind die Quelle der Geisteswissenschaft. Was wir zu lesen
vermögen in der unvergänglichen Chronik, in der Akasha-Chronik, das ist für
uns die Quelle für die geistige Forschung. Es gibt die Möglichkeit, das, was
sich zugetragen hat, ohne äußere Urkunde zu erkennen.
So kann der heutige Mensch zwei Wege wählen, um Kunde zu
erhalten von der Vergangenheit. Er kann die äußeren Dokumente nehmen, wenn er
etwas erfahren will über die äußeren Ereignisse, die geschichtlichen
Urkunden, oder, wenn er über geistige Verhältnisse etwas erfahren will, die
religiösen Urkunden. Oder aber er kann fragen: Was wissen diejenigen Menschen
zu sagen, die selbst für ihr geistiges Auge geöffnet haben jene
unvergängliche Chronik, die wir die Akasha-Chronik nennen, jenes große
Tableau, in welchem alles in unvergänglicher Schrift verzeichnet steht, was
jemals geschehen ist in der Welt-, Erden- und Menschheitsentwickelung?
Diese Chronik lernt der Mensch, der sich in die
übersinnlichen Welten erhebt, allmählich lesen. Das ist nicht eine
gewöhnliche Schrift. Denken Sie sich den Lauf der Ereignisse, wie sie sich
abgespielt haben, vor Ihr geistiges Auge gestellt. Denken Sie sich den Kaiser
Augustus mit allen seinen Taten wie in einem Nebelbild vor Ihren Augen
dastehen. Alles, was damals sich zugetragen hat, steht da vor Ihrem geistigen
Auge. So steht es vor dem Geistesforscher, und er kann es jede Stunde aufs
neue erfahren. Er braucht keine äußeren Zeugnisse. Er braucht nur seinen
Blick hinzurichten auf einen bestimmten Punkt des Welten- oder des
Menschheitsgeschehens, und es werden sich ihm in einem geistigen Bilde die
Ereignisse vor Augen stellen, die geschehen sind. So kann der geistige Blick
schweifen durch die Zeiten der Vergangenheit. Was er da erschaut, das wird
verzeichnet als Ergebnis der Geistesforschung.
Was geschah damals in den Zeiten, mit denen unsere
Zeitrechnung beginnt? Was da geschah, das wird durch den geistigen Blick
erschaut und kann verglichen werden mit dem, was uns zum Beispiel das
Lukas-Evangelium erzählt. Dann erkennt der Geistesforscher, daß es damals
eben solche geistig Schauenden gegeben hat, die ebenso das, was Vergangenheit
war, gesehen haben; und wir können vergleichen, wie sich das, was sie uns als
ihre Gegenwart mitteilen können, zu dem verhält, was der Rückblick in die
Akasha-Chronik von der damaligen Zeit erschauen kann.
Das müssen wir uns immer wiederum vor die Seele stellen, daß
wir nicht aus den Urkunden schöpfen, sondern daß wir schöpfen aus der
geistigen Forschung selbst und daß wir dasjenige, was aus der
Geistesforschung geschöpft wird, in den Urkunden wieder aufsuchen. Dadurch
gewinnen die Urkunden einen erhöhten Wert, und wir können über die Wahrheit
dessen, was in ihnen steht, aus unserer eigenen Forschung entscheiden.
Dadurch wachsen sie vor uns als Ausdruck der Wahrheit, weil wir die Wahrheit
selbst erkennen können. Man darf eine solche Sache, wie sie eben geschildert
worden ist, nicht aussprechen, ohne zugleich darauf hinzuweisen, daß dieses
Lesen in der Akasha-Chronik nicht so leicht ist wie etwa das Anschauen der
Ereignisse in der physischen Welt. An einem besonderen Beispiele möchte ich
Ihnen anschaulich machen, wo zum Beispiel gewisse Schwierigkeiten liegen beim
Lesen der Akasha-Chronik. Ich möchte es Ihnen anschaulich machen an dem
Menschen selber.
Wir wissen aus der elementaren Anthroposophie, daß der
Mensch aus dem physischen Leib, dem Ätherleib, dem astralischen Leib und dem
Ich besteht. In dem Augenblick, wo man den Menschen nicht mehr bloß auf dem
physischen Plan beobachtet, sondern hinaufsteigt in die geistige Welt, da
beginnen die Schwierigkeiten. Wenn Sie einen Men sehen physisch vor sich
haben, da haben Sie eine Einheit vor sich; da haben Sie seinen physischen
Leib, da haben Sie seinen Ätherleib, seinen astralischen Leib und sein Ich.
Wenn man den Menschen während des Tagwachens beobachtet, hat man das alles in
einer Einheit vor sich. In dem Augenblick, wo man den Menschen nicht während
des Tagwachens beobachtet, sondern wo man, um ihn zu beobachten,
hinaufsteigen muß in die höheren Welten, wo dieses Hinaufsteigen eine
Notwendigkeit wird, da beginnen sogleich die Schwierigkeiten. Wenn wir zum
Beispiel in der Nacht, wenn wir den ganzen Menschen sehen wollen, in die Welt
der Imaginationen hinaufsteigen, um zum Beispiel den astralischen Leib zu
sehen – denn der ist außerhalb des physischen Leibes –, dann haben wir das
Wesen des Menschen in zwei voneinander getrennte Glieder geteilt.
Was ich jetzt schildere, wird zwar in den seltensten Fällen
eintreten, weil die Beobachtung des Menschen doch noch verhältnismäßig leicht
ist; aber Sie können sich daran ein Bild machen von den Schwierigkeiten.
Denken Sie sich, jemand betritt einen Raum, wo eine Anzahl von Menschen
schlafen. Da sieht er in den Betten liegen die physischen Leiber und die
Ätherleiber, wenn er die Fähigkeit der Hellsichtigkeit hat; dann sieht er,
wenn er sich hellsichtig erhebt, die astralischen Leiber. Aber diese Welt des
Astralischen ist eine Welt der Durchgängigkeit. Da oben in der astralischen
Welt gehen die astralischen Leiber durcheinander durch. Und wenn es auch für
den geschulten Hellseher nicht leicht eintreten wird, so könnte es doch
eintreten, daß, wenn er hinschaut auf einen ganzen Trupp von Menschen, die da
schlafen, er da leicht verwechseln kann, welcher Astralleib zu einem
physischen Leib da unten gehört. Ich sagte, es geschehe nicht leicht, daß das
vorkommt, weil dieses Schauen verhältnismäßig zu den niedersten Graden gehört
und weil der Mensch, der dazu kommt, gut vorbereitet wird, wie man in solchem
Falle zu unterscheiden hat. Aber wenn man in den höheren Welten nicht den
Menschen betrachtet, sondern andere geistige Wesenheiten, dann beginnen die
Schwierigkeiten schon ganz große zu werden. Ja, sie sind schon ganz große für
den Menschen, wenn man ihn nicht als gegenwärtigen Menschen, sondern in
seiner ganzen Wesenheit betrachtet, wie er durch die Inkarnationen durchgeht.
Wenn Sie also einen Menschen, der jetzt lebt, so betrachten,
daß Sie sich fragen: Wo war dessen Ich in der vorhergehenden Inkarnation? –
so müssen Sie durch die devachanische Welt durchgehen zu seiner vorherigen
Inkarnation. Sie müssen feststellen können, welches Ich immer zu den
vorhergehenden Inkarnationen dieses betreffenden Menschen gehört hat. Da
müssen Sie schon in komplizierter Weise zusammenhalten können das
kontinuierliche Ich und die verschiedenen Stufen hier unten auf der Erde. Da
ist schon sehr leicht ein Fehler möglich, und da kann sehr leicht ein Irrtum
begangen werden, wenn der Aufenthalt eines Ich in den früheren Leibern
gesucht wird. Wenn man also hinaufkommt in die höheren Welten, ist es nicht
so leicht, alles, was zu einem Menschen, was zu einer Persönlichkeit gehört,
zusammenzuhalten mit dem, was in der Akasha-Chronik verzeichnet ist als seine
früheren Inkarnationen.
Nehmen Sie einmal an, jemand stellte sich die folgende
Aufgabe. Er hätte einen Menschen vor sich, sagen wir Hans Müller. Er fragt
als hellsichtiger oder eingeweihter Mensch: Welches sind die physischen
Vorfahren dieses Hans Müller? Nehmen wir an, alle äußeren physischen Urkunden
seien verlorengegangen, man könnte sich nur auf die Akasha-Chronik verlassen.
Er hätte also da die physischen Vorfahren aufzusuchen, er müßte Vater,
Mutter, Großvater und so weiter aus der Akasha-Chronik festzustellen suchen,
um zu sehen, wie sich der physische Leib entwickelt hat in der physischen
Abstammungslinie. Dann aber könnte weiter die Frage entstehen: Welches waren
die früheren Inkarnationen dieses Menschen? Da muß er einen ganz ändern Weg
gehen, als er geht, um zu den physischen Vorfahren des Menschen zu kommen. Da
wird er vielleicht viele, viele Zeiten zurückverfolgen müssen, wenn er zu den
früheren Inkarnationen des Ich kommen will. Da haben Sie schon zwei
Strömungen. Weder ist der physische Leib, wie er vor uns steht, ein ganz
neues Geschöpf, denn er stammt in der physischen Vererbungslinie von den
Ahnen ab, noch ist das Ich ein ganz neues Geschöpf, denn es gliedert sich an
die früheren Inkarnationen an.
Was aber für den physischen Leib und für das Ich gilt, das
gilt auch für die dazwischenstehenden Glieder, den Ätherleib, den
astralischen Leib. Die meisten von Ihnen werden wissen, daß auch der
Ätherleib nicht ein durchaus neues Geschöpf ist, sondern daß er auch
irgendeinen Weg durch die verschiedensten Formen durchgegangen sein kann. Ich
habe Ihnen gesagt, wie der Ätherleib des Zarathustra wiedererschienen ist in
dem Ätherleibe des Moses, – das ist derselbe Ätherleib. Würde man nun die
physischen Vorfahren des Moses untersuchen, so bekäme man die eine Linie.
Würde man die Vorfahren des Ätherleibes des Moses untersuchen, so bekäme man
eine andere Linie: da kämen Sie zu dem Ätherleibe des Zarathustra hinauf und
zu anderen Ätherleibern.
Geradeso wie man für den physischen Leib ganz andere
Strömungen zu verfolgen hat als für den Ätherleib, so ist es auch beim
astralischen Leib. Wir können von jedem Gliede der menschlichen Natur aus in
die verschiedensten Strömungen kommen. So können wir sagen: Der Ätherleib ist
die ätherische Wiederverkörperung eines Ätherleibes, der in einer ganz
anderen Individualität war, durchaus nicht in derselben, in der das Ich
vorher verkörpert war. Und ebenso können wir das für den astralischen Leib
sagen.
Wenn wir in die höheren Welten hinaufkommen, um einen
Menschen zu untersuchen auf seine früheren Glieder hin, so gehen da die
einzelnen Strömungen alle auseinander. Die eine führt uns nach der, die
andere nach jener Richtung, und wir kommen da zu sehr komplizierten Vorgängen
in der geistigen Welt. Wenn nun jemand einen Menschen vom Gesichtspunkte der
Geistesforschung aus vollständig verstehen will, so darf er ihn nicht bloß
schildern als einen Nachkommen seiner Ahnen, nicht bloß, daß er seinen
Ätherleib herleitet von diesem oder jenem Wesen, oder seinen astralischen
Leib von diesem oder jenem Wesen, sondern er muß vollständig schildern, wie
alle diese vier Glieder ihren Weg gemacht haben, bis sie sich jetzt in dieser
Wesenheit zusammengeschlossen haben. Das kann man nicht auf einmal machen.
Man kann zum Beispiel den Weg, den der Ätherleib zurückgelegt hat, verfolgen
und kann da zu wichtigen Aufschlüssen kommen. Es kann dann ein anderer Mensch
den Weg des astralischen Leibes verfolgen. Der eine kann auf den Ätherleib,
der andere auf den astralischen Leib mehr Gewicht legen und demgemäß seine
Schilderungen abfassen. Für denjenigen, der alles das nicht beobachtet, was
die hellsichtigen Menschen über eine. Wesenheit sagen, für den wird es ganz
gleich sein, ob der eine dieses oder der andere jenes sagt; ihm wird es
scheinen, als ob nur immer dasselbe geschildert wird. Für ihn wird derjenige,
der nur die physische Persönlichkeit schildert, dasselbe sagen wie derjenige,
der den Ätherleib schildert; er wird immer glauben, daß er die Wesenheit des
Hans Müller schildert.
Das alles kann Ihnen aber jetzt ein Bild geben von der
ganzen Kompliziertheit der Verhältnisse, die uns entgegentreten, wenn wir vom
Gesichtspunkte der hellseherischen, der Eingeweihten-Forschung das Wesen
irgendeiner Erscheinung der Welt – sei es des Menschen oder irgendeiner
anderen Wesenheit – schildern wollen. Was ich jetzt gesagt habe, mußte ich
sagen; denn Sie sehen daraus, daß dann nur die umfänglichste, nach allen
Seiten sich ausbreitende Forschung in der Akasha-Chronik irgendeine Wesenheit
uns klar vor das geistige Auge führen kann.
Diejenige Wesenheit, die da vor uns steht, auch in dem
Sinne, wie das Johannes-Evangelium sie uns schildert, die da vor uns steht
mit dem Ich – gleichgültig ob vor oder nach der Johannes-Taufe, ob wir sie
ansprechen als Jesus von Nazareth vor der Taufe oder als den Christus nach
der Johannes-Taufe –, sie steht vor uns mit einem Ich, mit einem astralischen
Leib, mit einem Ätherleib und mit einem physischen Leib. Wir können sie nur
vollständig schildern vom Standpunkte der Akasha-Chronik, wenn wir die Wege
verfolgen, welche diese vier Glieder der damaligen Christus Jesus-Wesenheit
in der Menschheitsentwickelung durchgemacht haben. Nur dann können wir sie
richtig verstehen. Hier handelt es sich um das vollständige Verstehen der
Mitteilungen über das Christus-Ereignis vom Standpunkte der heutigen
Geistesforschung, wo Licht verbreitet werden muß über das, was sich scheinbar
widerspricht in den vier Evangelien.
Ich habe schon öfters darauf hingewiesen, warum die heutige,
rein materialistische Forschung den hohen Wert, den Wahrheitswert des
Johannes-Evangeliums nicht einsehen kann: Weil sie nicht verstehen kann, daß
ein höherer Eingeweihter anders, tiefer sieht als die anderen. Zwischen den
anderen drei Evangelien, den synoptischen, versuchen diejenigen, denen das
Johannes-Evangelium nicht recht ist, eine Art von Einklang zu bilden. Einen
Einklang zu bilden wird aber, wenn man nur die äußeren materiellen
Geschehnisse zugrunde legt, schwer halten. Denn das, was für uns in dem
morgigen Vortrage von besonderer Wichtigkeit sein wird, zu betrachten das
Leben des Jesus von Nazareth vor der Johannes-Taufe, das wird uns geschildert
von zwei Evangelisten, von dem Schreiber des Matthäus-Evangeliums und von dem
Lukas-Evangelium-Schreiber; und für eine äußere materialistische
Betrachtungsweise gibt es hier Verschiedenheiten, die in nichts nachgeben
dem, was zwischen den drei anderen Evangelien und dem Johannes-Evangelium als
Verschiedenheit angenommen werden muß.
Nehmen wir einmal die Tatsachen. Der Schreiber des
Matthäus-Evangeliums schildert, daß vorherverkündet wird die Geburt des
Schöpfers des Christentums, daß diese Geburt erfolgt, daß Magier kommen aus
dem Morgenlande, die den Stern wahrgenommen haben, daß der Stern sie geführt
hat an die Stätte, wo der Erlöser geboren wird. Er schildert ferner, daß
Herodes dadurch aufmerksam gemacht wird und daß, um zu entgehen der Maßnahme
des Herodes, die in dem bethlehemitischen Kindermord besteht, das Elternpaar
des Erlösers mit dem Kinde nach Ägypten flieht. Als Herodes tot ist, wird
Joseph, dem Vater des Jesus, angezeigt, daß er wieder zurückkehren kann, und
er kehrt nun aus Furcht vor dem Nachfolger des Herodes nicht zurück nach
Bethlehem, sondern er geht nach Nazareth. – Ich will heute noch absehen von
der Ankündigung des Täufers. Ich will aber schon darauf aufmerksam machen,
daß, wenn wir das Lukas-Evangelium und das Matthäus-Evangelium miteinander
vergleichen, in den beiden Evangelien die Vorverkündigung des Jesus von
Nazareth ganz verschieden erfolgt: das eine Mal erfolgt sie dem Joseph, das
andere Mal der Maria.
Wir sehen dann aus dem Lukas-Evangelium, wie die Eltern des
Jesus von Nazareth ursprünglich in Nazareth wohnen und dann bei einer
Gelegenheit nach Bethlehem gehen, nämlich zur Zählung. Während sie dort sind,
wird der Jesus geboren. Dann erfolgt nach acht Tagen die Beschneidung –
nichts von einer Flucht nach Ägypten –; und nach einiger Zeit, die nicht weit
danach liegt, wird das Kind dargestellt im Tempel. Wir sehen, daß das Opfer
dargebracht wird, das üblich ist, und daß danach die Eltern mit dem Kinde
nach Nazareth zurückziehen und dort leben. Und dann wird uns ein merkwürdiger
Zug erzählt, der Zug, wie der zwölfjährige Jesus bei einem Besuch, den seine
Eltern in Jerusalem gemacht haben, im Tempel zurückbleibt, wie sie ihn
suchen, wie sie ihn dann wiederfinden im Tempel zwischen denen, welche die
Schrift auslegen, wie er ihnen da entgegentritt als ein Kundiger in der
Schriftauslegung, wie er sich verständig und weise im Kreise der
Schriftgelehrten ausnimmt. Dann wird erzählt, wie sie das Kind wiederum mit
nach Hause nehmen, wie es heranwächst; und wir hören nichts Besonderes mehr
von ihm bis zur Johannes-Taufe.
Da haben wir zwei Geschichten des Jesus von Nazareth vor der
Aufnahme des Christus. Wer sie vereinigen will, der muß sich vor allen Dingen
fragen, wie er die Erzählung, daß unmittelbar nach der Geburt des Jesus die
Eltern, Joseph und Maria, veranlaßt werden, mit dem Kinde nach Ägypten zu
fliehen, und dann wieder zurückkehren, wie er das vereinigen kann nach der
gewöhnlichen materialistischen Anschauung mit der Darstellung im Tempel nach
Lukas.
Da werden wir sehen, daß das, was uns für die physische
Auffassung scheinbar als ein vollständiger Widerspruch erscheint, im Lichte
der Geistesforschung uns als Wahrheit entgegentreten wird. Beides ist wahr,
trotzdem es als scheinbarer Widerspruch in der physischen Welt dargestellt
wird. Gerade die drei synoptischen Evangelien, das Matthäus-, das Markus- und
das Lukas-Evangelium, sollten die Menschen hinzwingen zu einer geistigen Auffassung
der Tatsachen der Menschheitsgeschehnisse. Denn die Menschen sollten
einsehen, daß man nichts damit erreicht, wenn man solchen Urkunden gegenüber
nicht über scheinbare Widersprüche nachdenkt oder wenn man von
"Dichtungen" spricht, wo man durch Realitäten nicht durchkommt.
So wird sich uns gerade diesmal Gelegenheit bieten, darüber
zu sprechen, worüber eingehend zu sprechen das Johannes-Evangelium keinen
Anlaß gegeben hat, nämlich über die Ereignisse, die sich zugetragen haben vor
der Johannes-Taufe, vor dem Eindringen der Christus-Wesenheit in die drei
Leiber des Jesus von Nazareth. Und manches wichtige Rätsel von dem Wesen des
Christentums wird sich uns gerade dadurch lösen, daß wir – aus der
Akasha-Chronik erforscht – hören werden, wie das Wesen des Jesus von Nazareth
war, bevor der Christus seine drei Leiber eingenommen hat.
Wir werden morgen damit beginnen, das Wesen und das Leben
des Jesus von Nazareth aus der Akasha-Chronik heraus zu prüfen, um uns dann
zu fragen: Wie stellt sich das, was wir aus dieser Quelle heraus wissen
können über die wahre Wesenheit des Jesus von Nazareth, zu dem, was uns
geschildert wird im Lukas-Evangelium als herrührend von denen, die damals
"Selbstseher" waren oder "Diener des Wortes", des Logos?
Zweiter Vortrag
16. September 1909
Das Lukas-Evangelium
als Ausdruck des Prinzips der Liebe und des Mitleids. Die Aufgaben der
Bodhisattvas und des Buddha.
Das Johannes-Evangelium war durch die verschiedenen Zeiten
der Entwickelung des Christentums hindurch diejenige Urkunde, welche stets
den tiefsten Eindruck auf alle diejenigen gemacht hat, welche eine besondere
Vertiefung, eine innere Versenkung in die christlichen Weltenströmungen
suchten. Daher war dieses Johannes-Evangelium die Urkunde aller christlichen
Mystiker, die nachzuleben versuchten, was im Johannes-Evangelium in der
Persönlichkeit und Wesenheit des Christus Jesus dargestellt wird.
In einer etwas anderen Weise hat sich die christliche
Menschheit durch die verschiedenen Jahrhunderte hindurch zu dem
Lukas-Evangelium gestellt. Das entspricht, von einem anderen Gesichtspunkt
aus gesehen, im Grunde genommen durchaus dem, was wir gestern schon über den
Unterschied des Johannes-Evangeliums und des Lukas-Evangeliums andeuten
konnten. War das Johannes-Evangelium in gewisser Beziehung eine Urkunde für
Mystiker, so war das Lukas-Evangelium immer eine Art Erbauungsbuch für die
Allgemeinheit, für solche, die sich, man könnte in einer gewissen Weise
sagen, aus der Einfalt und der Einfachheit ihres Herzens heraus in die Sphäre
des christlichen Empfindens erheben konnten. Als ein Erbauungsbuch geht das
Lukas-Evangelium durch der Zeiten Wende. Für alle die, welche bedrückt waren
mit Leiden und Schmerzen, war es immer ein Quell inneren Trostes. Denn in
diesem Evangelium wird ja so viel verkündet von dem großen Tröster, von dem
großen Wohltäter der Menschheit, von dem Heiland der Beladenen und der
Bedrückten. Ein Buch, zu dem insbesondere diejenigen den Sinn hinwendeten,
welche sich durchdringen wollten mit der christlichen Liebe, war das
Lukas-Evangelium, denn mehr als in irgendeiner anderen christlichen Urkunde
wird die Gewalt und das Eindringliche der Liebe in diesem Lukas-Evangelium
entfaltet. Und die, welche in irgendeiner Weise sich bewußt waren – und im
Grunde genommen kann das ja für alle Menschen gelten –, irgendwelche Fehler
auf ihr Herz geladen zu haben, sie fanden von jener Erbauung und Trost und
Erhebung der beladenen Seele, wenn sie zum Lukas-Evangelium und seiner
Verkündigung hinblickten und sich sagen konnten: Der Christus Jesus ist nicht
bloß erschienen für die Gerechten, sondern auch für die Sünder; mit Sündern
und Zöllnern hat er bei Tisch gesessen. – Gehört zum Johannes-Evangelium eine
hohe Vorbereitung, um es auf sich wirken zu lassen, so darf man vom
Lukas-Evangelium sagen, daß kein Gemüt so niedrig, so unreif ist, daß es
nicht all die Wärme, die aus dem Lukas-Evangelium herausströmt, in vollem
Maße auf sich wirken lassen könnte.
So war das Lukas-Evangelium von jeher ein Buch für die
Allgemeinheit, an dem sich auch das kindlichste Gemüt erbauen konnte. Alles,
was an der menschlichen Seele von der frühesten Lebenszeit an bis in die
höchsten Altersstufen hinauf kindlich bleibt, das hat sich immer hingezogen
gefühlt zu dem Lukas-Evangelium. Und vor allem, was von den christlichen
Wahrheiten bildhaft dargestellt worden ist, was die Kunst von den
christlichen Wahrheiten zu ihrem Vorwurf genommen hat – es ist zwar vieles
auch aus den anderen Evangelien erflossen –, was aber aus der Kunst, aus der
Malerei von jeher am eindringlichsten zu den menschlichen Herzen gesprochen
hat, das finden wir im Lukas-Evangelium angegeben und von da aus in die Kunst
fließend. Alle die tiefen Beziehungen zwischen dem Christus Jesus und
Johannes dem Täufer, die so vielfach bildnerische Darstellung gefunden haben,
haben ihren Quell in diesem unvergänglichen Buche, in dem Lukas-Evangelium.
Wer von diesem Gesichtspunkte aus diese Urkunde auf sich
wirken läßt, der wird finden, daß sie von Anfang bis zu Ende gleichsam
hineingetaucht ist in das Prinzip der Liebe, des Mitleides, der Einfalt, ja
bis zu einem gewissen Grade der Kindlichkeit. Und wo kommt diese Kindlichkeit
denn noch in einer so warmen Weise zum Ausdruck als gerade in der
Kindheitsgeschichte des Jesus von Nazareth, die uns der Schreiber des Lukas-Evangeliums
gibt! Warum das so war, das wird uns auch klar werden können, wenn wir
allmählich immer tiefer in dieses merkwürdige Buch eindringen.
Es wird heute notwendig sein, daß mancherlei gesagt wird,
was vielleicht denen, die andere Vorträge von mir über diesen Gegenstand oder
andere Zyklen gehört haben, zunächst als ein Widerspruch erscheinen wird.
Aber warten Sie nur auf die Ausführungen der nächsten Tage, dann wird Ihnen
das schon im Einklänge erscheinen mit dem, was Sie bisher über den Christus Jesus
und über Jesus von Nazareth von mir gehört haben. Man kann nicht auf einmal
den ganzen komplizierten Umfang der Wahrheit geben, und es wird heute
notwendig sein, auf eine Seite der christlichen Wahrheiten hinzuweisen,
welche im scheinbaren Widerspruche stehen wird mit demjenigen Teile der
Wahrheit, den ich bisher da oder dort vor Ihnen aussprechen konnte. – Es soll
der Weg so gewählt werden, daß die einzelnen Wahrheitsströme entwickelt
werden und daß dann gezeigt wird, wie sie vollständig in Harmonie und im
Einklänge sind. Natürlich konnte ich in den verschiedenen Zyklen, namentlich,
da bisher der Ausgangspunkt – und zwar absichtlich – vom Johannes-Evangelium
aus genommen wurde, nur auf einen Teil der Wahrheit hinweisen. Dieser Teil
bleibt darum doch Wahrheit; das werden wir in den nächsten Tagen noch sehen.
Heute obliegt es uns, einen den meisten von Ihnen ungewohnten Teil der
christlichen Wahrheiten zu betrachten.
Im Lukas-Evangelium besagt uns eine wunderbare Stelle, daß
den Hirten auf dem Felde verkündet wird durch einen Engel, der ihnen sichtbar
wird, daß ihnen der "Heiland der Welt" geboren worden ist. Und dann
wird erwähnt, daß zu diesem Engel, nachdem er die Verkündigung gesagt hat,
hinzutreten "himmlische Heerscharen" (Lukas 2,13). Stellen Sie sich
also das Bild vor, daß diese Hirten hinaufblicken und ihnen so etwas
erscheint wie "der Himmel offen" und die Wesenheiten der geistigen
Welt in mächtigen Bildern sich vor ihnen ausbreitend. Was wird den Hirten
verkündet?
Was ihnen verkündet wird, das wird in monumentale Worte
gekleidet, in Worte, die durch die ganze Menschheitsentwickelung gesprochen
wurden und die zum Weihnachtsspruche der christlichen Entwickelung geworden
sind. Die Worte tönen den Hirten entgegen, die, richtig übersetzt, etwa so
lauten würden:
"Es offenbaren sich die göttlichen Wesenheiten aus den
Höhen, auf daß Friede herrsche unten auf der Erde bei den Menschen, die
durchdrungen sind von einem guten Willen." (Lukas 2,14.)
"Ehre", wie es gewöhnlich wiedergegeben wird, ist eine ganz falsche
Übersetzung. Wie ich es jetzt gesagt habe, sollte es heißen. Und der
Gegensatz sollte scharf betont werden, daß dasjenige, was die Hirten sehen,
die Offenbarung der geistigen Wesenheiten aus den Höhen ist und daß sie in
diesem Augenblicke geschieht, damit einziehe Friede in die menschlichen
Herzen, die durchdrungen sind von einem guten Willen.
Im Grunde genommen liegt, wie wir sehen werden, vieles von
den Geheimnissen des Christentums in diesen Worten, wenn man sie richtig
versteht. Aber es wird einiges dazu gehören, um Licht in diese
paradigmatischen Worte zu bringen. Was vor allem hinzugehört, ist, daß wir
versuchen, jene Berichte zu betrachten, die des Menschen hellsichtiger Sinn
aus der Akasha-Chronik empfängt. Darauf kommt es an, zunächst hinzuschauen
mit dem geöffneten Auge des Geistes auf dasjenige Zeitalter, in dem der
Christus Jesus für die Menschheit auftritt, und uns nun zu fragen: Wie stellt
sich das dar, was damals geistig in die Erdenentwickelung eingetreten ist,
wenn wir es verfolgen in seinem ganzen geschichtlichen Werden, wenn wir
fragen: Woher ist es gekommen?
Damals floß in die Menschheitsentwickelung etwas ein, was
wie ein Zusammenströmen geistiger Ströme von den verschiedensten Richtungen
her sich darstellte. In den mannigfaltigsten Gegenden der Erde sind die
verschiedensten Weltanschauungen im Laufe der Zeiten aufgetaucht. Alles, was
aufgetaucht ist in den verschiedenen Gegenden der Erde, strömte damals in
Palästina zusammen und drückte sich aus in irgendeiner Weise in diesen Ereignissen
von Palästina, so daß wir uns fragen können: Wohin gehen die Strömungen, die
wir wie in einen Mittelpunkt zusammenfließen sehen in den palästinensischen
Ereignissen?
Wir haben gestern schon darauf hingedeutet, daß durch das
Lukas-Evangelium dasjenige gegeben wird, was wir imaginative Erkenntnis
nennen, und daß diese imaginative Erkenntnis in Bildern gewonnen wird. Ein
Bild wird vor uns hingestellt in dem soeben Angegebenen, ein Bild, wie über
den Hirten erscheint die Offenbarung der geistigen Wesenheiten aus der Höhe,
das Bild eines geistigen Wesens, eines Engels, und dann einer Schar von
Engeln. Da müssen wir die Frage auf werfen: Wie sieht der hellsichtige und
zugleich in die Geheimnisse des Daseins eingeweihte Mensch dieses Bild an,
das er sich jederzeit wieder herstellen kann, wenn er in die Akasha-Chronik
zurückschaut? Was ist das, was sich da den Hirten darstellte? Was ist
enthalten in dieser Engelschar, und woher kommt sie?
Eine der großen geistigen Strömungen, die durch die
Menschheitsentwickelung geflossen sind, jene Strömung, die allmählich immer
höher und höher gestiegen ist, so daß sie zur Zeit der palästinensischen
Ereignisse nur mehr aus den geistigen Höhen herunterscheinen konnte auf die
Erde, die ist es, die sich in diesem Bilde zeigt. Wenn wir ausgehen -und zwar
jetzt durch die Entzifferung der Akasha-Chronik – von dieser Engelschar,
welche den Hirten erschien, so werden wir zurückgeführt zu einer der größten
geistigen Strömungen der Menschheitsentwickelung, die sich, man könnte sagen,
zuletzt vor der Erscheinung des Christus Jesus auf der Erde, mehrere
Jahrhunderte vorher, als Buddhismus ausgebreitet hat. Zu dem, was die
"Erleuchtung" des großen Buddha war, so sonderbar es Ihnen klingen
wird, wird derjenige geführt, welcher von jener Offenbarung, die den Hirten
wird, durch die Akasha-Chronik den Weg zurückverfolgt in die vorhergehenden
Zeiten der Menschheit. Was in Indien den Menschen aufgeleuchtet hat, was dort
als die Religion des Mitleides und der Liebe, als eine große Weltanschauung einstmals
Geister und Herzen bewegt hat und was noch heute für einen großen Teil der
Menschheit geistige Nahrung ist, das erschien wieder in der Offenbarung der
Hirten. Denn auch das sollte einströmen in die palästinensische Offenbarung.
Was uns im Lukas-Evangelium zuerst erzählt wird, das können wir nur
verstehen, wenn wir – wiederum vom Gesichtspunkte der
geisteswissenschaftlichen Forschung aus – einen Blick auf das werfen, was der
Buddha der Menschheit war und was die Buddha-Offenbarung eigentlich im Verlaufe
der Menschheitsentwickelung bewirkte. Da müssen wir uns folgendes klarmachen.
Als fünf bis sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung der
Buddha im Fernen Osten erstand, da erschien in ihm eine Individualität, die
oft und oft wiederverkörpert erschienen war und die durch ihre vielen
Verkörperungen hindurch bis zu einer hohen menschlichen Entwickelungsstufe
hinaufgeschritten ist. Der Buddha konnte derjenige, der er war, nur deshalb
werden, weil er in seinen früheren Inkarnationen im höchsten Sinne des Wortes
schon eine hohe, hohe Entwickelungsstufe erlangt hatte. Jene
Entwickelungsstufe einer Wesenheit im Weltenall, die der Buddha erlangt
hatte, bezeichnet man mit einem orientalischen Ausdruck als einen
"Bodhisattva". Es ist – wenigstens vor einem Teile von Ihnen – das
Wesen der Bodhisattvas von verschiedenen Seiten her schon erörtert worden. In
dem Zyklus "Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der
physischen Welt", Düsseldorf, April 1909, zeigte ich, wie sich die
Bodhisattvas zu der ganzen kosmischen Entwickelung verhalten; in München in
dem Zyklus "Der Orient im Lichte des Okzidents", August 1909,
konnte ich von einem anderen Gesichtspunkte aus darauf hinweisen. Heute soll
wiederum von einer anderen Seite her das Wesen der Bodhisattvas betrachtet
werden. Sie werden schon nach und nach den Einklang zwischen diesen einzelnen
Wahrheiten finden.
Derjenige, der ein Buddha wurde, mußte zuerst ein
Bodhisattva sein. Bodhisattva ist also die vorhergehende Stufe der
individuellen Entwickelung zum Buddha hin. Nun wollen wir einmal vom
Standpunkte der Menschheitsentwickelung aus uns das Wesen der Bodhisattvas
vor Augen führen. Wir verstehen es nur, wenn wir, vom Gesichtspunkte der
Geisteswissenschaft aus sie durchdringend, die Menschheitsentwickelung betrachten.
Was die Menschen zu irgendeiner Zeit können, was sie an
Fähigkeiten entwickeln, das war nicht immer da. Es ist nur eine kurzsichtige
Betrachtungsweise, die nicht über ihre eigene Epoche hinausschauen kann,
welche da glaubt, daß dieselben Fähigkeiten, welche die Menschen heute haben,
schon in Urzeiten vorhanden waren. Die menschlichen Fähigkeiten, das, was die
Menschen verrichten, wissen, tun können, das ändert sich von Epoche zu
Epoche. Heute sind die menschlichen Fähigkeiten so entwickelt, daß der Mensch
gewissermaßen durch seine eigene Vernunft dieses oder jenes erkennen kann,
daß er mit Recht sagt: Diese oder jene Wahrheit sehe ich ein durch meinen
Verstand, durch meine Vernunft; ich kann erkennen, was sittlich und
unsittlich ist, was in einer gewissen Beziehung logisch oder unlogisch ist.
Aber man würde fehlgehen, wenn man glauben würde, daß diese Fähigkeiten, das
Logische vom Unlogischen oder das Sittliche vom Unsittlichen zu
unterscheiden, immer an der menschlichen Natur gehaftet haben. Sie sind erst
gekommen, haben sich nach und nach entwickelt. Was der Mensch heute durch
seine eigenen Fähigkeiten vermag, das mußte er – wie ein Kind von Vater und
Mutter oder vom Lehrer – sich einmal sagen lassen von Wesenheiten, welche
zwar auch verkörpert unter den Menschen waren, welche aber durch ihre
geistigen Fähigkeiten höher entwickelt waren und in den Mysterien Umgang
pflegen konnten mit geistigen Wesenheiten, die über ihnen sind, mit
göttlich-geistigen Wesenheiten.
Solche Individualitäten, die zwar im physischen Leibe
verkörpert waren, die aber Umgang pflegen konnten mit höheren
Individualitäten, die nicht physisch verkörpert sind, gab es immer. Bevor die
Menschen zum Beispiel die Gabe des logischen Denkens erlangt haben, wodurch
sie selbst heute logisch denken können, mußten sie hinhorchen auf gewisse
Lehrer. Diese Lehrer konnten auch nicht durch gewisse Fähigkeiten, die man im
physischen Leibe entwickelt, logisch denken, sondern nur dadurch, daß sie in
den Mysterien Umgang hatten mit göttlichgeistigen Wesenheiten, die in höheren
Regionen sind. Solche Lehrer, die das Logische, das Sittliche lehrten aus
ihren Offenbarungen, die sie aus höheren Welten heraus empfingen, gab es,
bevor die Menschen selber durch ihre Natur auf der Erde imstande waren,
logisch zu denken oder das Sittliche zu finden. Eine gewisse Kategorie
solcher Wesen, die zwar im physischen Leibe verkörpert sind, aber Umgang
haben mit göttlichgeistigen Wesenheiten, damit sie das heruntertragen, was
sie von jenen lernen, und es dem Menschen mitteilen können, das sind die
Bodhisattvas. Sie sind also in einem Menschenleib verkörperte Wesenheiten,
die heranreichen mit ihren Fähigkeiten bis zu einem Verkehr mit den
göttlich-geistigen Wesenheiten.
Und bevor der Buddha ein "Buddha" wurde, war er
eben ein Bodhisattva, das heißt eine Individualität, die in den Mysterien
Umgang haben konnte mit den höheren, göttlich-geistigen Wesenheiten. Eine
solche Wesenheit, wie es der Bodhisattva ist, hat in fernen Urzeiten der
Erdenentwickelung einmal eine bestimmte Mission, eine bestimmte Aufgabe in
der höheren Welt erhalten, und sie bleibt dann bei dieser Mission.
Wenn wir das auf den Buddha anwenden, so müssen wir sagen:
Er hatte als Bodhisattva eine bestimmte Aufgabe. Als die Erde noch in
früheren Entwickelungszuständen war, noch vor der atlantischen und
lemurischen Zeit, da hatte dasjenige Wesen, das im sechsten Jahrhundert vor
unserer Zeitrechnung als Buddha verkörpert war, eine bestimmte Aufgabe
erhalten. Bei dieser Aufgabe ist es geblieben. Durch alle Zeiten hindurch
hatte es von Epoche zu Epoche zu wirken und immer so viel der
Erdenentwickelung mitzuteilen, als dieselbe vermöge ihrer Wesenheit aufnehmen
konnte. Für eine jede solche Wesenheit – also für jeden Bodhisattva – gibt es
daher eine Zeit, wo er sozusagen mit seiner in Urzeiten empfangenen Mission
an einen bestimmten Punkt kommt, wo das, was er von oben in die Menschheit
hat einfließen lassen können, zu der eigenen menschlichen Fähigkeit hat
werden können. Denn was heute menschliche Fähigkeit ist, das war früher
Fähigkeit göttlichgeistiger Wesenheiten, und die Bodhisattvas trugen sie aus
den geistigen Höhen herunter zu den Menschen. Ein solcher geistiger Missionar
kommt also an einen Punkt, wo er sich sagen kann: Ich habe meine Mission
vollbracht; der Menschheit ist jetzt gegeben, wozu sie vorbereitet worden ist
durch viele, viele Zeiten hindurch. An einem solchen Punkt angelangt, kann
der Bodhisattva zum Buddha werden. Das heißt, es kommt für ihn ein Zeitpunkt,
da er als die Wesenheit mit der Mission, die wir eben charakterisiert haben,
sich nicht mehr in einem physischen Menschenleibe zu verkörpern braucht, wo
er sich zum letzten Male in einem solchen physischen Menschenleib noch
verkörpert und dann nicht mehr als ein solcher Missionar sich zu verkörpern
braucht. Ein solcher Zeitpunkt war für den Buddha gekommen. Was er früher zu
tun hatte, führte ihn immer wieder und wieder auf die Erde herunter. Aber in
der Zeit, als er zum Buddha erleuchtet worden war, trat für ihn als
Bodhisattva eine letzte Verkörperung ein. Er gelangte in einen Menschenleib
hinein, der die Fähigkeiten in einem höchsten Maße ausgebildet hatte, die
früher von oben gelehrt werden mußten und die nun nach und nach eigene
menschliche Fähigkeiten werden sollten.
Wenn ein solcher Bodhisattva es durch seine frühere
Entwickelung dahin gebracht hat, einen Menschenleib so vollkommen zu machen,
daß er Fähigkeiten entwickeln kann für die Eigenschaften, die mit der Mission
des Bodhisattva zusammenhängen, dann braucht er sich nicht mehr zu
verkörpern. Dann schwebt er, die Angelegenheiten der Menschen fördernd und
leitend, in geistigen Regionen und wirkt von dort in die Menschheit hinein.
Und die Menschen haben dann die Aufgabe, das, was ihnen früher von
Himmelshöhen heruntergeströmt ist, weiter auszubilden und sich zu sagen: Wir
müssen uns jetzt so entwickeln, daß wir jene Fähigkeiten ausbilden, welche
wir zum ersten Male in vollstem Maß erreicht sehen in derjenigen Inkarnation,
die durch die Fähigkeiten des Bodhisattva erreicht worden ist und die im
Buddha aufgetreten ist. Und wie die Wesenheit, die durch Epochen hindurch als
Bodhisattva gewirkt hat, sich ausnimmt als Mensch, auch als voller einzelner
Mensch, wo alles in die menschliche Natur hineingenommen ist, was früher aus
Himmelshöhen hineinströmte, das noch an einem einzelnen Menschen zu zeigen,
was der Bodhisattva vermag, das heißt "Buddha" sein. Das hat der
Buddha noch gezeigt. Hätte der Bodhisattva sich früher von seiner Mission
zurückgezogen, dann hätten die Menschen nicht mehr der Wohltat teilhaftig
werden können, daß ihnen diese Fähigkeiten zufließen aus den Höhen. Nachdem
aber die Entwickelung so weit fortgeschritten war, daß diese Fähigkeiten in
einem einzelnen menschlichen Exemplar auf der Erde vorhanden sein konnten, da
war auch die Keimanlage dazu geschaffen, daß die Menschen sie in der Zukunft
bei sich selbst ausbilden konnten. So zieht sich die Individualität, die sich
vorher als Bodhisattva entwickelt hat und die, solange sie Bodhisattva war,
nicht ganz in die menschliche Gestalt hineingegangen ist, sondern hineinragte
in die Himmelshöhen, so zieht sich die Individualität des Bodhisattva einmal
völlig in einen Menschen hinein, so daß sie voll erfaßt wird von dieser
Inkarnation. Dann aber zieht sie sich auch wieder zurück. Denn jetzt ist – mit
dieser Inkarnation als Buddha – der Menschheit ein gewisses Quantum von
Offenbarungen gegeben, die sich innerhalb der Menschheit selber nun weiter
ausbilden sollen. Daher darf sich das Bodhisattva-Wesen, nachdem es Buddha
geworden ist, von der Erde zurückziehen in gewisse geistige Höhen, darf dort
verweilen und die Angelegenheiten der Menschheit von dort aus weiterlenken,
wo es nur noch einem gewissen hellseherischen Vermögen möglich ist, es zu
sehen.
Welche Aufgabe hatte denn jene wunderbare, jene gewaltige,
große Individualität, die man im gewöhnlichen Leben den Buddha nennt? Wenn
wir die Aufgabe, die Mission dieses Buddha wirklich einsehen wollen im Sinne
der wahren Esoterik, so müssen wir uns folgendes sagen. Das ganze
Erkenntnisvermögen der Menschheit hat sich nach und nach entwickelt. Wir
haben immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wie in der atlantischen Zeit
ein großer Teil der Menschheit hellseherisch hineinblicken konnte in die
geistigen Welten, und wir haben gesagt, daß gewisse Reste des alten Hellsehens
noch in der nachatlantischen Zeit vorhanden waren. Würden wir von der
atlantischen Zeit hinabsteigen in die altindische, in die urpersische, in die
ägyptisch-chaldäische Zeit, ja bis in die griechisch-lateinische Zeit noch
hinein, so würden wir zahlreiche Menschen finden, viel mehr als die heutige
Menschheit sich träumen läßt, die Erbstücke dieses alten Hellsehens hatten,
denen der astralische Plan offen war, die hineinsahen in die verborgenen
Tiefen des Daseins. Den ätherischen Leib des Menschen zu sehen, war selbst
noch in der griechisch-lateinischen Zeit für einen großen Teil der Menschen
etwas ganz Gewöhnliches, namentlich aber den Kopfteil des Menschen umgeben
von jener ätherischen Wolke, die sich freilich nach und nach ganz in dem
Innern des Kopfteiles verborgen hat.
Aber die Menschheit mußte zu jener Erkenntnis aufsteigen,
welche nach und nach die vollkommene Sinneserkenntnis wurde, zu jener
Erkenntnis, die durch die äußeren Sinne und durch diejenigen geistigen
Fähigkeiten erworben wird, welche auf die äußeren Sinne gerichtet sind. Der
Mensch mußte allmählich sozusagen völlig heraussteigen aus der geistigen Welt
und eintreten in die bloße Sinnesbetrachtung, in das vernünftige, logische
Denken. Allmählich mußte sich der Mensch zu dieser nichthellseherischen
Erkenntnis aufschwingen, weil er durch sie hindurchgehen mußte, um in der
Zukunft wiederum die hellsichtige Erkenntnis zu erlangen, aber dann vereinigt
mit dem, was er sich als Sinnes- und Verstandeserkenntnis erworben hat.
In dieser Zeit leben wir in der Gegenwart. Wir blicken auf
eine Vergangenheit hin, in welcher die Menschheit hellsichtig war, und wir
blicken in eine Zukunft hinein, wo die Menschen wiederum hellsichtig sein
werden. In unserer Zwischenzeit aber sind die Menschen in der Mehrzahl auf
das angewiesen, was sie mit den Sinnen wahrnehmen und mit dem Verstande und
der Vernunft begreifen. Zwar gibt es auch eine gewisse Höhe der
Sinnesanschauung und der Verstandes- und Vernunfterkenntnis. Überall aber
gibt es Grade in der Erkenntnis. Der eine wandelt in der betreffenden
Inkarnation seines Erdendaseins so, daß er nur weniges einsieht von dem, was
Moral ist, daß er nur wenig Mitleid entfaltet zu den Mitmenschen: wir nennen
ihn einen Menschen auf einer niederen moralischen Stufe. Oder ein anderer
wandelt so durch das Leben, daß seine intellektuellen Kräfte wenig
ausgebildet sind: wir nennen ihn einen Menschen auf einer niederen
intellektuellen Stufe. Wir wissen aber, daß diese intellektuellen
Erkenntniskräfte hinaufgehen können bis zu einer hohen Stufe. Von dem
Menschen, der wenig moralisch und intellektuell ist, bis zu dem Menschen, den
wir im Sinne Fichtes ein "moralisches Genie" nennen und der sich
bis zur höchsten moralischen Phantasie entwickelt, haben wir alle möglichen
Zwischenstufen; und wir wissen, daß wir uns zu dieser Höhe der menschlichen
Vollkommenheit für die Gegenwart hinaufentwickeln können, ohne hellseherische
Kräfte zu haben, nur durch die Veredelung derjenigen Kräfte, welche dem
gewöhnlichen Menschen zur Verfügung stehen. Diese Stufen mußten von der
Menschheit erst erreicht werden im Laufe der Erdenentwickelung. Was heute der
Mensch schon bis zu einem gewissen Grade durch die eigene Intelligenz
erkennt, und auch, was er durch die eigene moralische Kraft erreicht, nämlich
daß man mit den Leiden und Schmerzen des anderen Menschen Mitleid haben soll,
das hätte der Mensch der Urzeit nicht durch sich selbst erringen können. Man
kann heute sagen, daß sich der gesunde moralische Sinn des Menschen schon zu
dieser Einsicht auch ohne Hellsichtigkeit erhebt, und die Menschen werden
sich immer mehr zu der Einsicht erheben können, daß Mitleid die höchste
Tugend ist und daß die Menschheit ohne Liebe nicht weiter vorwärtskommen
könnte. Man kann sagen: Dies kann heute der menschliche moralische Sinn
erkennen, und er wird sich noch immer mehr und mehr steigern. Aber man muß
zurückblicken in Zeiten, in welchen der moralische Sinn so war, daß er das
nicht hat selbst einsehen können.
Es gab Zeiten, in welchen die Menschen nimmermehr hätten
selbst einsehen können, daß Mitleid und Liebe zu der höchsten Entwickelung
der menschlichen Seele gehören könnten. Daher mußten sich verkörpern in
Menschengestalten solche geistige Wesenheiten, zu denen auch zum Beispiel die
Bodhisattvas gehören, die aus höheren Welten herunter die Offenbarungen
empfingen von der wirkenden Kraft des Mitleides, von der wirkenden Kraft der
Liebe, und welche den Menschen zu sagen vermochten, wie sie sich zu verhalten
hatten in Mitleid und Liebe, weil die Menschen noch nicht reif waren, um aus
ihren eigenen Kräften heraus das einzusehen. Was die Menschen heute aus
eigener Kraft heraus als die hohe Tugend des Mitleides und der Liebe
erkennen, wozu der moralische Sinn sich erhebt, das mußte durch Epochen und
Epochen aus Himmelshöhen gelehrt werden. Und der Lehrer der Liebe und des
Mitleides in jenen Zeiten, als die Menschen selber noch nicht die Einsicht in
die Natur des Mitleides und der Liebe hatten, war derjenige Bodhisattva, der
sich dann in dem Gautama Buddha zum letzten Male verkörperte.
So war der Buddha vorher der Bodhisattva, welcher der Lehrer
von Liebe und Mitleid und von alledem war, was damit zusammenhängt. Er war es
durch jene charakterisierten Epochen hindurch, in denen die Menschen von
Natur aus noch in einer gewissen Weise hellsichtig waren. Er verkörperte sich
als Bodhisattva in solchen hellsichtigen Menschenleibern. Und als er sich
dann als der Buddha verkörperte und in diese früheren Verkörperungen
hellsichtig hineinblickte – von Inkarnation zu Inkarnation –, da konnte er
sagen, wie sich das Innere der Seele fühlte, wenn sie hineinschaute in die
Tiefen des Daseins, die hinter dem Sinnenschein verborgen sind. Diese
Fähigkeit hatte er in den früheren Verkörperungen, und mit dieser Fähigkeit
wurde er geboren innerhalb des Geschlechtes der Sakya, aus dem der Vater des
Gautama, Suddhodana, stammte. Damals, als Gautama Buddha geboren wurde, war
er noch der Bodhisattva. Das heißt, er erschien als das Wesen, zu dem er sich
in seinen vorhergehenden Inkarnationen hinaufentwickelt hatte. Derjenige
also, den man gewöhnlich den Buddha nennt, wurde geboren durch seinen Vater
Suddhodana und seine Mutter Mayadevi als der Bodhisattva. Aber da er eben als
Bodhisattva geboren wurde, hatte er als Kind in hohem Grade die Fähigkeit der
Hellsichtigkeit. Hineinzuschauen vermochte er in die Tiefen des Daseins.
Seien wir uns klar, daß das Hineinschauen in die Tiefen des
Daseins im Verlaufe der Menschheitsentwickelung allmählich ganz besondere
Formen angenommen hat. Die Mission der Menschheitsentwickelung auf der Erde
war es, allmählich die Gabe des alten dumpfen Hellsehens zurücktreten zu
lassen; und was als Erbstück des alten Hellsehens zurückgeblieben war, das
waren daher nicht die besten Teile dieses alten Hellsehens. Diese besten
Teile sind zuerst verlorengegangen. Was zurückgeblieben war, das war vielfach
ein niederes Hineinschauen in die astrale Welt, das war gerade ein Erblicken
jener dämonischen Gewalten, die den Menschen in seinen Trieben und
Leidenschaften hinunterziehen in eine niedere Sphäre. Wir können ja durch die
Einweihung hineinblicken in die geistige Welt und die Kräfte und Wesenheiten
sehen, die mit den schönsten Gedanken und Empfindungen der Menschheit
zusammenhängen; aber wir sehen auch diejenigen geistigen Mächte, welche
hinter der wüsten Leidenschaft, hinter der wilden Sinnlichkeit und dem
verzehrenden Egoismus stehen. Was im weiten Umkreise für die Menschen
erhalten geblieben war – nicht bei den Eingeweihten, sondern bei der großen
Mehrzahl der Menschen –, das war gerade das Schauen dieser wilden dämonischen
Gewalten, die hinter den niederen menschlichen Leidenschaften stehen. Wer
überhaupt hineinsieht in die geistige Welt, der kann das alles natürlich
selbst auch schauen. Das hängt von der Entwickelung der menschlichen
Fähigkeiten ab. Der Mensch kann nicht das eine ohne das andere erreichen.
Der Buddha mußte sich als Bodhisattva natürlich in einem
menschlichen Leibe verkörpern, der so organisiert war, wie menschliche Leiber
damals organisiert waren, in einem Leibe, der ihm die Fähigkeit gab, tief
hineinzuschauen in die astralen Untergründe des Daseins. Als Kind schon war
er fähig, alles das an astralen Gewalten zu schauen, was der wilden,
stürmischen Leidenschaft, was der verzehrenden, gierigen Sinnlichkeit
zugrunde liegt. Man hatte ihn davor bewahrt, die Außenwelt in ihrer
physischen Verderbtheit und in ihren Qualen und Schmerzen zu schauen. Im
Palaste abgeschlossen, vor allem behütet, wurde er verzogen und verzärtelt,
weil man aus den herrschenden Vorurteilen heraus ihm das seinem Stande gemäß
schuldig zu sein glaubte. Aber durch dieses Abgeschlossensein kam um so mehr
die innere Schaukraft bei ihm zum Vorschein. Und während er sorgfältig
behütet wurde und alles von ihm ferngehalten wurde, was an Krankheit und
Schmerzen erinnert, hatte er in seiner Abgeschlossenheit sein geistiges Auge
offen für die astralischen Bilder. Ihn umgaukelten da die astralischen Bilder
alles dessen, was den Menschen an wilden Leidenschaften niederziehen kann.
Wer mit dem geistigen Auge, wer mit wirklicher Esoterik die,
wenn auch exoterisch, aufbewahrt gebliebene Biographie des Buddha zu lesen
vermag, der wird das selbst ahnen, wenn ihm mitgeteilt wird, was jetzt gesagt
worden ist. Denn das muß betont werden: Man kann vieles aus den exoterischen
Berichten nicht verstehen, wenn man nicht in die esoterischen Untergründe
eindringen kann. Und was man am wenigsten aus den exoterischen Berichten
verstehen kann, das ist das Buddha-Leben. Es muß einem eigentlich sonderbar
erscheinen, wenn die Orientalisten und andere, die sich mit dem Buddha-Leben
befassen, darin beschrieben finden, daß der Buddha in seinem Palaste umgeben
war mit "vierzigtausend Tänzerinnen und vierundachtzigtausend
Frauen". Das verzeichnen heute schon die Bücher, die man für ein paar
Pfennige kaufen kann; aber man merkt, daß die Schreiber nicht sonderlich
erstaunt sind über einen Harem von vierzigtausend Tänzerinnen und
vierundachtzigtausend Frauen. Was heißt das? Die Leute wissen nicht, daß
damit auf etwas hingewiesen wird, was der Buddha in vollem Maße, wie es nur
auf ein menschliches Herz ausgeschüttet werden kann, durch das astralische
Schauen erlebte: wie er von Kindheit an zwar nicht erlebte, was draußen an
Leiden und Schmerzen in der physischen Menschenwelt vorging, denn davor war
er zunächst behütet, wie er aber das alles als geistige Wirksamkeiten in der
geistigen Welt schaute. Er schaute es, weil er hineingeboren war in einen
Leib, wie er aus der damaligen Zeit geboren werden konnte, und er war von
Anfang an gefeit und gekräftigt und erhoben über alles, was da an den
furchtbarsten Gaukelbildern ihn umgab, weil er in seinen früheren
Inkarnationen sich bis zur Höhe des Bodhisattva erhoben hatte. Weil er aber
als die Individualität des Bodhisattva in dieser menschlichen Inkarnation
lebte, drängte es ihn hinaus, um dasjenige zu sehen, worauf ihn jedes
einzelne Bild dieser astralischen Welt, wie sie ihn im Palaste umgab,
hinwies. Jedes einzelne Bild drängte ihn gleichsam hinaus, die Welt zu sehen,
sozusagen sein Gefängnis zu verlassen. Das war die treibende Kraft in seiner
Seele. Denn in ihm lebte als Bodhisattva eine hohe Geisteskraft. Gerade
diejenige Geisteskraft lebte in ihm, welche mit der Mission zusammenhängt,
der Menschheit zu lehren die ganze Kraft von Mitleid und Liebe und alledem,
was damit zusammenhängt. Dazu mußte er selbst diese Menschheit in der Welt
kennenlernen, er mußte sie in der Welt sehen, in welcher sie eben aus dem
moralischen Sinn heraus die Lehre von Mitleid und von der Liebe erleben kann.
Er mußte die Menschheit in der physischen Welt kennenlernen. Er mußte
hinaufsteigen vom Bodhisattva zum Buddha, ein Mensch unter Menschen. Das
konnte er nur, wenn er sich von alledem abwendete, was ihm an Fähigkeiten aus
den früheren Inkarnationen geblieben war, wenn er hinausging auf den physischen
Plan, um dort mit den Menschen so zu leben, daß er innerhalb dieser
Menschheit ein Musterbeispiel, ein Ideal, ein Vorbild eben darstellte für die
Entwickelung dieser charakterisierten besonderen Eigenschaften.
Um in diesem Sinne von einem Bodhisattva zu einem Buddha zu
werden, sind natürlich mancherlei Entwickelungs-Zwischenstufen nötig. Das
macht sich nicht von heute auf morgen. Heraus drängte es ihn aus dem
Königspalast. Und der Bericht sagt uns, daß er draußen, als er einmal
gleichsam "ausbrach" aus seinem Palastgefängnis, einen alten Mann
fand, einen Greis. Er war bisher nur umgeben worden von den Bildern der
Jugend, er hatte glauben sollen, daß es nur die strotzende Kraft der Jugend
gibt. Nun hatte er das, was sich auf dem physischen Plan als Alter darstellt,
in dem Greise kennengelernt. Und weiter lernte er jetzt einen kranken
Menschen kennen, und dann lernte er einen Leichnam kennen, das heißt also den
Tod auf dem physischen Plan. Das alles trat jetzt, wo er den physischen Plan
wirklich ins Auge fassen konnte, vor seiner Seele auf.
Sehr bezeichnend für das, was der Buddha eigentlich ist,
wird jetzt in dieser Legende, die hier wiederum wahrer ist als irgendeine
äußere Wissenschaft, gesagt: Als er hinausfuhr aus dem königlichen Palast, da
wurde er von einem Pferde gefahren, das sich so darüber grämte, daß er jetzt
alles verlassen wollte, in das er hineingeboren war, daß es aus Gram darüber
starb und daß es dann versetzt wurde als eine geistige Wesenheit in die
geistige Welt hinauf. – In diesem Bilde drückt sich eine tiefe Wahrheit aus.
Es würde heute zu weit führen, wenn ich ausführlich auseinandersetzen wollte,
warum gerade das Pferd verwendet wird für eine menschliche Geisteskraft. Ich
erinnere nur an Plato, der von einem Pferde spricht, das er an einem
Zügel hält, als er ein Bild gebrauchen will für gewisse menschliche
Fähigkeiten, die noch von oben gegeben sind, die nicht aus dem eigenen Innern
des Menschen entwickelt worden sind. Als der Buddha aus dem Königspalast
heraustritt, da läßt er die Fähigkeiten, die sich nicht aus dem Innern der
Seele selber entwickelt haben, hinter sich. Sie läßt er in den geistigen
Welten, aus denen heraus sie ihn immer geleitet haben. Das wird in dem Pferd
angedeutet, das aus Gram stirbt, als er es verläßt, und das dann in die
geistige Welt versetzt wird.
Aber nach und nach nur kann der Buddha das werden, was er in
seiner letzten Inkarnation auf der Erde werden sollte. Er muß ja erst auf dem
physischen Plan kennenlernen, was er als Bodhisattva nur aus der geistigen
Anschauung kennengelernt hat. Da lernt er zuerst zwei Lehrer kennen. Der eine
ist ein Vertreter jener altindischen Weltanschauung, die man als die
Sankhya-Philosophie bezeichnet, und der andere ist ein Vertreter der
Yoga-Philosophie. Diese beiden lernt der Buddha kennen und vertieft sich in
das, was sie ihm darzubieten vermögen. Er lebt darinnen. Denn wenn man selbst
ein noch so hohes Wesen ist, so muß man sich doch in das äußere, was die
Menschheit sich erobert hat, erst hineinfinden. Wenn es ein Bodhisattva auch
schneller lernen kann, er muß es doch erst lernen. Der Bodhisattva, der etwa
fünf oder sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung gelebt hat, müßte doch,
wenn er heute geboren würde – so, wie die Kinder in der Schule lernen –, erst
das nachholen, was sich mittlerweile auf der Erde zugetragen hat, während er
in Himmelshöhen gelebt hat. So mußte der Buddha auch dasjenige, was sich seit
seiner letzten Inkarnation zugetragen hatte, kennenlernen.
Und er lernte die Sankhya-Philosophie von dem einen der Lehrer,
die Yoga-Philosophie von dem anderen der Lehrer kennen. Da konnte er zuerst
einen Blick gewinnen in die Weltanschauungen, die für viele damals die
Lebensrätsel lösten, und konnte lernen, wie es einer Seele war, wenn sie
diese Weltanschauungen auf sich wirken ließ.
In der Sankhya-Philosophie hatte er eine fein-logische
philosophische Anschauung über die Welt aufnehmen können. Aber je mehr er
sich in sie hineinlebte, desto weniger genügte sie ihm. Sie war zuletzt wie
ein Gespinst, entbehrte des lebendigen Lebens. Er spürte, daß er die Quellen
für das, was er in dieser Inkarnation zu tun hatte, anderswo her nehmen mußte
als aus dieser traditionellen Sankhya-Philosophie.
Das andere war die Yoga-Philosophie des Patanjali, die durch
gewisse innere Seelenvorgänge die Verbindung mit dem Göttlichen suchte. So
vertiefte er sich auch in die Yoga-Philosophie, nahm sie auf, machte sie zu
einem Teil seines Wesens. Aber auch sie ließ ihn unbefriedigt, denn er sah
ein, sie ist etwas, was sich von alten Zeiten her fortgepflanzt hat; aber die
Menschen mußten zu anderen Fähigkeiten kommen, sie mußten in sich zu einer
moralischen Entwickelung kommen. Nachdem Buddha die Yoga-Philosophie in der
eigenen Seele geprüft hatte, sah er, daß sie nicht die Quelle für seine
Mission damals sein konnte.
Darauf kam er in die Umgebung von fünf Einsiedlern. Sie
hatten auf dem Wege strengster Selbstzucht unter Kasteiungen und Entbehrungen
zu den Geheimnissen des Daseins vorzudringen gesucht. Auch diesen Weg
versuchte der Buddha, aber auch von ihm sagte er sich, daß er ihm die Quelle
für seine Mission in dieser Zeit nicht sein konnte. Er machte eine Zeitlang
alle die Entbehrungen und Kasteiungen durch, wie es die Mönche taten. Er
hungerte wie sie, um die Gier vom menschlichen Leben zu entfernen und dadurch
tiefere Kräfte heraufzurufen, die gerade dann heraufdringen, wenn der Leib
durch Fasten geschwächt ist, und die dann aus den Tiefen des menschlichen
Leiblichen rasch hineinführen können in die geistige Welt. Aber gerade weil
der Buddha seine Entwickelungsstufe erlangt hatte, sah er das Vergebliche
dieses Kasteiens, des Fastens und des Hungerns ein. Er hatte ja, weil er der
Bodhisattva war, durch seine Entwickelung in den früheren Inkarnationen
diesen menschlichen Leib der damaligen Zeit bis zu der höchsten Höhe der
Entwickelung bringen können, bis zu der ein Mensch damals kommen konnte.
Daher konnte auch der Buddha das erleben, was ein Mensch erleben muß, wenn er
gerade diesen Weg in die geistigen Höhen durchmacht.
Wer bis zu einem gewissen Grade der Sankhya- oder der
Yoga-Philosophie hinaufdringt, ohne das entwickelt zu haben, was der Buddha
vorher durchgemacht hatte, wer hinaufdringen will in die reinen Höhen des
göttlichen Geistes durch das logische Denken, ohne zuerst den moralischen
Sinn im Sinne des Buddha erlangt zu haben, der steht dann vor jener
Versuchung, die der Buddha in einer probeweisen Versuchung durchgemacht hat
und die uns als die Versuchung durch den Dämon Mara angedeutet wird. Da kommt
der Mensch dahin, wo alle Teufel des Hochmutes, der Eitelkeit, des Ehrgeizes
ihn durchsetzen. Das lernte der Buddha kennen. Die Gestalt des Mara, der
Eitelkeit und des Ehrgeizes, stand vor ihm. Aber weil er auf dieser hohen
Stufe eines Bodhisattva war, so erkannte er ihn und war gefeit gegen ihn. Und
er wußte sich zu sagen: Wenn sich die Menschen auf dem alten Wege
weiterentwickeln, ohne den neuen Einschlag in der Lehre der Liebe und des
Mitleides, ohne diesen selbsttätigen moralischen Sinn zu erhalten, dann
müssen sie, da sie nicht alle Bodhisattvas sind, diesem Dämon Mara verfallen,
der alle Kräfte des Hochmutes und der Eitelkeit in die Seelen senkt. Das ist
das, was der Buddha in sich selber erlebte, als er bis in die letzten
Konsequenzen die Sankhya- und die Yoga-Philosophie durchmachte.
Dann aber, als er bei den Mönchen war, hatte er ein anderes
Erlebnis. Da erlebte er, daß der Dämon eine andere Gestalt annahm, die
dadurch charakterisiert ist, daß er dem Menschen allen äußeren physischen
Besitz, sozusagen die "Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten"
zeigt, um den Menschen abzulenken von dem, was die geistige Welt ist. Gerade
daß man auf dem Wege der Kasteiung dieser Versuchung verfällt, das erlebte
der Buddha, als ihm der Dämon Mara entgegentrat und ihm sagte: "Lasse
dich nicht verführen, alles zu verlassen, was du als Königssohn gehabt hast,
gehe zurück in den Königspalast!" Ein anderer wäre dem unterlegen, was
sich ihm da zeigte, aber der Buddha war so weit, daß er den Versucher
durchschauen konnte. Erleben konnte er, was über die Menschheit kommen würde,
wenn sie so weiterleben würde wie bisher und nur auf dem Wege des Fastens und
Hungerns den Weg zum Geistigen hinauf durchmachen wollte. Er selbst war
dagegen gefeit und konnte daher auch jetzt die große Gefahr vor die Menschen
hinstellen, die kommen würde, wenn die Menschen ohne die große Grundlage des
selbsttätigen moralischen Sinnes nur durch Fasten und äußere Mittel in die
geistige Welt eindringen wollten.
So war der Buddha als Bodhisattva noch vorgedrungen bis zu
jenen zwei Grenzpunkten der menschlichen Entwickelung, die der Mensch eben,
weil er nicht ein Bodhisattva ist, am besten ganz vermeiden soll. Übersetzen
wir uns das in eine gewöhnliche Menschensprache, so können wir sagen: Das
höchste Wissen ist herrlich, das höchste Wissen ist schön, aber nähere dich
diesem Wissen mit reinem Herzen, mit edlem Sinn, mit einem geläuterten Gemüt,
sonst wird der Teufel des Hochmutes, der Eitelkeit und des Ehrgeizes über
dich kommen. – Und die andere Lehre ist: Suche nicht auf irgendeinem äußeren
Wege, durch Kasteiungen oder Fasten in die geistige Welt hineinzukommen,
bevor du deinen sittlichen Sinn in der entsprechenden Weise gereinigt hast,
sonst wird der Versucher von der ändern Seite an dich herantreten. – Das sind
die beiden Lehren, die uns von dem Buddha in unsere Zeit hereinleuchten. So
sagt uns der Buddha, als er noch Bodhisattva war, dasjenige, was im eminenten
Sinne zu seiner Mission gehört. Denn diesen moralischen Sinn der Menschheit
zu bringen, als die Menschen noch nicht fähig waren, ihn aus ihrem Herzen
heraus zu entwickeln, das war immer seine Mission. Daher verließ er, als er
die Gefahr des Asketentums für die Menschheit kennengelernt hatte, die fünf
Einsiedler und ging dahin, wo er in einem für unsere heutige Zeit gemäßen
inneren Versenken in diejenigen Fähigkeiten der menschlichen Natur, die
ausgebildet werden können ohne die alte Hellsichtigkeit, ohne das, was als
ein Erbstück von früher überkommen ist, das Höchste leisten konnte, was die
Menschheit gerade durch diese Fähigkeiten jemals wird leisten können.
Unter dem Bodhibaume, im neunundzwanzigsten Jahre seines
Lebens, nachdem der Buddha den Weg einseitiger Askese verlassen hatte, gingen
ihm dann in siebentägiger Betrachtung die großen Wahrheiten auf, die dem
Menschen aufgehen, wenn er in stiller, innerer Versenkung dasjenige zu finden
sucht, was ihm die jetzigen menschlichen Fähigkeiten geben können. Da gingen
ihm auf die großen Lehren, die er gelehrt hat in den sogenannten vier
Wahrheiten, und jene große Lehre des Mitleides und der Liebe, die er gelehrt
hat in dem achtgliedrigen Pfade. Diese Lehren des Buddha werden uns noch zu
beschäftigen haben. Wir wollen uns heute damit begnügen, daß diese Lehren
eine Umschreibung des moralischen Sinnes der reinsten Lehre vom Mitleid und
von der Liebe sind. Damals sind sie aufgetreten, als unter dem Bodhibaume der
Bodhisattva Indiens vom Bodhisattva zum Buddha wurde. Damals sind die Lehren
vom Mitleid und der Liebe zum ersten Male in der Menschheit als eigene
menschliche Fähigkeit aufgegangen, und seit jener Zeit sind die Menschen
imstande, aus sich selbst heraus die Lehre vom Mitleid und der Liebe zu
entwickeln. Das ist das Wesentliche. Deshalb sagte der Buddha zu seinen
intimen Schülern noch kurze Zeit vor seinem Tode: Trauert nicht darum, daß
der Meister euch verläßt. Ich lasse euch etwas zurück. Ich lasse euch zurück
das Gesetz der Weisheit und das Gesetz der Disziplin; die sollen euch künftig
den Meister ersetzen. – Das heißt nichts anderes als: Bisher hat euch der
Bodhisattva gelehrt, was darinnen ausgedrückt ist; jetzt darf er, nachdem er
seine Inkarnation auf der Erde erreicht hat, sich zurückziehen. Denn die
Menschheit wird das, was ihr früher von einem Bodhisattva gelehrt worden ist,
in das eigene Herz gesenkt haben und wird es aus dem eigenen Herzen heraus
entwickeln können als die Religion vom Mitleid und der Liebe. – Das hat sich
zugetragen, als in siebentägiger innerer Betrachtung der Bodhisattva zu dem
Buddha wurde im alten Indien. Das war es auch, was er in den verschiedensten
Formen seinen Zöglingen, die um ihn herum waren, lehren konnte. In welche
Formen er das gegossen hat, das wird uns noch beschäftigen.
Wir mußten heute zurückschauen auf das, was sechs
Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung sich zugetragen hat, weil wir, wenn wir
nicht an der Hand der Akasha-Chronik die Entwickelung von den Ereignissen in
Palästina bis zu der Predigt von Benares zurückverfolgen würden, den Weg des
Christentums nicht verstehen würden, vor allem nicht denjenigen verstehen
würden, der diesen Weg so eminent geschildert hat: den Schreiber des
Lukas-Evangeliums. Seitdem der Bodhisattva zum Buddha geworden ist, brauchte
er nicht mehr auf die Erde zurückzukehren; seitdem war er eine geistige
Wesenheit, die in den geistigen Welten schwebt und von dort aus in alles einzugreifen
hatte, was auf der Erde geschah. Und als das wichtigste Ereignis auf der Erde
vorbereitet wurde und die Hirten auf dem Felde waren, da erschien ihnen eine
Individualität aus den geistigen Höhen und verkündete ihnen das, was eben im
Lukas-Evangelium geschildert wird: Und hinzu traten zu dem Engel
"himmlische Heerscharen". Wer war das?
Was hier den Hirten im Bilde entgegentrat, das war der
verklärte Buddha, der Bodhisattva der alten Zeiten, dasjenige Wesen in seiner
geistigen Gestalt, das durch Jahrtausende und Jahrtausende den Menschen die
Botschaft der Liebe und des Mitleides gebracht hatte. Jetzt, nachdem es seine
letzte Inkarnation auf der Erde hinter sich hatte, schwebte es in geistigen
Höhen und erschien in Himmelshöhen den Hirten neben dem Engel, der ihnen das
Ereignis von Palästina vorherverkündete.
So lehrt uns die geistige Forschung. Sie zeigt uns schwebend
über den Hirten den verklärten Bodhisattva aus den alten Zeiten. Ja, es war
so gekommen – das lehrt uns die Akasha-Forschung –, daß in Palästina in der
"Stadt Davids" von einem Elternpaare, das aus der priesterlichen
Linie des Hauses David stammte, ein Kind geboren wurde. Dieses Kind – ich
erwähne das ausdrücklich –, das da von einem Elternpaar geboren wurde, das,
wenigstens dem Vater nach, aus der priesterlichen Linie des Hauses David
stammte, dieses Kind war dazu ausersehen, daß es überleuchtet und
durchkraftet wurde von seiner Geburt an von dem, was von dem Buddha
ausstrahlen konnte, nachdem er in Geisteshöhen erhoben worden war. So blicken
wir mit den Hirten hin auf die Krippe, wo der Jesus von Nazareth, wie man ihn
gewöhnlich nennt, geboren worden ist; wir blicken hin und sehen über dem
Kindlein den Glorienschein von Anfang an und wissen, daß in diesem Bilde sich
ausdrückt die Kraft des Bodhisattva, der der Buddha geworden ist, die Kraft,
welche vordem den Menschen zugeströmt ist und welche jetzt von den geistigen
Höhen aus auf die Menschheit wirkte und die größte Tat entfaltete, als sie
das bethlehemitische Kindlein überstrahlte, damit es sich in der
entsprechenden Weise einreihen konnte in die Menschheitsentwickelung.
Damals, als diese Individualität, die jetzt aus geistigen
Höhen ihre Kraft herunterstrahlte auf dieses Kind des davidischen
Elternpaares, im alten Indien geboren wurde, das heißt, als der Buddha als
Bodhisattva geboren wurde, erschaute ein Weiser die ganze Gewalt dessen, was
wir heute geschildert haben. Und was er zuerst in den geistigen Welten
erschaut hatte, das veranlaßte den Weisen – Asita hieß er –, in den Palast des
Königs hineinzugehen und das Bodhisattva-Kindlein aufzusuchen. Als er das
Kindlein sah, sagte er seine gewaltige Mission als Buddha voraus. Asita sagte
damals zur Bestürzung des Vaters voraus, daß das Kindlein nicht regieren
werde über das Reich seines Vaters, sondern daß es ein Buddha werden würde.
Dann aber fing er an zu weinen; und als er gefragt wurde, ob denn dem
Kindlein ein Unglück bevorstünde, antwortete Asita: "Nein! Ich weine,
weil ich so alt bin, daß ich den Tag nicht mehr erleben kann, da dieser
Heiland, der Bodhisattva, als Buddha auf der Erde wandeln wird!" Asita
hat das Buddha-Werden des Bodhisattva damals nicht mehr erlebt, sein Weinen
war also von seinem damaligen Standpunkte aus nur zu berechtigt. – Jener
Asita, der damals den Bodhisattva nur als Kindlein im Palaste des Suddhodana
gesehen hatte, er wurde wiedergeboren als jene Persönlichkeit, die uns im
Lukas-Evangelium bei der "Darstellung im Tempel" als der Simeon
geschildert wird (Lukas 2,25–35). Simeon, so heißt es im Lukas-Evangelium, war
"vom Geiste beseelt", als ihm das Kindlein gebracht wurde. Das war
derselbe, der als Asita einst geweint hatte, weil er in seiner damaligen
Inkarnation nicht mehr das Buddha-Werden des Bodhisattva erleben konnte.
Jetzt war es ihm beschieden, die weitere Entwickelungsstufe dieser
Individualität zu erleben. Und nachdem er dazumal "mit dem Geiste
begabt" war, konnte er bei der Darstellung des Kindleins im Tempel den
Glorienschein des verklärten Bodhisattva sehen über dem Jesuskindlein aus dem
davidischen Geschlecht. Da sagte er sich: Jetzt brauchst du nicht mehr zu
weinen; was du damals nicht gesehen hast, jetzt siehst du es, jetzt siehst du
deinen Heiland verklärt über diesem Kindlein: "Herr, laß deinen Diener
in Frieden sterben."
Dritter Vortrag
17. September 1909
Das Hineinfließen
der buddhistischen Weltanschauung in das Lukas-Evangelium. Die Lehre des
Buddha. Der achtgliedrige Pfad.
Wer das Lukas-Evangelium auf sich wirken läßt, der wird
alles, was in demselben liegt, allerdings zunächst nur fühlen, nur empfinden
können. Er wird aber dann eine Ahnung bekommen, daß wirklich große, gewaltige
geistige Welten aus diesem Lukas-Evangelium ihm entgegenströmen. Und nach
dem, was wir gestern gehört haben, wird es uns erklärlich erscheinen, daß
dieses so ist. Denn wir haben gesehen, daß uns die geistige Forschung zeigt,
wie die buddhistische Weltanschauung mit allem, was sie der Menschheit zu
geben hatte, eingeflossen ist in das Lukas-Evangelium. Man kann wohl sagen:
Es ist Buddhismus, der aus dem Lukas-Evangelium auf den Menschen
herausströmt. Aber dieser Buddhismus strömt doch in einer ganz eigenartigen
Form aus dieser Urkunde heraus. Er strömt so heraus, daß er, wie wir auch
schon angedeutet haben, in der Form, wie er darinnen ist, für das
einfältigste, naivste Gemüt verständlich ist.
Wie wir schon aus den gestrigen Auseinandersetzungen
entnehmen konnten und wie es uns heute noch besonders klar werden wird, ist
der Buddhismus als solcher, wie er als Lehre des großen Buddha in die Welt
getreten ist, eine Weltanschauung, die nur derjenige verstehen kann, der sich
bis zu gewissen hohen Ideen, bis zu den reinen Ätherhöhen des Geistes
hinaufschwingt. Und um den Buddhismus selbst zu verstehen, dazu gehört viel
Vorbereitung. Im Lukas-Evangelium ist die eigentliche geistige Substanz so
enthalten, daß sie in einer gewissen Weise auf jedes Gemüt wirken kann, das
überhaupt verstehen gelernt hat, die notwendigsten menschlichen Vorstellungen
und Begriffe in sein Herz einfließen zu lassen. Warum dies so ist, das wird
uns erklärlich werden, wenn wir das Geheimnis des Lukas-Evangeliums ergründen
werden. Aber nicht nur, daß uns die geistigen Errungenschaften des Buddhismus
aus dem Lukas-Evangelium entgegenströmen, sondern sie strömen uns in einer
noch erhöhteren Form entgegen, wie hinaufgehoben auf eine noch höhere Stufe,
als sie damals hatten, da sie fast sechshundert Jahre vor unserer
Zeitrechnung im fernen Indien der Menschheit geschenkt worden sind. Nur an
ein paar Beispielen soll uns einmal vor die Seele treten, worin diese Erhöhung
des Buddhismus besteht.
Wir haben gestern den Buddhismus die reinste Lehre des
Mitleides und der Liebe genannt. Und in der Tat, von dem Punkte der Welt aus,
wo Buddha gewirkt hat, strömt ein Evangelium der Liebe und des Mitleides auf
alle Wesen der Erde aus. Das Evangelium der Liebe, das Evangelium des
Mitleides, es erscheint uns in dem echten, wahren Buddhisten lebend, wenn
sein warmes Herz mitempfindet mit allem Leid, das ihm in der Außenwelt bei
allem, was lebt, entgegentritt. Da tritt uns zunächst die buddhistische
Liebe, das buddhistische Mitleid im vollsten Sinne des Wortes entgegen. Aber
wir sehen, daß uns aus dem Lukas-Evangelium etwas entgegenströmt, was noch
mehr ist als dies umfassende Mitleid, als diese umfassende Liebe. Wir könnten
das, was uns da entgegenströmt, etwa bezeichnen als die Umsetzung des
Mitleides und der Liebe in die der Seele notwendige Tat. Mitleid im
eminentesten Sinne des Wortes will der Buddhist; zugreifende Liebe entfalten
will der, welcher im Sinne des Lukas-Evangeliums lebt. Mit dem Kranken den
Schmerz mitempfinden kann der Buddhist; die Aufforderung, tätig zuzugreifen
und zur Heilung zu bewirken, was er vermag, findet der Mensch aus dem
Lukas-Evangelium heraus. Alles zu verstehen, was die Menschenseele belebt,
das findet der Mensch aus dem Buddhismus heraus; nicht zu richten, mehr zu
tun als uns selbst getan wird, das geht als eine merkwürdige Forderung aus
dem Lukas-Evangelium hervor. Mehr zu geben, als man empfängt! Die Liebe,
umgewandelt in Tat, das ist etwas, was uns wie eine Erhöhung noch erscheinen
muß, trotzdem wir im Lukas-Evangelium den reinsten, den echtesten Buddhismus
haben.
Um diese Seite des Christentums, des durch das Christentum
noch höher heraufgehobenen Buddhismus, zu schildern, dazu bedurfte es des
Herzens eben gerade des Schreibers des Lukas-Evangeliums. Den Christus Jesus
als den Leibes- und Seelenarzt zu begreifen, war dem Schreiber des
Lukas-Evangeliums am ehesten möglich. Dazu fand er die tief zum Herzen
sprechenden Töne, weil er selbst als Arzt gewirkt hat und vom Standpunkt des
Leibes- und Seelenarztes aufgezeichnet und betont hat, was er über den
Christus Jesus zu sagen hatte. Das wird uns immer mehr und mehr
entgegentreten, wenn wir in die Tiefen des Lukas-Evangeliums untertauchen.
Aber noch etwas anderes fällt uns auf, wenn wir insbesondere
den Blick darauf richten, wie dieses Lukas-Evangelium nach der bereits
gegebenen Anschauung selbst auf das kindlichste Gemüt wirkt. Das fällt uns
auf, daß die hohe buddhistische Lehre, die nur gereifte Intelligenz,
gereiftes menschliches Seelenvermögen zu begreifen vermag, uns im
Lukas-Evangelium wie verjüngt erscheint, wie aus einem Jungborn neu geboren.
Wie eine Frucht am Menschheitsbaume erscheint uns der Buddhismus. Wenn wir
ihn wiederschauen im Lukas-Evangelium, so erscheint er uns als die
jugendliche Blüte, als eine Verjüngung dessen, was vorher da war. Daher
müssen wir also fragen: Wie ist diese Verjüngung des Buddhismus zustande
gekommen? Das aber werden wir erst einsehen, wenn wir einen genauen Blick auf
die Lehren des großen Buddha selber richten und zunächst einmal mit unserer
anthroposophischen Vorbereitung vor unser geistiges Auge führen, was des
Buddha Seele bewegt hat.
Halten wir zunächst daran fest, daß der Buddha aus dem
Bodhisattva geworden ist, das heißt aus einer hohen Wesenheit, die
hineinschauen konnte in die Geheimnisse des Daseins. Dadurch, daß der Buddha
ein Bodhisattva war, war er ein Teilnehmer alles dessen, was in der
Menschheitsentwickelung vorging durch die alten Zeiten hindurch. Als die
Menschheit in der nachatlantischen Zeit auftauchte, um die erste
nachatlantische Kulturentwickelung zu begründen und sie später fortzusetzen,
da war der Buddha als Bodhisattva schon dabei und vermittelte für die
Menschen aus den geistigen Welten herunter das, was gestern angedeutet worden
ist. Auch in den atlantischen Zeiten war er schon dabei, sogar in den
lemurischen Zeiten schon. Und weil er auf eine so hohe Stufe der Entwickelung
gekommen war, konnte er sich auch während seines Bodhisattva-Daseins in den
neunundzwanzig Jahren seit seiner letzten Geburt, bevor er der Buddha wurde,
nach und nach an alles erinnern, an alle die Gemeinschaften, die er früher
durchgemacht hatte, bevor er sich in Indien zum letzten Male verkörpert
hatte. Er konnte zurückschauen auf sein Mitwirken in der Menschheit, auf sein
Dasein in den göttlich-geistigen Welten, um aus deren Mitte herunterzutragen,
was er den Menschen zu bringen hatte. Schon gestern wurde angedeutet, daß
auch eine so hohe Individualität, wenn auch kurz, noch einmal das
durchzumachen hat, was sie schon einmal gelernt hat. So schildert uns auch
der Buddha, wie er während seiner Bodhisattva-Zeit allmählich hinaufdrang,
bis sich seine geistige Anschauung, seine geistige Erleuchtung immer
vollkommener und vollkommener gestaltete.
Es wird uns gesagt, wie er seinen Bekennern das schilderte.
So sagte er ihnen, um den Weg zu schildern, welchen seine Seele durchgemacht
hatte, um sich nach und nach wieder an das zu erinnern, was sie durch die
Vorzeiten hindurch erlebt hatte: Es gab eine Zeit für mich, ihr Mönche, da
erschien es mir aus der geistigen Welt wie ein allumfassender Lichtglanz;
aber ich konnte darin noch nichts unterscheiden, keine Gestalten, keine
Bilder; meine Erleuchtung war noch nicht rein genug. Dann fing ich an, nicht
nur das Licht, sondern innerhalb des Lichtes einzelne Bilder und einzelne
Gestalten zu schauen, aber ich konnte noch nicht unterscheiden, was diese
Gestalten und Bilder bedeuteten; meine Erleuchtung war noch nicht rein genug.
Dann fing ich an zu erkennen, daß sich in diesen Bildern und Gestalten
geistige Wesenheiten ausdrückten, aber ich konnte noch nicht unterscheiden,
welchen Reichen der geistigen Welt diese Wesenheiten angehörten; meine
Erleuchtung war noch nicht rein genug. Dann lernte ich erkennen, welchen
verschiedenen Reichen der geistigen Welt diese einzelnen geistigen
Wesenheiten angehörten, aber ich konnte noch nicht unterscheiden, durch
welche Taten sie sich ihren Platz in den geistigen Reichen erobert hatten und
welches ihre Gemütszustände waren; denn meine Erleuchtung war nicht rein
genug. Dann kam für mich die Zeit, da konnte ich unterscheiden, welche Taten
diese geistigen Wesenheiten in diese Reiche versetzt hatten und welches ihre
Gemütszustände waren; aber ich konnte noch nicht unterscheiden, mit welchen
geistigen Wesenheiten ich selbst in früheren Zeiten zusammengelebt hatte und
wie ich selber mit ihnen zu tun hatte, denn meine Erleuchtung war noch nicht
rein genug. Dann kam die Zeit, wo ich wissen konnte, ich war mit diesen und jenen
Wesenheiten in dieser und jener Epoche zusammen und hatte dieses oder jenes
mit ihnen zu tun; ich wußte, wie meine Vorleben waren: jetzt war meine
Erleuchtung rein.
Damit hatte der Buddha seinen Bekennern angedeutet, wie er
sich allmählich hinaufgearbeitet hatte zu einem Erkennen, das er zwar früher
schon hatte, das man sich aber in jeder Inkarnation nach den Bedingungen der
Zeitepoche neu erwerben muß, das er sich aber nunmehr wieder so hatte
erwerben müssen, wie es seinem völligen Herabsteigen in einen physischen
Menschenleib entsprach. Wenn wir dies nachempfinden, bekommen wir eine Ahnung
davon, welche Bedeutung und welche Größe jene bedeutsame Individualität
hatte, die sich in dem Königssohne aus dem Sakya-Geschlecht damals verkörpert
hatte. Was der Buddha auf diese Weise wiedererkennen konnte, und wohinein er
schauen konnte, von dem wußte er aber auch: Das ist eine Welt, welche die
Menschen mit ihrem gewöhnlichen Anschauen der unmittelbaren Gegenwart und
nächsten Zukunft wieder verlassen mußten. Nur Eingeweihte, zu denen ja der
Buddha selber gehörte, können hineinschauen in die geistige Welt; aber für
die normale Menschheit war dazu die Möglichkeit verlorengegangen. Die
Erbstücke alter hellseherischer Anschauung waren immer geringer geworden. Da
Buddha nicht bloß von dem zu sprechen hatte, was der Eingeweihte zu sagen
hat, sondern da er vor allem die Mission hatte, den Menschen zu erzählen von
den Kräften, die aus der eigenen menschlichen Seele herausfließen sollen, so
konnte er nicht nur hinweisen auf die Ergebnisse seiner Erleuchtung, sondern
er sagte sich: Ich muß sprechen von dem, wozu die Menschen kommen können,
zwar durch eine höhere, aber doch durch eine Entwickelung ihrer eigenen
inneren Wesenheit, durch Entwickelung dessen, was in dieser Zeitepoche ist.
Nach und nach werden die Menschen im Laufe der Erdenentwickelung aus ihrer
Seele, aus ihrem Herzen heraus den Inhalt der Lehre des Buddha erkennen als
etwas, was ihnen ihre eigene Vernunft, ihr eigenes Gemüt sagt. Aber es wird
noch viel, viel Zeit hinfließen müssen, bevor alle Menschen reif werden, um
sozusagen aus der eigenen Seele das hervorzuholen, was der Buddha zuerst wie
eine rein menschliche Erkenntnis ausgesprochen hat. Denn es ist etwas
anderes, in späteren Zeiten gewisse Fähigkeiten zu entwickeln, und etwas
anderes, sie zuerst hervorzuholen aus den tiefen Schächten des menschlichen
Gemüts.
Nehmen Sie dazu ein anderes Beispiel. Heute eignet sich die
Regeln des logischen Denkens der jugendliche Mensch an. Logisch zu denken
gehört heute zu den allgemeinen menschlichen Fähigkeiten, die der Mensch aus
seinem Inneren heraus entwickelt. Damit aber diese Fähigkeit zuerst aus einer
menschlichen Brust kam, dazu gehörte der große Geist des griechischen Denkers
Aristoteles. Es ist etwas anderes, zuerst etwas herauszuholen aus den
Schächten des menschlichen Gemütes, und es herauszuholen, nachdem es sich
eine Zeitlang in der Menschheit entwickelt hatte.
Nun gehört das, was der Buddha den Menschen zu sagen hatte,
zu den größten Lehren auf lange Epochen hin. Daher gehört auch das große
Gemüt eines Bodhisattva, eines so hoch Erleuchteten dazu, um es zuerst in
einem Menschen gegenwärtig werden zu lassen. Nur wer im höchsten Sinne
erleuchtet war, konnte zuerst in seiner Seele erstehen lassen, was nach und nach
Allgemeingut der Menschheit werden sollte: die hohe Lehre des Mitleides und
der Liebe und alles dessen, was damit zusammenhängt. Was der Buddha zu sagen
hatte, das mußte er in Worte kleiden, die der damaligen Menschheit,
namentlich seinen Heimat-genossen, geläufig waren. Wir haben schon darauf
hingedeutet, wie im alten Indien zur Zeit des Buddha die Sankhya- und die
Yoga-Philosophie gelehrt wurden. Sie hatten die geläufigen Ausdrücke und
Begriffe geliefert; sie waren gang und gäbe. Solche gangbaren Ausdrücke mußte
derjenige benutzen, der etwas Neues zu geben hatte; in solche gangbare
Begriffe mußte der Buddha kleiden, was in seiner Seele lebte. Allerdings
bekamen dann solche Vorstellungen und Begriffe durch ihn eine ganz neue
Gestalt, aber er mußte sich ihrer bedienen, denn alle Entwickelung muß so
verlaufen, daß das Zukünftige sich auf das Vergangene gründet. So kleidete
der Buddha seine hehre Weisheit in die gangbaren Ausdrücke der damals
gebräuchlichen indischen Lehre.
Aber wir müssen uns doch eine Anschauung von dem
verschaffen, was Buddha damals als seine Lehre, welche die innerste Lehre der
Menschheit werden sollte, unter dem Bodhibaume in der Zeit der siebentägigen
Erleuchtung erlebte. Versuchen wir einmal, wenn auch nur mit annähernden
Gedanken, vor unsere Seele hinzustellen, was als der Gedankenausdruck der
tiefsten Seelenerlebnisse durch das Gemüt des Buddha ging, als er unter dem
Bodhibaume erleuchtet war. Da konnte er sich etwa das Folgende sagen: Es gab
alte Zeiten in der Menschheitsentwickelung, in welchen viele Menschen dumpf,
dämmerhaft hellsichtig waren, und es gab noch ältere Zeiten, in denen alle
Menschen hellsichtig waren. Was heißt es denn, dumpf, dämmerhaft hellsichtig
sein? Was heißt es überhaupt, hellsichtig sein? Hellsichtig sein heißt, sich
der Organe seines ätherischen Leibes bedienen können. Wenn man sich nur der
Organe seines astralischen Leibes bedienen kann, so kann man zwar innerlich
fühlen und empfinden, innerlich erleben die tiefsten Geheimnisse, aber man
kann sie nicht schauen. Erst wenn das, was im astralischen Leibe erlebt wird,
sich sozusagen seinen Abdruck verschafft im Ätherleibe, kann Hellsichtigkeit
eintreten. Auch das alte dumpfe Hellsehen der Menschheit war dadurch zustande
gekommen, daß der noch nicht vollständig in den physischen Leib
hineingedrungene Ätherleib Organe hatte, derer sich die alte Menschheit noch
bedienen konnte. Was also hat die Menschheit im Laufe der Zeit verloren? Sie
hat verloren die Fähigkeit, sich der Organe des Ätherleibes bedienen zu
können. Sie mußte sich nach und nach damit begnügen, sich nur der äußeren
Organe des physischen Leibes zu bedienen und das, was der physische Leib
vermittelt, dann im astralischen Leibe als Gedanken, Empfindungen, als
Gefühle, als Vorstellungen zu erleben. Das alles ging damals als Ausdruck
dessen, was er erlebte, durch des Buddha große Seele. Er sagte sich: Also
haben die Menschen die Fähigkeit verloren, sich der Organe ihres Ätherleibes
zu bedienen. Sie erleben in ihren astralischen Leibern das, was sie von der Außenwelt
erfahren durch die Werkzeuge ihres physischen Leibes.
Nun konnte sich der Buddha eine bedeutsame Frage stellen:
Wenn das Auge die rote Farbe empfindet, wenn das Ohr irgendeinen Ton hört,
wenn der Geschmackssinn irgendeine Geschmacksempfindung hat, dann treten
unter normalen Verhältnissen diese Empfindungen an den Menschen heran und
werden seine Vorstellungen, werden innerlich im Astralleibe erlebt. Sie
könnten, wenn sie nur so erlebt würden, dasjenige, was man Schmerz und Leid
nennt, nicht als eine Beigabe im normalen Zustande haben. Wenn der Mensch
sich einfach den Eindrücken der Außenwelt überließe, wie diese auf seine
Sinne wirkt, wie sie ihm erscheint in ihren Farben und Lichtern, in ihren
Tönen und so weiter, so würde er durch die Welt wandeln, ohne daß er von
diesen Eindrücken Schmerz und Leid empfinden könnte. Nur unter gewissen
Bedingungen kann der Mensch Schmerz und Leid empfinden.
Nach diesen Bedingungen, unter welchen der Mensch Schmerz
und Leid, Sorgen und Kümmernisse erlebt, forschte daher der große Buddha.
Wann werden die Eindrücke der Außenwelt zu schmerzvollen? Und warum werden
sie es unter gewissen Verhältnissen?
Da sagte er sich: Wenn wir in die alten Zeiten
zurückblicken, so finden wir, wie auf den Menschen, als er in früheren
Inkarnationen auf der Erde hinwandelte, von zwei Seiten her Wesenheiten in
das Innere der menschlichen Natur, in den astralischen Leib, hereinwirkten.
Da haben im Laufe der Inkarnationen durch die lemurische und atlantische Zeit
hindurch in die menschliche Natur diejenigen Wesenheiten hereingewirkt, die
wir die luziferischen Wesenheiten nennen, so daß der Mensch im Laufe der
Zeiten in seinen astralischen Leib aufgenommen hat die Eindrücke und
Einflüsse der luziferischen Wesenheiten. Von der atlantischen Zeit an wirkten
dann noch diejenigen Wesenheiten auf den Menschen ein, welche unter der
Führung des Ahriman standen. So hat der Mensch in seinen früheren
Inkarnationen die Einflüsse der beiden Mächte auf sich erfahren, die wir als
die luziferischen und die ahrimanischen Wesenheiten bezeichnen. Hätten diese
Wesenheiten nicht auf den Menschen gewirkt, so hätte sich der Mensch nicht
die Freiheit, nicht die Gabe der Unterscheidung zwischen Gut und Böse und
nicht die freie Willensbestimmung erwerben können. Von einem höheren
Gesichtspunkte aus angesehen, ist es auch gut, daß diese Einflüsse so auf den
Menschen gewirkt haben; aber in gewisser Beziehung haben sie auch den
Menschen aus den göttlich-geistigen Höhen wieder weiter in das sinnliche
Dasein heruntergeführt, als er sonst heruntergestiegen wäre. Dadurch hat der
Mensch – so konnte sich der große Buddha sagen – gewisse Einflüsse in sich,
die heute in ihm sind und die Erbstücke der Einwirkung Luzifers auf der einen
Seite und Ahrimans auf der anderen Seite sind. Die sind ihm aus den früheren
Inkarnationen geblieben, die trägt er in sich.
Als der Mensch noch vermöge seiner alten dumpfen
Hellsichtigkeit in die geistige Welt hineinblicken konnte, da sah er die
Einflüsse Luzifers und Ahrimans und konnte genau unterscheiden: hierher kommt
ein Einfluß Luzifers, hierher kommt ein Einfluß Ahrimans. Und indem er
hineinblickte in die astralische Welt und die luziferischen und ahrimanischen
schädlichen Einflüsse wahrnahm, konnte er sich darüber Rechenschaft geben und
sich vor ihnen schützen. Er wußte auch, wie er mit diesen Wesenheiten in
Berührung gekommen ist. Es gab eine Zeit – so sagte sich Buddha –, in welcher
die Menschen gewußt haben, woher diese Einflüsse kommen, die sie seit alten
Zeiten von Inkarnation zu Inkarnation in sich tragen. Aber mit dem alten
Hellsehen ist das Wissen von diesen Mächten verlorengegangen, und da die
Menschen die Hellsichtigkeit verloren hatten, so ist auch das Nichtwissen von
dem eingetreten, was auf ihre Seele von Inkarnation zu Inkarnation eingewirkt
hat. An die Stelle des früheren hellseherischen Wissens ist das Nichtwissen
getreten. Dunkelheit breitet sich über den Menschen aus. Er kann nicht
erkennen, woher diese Einflüsse von Luzifer und Ahriman kommen, aber er trägt
sie in sich. Er trägt etwas in sich, worüber er nichts weiß. Es wäre
natürlich einfältig, die Realität und Wirksamkeit dessen abzuleugnen, was da
ist, auch wenn man nichts davon weiß. Im Menschen wirken die Einflüsse, die
sich in ihn hineinbegeben haben von Inkarnation zu Inkarnation. Sie sind da
und wirken das ganze Leben hindurch; nur weiß der Mensch nichts davon. – So
sagte sich der große Buddha.
Wie wirken diese Einflüsse in dem Menschen? Wenn der Mensch
sie auch nicht erkennen kann, er fühlt sie, er spürt sie; es ist eine Kraft
in ihm, die der Ausdruck dessen ist, was also von Inkarnation zu Inkarnation
sich fortgelebt hat und hinaufgestiegen ist bis zum gegenwärtigen Dasein. Was
die Kräfte darstellen, deren eigene Natur der Mensch nicht erkennen kann, das
ist die Begierde nach äußerem Leben, die Begierde, in der Welt wahrzunehmen,
der Durst nach Leben, das Verlangen nach Leben. So wirken die alten
luziferischen und die ahrimanischen Einflüsse im Menschen als der Durst nach
Dasein, als die Begierde nach Dasein. Und dieser Durst nach Dasein geht von
Inkarnation zu Inkarnation weiter. – Das ist es, was der große Buddha sagte;
nur stellte er für seine intimeren Schüler genauer dar, worum es sich
handelte.
Wie er darstellte, was er so empfand, das kann man nur
verstehen, wenn man eine gewisse Vorbereitung durch die Theosophie schon
durchgemacht hat. Wir wissen ja: Wenn der Mensch stirbt, in dem Moment, da
der Tod eintritt, verlassen sein Ich und sein astralischer Leib den Ätherleib
und den physischen Leib. Dann hat der Mensch eine Zeit hindurch jenes große
Erinnerungstableau an das letzte Leben, das ihm wie in einem gewaltigen Bilde
entgegentritt. Dann wissen wir, daß das Hauptglied des Ätherleibes wie ein
zweiter Leichnam abgeworfen wird und daß etwas zurückbleibt wie ein Extrakt,
wie eine Essenz des Ätherleibes. Diesen Extrakt nimmt der Mensch mit durch
die Kamaloka- und Devachanzeit und bringt ihn wieder zurück in das nächste
Dasein. Während aber der Mensch in Kamaloka ist, schreibt sich in diesen
Lebensextrakt alles ein, was der Mensch an Taten erlebt hat, alles, was in
bezug auf das menschliche Karma wirkt, wofür er einen Ausgleich zu schaffen
hat. Das alles verbindet sich in einer gewissen Weise mit diesem Extrakt aus
dem Ätherleibe, der sich von einer Inkarnation zu der anderen hinzieht.
Alles, was der Mensch aus einer Inkarnation in die andere trägt, ist in
diesem Extrakt des Ätherleibes darinnen, und das bringt sich der Mensch
wieder mit, wenn er wieder durch die Geburt ins Dasein tritt. – Die
orientalische Literatur ist gewohnt geworden, das, was wir Ätherleib nennen,
als Linga sharira zu bezeichnen. So ist es also ein Extrakt aus Linga
sharira, was der Mensch von Inkarnation zu Inkarnation mitnimmt.
Nun konnte Buddha sagen: Seht einmal hin auf den Menschen,
der geboren ist. Er bringt sich mit in seinem Linga sharira das, was sich aus
den früheren Inkarnationen abgeladen hat; da ist es eingeschrieben. In diesem
Linga sharira sitzt alles das, wovon der Mensch in dem gegenwärtigen
Menschheitszyklus nichts weiß, worüber sich die Dunkelheit des Nichtwissens
breitet, was sich aber geltend macht, indem der Mensch ins Dasein
hereintritt, als der Durst nach Dasein, als die Begierde zum Leben. In dem,
was man Begierde zum Leben nennt, sah der Buddha alles das, was aus früheren
Inkarnationen stammt und was den Menschen treibt zu der Sucht, die Welt zu
genießen, nicht nur als ein Wanderer durch die Farben- und Tonwelt und durch
die Welt der anderen Eindrücke hinzuwandern, sondern diese Welt zu begehren.
Das ist es, was aus den früheren Inkarnationen her als eine
Tendenz, als eine Kraft in dem Menschen ist. Diese Kraft bezeichnen die
Schüler des Buddha als Samskara. So also sagte der Buddha zu seinen intimen
Schülern: Was für den gegenwärtigen Menschen charakteristisch ist, das ist
das Nichtwissen über etwas Wichtiges, was in ihm selber vorhanden ist. Dieses
Nichtwissen verwandelt das, was dem Menschen sonst entgegentreten würde als
von den luziferischen und ahrimanischen Wesenheiten herrührend und zu dem er
sich sonst in ein Verhältnis setzen könnte, in den Durst nach Dasein, in alle
die in ihm schlummernden Kräfte, die dunkel im Menschen wühlen aus früheren
Inkarnationen herüber. Das bezeichnete man unter dem Einfluß des großen
Buddha als das Samskara. Und es bildet sich aus diesem Samskara heraus, was
nun im Menschen sein gegenwärtiges Denken ist und was bewirkt, daß der Mensch
in dem gegenwärtigen Menschheitszyklus nicht ohne weiteres objektiv denken
kann.
Merken Sie wohl, was für einen feinen Unterschied der Buddha
seinen Schülern klarmachte: den Unterschied zwischen dem objektiven Denken,
das nur die Sache im Auge hat, und demjenigen Denken, welches unter dem
Einfluß der Kräfte steht, die aus dem Linga sharira stammen. Denken Sie
darüber nach, wieviel Sie sich über die Dinge als Ihre Meinungen aneignen;
fragen Sie sich aber, wieviel Sie sich von diesen Meinungen deshalb aneignen,
weil sie Ihnen gefallen, und wieviel deshalb, weil Sie die Dinge objektiv
betrachten! Alles, was man als Wahrheit sich aneignet, nicht weil man
objektiv über eine Sache denkt, sondern weil man die alten Neigungen aus
früheren Inkarnationen mitgebracht hat, das alles bildet für Buddha ein
"inneres Denkorgan". Dieses Denkorgan ist die Gesamtheit dessen,
was der Mensch denkt, weil er in früheren Inkarnationen diese oder jene Erlebnisse
hatte, welche als Rückstände in seinem Linga sharira geblieben sind. Also
eine Art von innerem Denkorgan, das durch die Gesamtheit des Samskara
gebildet wird, sah der Buddha im Innern des Menschen. Und nun sagte er: Erst
diese Denksubstanz bildet aus dem gegenwärtigen Menschen das, was man seine
gegenwärtige Individualität nennt, – im Buddhismus "Name und Form"
oder Namarupa. Es ist dasselbe, was von einer ändern philosophischen Richtung
Ahamkara genannt wird.
So etwa sagte der Buddha zu seinen Schülern: Als die
Menschen in uralten Zeiten noch Hellsichtigkeit hatten und hineinschauten in
die Welt, die hinter dem physischen Dasein liegt, da sahen sie in einer
gewissen Weise alle dasselbe, denn die objektive Welt ist für alle gleich.
Als aber das Nichtwissen sich über die Welt als Dunkelheit breitete, da
brachte sich ein jeder individuelle Anlagen mit, die ihn von dem anderen
unterschieden. Das machte ihn zu einem Wesen, das man am besten bezeichnet
als ein Wesen mit dieser oder jener "Form" der Seele; jeder hatte
einen bestimmten "Namen", der ihn von dem anderen unterschied, ein
Ahamkara.
Dasjenige nun, was also erzeugt ist im Innern des Menschen
unter der Wirkung dessen, was er sich aus den früheren Inkarnationen
mitgebracht hat, was "Name und Form", was die Individualität
gebildet hat, das bildet in ihm nun von innen heraus Manas und die fünf
Sinnesorgane, die sogenannten sechs Organe. – Wohlgemerkt, der Buddha sagte
nicht: Das Auge ist bloß von dem Innern heraus gebildet –, sondern er sagte:
Dem Auge ist etwas eingegliedert, was im Linga sharira war und mitgebracht
ist aus den früheren Daseinsstufen. Daher sieht das Auge nicht rein; es würde
anders in die Welt des äußeren Daseins sehen, wenn es nicht innerlich
durchdrungen wäre von dem, was aus den früheren Daseinsstufen geblieben ist.
Daher hört das Ohr nicht rein, sondern getrübt, abgetönt durch das, was aus
früheren Daseinsstufen geblieben ist. Und das bewirkt, daß sich hineinmischt
in alles das Verlangen, dieses oder jenes zu sehen, dieses oder jenes zu
hören, in dieser oder jener Weise zu schmecken oder wahrzunehmen. So
schleicht sich in alles, was dem Menschen in dem gegenwärtigen Zyklus
entgegentritt, dasjenige hinein, was von früheren Inkarnationen geblieben ist
als das "Verlangen".
Würde sich dieses Verlangen aus den früheren Inkarnationen
nicht hineinschleichen – so etwa sagte der Buddha –, so würde der Mensch
hinausschauen in die Welt gleichsam wie ein göttliches Wesen, würde die Welt
auf sich wirken lassen und nie mehr verlangen, nie mehr begehren als das, was
ihm wird. Er würde mit seinem Wissen nicht mehr hinausgehen über das, was ihm
beschert ist durch die göttlichen Mächte; er würde keinen Unterschied machen
zwischen sich und der äußeren Welt und würde sich wie ein Glied der äußeren
Welt empfinden. Denn nur dadurch empfindet sich der Mensch als etwas, was von
der übrigen Welt getrennt ist, weil er mehr haben will, anderes haben will,
als ihm die übrige Welt an Genüssen freiwillig bietet. Dadurch tritt das
Bewußtsein ihm in die Seele, daß er etwas anderes ist als die Welt. Würde er
zufrieden sein mit dem, was in der Welt ist, so würde er sich nicht von ihr
unterscheiden. Er würde sein eigenes Dasein sich fortsetzen fühlen in der
äußeren Welt. Er würde nie kennen, was man Berührung mit der äußeren Welt
nennt; er wäre nicht von ihr getrennt, könnte sich also auch nicht mit ihr
berühren. Dadurch, daß diese "sechs Organe" gebildet wurden,
entstand allmählich die "Berührung mit der Außenwelt" und durch die
Berührung erst dasjenige, was man in unserem Leben die Empfindung nennt, und
durch die Empfindung das "Haften an der Außenwelt". Dadurch aber,
daß der Mensch an der Außenwelt zu haften sucht, entsteht Schmerz, Leid,
Sorge, Kümmernis.
Das war es, was der Buddha seinen Schülern von dem inneren
Menschen sagte, von einem inneren Menschen, der die Ursache davon ist, daß
Schmerz und Leid, Kümmernis und Sorge in der Welt der Menschen ist. Es war
eine feinsinnige, eine hohe Theorie, aber eine Theorie, die unmittelbar aus
dem Leben hervorquoll, denn ein "Erleuchteter" hatte sie empfunden
als eine tiefste Wahrheit über die gegenwärtige Menschheit. Dem, der durch
Jahrtausende und aber Jahrtausende als Bodhisattva die Menschheit nach der
Lehre des Mitleides und der Liebe geführt hatte, ihm war jetzt, als er zum Buddha
geworden war, die eigentliche Natur des Leides in der gegenwärtigen
Menschheit aus den Ursachen heraus aufgegangen. Daher konnte er sehen, warum
die Menschen leiden, und so setzte er es seinen intimen Schülern auseinander.
Und als er so weit war, den Kern des Menschenseins für den
gegenwärtigen Menschheitszyklus zu erleben, faßte er das alles zusammen in
jener berühmten Predigt, durch welche er seine Wirksamkeit als Buddha
eingeleitet hat, in der Predigt von Benares. Da lehrte er in einer populären
Weise, was er seinen Schülern vorher in intimerer Weise mitgeteilt hatte: Wer
die Ursachen dieses Menschendaseins erkennt, der weiß, daß das Leben, so wie
es ist, Leiden enthalten muß, Schmerzen enthalten muß. Die erste Lehre, die
ich euch zu geben habe, ist die Lehre von dem Leiden in der Welt. Die zweite
Lehre ist die von den Ursachen des Leidens. Worinnen liegen diese Ursachen
des Leidens? Sie liegen darinnen, daß sich in den Menschen hineinschleicht
das Verlangen, der Durst nach Dasein aus dem, was ihm aus den früheren
Inkarnationen geblieben ist. Durst nach Dasein ist die Ursache des Leidens.
Die dritte Lehre ist diese: Wie wird das Leiden aus der Welt geschafft?
Natürlich wird es dadurch aus der Welt geschafft, daß die Ursache aus der
Welt geschafft wird, daß der Durst nach Dasein zum Verlöschen gebracht wird,
wie er aus dem Nichtwissen hervorgeht. Denn die Menschen sind aus dem
früheren hellsichtigen Wissen zu einem Nichtwissen übergegangen, und dieses
Nichtwissen verdeckt ihnen die geistige Welt. Das Nichtwissen ist schuld an
dem Durst nach Dasein. Und der Durst nach Dasein ist wiederum die Ursache von
Leiden und Schmerzen, von Sorgen und Kümmernissen. Der Durst nach Dasein muß
aus der Welt verschwinden, wenn Schmerz und Leid, Kümmernis und Sorge aus der
Welt verschwinden sollen. Das alte Wissen ist aus der Welt geschwunden, die
Menschen können sich nicht mehr der Organe ihres Ätherleibes bedienen. Aber
ein neues Wissen ist dem Menschen möglich, dasjenige Wissen, welches sich der
Mensch aneignet, wenn er sich ganz und gar in das versenkt, was ihm sein
astralischer Leib geben kann durch seine tiefsten Kräfte, mit Hilfe dessen,
was die äußeren Sinnesorgane in der äußeren physischen Welt zu beobachten
gestatten. Was aber durch diese Beobachtung im Astralleib in seinen tiefsten
Kräften angeregt wird, sich also durch Inanspruchnahme des physischen Leibes,
nicht aber aus dieser Inanspruchnahme entwickelt, das allein kann dem
Menschen zunächst helfen und ihm ein Wissen geben; denn dieses Wissen ist ihm
zunächst beschert. – So etwa sagte der Buddha in seiner großen
Weltantrittsrede.
Also, wollte er sagen, ich muß der Menschheit dasjenige
Wissen vermitteln, das erreichbar ist durch die höchste Entfaltung der Kräfte
des astralischen Leibes. Daher mußte der Buddha lehren, was der Mensch
erlangen kann durch die gewaltige Vertiefung und Versenkung in die Kräfte des
astralischen Leibes. Dadurch erlangt er ein Wissen, das ihm jetzt geziemt,
das ihm jetzt ermöglicht ist, aber zugleich ein Wissen, das nichts zu tun hat
mit den Einflüssen aus früheren Inkarnationen.
Ein solches Wissen wollte der Buddha den Menschen geben,
welches nichts zu tun hat mit dem, was dunkel und dem Nichtwissen
preisgegeben in der Menschenseele als Samskara schlummert, ein Wissen, das
man sich aneignen kann, wenn man alle Kräfte, die im astralischen Leibe sind,
in einer Inkarnation wachruft.
Das ist die Ursache des Leidens in der Welt – sagte Buddha
–, daß aus den früheren Inkarnationen etwas zurückgeblieben ist, über das der
Mensch nichts weiß. Was er aus den früheren Inkarnationen hat, das ist die
Ursache, weshalb sich bei ihm Nichtwissen über die Welt ausbreitet; das ist
die Ursache beim Menschen für Leid und Schmerz, für Kümmernis und Sorge. Aber
wenn er sich bewußt wird, was in seinem astralischen Leibe für Kräfte liegen,
in die er hineindringen kann, dann kann er sich, wenn er will, ein Wissen
aneignen, das unabhängig geblieben ist von allem Früheren, ein eigenes
Wissen.
Dieses Wissen wollte der große Buddha den Menschen
übermitteln. Und er übermittelte es ihnen in dem sogenannten achtgliedrigen
Pfad. Darin will er diejenigen Kräfte angeben, welche der Mensch ausbilden
soll, damit er im gegenwärtigen Menschheitszyklus zu einem solchen Wissen
kommt, das unbeeinflußt ist von den immer wiederkehrenden Wiedergeburten. So
hat der Buddha selbst durch die Kraft, die er erlangt hat, seine Seele
erhoben zu dem, was man durch die intensivsten Kräfte des astralischen Leibes
erlangen kann; und er wollte in dem achtgliedrigen Pfad der Menschheit den
Weg vorzeichnen, wie sie zu einem von dem Samskara unbeeinflußten Wissen
kommen kann. Er definierte es so:
Der Mensch kommt zu einem solchen Wissen über die Welt, wenn
er sich eine richtige Meinung über die Dinge aneignet, eine Meinung, die
nichts zu tun hat mit Sympathie oder Antipathie oder damit, daß er für sie
eingenommen ist, sondern indem er versucht – rein nach dem, was sich ihm
außen darbietet –, nach Kräften über ein jedes Ding die richtige Meinung zu
gewinnen. Das ist das erste, die "richtige Meinung" über eine
Sache.
Als zweites ist notwendig, daß man unabhängig werde von dem,
was aus den früheren Inkarnationen zurückgeblieben ist, daß wir uns
bestreben, nach unserer richtigen Meinung auch zu urteilen, nicht nach
irgendwelchen anderen Einflüssen, sondern nur nach dem, was unsere richtige
Meinung von einer Sache ist. Also das "richtige Urteilen" ist das
zweite, um was es sich handelt.
Das dritte ist, daß wir uns bestreben, wenn wir uns der Welt
mitteilen, das auch richtig auszudrücken, was wir mitteilen wollen, was wir
richtig meinen und richtig geurteilt haben, daß wir in unsere Worte nichts
anderes hineinlegen, als was unsere Meinung ist, und zwar nicht nur in unsere
Worte, sondern in alle Äußerungen der menschlichen Wesenheit. Das ist das
"richtige Wort" im Sinne Buddhas.
Als viertes ist notwendig, daß wir uns bestreben, nicht nach
unseren Sympathien und Antipathien, nicht nach dem, was dunkel in uns wühlt
als Samskara, unsere Taten auszuführen, sondern daß wir dasjenige zur Tat
werden lassen, was wir als unsere richtige Meinung, als unser richtiges
Urteilen und als richtiges Wort erfaßt haben. Das ist also die richtige Tat,
die "richtige Handlungsweise".
Das fünfte, was der Mensch braucht, um sich frei zu machen
von dem, was in ihm lebt, das ist, den richtigen Stand, die richtige Lage in
der Welt zu gewinnen. Was Buddha damit meinte, können wir uns am besten
klarmachen, wenn wir uns sagen: Es gibt so viele Menschen, die mit ihrer
Aufgabe in der Welt unzufrieden sind, die meinen, sie könnten besser an
diesem oder jenem Platze stehen. Aber der Mensch sollte die Möglichkeit
gewinnen, aus der Lage, in die er hineingeboren ist oder in die ihn das
Schicksal hineingebracht hat, das Beste herauszuholen, was er herausholen
kann, also den besten Standort gewinnen. Wer nicht Befriedigung fühlt in
seiner Lage, in der er ist, der wird auch nicht aus dieser Lage die Kraft
herausziehen können, die ihn zum richtigen Wirken in der Welt bringt. Das
nennt Buddha den "richtigen Standort" gewinnen.
Das sechste ist, daß wir immer mehr und mehr dafür sorgen,
daß dasjenige, was wir uns so aneignen durch richtige Meinung, richtiges
Urteilen und so weiter, in uns zur Gewohnheit werde. Werden wir in die Welt
hineingeboren, so haben wir gewisse Gewohnheiten. Das Kind zeigt diese oder
jene Neigung oder Gewohnheit. Der Mensch aber sollte sich bestreben, nicht
die Gewohnheiten zu behalten, die aus Samskara ihm kommen, sondern sich jene
Gewohnheiten anzueignen, die aus der richtigen Meinung, dem richtigen Urteil,
dem richtigen Wort und so weiter ihm nach und nach ganz zu eigen werden. Das
sind die "richtigen Gewohnheiten", die wir uns aneignen sollen.
Das siebente ist, daß wir dadurch Ordnung in unser Leben
bringen, daß wir nicht immer das Gestern vergessen, wenn wir heute handeln
sollen. Wenn wir jedesmal alle unsere Geschicklichkeiten neu lernen müßten,
dann würden wir nie etwas zustande bringen. Der Mensch muß versuchen, über
alle Dinge seines Daseins ein Gedenken, ein Gedächtnis zu entwickeln. Er muß
immer das verwerten, was er schon gelernt hat, muß die Gegenwart an die
Vergangenheit anknüpfen. Also das "richtige Gedächtnis" – so ist es
im buddhistischen Sinne gesprochen – hat sich der Mensch auf dem
achtgliedrigen Pfade anzueignen. Und das achte ist das, was der Mensch
dadurch gewinnt, daß er ohne Vorliebe für diese oder jene Meinung, ohne daß
er mitsprechen läßt, was ihm von früheren Inkarnationen geblieben ist, sich
rein den Dingen hingibt, sich in sie versenkt und nur die Dinge zu sich
sprechen läßt. Das ist die "richtige Beschaulichkeit".
Das ist der achtgliedrige Pfad, von dem Buddha seinen
Bekennern sagte, daß seine Beachtung dahin führt, allmählich jenen
leidbringenden Durst nach Dasein verlöschen zu lassen und der Seele etwas zu
bringen, was sie befreit von alledem, was aus den verflossenen Leben kommt
und sie zum Sklaven macht. Damit haben wir zugleich etwas von dem ganzen
Geist und Ursprung des Buddhismus aufnehmen können. Damit wissen wir aber
auch, was es für eine Bedeutung hatte, daß aus dem alten Bodhisattva ein
Buddha geworden ist. Wir wissen, daß der alte Bodhisattva alles, was mit
seiner Mission zusammenhängt, immer in die Menschheit hat einfließen lassen.
Die Menschheit war in den alten Zeiten, bevor der Buddha in die Welt
eingetreten ist, nicht imstande, irgendwie auch nur die inneren Kräfte so zu
verwenden, daß ein richtiges Wort, ein richtiges Urteil von selbst
eingetreten wäre. Dazu mußten Einflüsse von den geistigen Welten auf den
Menschen herunterfließen. Die ließ der alte Bodhisattva herunterfließen.
Daher war es ein Ereignis einziger Art, als dieser Bodhisattva zum Buddha
wurde, der jetzt lehrte, was er in früheren Zeiten in die Menschheit hatte
einfließen lassen, das heißt, daß er jetzt einen Leib in die Welt
hineinstellte, der aus sich selbst heraus solche Kräfte in sich entwickeln
konnte, die früher nur von oben herunterfließen konnten. Als einen ersten
Leib dieser Art hat sich der Buddha diesen Leib als Gautama Buddha in die
Welt hineingestellt. Damit ist alles, was er früher herunterfließen ließ,
einmal dagewesen in der Welt. So etwas aber hat eine große und weittragende
Bedeutung für die ganze Erdenentwickelung, wenn das, was von Epoche zu Epoche
in die Erde heruntergeflossen ist. einmal in einem Menschen da war, einmal
leibhaftig in einem Menschen auf der Erde gewandelt ist. Denn jetzt bildet es
eine Kraft, die auf alle. Menschen übergehen kann. Und in dem Leibe des
Gautama Buddha liegen die Ursachen für alle Zeiten, daß die Menschen bis in
alle Zukunft hinein die Kräfte des achtgliedrigen Pfades in sich entwickeln
können, so daß der achtgliedrige Pfad Eigentum eines jeden Menschen werden
kann. Daß der Buddha da war, das gab den Menschen die Möglichkeit, richtig zu
denken, und was nach dieser Richtung geschehen wird, bis die ganze Menschheit
sich den achtgliedrigen Pfad angeeignet haben wird, das wird dem
Buddha-Dasein verdankt. Was der Buddha in sich hatte, das hat er den Menschen
zur geistigen Nahrung hingegeben.
Solche Dinge sieht gemeinhin heute noch keine äußere
Wissenschaft. Aber solche großen Dinge aus dem Entwickelungsgange der
Menschheit sagen uns oftmals die kindlichsten Märchen und Sagen. Das mußte
ich ja schon verschiedentlich betonen, daß weiser und wissenschaftlicher als
unsere objektive Wissenschaft oftmals die Märchen und Sagen sind. Die Tiefe
der menschlichen Seele empfand immer etwas ganz Besonderes als Wahrheit bei
einer solchen Wesenheit wie der eines Bodhisattva. Daß zuerst etwas
herunterströmt, was dann nach und nach Eigentum der Menschenseele wird und
was dann aus der Menschenseele gleichsam widerstrahlt in den Weltenraum
hinaus, das empfanden die Menschen als etwas ganz Besonderes. Und diejenigen,
welche das mehr oder weniger dunkel empfinden konnten, sagten sich: Wie die
Strahlen der Sonne in den Himmelsraum scheinen, so strahlte einstmals die
Kraft des Bodhisattva die Kräfte der Lehre von Mitleid und Liebe auf die Erde
herunter, die Kräfte des achtgliedrigen Pfades; dann aber hat der Bodhisattva
in einem Menschenleibe Wohnung aufgeschlagen, hat den Menschen hingegeben,
was einst sein Eigentum war. Das lebt nun in der Menschheit und strahlt
zurück in den Weltenraum, wie das Mondenlicht die Sonnenstrahlen in den
Weltenraum zurückstrahlt. – Das empfand man immer als etwas besonders
Bedeutungsvolles da, wo man märchen- und sagenhaft eine solche Wahrheit ausdrückte.
Daher wurde, um diese Wahrheit in bezug auf den Bodhisattva auszudrücken, in
den Gegenden, in welchen er aufgetreten ist, ein merkwürdiges Märchen
gebildet. Dieses große Ereignis wurde in die folgende einfache Erzählung
gekleidet.
Da lebte einmal der Buddha als Hase, und es war eine Zeit,
in welcher die verschiedensten anderen Wesen nach Nahrung suchten, aber alle
Nahrung war aufgezehrt. Was der Hase selbst 'als Nahrung haben konnte, die
Vegetabilien, war aber für die Wesenheiten, die Fleischfresser waren, nicht
geeignet. Da beschloß der Hase, der eigentlich der Buddha war, als ein
Brahmane kam, sich selbst zu opfern und sich als Nahrung hinzugeben. In
diesem Augenblicke kam der Gott Shakra; der sah die gewaltige Tat des Hasen.
Und ein Bergspalt öffnete sich und nahm den Hasen auf. Nun nahm der Gott eine
Tinktur und zeichnete das Bild dieses Hasen auf den Mond. Und seit jener Zeit
ist das Bild des Buddha als Hase im Monde zu sehen. – Im Abendlande spricht
man nicht von dem Hasen im Monde, sondern von dem "Mann im Monde".
Aber noch deutlicher heißt es in einem kalmückischen
Märchen: Im Monde lebt ein Hase, der dadurch einst hinaufgekommen ist, daß
sich der Buddha geopfert hat und der Erdgeist selber das Bild des Hasen in
den Mond gezeichnet hat. – Das drückt die große Wahrheit aus, wie der
Bodhisattva zum Buddha geworden ist und wie sich der Buddha selbst hingegeben
hat, wie er das, was sein Inhalt war, der Menschheit zur Nahrung gab, so daß
es jetzt aus den Herzen der Menschen herausstrahlen kann in die Welt.
Von einer solchen Wesenheit wie dem Bodhisattva, der zum
Buddha geworden ist, haben wir gesagt – und das ist die Lehre aller, die da
wissen –: Wenn sie eine solche Stufe durchmacht wie die des Bodhisattva zum
Buddha, dann ist das eine letzte Inkarnation auf der Erde, wo das ganze Wesen
des Betreffenden aufgeht in einem menschlichen Leibe. Eine solche Inkarnation
macht dann ein solches Wesen nicht mehr durch. Daher konnte der Buddha sagen,
als er fühlte, was sein gegenwärtiges Dasein bedeutet: Dies ist die letzte
der Verkörperungen, es gibt keine andere Verkörperung mehr auf der Erde. –
Dennoch wäre es unrichtig, zu glauben, daß sich ein solches Wesen sodann ganz
von dem Erdendasein zurückzieht. Es wirkt weiter herein in das Erdendasein.
Es tritt zwar nicht unmittelbar in einen physischen Leib herein, aber es
nimmt einen ändern Leib an – sei er aus astralischer, sei er aus ätherischer
Wesenheit gebildet – und wirkt so in die Welt herein. Und die Art, wie es
hereinwirkt, nachdem es selbst seine letzte ihm gehörende Inkarnation
durchgemacht hat, kann die folgende sein.
Ein gewöhnlicher Mensch, der aus physischem Leib, Ätherleib,
Astralleib und Ich besteht, kann sozusagen von einem solchen Wesen
durchdrungen werden. – Es kann sich ein solches Wesen, das nicht mehr bis zu
einem physischen Leibe heruntersteigt, aber noch einen astralischen Leib hat,
hineingliedern in den astralischen Leib eines anderen Menschen. Dann wirkt es
in einem solchen Erdenmenschen. Dann kann dieser Mensch eine wichtige
Persönlichkeit werden, denn in ihm wirken jetzt die Kräfte einer solchen
Wesenheit, welche schon ihre letzte Inkarnation auf der Erde durchgemacht
hat. So verbindet sich eine solche astralische Wesenheit mit der astralischen
Wesenheit irgendeines Menschen auf der Erde. In der kompliziertesten Art kann
eine solche Verbindung geschehen. Als der Buddha in der Form der
"himmlischen Heerscharen" den Hirten im Bilde erschien, da war er
nicht in einem physischen Leibe, aber er war in einem astralischen Leibe.
Einen Leib hatte er angenommen, durch den er doch hineinwirken konnte auf die
Erde. Man unterscheidet daher bei einem solchen Wesen, welches nun ein Buddha
geworden ist, einen dreifachen Leib:
Erstens denjenigen Leib, den es vor der Buddhaschaft hat, wo
es von oben herunterwirkt als Bodhisattva, einen Leib, der nicht alles
enthält, wodurch dies Wesen wirken kann; es steht noch in den Höhen oben und
ist mit seiner früheren Mission verknüpft wie der frühere Bodhisattva im
Buddha, bevor er diese Mission in die Buddha-Mission verwandelt hat. Solange
ein solches Wesen in einem solchen Leibe ist, nennt man seinen Leib einen
Dharmakaya.
Zweitens denjenigen Leib, den sich ein solches Wesen bildet,
den es an sich hat, und in welchem es alles, was es in sich hat, im
physischen Leibe zum Ausdruck bringt; diesen Leib nennt man den "Leib
der Vollendung", Sambhoyakaya.
Drittens denjenigen Leib, den ein solches Wesen annimmt,
nachdem es durch die Vollendung durchgegangen ist und jetzt in der
geschilderten Weise herunterwirken kann; diesen nennt man einen Nirmanakaya.
Wir können also sagen: Der Nirmanakaya des Buddha erschien
den Hirten in der Form der Engelscharen. Da erstrahlte der Buddha in seinem
Nirmanakaya und offenbarte sich auf diese Weise den Hirten. Er sollte aber
noch weiter den Weg suchen, um in dieser wichtigen Zeit in die
palästinensischen Ereignisse hineinzuwirken. Das geschah auf folgende Art.
Um das zu begreif en, müssen wir uns kurz in die Erinnerung
zurückrufen, was wir aus den anthroposophischen Vorträgen vom Wesen des Menschen
kennen. Wir wissen, daß wir in der Geisteswissenschaft mehrere
"Geburten" unterscheiden. In dem, was man die physische Geburt
nennt, streift der Mensch gleichsam die physische Mutterhülle ab. Mit dem
siebenten Jahre streift er die ätherische Hülle ab, welche ihn bis dahin, bis
zum Zahnwechsel, ebenso umgibt wie bis zur physischen Geburt die physische
Mutterhülle; und mit der Geschlechtsreife, also in unserer heutigen Zeit im
vierzehnten, fünfzehnten Jahre, streift der Mensch das ab, was er bis dahin wie
eine astralische Hülle hat. Daher wird also des Menschen Ätherleib eigentlich
erst mit dem siebenten Jahre als ein freier Leib nach außen geboren, und des
Menschen astralischer Leib wird geboren mit der Geschlechtsreife; die äußere
astralische Hülle wird dann abgestreift.
Fassen wir jetzt einmal das ins Auge, was da mit der
Geschlechtsreife abgestreift wird. In denjenigen Gegenden, in welchen sich
das palästinensische Ereignis abspielte, trat dieser Zeitpunkt etwas früher
ein, unter normalen Verhältnissen mit dem zwölften Jahre; da wurde also die
astralische Mutterhülle abgestreift. Im gewöhnlichen Leben wird diese Hülle
abgestreift und der äußeren astralischen Welt übergeben. Bei demjenigen
Kinde, das aus der priesterlichen Linie des davidischen Geschlechtes stammte,
trat etwas anderes ein. Es wurde mit dem zwölften Jahre die astralische Hülle
abgestreift; aber sie löste sich nicht in der allgemeinen astralischen Welt
auf, sondern so, wie sie war als schützende astralische Hülle des jungen
Knaben mit all den belebenden Kräften, die zwischen der Zeit des Zahnwechsels
und der Geschlechtsreife hineingeflossen waren, strömte sie jetzt zusammen
mit dem, was sich als der Nirmanakaya des Buddha heruntergesenkt hatte. Was
in der Engelschar herunterscheinend erschienen ist, das vereinigte sich mit
dem, was bei dem zwölfjährigen Jesusknaben als astralische Hülle sich
loslöste, vereinigte sich mit all den jugendlichen Kräften, die einen
jugendlich erhalten in der Zeit zwischen dem Zahnwechsel und der
Geschlechtsreife. Der Nirmanakaya des Buddha, der das Jesuskind von der
Geburt an überstrahlte, wurde eins mit dem, was sich von diesem Kinde bei der
Geschlechtsreife als seine jugendliche astralische Mutterhülle loslöste; das
nahm er auf, vereinigte sich damit und dadurch verjüngte er sich. Und durch
diese Verjüngung war es möglich, daß dasjenige, was er früher der Welt
gegeben hatte, jetzt wiedererscheinen konnte in dem Jesuskinde wie in einer
kindlichen Einfalt. Damit hat dieses Kind die Möglichkeit aufgenommen,
kindlich zu reden über die hohen Lehren vom Mitleid und der Liebe, die wir
heute in dieser Komplikation dargestellt haben. Damals bei der Darstellung
des Jesus im Tempel redete der Knabe deshalb so, daß seine Umgebung
überrascht war, weil ihn umschwebte der Nirmanakaya des Buddha, aufgefrischt
wie aus einem Jungbrunnen von der astralischen Mutterhülle des Knaben.
Das ist etwas, was der Geistesforscher wissen kann und was
der Schreiber des Lukas-Evangeliums hineingeheimnißt hat in die merkwürdige
Szene des zwölfjährigen Jesus im Tempel, wo er plötzlich ein anderer wird.
Darum wird im Lukas-Evangelium der Buddhismus in einer für die kindlichste
Einfalt verständlichen Weise gelehrt. Das müssen wir begreifen. Dann wissen
wir, warum der Knabe nicht mehr so spricht, wie er früher gesprochen hat. So
wie er früher gesprochen hat, so spricht jetzt um diese Zeit derjenige, der
als der König Kanishka im alten Indien drüben eine Synode zusammenruft und
dort den alten Buddhismus als orthodoxe Lehre verkündigen läßt. Aber der Buddha
war inzwischen selber fortgeschritten. Er hatte die Kräfte der astralischen
Mutterhülle des Jesuskindes aufgenommen, und dadurch ist er fähig geworden,
in einer neuen Art zu sprechen zu den Gemütern der Menschen.
So enthält das Lukas-Evangelium den Buddhismus in einer
neuen Gestalt wie aus einem Jungbrunnen heraus, und daher spricht es die
Religion des Mitleides und der Liebe für die einfältigsten Gemüter in einer
selbstverständlichen Form aus. Wir können es lesen. Das hat der Schreiber des
Lukas-Evangeliums in dasselbe hineingeheimnißt. Es liegt aber noch mehr
darinnen. Nur ein Teil dessen, was in dieser Szene der Darstellung im Tempel
enthalten ist, konnte heute geschildert werden, und wir werden noch tiefer in
die Untergründe dieses Geheimnisses hineinzuleuchten haben; dann wird uns
auch noch ein Licht fallen auf die früheren wie auch auf die späteren Zeiten
des Lebens des Jesus von Nazareth.
Vierter Vortrag
18. September 1909
Führerstätten in der
alten Atlantis. Der Nirmanakaya des Buddha und der nathanische Jesusknabe.
Die Adam-Seele vor dem Sündenfall. Die Wiederverkörperung des Zarathustra in
dem salomonischen Jesusknaben.
Die Tatsachen, welche den Evangelien zugrunde liegen, und
namentlich dem Lukas-Evangelium, werden für die nächsten Tage immer subtiler
werden. Daher bitte ich, diesmal mehr noch als sonst zu berücksichtigen, daß
die Vorträge fortlaufend sind, daß der Inhalt wirklich von einem Vortrage zum
anderen hinübergeht und daß man einen einzelnen Vortrag oder auch einige
derselben nicht verstehen kann, wenn man sie nicht im Zusammenhange
betrachtet mit den anderen Vorträgen. Insbesondere gilt das für den heutigen
und den morgigen Vortrag; und auch dafür gilt es, daß Sie erst morgen sich
fragen sollen, wie die verschiedenen Dinge, die da vorgebracht werden, mit
dem zusammenhängen, was in anderen Vortragszyklen, dieses Thema bereits
streifend, gesagt worden ist.
Wir haben gestern damit geschlossen, daß gesagt worden ist:
Der Nirmanakaya des Buddha hat sich unserer Welt gezeigt in dem Momente, der
durch das Lukas-Evangelium ausgedrückt wird als die Verkündigung an die
Hirten. Und wir haben gestern angedeutet, daß jene Verjüngung der
buddhistischen Weltanschauung, die in das Christentum eingeflossen ist und
damit der Welt gegeben worden ist, dadurch zustande gekommen ist, daß jener
astralische Mutterleib, der sich von dem sich entwickelnden Menschen mit der
Geschlechtsreife trennt, der also verbunden war mit dem Kinde Jesus, auf
genommen worden ist von dem Nirmanakaya des Buddha, eins mit ihm geworden ist
im zwölften Jahre des Jesus-Lebens. Daher haben wir es von diesem Augenblicke
an nunmehr mit einer bestimmten Wesenheit zu tun, die eigentlich
zusammengefügt ist aus dem Nirmanakaya, dem Geistleib des Buddha, und aus
jenem astralischen Mutterleibe, der sich wie eine astralische Mutterhülle von
dem bis zum zwölften Jahre herangewachsenen Jesuskinde losgelöst hat.
Nun müssen wir uns die folgende Frage vorlegen. Wenn im
gewöhnlichen Leben bei der Entwickelung des Menschen dieser astralische
Mutterleib sich loslöst, wenn der eigentliche astralische Leib des Menschen
geboren wird, so wird dabei die astralische Mutterhülle aufgelöst in der
allgemeinen astralischen Welt. So, wie das beim gewöhnlichen Menschen in
unserm Entwickelungszyklus ist, wäre diese astralische Mutterhülle nicht
brauchbar, um einer so hohen Wesenheit einverleibt zu werden, wie es der
Buddha in seinem Nirmanakaya war. Es mußte also etwas ganz Besonderes mit
dieser astralischen Mutterhülle vorliegen, die da abgestreift worden ist und
durch ihre Verbindung mit dem Nirmanakaya des Buddha den ganzen Buddhismus
verjüngt hat. Mit anderen Worten, es mußte in dem Jesuskinde eine ganz
besondere Wesenheit enthalten sein; es mußte in diesem Leibe des Jesus
inkarniert sein eine ganz besondere Wesenheit, damit von ihr in den ersten
zwölf Jahren des Lebens jene Kräfte ausstrahlen konnten, die dann von der
astralischen Mutterhülle aufgenommen wurden, damit diese jene verjüngenden
Kräfte haben konnte, auf die wir gestern hindeuteten. Also nicht um eine gewöhnliche
menschliche Wesenheit, sondern um eine ganz besondere Wesenheit mußte es sich
handeln, die da von der Geburt bis zum zwölften Jahre in dem Jesuskinde
heranwuchs und dann imstande war, in das, was abgestreift wurde, alle die
Kräfte hinauszustrahlen, die jene Verjüngung bewirkt haben.
Wenn wir uns eine Vorstellung davon machen wollen, wie so
etwas überhaupt sein kann, daß ein Kind ganz anders auf seine Hüllen wirkt,
als es im normalen Zustande der Fall ist, so können wir uns zunächst nur
vergleichsweise jener Tatsache nähern, die da vorliegt. Ich will Ihnen also
durch einen Vergleich anschaulich machen, was eigentlich damals vorgegangen
war.
Wenn wir ein Menschenleben verfolgen, wie es sich von der
Geburt bis in die späteren Altersstufen hinauf entwickelt, bis zum
zwanzigsten, dreißigsten, vierzigsten Jahre, wenn es normal verläuft, so
können wir uns vor die Seele führen, wie die einzelnen Kräfte, die in der
Keimanlage und bei der Geburt erst veranlagt sind, nach und nach zum
Vorschein kommen. Das Kind wächst physisch heran, das Kind wächst aber auch
geistig heran. Nach und nach entwickeln sich seine Seelenkräfte. – Wie das
geschieht, können Sie nachlesen in meiner Schrift "Die Erziehung des
Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft". – Versuchen Sie sich
vor Augen zu führen, wie allmählich die Gemüts- und die intellektuellen
Kräfte aus dem Kinde herauswachsen, wie mit dem siebenten, mit dem
vierzehnten oder einundzwanzigsten Jahre diese oder jene Kräfte da sind, die
früher nicht vorhanden waren, oder wie die vorhandenen in größerem Maßstabe
da sind und so weiter. Versuchen Sie also sich vorzustellen, wie das im
normalen Verlaufe des Menschenlebens geschieht, und denken Sie sich jetzt,
wir wollten einmal einen "Lebensversuch" machen, wir wollten einem
Menschen, der eben geboren wird, die Möglichkeit geben, sich nicht ganz so
normal und durchschnittsgemäß zu entwickeln, wie es nun einmal in unserem
Entwickelungszyklus der Fall ist und wie es im normalen Leben auch der Fall
sein muß, sondern wir würden einem Menschen künstlich Gelegenheit geben, daß
er das, was ein anderer normalerweise zum Beispiel vom zwölften bis
achtzehnten Jahre lernt, mit einer gewissen Frische auffaßt, daß er es seiner
Seele nicht so zu eigen macht, wie es gewöhnlich geschieht, sondern daß es
die Seele mit einer besonderen Frische ergreift, so daß also die Seele sich
das nicht in der Weise aneignet, wie es die anderen Menschen tun, sondern mit
einer gewissen erfinderischen Kraft fortschaffend an den Dingen wirken kann.
Und nehmen wir an, wir wollten künstlich diesen Menschen zu einem besonders
produktiven machen. Wir dürften dann das Kind nicht so heranwachsen lassen,
wie andere Kinder gewöhnlich heranwachsen.
Wir wollen also eine Art hypothetischen Lebensversuch
machen. Ich bemerke aber ausdrücklich, daß dieses Beispiel nur hypothetisch
gewählt ist und nicht etwa so gemeint ist, daß es auch gleich ausgeführt
werden sollte; ich gebrauche es, um etwas vergleichsweise zu sagen, und es
soll nicht als ein Erziehungsideal anempfohlen werden. – Also wir wollten
einen Menschen zu einem besonders erfinderischen Geist machen, der die
Denkfähigkeit nicht nur belebt, sondern der schöpferisch fortfahren kann,
diese Fähigkeiten dann im Alter zu einer höheren Produktivität auszubilden.
Dann müßten wir vor allen Dingen ein solches Kind von dem sechsten, siebenten
Jahre an davor bewahren, daß es in derselben Weise lernt, wie andere Kinder
lernen, daß es ja nicht dieselben Schulgegenstände zu lernen beginnt, wie es
die anderen Kinder tun, sondern daß es von dieser Zeit an so wenig wie
möglich von dem beigebracht erhält, was die anderen Kinder beigebracht er
halten. Wir müßten es bis zum zehnten, elften Jahre womöglich beim kindlichen
Spiel erhalten und ihm möglichst wenig von Schulgegenständen beibringen, so
daß es womöglich mit neun Jahren noch nicht addieren kann, mit acht Jahren
vielleicht noch schlecht liest. Dann müßten wir mit allem, womit ein Kind
sonst im sechsten, siebenten Jahre beginnt, erst im achten oder neunten Jahre
beginnen. Da haben sich die Kräfte eines Menschen ganz anders entwickelt; da
macht die Seele mit dem, was ihr beigebracht wird, etwas ganz anderes. Ein
solches Kind würde sich dann die kindlichen Kräfte, die sonst durch den
normalen Unterricht unterdrückt werden, bis zum zehnten, elften Jahre
bewahren und würde dann mit einer viel feurigeren Seelenkraft über die Dinge
kommen, die ihm gelehrt werden, und sie in einer ganz anderen Weise
ergreifen. Dadurch würden seine Fähigkeiten zu besonders produktiven
umgewandelt. Man müßte also ein Kind möglichst lange kindlich erhalten; dann
würde der Hellseher bemerken, daß jene astralische Hülle, die sich bei der
Geschlechtsreife loslöst, in der Tat ganz andere Kräfte hat, als es sonst der
Fall ist, daß sie jugendliche, frische Kräfte hat. Und diese astralische
Hülle würde dann brauchbar sein für eine solche Wesenheit wie in unserem
Falle für den Nirmanakaya des Buddha. – Durch ein solches Experiment würde
man nicht nur eine Verlängerung der Jugendzeit erreichen, sondern auch, daß
gewisse kindliche, jugendliche Kräfte hineingehen in die astralische
Mutterhülle und dann wieder in der Welt verwendet werden können, so daß ein
Wesen, das aus geistigen Höhen heruntersteigt, sich von diesen Kräften nähren
und sich verjüngen kann.
Dieses Experiment sollten die Menschen aber doch nicht
machen. Es ist kein Erziehungsideal. Gewisse Dinge müssen die Menschen eben
heute noch sozusagen den Göttern überlassen. Die Götter können es; die
Menschen können es noch nicht richtig ausführen. Und wenn Sie irgendwo hören,
daß irgendeine bestimmte Persönlichkeit, die auf einem bestimmten Gebiete
befruchtend wirken sollte, sich lange Zeit unbegabt zeigte, lange Jahre
hindurch für dumm gehalten wurde und daß ihr dann erst später der "Knopf
aufgegangen" ist, dann haben die Götter dieses Experiment angestellt,
haben die Kindlichkeit eines solchen Menschen über jene Jahre hinaus bewahrt
und haben ihn für das, was man sonst im normalen Leben früher lernt, erst in
einer späteren Lebenszeit fähig gemacht. Das wird sich besonders dann zeigen,
wenn aufgeweckte Kinder leicht auffassen, was man ihnen erzählt, und wenn sie
dann in die Schule kommen, dort eigentlich nichts lernen wollen. Da machen
die Götter mit ihnen diesen Lebensversuch, von dem wir eben gesprochen haben.
Etwas Ähnliches, nur in einem unendlich weiteren Maßstabe,
mußte bei jenem Kinde der Fall sein, das als der Jesus heranwuchs und das
dann an den Nirmanakaya des Buddha eine so unendlich fruchtbare astralische
Mutterhülle abgeben sollte. Und das war auch der Fall. Hier kommen wir zu
einer geheimnisvollen Tatsache, der gegenüber es jedem frei steht, zu glauben
oder nicht zu glauben, die aber heute vor den vorbereiteten Anthroposophen
hingestellt werden kann und die auch geprüft werden kann. Prüfen Sie an allen
den Tatsachen, die Ihnen im äußeren Evangelium oder in der äußeren Geschichte
zur Verfügung stehen, und Sie werden alles bewahrheitet finden durch die
äußeren Tatsachen des physischen Planes, wenn Sie nur richtig die Tatsachen
heranziehen und nicht vorschnell urteilen wollen. Was der Okkultist sagt und
was ja aus den höheren Welten heraus gegebene Tatsachen sind, das übergibt er
wie ein Unterpfand an die Menschheit; und wenn er es aus den richtigen
Quellen hat, dann sagt er: Ihr könnt es prüfen, so strenge, wie ihr wollt;
ihr werdet es, wenn ihr es in der richtigen Weise prüft, überall bewahrheitet
finden durch das, was ihr durch schriftliche Dokumente oder durch andere
naturwissenschaftliche Tatsachen in der physischen Welt erfahren könnt. –
Also, es mußte jenem Elternpaare, von dem im Lukas-Evangelium die Rede ist,
ein Kind geboren werden, das ganz besonderer Art war, ein Kind, das
Jugendkraft, das Kindheitskräfte von ganz besonderer Art schon mitbrachte und
dieselben in der Stärke, in der es sie mitgebracht hat, frisch und gesund
nach jeder Richtung erhielt. Das mußte geschehen.
Unter den gewöhnlichen Verhältnissen konnte sich nun kein
Kind und auch kein Elternpaar finden, bei dem jene Kindheits- und
Jugendkräfte in solcher Frische vorhanden gewesen wären, wie sie damals
vorhanden sein mußten. Im ganzen weiten Umkreise der damaligen Menschheit
hätte man, wenn man nur die normalen Verhältnisse in Betracht gezogen hätte,
nirgends die Individualität und das Elternpaar finden können, die zu einer
solchen Inkarnation notwendig gewesen wären, wenn nicht noch etwas ganz
Besonderes möglich gewesen wäre. Was da möglich gewesen wäre, das können wir
nur verstehen, wenn wir uns an mancherlei erinnern, was wir durch unsere
anthroposophische Vorbereitung schon kennen.
Wir wissen, daß unsere heutige Menschheit durch verschiedene
Epochen hindurch auf eine Urmenschheit zurückgeht, die wir als die Menschheit
der alten atlantischen Zeit bezeichnen; und diese Menschheit geht wiederum
zurück auf eine Menschheit, die wir als die Menschheit der lemurischen Zeit
bezeichnen. Die Geisteswissenschaft kann uns ganz andere Tatsachen über den
Entwickelungsgang der Menschheit aufzeigen als die äußere Naturwissenschaft,
die nur an die sinnlichen Tatsachen sich hängen kann. Die Geisteswissenschaft
zeigt uns, daß die Menschheit durchgegangen ist durch ein Stadium der
griechisch-lateinischen Kulturentwickelung, dem voranging das
ägyptisch-chaldäische, das urpersische und das altindische Kultursystem.
Damit kommen wir zurück bis zu jener großen, gewaltigen Katastrophe, die
einmal über unsere Erde dahingegangen ist und ihr Antlitz ganz verändert hat.
Vorher war ein weit ausgebreiteter Kontinent in denjenigen Gegenden
vorhanden, in denen heute der Atlantische Ozean sich ausdehnt: das war die
alte Atlantis. Und in den Gegenden, welche heute von der europäischen,
asiatischen und afrikanischen Menschheit bewohnt werden, war damals zum
großen Teil noch Meeresgebiet. Durch jene große atlantische Katastrophe, die
sich in dem Wasserelement der Erde abgespielt hat, änderte sich das Antlitz
der Erde. Die Menschheit war vorher in der Atlantis drüben hauptsächlich
ansässig. Dort entwickelte sie sich. Das waren Menschen, die anders als die
heutigen Menschen organisiert waren. Das ist öfters beschrieben worden. Als
dann die Zeit der atlantischen Katastrophe herannahte, da sahen die großen
hellseherischen Führer und Priester der Menschheit das voraus, und sie
lenkten daher die Menschen nach dem Osten, zum Teil auch nach dem Westen
hinüber. Diejenigen, welche sie nach dem Westen hinüberleiteten, bildeten
dort die Vorfahrenschaf t der späteren amerikanischen Menschheit. So müssen
wir die Vorfahren unserer Menschheit unter den alten Atlantiern suchen. –
Diese Menschen, welche in der Atlantis wohnten, waren wieder die Nachkommenschaft
noch früherer Menschen, die wieder ganz anders ausgesehen haben als die
atlantischen Menschen; sie wohnten auf einem Kontinent zwischen dem heutigen
Asien, Afrika und Australien, im alten Lemurien. Sie werden eine Darstellung
bis ins einzelne in meiner demnächst erscheinenden
"Geheimwissenschaft" finden; ich will von allem daher jetzt nur das
herausheben, was ich brauche.
Wenn wir so durch die Akasha-Chronik bis in die ältesten
Zeiten zurückblicken, so liefert uns merkwürdigerweise die Akasha-Chronik auch
wunderbare Belege für alles, was wir sonst in der biblischen Urkunde finden,
was wir überhaupt in den religiösen Urkunden finden. Wir lernen dann erst
diese religiösen Urkunden in der richtigen Weise verstehen. Was war es zum
Beispiel für die äußere Wissenschaft für eine Frage, ob es denn wirklich eine
Wahrheit ist, was man in der Bibel liest über ein "einziges
Menschenpaar", Adam und Eva, von dem die ganze Menschheit abstammen
sollte! Das war eine Frage, die ganz besonders die Zeit der Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus viel beschäftigt
hat.
Wir wissen – wenn wir zusammenfassen, was uns die
Akasha-Chronik sagt –, daß die Erde eine lange Vorzeit hat, daß auch der
lemurischen Zeit eine andere Epoche vorangegangen ist. Wir wissen, daß die
Erde die Wiederverkörperung anderer planetarischer Zustände ist, des alten
Mondes, der alten Sonne und des alten Saturn. Wir wissen weiter, daß die
Erde, wie sie sich nach und nach entwickelt hat, dazu berufen war, zu den
drei Leibern, die sich der Mensch nach und nach während der früheren
Verkörperungen der Erde herausgebildet hat – auf dem Saturn den physischen
Leib, auf der Sonne den Ätherleib und auf dem Monde den astralischen Leib –,
auf der Erde das Ich, das vierte Glied der menschlichen Wesenheit,
hinzuzusetzen. Alles, was der lemurischen Zeit vorangegangen ist, war nur
eine Vorbereitung dieser Erdenmission. Damals, in der lemurischen Zeit,
gestaltete sich der Mensch so, daß er fähig wurde, das vierte Glied, die
Ichheit, auszubilden. Damals fing der erste Keim sich zu bilden an, um in den
drei Gliedern, die der Mensch sich allmählich erworben hatte, ein Ich aus
zubilden. Daher können wir sagen: Durch jene Veränderungen, die sich auf der
Erde zugetragen haben, wurde auf den Menschen so gewirkt, daß er ein
Ich-Träger werden konnte. Vor der lemurischen Zeit war die Erde auch
bevölkert. Menschen waren auf der Erde in einer ganz anderen Form. Das aber
waren Menschen, die noch keine Ich-Träger waren, die eigentlich nur das
entwickelt hatten, was sie sich von Saturn, Sonne und Mond herübergebracht
hatten als physischen Leib, Ätherleib und Astralleib; und wir wissen, welches
die Vorgänge im ganzen Weltall sind, die dazu geführt haben, daß der Mensch
bis zu dieser Reife seiner Entwickelung gebracht wurde.
Wir wissen, daß die Erde im Beginne unserer jetzigen
Entwickelung vereinigt war mit der Sonne und mit dem Monde, daß sich dann
zunächst die Sonne abgetrennt hat und einen planetarischen Körper
zurückgelassen hat, der die heutige Erde und den heutigen Mond zusammengefaßt
hat. Wir wissen aber auch, daß, wenn die Erde mit dem Monde zusammengeblieben
wäre, alles, was an Menschenwesen da war, verhärtet, mumifiziert worden wäre,
in einen verholzten Zustand übergegangen wäre. Um das zu verhüten, mußte
alles, was in dem Monde an Substanzen und Wesenheiten war, erst
herausgestoßen werden. Dadurch wurde die Menschengestalt vor der Verhärtung
gerettet, es wurde dem Menschen möglich, die jetzige Gestalt anzunehmen, und
erst nach der Mondentrennung wurde ihm die Möglichkeit gegeben, ein
Ich-Träger zu werden. Aber das alles ging nicht auf einmal vonstatten. Wir
könnten sagen, es trennte sich erst die Sonne langsam von der Erde heraus. Es
gab also, während der Mond noch in der Erde enthalten war, einen solchen
Zustand, welcher die weitere Menschheitsentwickelung nicht gestattete. Die
physische Materie wurde immer dichter und dichter, so daß der Mensch
tatsächlich einen Anlauf zu einer Verhärtung nahm. Was damals Menschenseelen
auf einer untergeordneten Stufe waren, das ging auch schon einen ähnlichen
Weg wie heute die Menschenseele, ging auch durch Inkarnationen, durch
aufeinanderfolgende Verkörperungen hindurch, wo also das Innere des Menschen
die äußere Verkörperung verläßt, durch eine geistige Welt durchgeht, um in
einer neuen Verkörperung wieder zu erscheinen.
Aber es trat, bevor der Mond aus der Erde herausgegangen
war, etwas ganz Besonderes ein, sozusagen ein schwieriger Zustand für die
Fortentwickelung der Erde trat ein. Es trat das ein, daß gewisse Menschenseelen,
die ihren Leib verlassen hatten, in die geistige Welt hineingegangen waren
und sich wiederum neu jetzt verkörpern wollten, jetzt unten eine
Menschensubstanz vorfanden, die ihnen zu hart, zu verholzt war, so daß sie
sich nicht verkörpern konnten. Es trat eine Zeit ein, in welcher die Seelen
wieder auf die Erde herunterkommen wollten, aber keine Möglichkeit fanden,
sich wiederum zu verkörpern, weil die Erdenleiber für sie nicht geeignet
waren. Nur die stärksten Seelen konnten die mittlerweile verhärtete Materie
und Substanz bezwingen, um sich auf der Erde zu verkörpern. Die anderen
mußten wiederum in die geistige Welt zurück, konnten nicht hinunter. Solche
Zeiten gab es vor der Mondentrennung. Aber immer weniger und weniger wurden
jene starken Seelen, die imstande waren, die Materie zu bewältigen und die
Erde zu bevölkern. Vor der lemurischen Zeit gab es also eine Zeit, in welcher
die Erde im weitesten Umkreise verödete, wo die Menschen immer weniger und
weniger auf der Erde wurden, weil die Seelen, welche herunter wollten, keine
geeigneten Leiber fanden.
Was geschah nun mit diesen Seelen, welche keine Leiber
finden konnten? Sie wurden entrückt nach den anderen Planeten, die sich
inzwischen aus der gemeinsamen Substanz herausgebildet hatten. So gab es
gewisse Seelen, die nach dem Saturn entrückt wurden, andere, die nach dem
Jupiter, Mars, Venus oder Merkur entrückt wurden; so daß es eine Erdenzeit
gab, in welcher nur die stärksten Seelen während des großen Erdenwinters auf
die Erde kommen konnten. Die schwächeren Seelen mußten von den anderen zu
unserem Sonnensystem gehörenden Planeten in Obhut genommen werden.
Während der lemurischen Epoche gab es in der Tat eine Zeit,
von der man – wenigstens annähernd – sagen kann: Es war ein einziges
Menschenpaar, ein Hauptpaar vorhanden, welches sich die Stärke behalten
hatte, diese widerspenstige Menschensubstanz zu bezwingen und sich auf der
Erde zu verkörpern, gleichsam durchzuhalten durch die ganze Erdenzeit. Das
war aber auch die Zeit, als sich der Mond von der Erde trennte. Und durch
diese Mondentrennung wurde es wieder möglich, daß sich die Menschensubstanz
verfeinerte und sich wieder geeignet machte, Menschenseelen aufzunehmen, die
schwächer waren, so daß die Nachkommen dieses einen Hauptpaares wieder in der
Lage waren, in weicherer Substanz zu sein als diejenigen, welche vor der
Mondentrennung gelebt hatten. Da kamen dann nach und nach alle die Seelen,
welche nach dem Mars, Jupiter, Venus und so weiter hinauf entrückt waren,
wieder auf die Erde zurück, und mit der Vermehrung der Menschen von dem einen
Hauptpaare aus geschah das, daß die Seelen nach und nach aus dem Weltenraume
auf die Erde zurückkehrten und sich als die Nachkommen des ersten Hauptpaares
bildeten. So bevölkerte sich die Erde wiederum. Und während der letzten
lemurischen Zeit bis weit in die atlantische Zeit hinein kamen immer mehr
Seelen herunter, die auf den anderen Planeten gewartet hatten, bis es auf der
Erde wiederum Zeit sein würde, sich zu verkörpern. Dann stiegen sie wieder
herunter in einen Erdenleib. Auf diese Art wurde die Erde wieder bevölkert.
Und auf diese Art entstand jene atlantische Bevölkerung, welche geführt wurde
von den atlantischen Eingeweihten in den atlantischen Orakeln. Diese
atlantischen Orakel habe ich folgendermaßen charakterisiert.
Es gab große Führerstätten in der alten Atlantis. Sie waren
so eingestellt, daß man die einen nennen konnte die Marsorakel, andere die
Jupiterorakel, die Saturnorakel und so weiter. Solche verschiedene
Orakelstätten gab es deshalb, weil die Menschen eben verschieden waren. Für
jene Menschenseelen, die früher auf dem Mars gewartet hatten, mußte man
Unterricht und Führerschaft schaffen in den Marsorakeln, für die, welche auf
dem Jupiter gewartet hatten, in den Jupiterorakeln und so weiter. Nur wenige
Auserlesene konnten in der atlantischen Zeit in dem zentralen, in dem großen
Sonnenorakel unterwiesen werden. Das waren die, welche in der
Nachkommenschaft jenem Hauptpaare am nächsten standen, das sich durch die
Erdenkrisis durch erhalten hatte, jenem starken Stammpaar, das uns in der
Bibel angedeutet wird unter dem Namen Adam und Eva. Da blicken wir in der
Bibel hindurch auf etwas, was sich mit den Tatsachen der Akasha-Chronik
deckt, so daß sich die Bibel auch dort bewahrheitet, wo sie scheinbar so
Unwahrscheinliches bringt. Und an der Spitze des großen Orakels, das die
Oberaufsicht über die übrigen hatte und das man das Sonnenorakel nennt, stand
der größte der atlantischen Eingeweihten, der große Sonnen-Eingeweihte, der
zu gleicher Zeit der Manu, der Führer der atlantischen Bevölkerung war. Er
war derjenige, welcher sich, als die atlantische Katastrophe heranrückte, die
Aufgabe zu stellen hatte, mit den Menschen, die er für brauchbar fand,
hinüberzuziehen nach dem Osten und eine Ausgangsstätte zu begründen für die
nachatlantische Kultur. Vor allem hatte aber dieser Eingeweihte unter den
verschiedenen Menschen, die er unmittelbar um seine Person versammelte, immer
auch solche, die möglichst unmittelbar von jenen Stammseelen abstammten, die
den Erdenwinter überdauert hatten, die sozusagen die direkten Nachkommen
waren von Adam und Eva, vom ersten Hauptpaare. Sie wurden insbesondere gehegt
und gepflegt in der Umgebung des großen Eingeweihten des Sonnenorakels. Ihre
ganze Unterweisung wurde so gelenkt und geleitet, daß man in den
entsprechenden Zeitpunkten der Menschheitsentwickelung immer die Möglichkeit
hatte, von der Stätte, welche der Eingeweihte des Sonnenorakels, der große
Manu, leitete, die richtigen Einflüsse hinausfließen zu lassen.
Nehmen wir einmal an, es wäre zu irgendeinem Zeitpunkte der
Menschheitsentwickelung notwendig geworden, daß eine Verjüngung der Kultur
eintrat, daß sozusagen das, was die Menschheit eine Zeitlang als Tradition
bewahrt hatte und was alt geworden war, einen neuen Einschlag erhielt, daß
ein neues Kulturelement der Menschheit gegeben wurde. Zu diesem Ziele mußte
unmittelbar in der Stätte des Eingeweihten des Sonnenorakels Vorsorge
getroffen werden, und das wurde in der verschiedensten Weise getan.
In der ersten Zeit der nachatlantischen Kulturentwickelung
wurden direkt Menschen, die dazu vorbereitet worden waren, da oder dorthin
geschickt, um als Ergebnis ihrer sorgfältigen Erziehung das hinauszutragen,
was gerade bei diesem oder jenem Volke gebraucht wurde. Immer wurde in dieser
Orakelstätte, die sich in einer gewissen Gegend Asiens verborgen hatte, dafür
gesorgt, daß die einzelnen Kulturen in der entsprechenden Weise beeinflußt
werden konnten.
Dann aber, fünf bis sechs Jahrhunderte nach dem Auftreten
des großen Buddha, war eine ganz besondere Zeit gekommen. Die Notwendigkeit
war gekommen, den Buddhismus zu verjüngen. Was als eine alte, reife
Weltanschauung, als eine Weltanschauung auf höchster Höhe durch den großen
Buddha verkündet worden war, sollte durch einen Jungbrunnen durchgelenkt
werden, so daß es in einer jugendfrischen Gestalt vor die Menschheit
hintreten konnte. Ganz besondere Jugendkräfte mußten der Menschheit zugeführt
werden. Diese Jugendkräfte waren eben nicht enthalten bei irgendeiner
Individualität, die sonst draußen in der Welt gearbeitet hat.
Wer für die Welt wirkt, der nutzt seine Kräfte ab, und
Abnutzen der Kräfte heißt eben alt werden. Wir könnten in der Zeit
zurückgehen und würden finden, wie Kultur nach Kultur aufsteigt: erst die
alte indische Kultur, darauf die urpersische, dann die ägyptisch-chaldäische
und so weiter, und wir würden sehen, daß immer große, bedeutende
Menschheitsführer da waren. Diese Menschheitsführer alle haben ihre besten
Kräfte hingegeben, um das Menschengeschlecht vorwärtszubringen. Die großen
heiligen Rishis haben ihre besten Kräfte hingegeben; Zarathustra, der
Inaugurator der persischen Kultur, hat seine besten Kräfte hingegeben;
Hermes, Moses und die Führer der chaldäischen Kultur, sie alle haben ihre
besten Kräfte hingegeben. Sie alle waren in einer gewissen Beziehung durch
das, was sie wirken konnten, die richtigen und besten Leiter und Lenker ihrer
Zeiten. Nehmen wir irgendeine Persönlichkeit im alten Indien. Sie hatte sich
immer wieder und wieder verkörpert, war in dieser oder jener Inkarnation
wiedererschienen, in der persischen, in der ägyptisch-chaldäischen
Kulturepoche, und indem sie wiedererschienen war, war ihre Seele immer älter
geworden, immer reifer und reifer; sie hatte sich hinauf erhoben zu immer
reiferen Kräften, aber die frischen Jugendkräfte hatte sie verloren. Man kann
heranreifen, kann Ungeheures leisten, wenn man eine alte Seele geworden ist,
welche durch viele Inkarnationen hindurch an sich gearbeitet hat, aber die
Seele ist eine alte Seele geworden. Man kann Großes lehren, viel leisten für
die Menschheit, aber die Jugendfrische und die Jugendkraft mußte man
notwendigerweise dareingeben, wenn man sich so hinaufentwickelt hatte.
Nehmen wir selbst einen Größten, der im Laufe der
Menschheitsentwickelung gewirkt hat: Zarathustra. Er war es, der aus so
großen Tiefen der spirituellen Welt heraus seiner Zeit die große Botschaft
von dem Sonnengeiste bringen konnte, er war es, der seine Menschheit
hinaufweisen konnte zu dem großen Geist, der später als der Christus erschien.
Er war es, der da sagte: In der Sonne ist er enthalten, Ahura Mazdao; er wird
sich der Erde nähern. Und er sprach von ihm große, bedeutsame Worte. Nur die
tiefste spirituelle Erkenntnis, das große entwickelte Hellsehen des
Zarathustra konnte jene Wesenheit schauen, von welcher die heiligen Rishis
noch sagten, Vishva Karman liege jenseits ihrer Sphäre, jene "Wesenheit,
welche er, Zarathustra, Ahura Mazdao nannte und deren Bedeutung für die
Menschheitsentwickelung er verkündete. Ein ungeheuer reifer Geist gehörte in
die Zarathustra-Körperlichkeit hinein schon damals, als Zarathustra die
urpersische Kultur begründete.
Wir können uns denken, daß diese Individualität durch ihre
folgenden Inkarnationen immer höher gestiegen ist, immer reifer, immer älter
geworden ist – und immer fähiger zu den größten Opfern für die Menschheit.
Diejenigen von Ihnen, welche andere Vorträge von mir gehört haben, werden
wissen, wie Zarathustra seinen Astralleib abgegeben hat, der später wieder
auflebte in dem Führer der ägyptischen Kultur, in Hermes, und wie er seinen
Ätherleib abgegeben hat an den Führer des althebräischen Volkes, an Moses.
Das alles kann man nur tun, wenn man eine mächtig entwickelte Seele hat. Dann
kann man eine so hoch entwickelte Individualität werden wie Zarathustra, der
dann sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung in der Zeit, als der Buddha
in Indien gewirkt hat, in Chaldäa aufgetreten ist und als der große Lehrer
Nazarathos oder Zarathas wirken konnte, der auch der Lehrer des Pythagoras
war. Das alles konnte jene große Seele werden, die der Führer und Inaugurator
der persischen Kultur war. Sie war bis zu diesem Punkte immer reifer und
reifer geworden.
Aber was nun notwendig war, als der Buddhismus verjüngt
werden sollte, das konnte, wie Sie aus alledem ersehen werden, diese Seele
nicht. Sie konnte unmöglich ganz jugendfrische Kräfte abgeben, die sich
gerade dadurch auszeichnen sollten, daß sie sich bis zur Geschlechtsreife in
ihrer Kindheit entwickelten, damit sie dann an den Nirmanakaya des Buddha abgegeben
werden konnten. Das hätte die Zarathustra-Wesenheit nimmermehr vermocht,
gerade weil sie von Inkarnation zu Inkarnation so hoch gestiegen war, so weit
aufgestiegen war.
Deshalb wäre es ihr nicht möglich gewesen, sich in einem
Kinde zu Beginn unserer Zeitrechnung so zu entwickeln, daß damit dasjenige
möglich geworden wäre, was notwendig geworden war.
Wenn wir also unter all den Individualitäten, die sich
damals entfaltet haben, Umschau halten, so finden wir nirgends einen
Menschen, der jetzt geboren werden konnte, der die Kraft hatte, sich so zu
entfalten, daß er im zwölften Jahre die jugendfrischen Kräfte abgeben konnte,
die den Buddhismus verjüngen sollten. Wir haben gerade den Blick gelenkt auf
die große, einzigartige Zarathustra-Individualität, um etwas
Außerordentliches zu erwähnen, und wir können uns sagen: Auch die
Zarathustra-Individualität war ungeeignet, um den Leib des Jesus bis zu der
Zeit zu beleben, da die astralische Mutterhülle abgestreift wurde, damit
diese sich mit dem Nirmanakaya des Buddha vereinigen konnte.
Woher also kam die große belebende Kraft des Jesusleibes?
Sie kam aus der großen Mutterloge der Menschheit, die der große
Sonnen-Eingeweihte, der Manu, lenkt. In das Kind, das dem Elternpaare geboren
wurde, das im Lukas-Evangelium Joseph und Maria genannt wird, wurde
hineingesenkt eine große individuelle Kraft, die gehegt und gepflegt worden
war in der großen Mutterloge, in dem großen Sonnenorakel. Es wurde in dieses
Kind hineingesenkt die beste, die stärkste jener Individualitäten. Welche
Individualität?
Wenn wir die Individualität, die in das Kind Jesus damals
hineinversenkt wurde, kennenlernen wollen, so müssen wir weit zurückgehen,
bis in die Zeit vor dem luziferischen Einfluß auf die Menschheit, bevor sich
in den Astralleib der Menschen der luziferische Einfluß hineinerstreckt hat.
Dieser luziferische Einfluß kam an die Menschen heran in derselben Zeit, als
das Urmenschenpaar, das menschliche Hauptpaar die Erde bevölkerte. Dieses
menschliche Hauptpaar war zwar stark genug, um die Menschensubstanz sozusagen
zu überwinden, so daß es sich verkörpern konnte, aber es war nicht stark
genug, um dem luziferischen Einfluß Widerstand zu leisten. Der luziferische
Einfluß kam heran, erstreckte seine Wirkungen auch in den astralischen Leib dieses
Hauptpaares, und die Folge war, daß es unmöglich war, alle die Kräfte, die in
Adam und Eva waren, auch herunterfließen zu lassen in die Nachkommen, durch
das Blut der Nachkommen. Den physischen Leib mußte man durch alle die
Geschlechter herunter sich fortpflanzen lassen, aber von dem Ätherleib
behielt man in der Leitung der Menschheit etwas zurück. Das drückte man eben
dadurch aus, daß man sagte: Die Menschen haben genossen von dem Baume der
Erkenntnis des Guten und Bösen, das heißt, was von dem luziferischen Einfluß
kam; aber es wurde auch gesagt: Jetzt müssen wir ihnen die Möglichkeit
nehmen, auch zu genießen von dem Baume des Lebens! Das heißt, es wurde eine
gewisse Summe von Kräften des Ätherleibes zurückbehalten. Die flössen jetzt
nicht auf die Nachkommen herunter. Es war also in Adam eine gewisse Summe von
Kräften, die ihm nach dem Sündenfalle genommen wurden. Dieser noch
unschuldige Teil des Adam wurde aufbewahrt in der großen Mutterloge der
Menschheit, wurde dort gehegt und gepflegt. Das war sozusagen die Adam-Seele,
die noch nicht berührt war von der menschlichen Schuld, die noch nicht
verstrickt war in das, wodurch die Menschen zu Fall gekommen sind. Diese
Urkräfte der Adam-Individualität wurden aufbewahrt. Sie waren da, und sie
wurden jetzt als "provisorisches Ich" dahin geleitet, wo dem Joseph
und der Maria das Kind geboren wurde, und in den ersten Jahren hatte dieses
Jesuskind die Kraft des ursprünglichen Stammvaters der Erdenmenschheit in
sich.
Oh, diese Seele war sehr jung erhalten geblieben. Sie war
nicht durchgeleitet worden durch die verschiedenen Inkarnationen, sie war
zurückbehalten worden auf einer sehr weit zurückgebliebenen Stufe, wie wenn
wir das Kind bei unserem hypothetischen Erziehungsversuche künstlich so
zurückhalten. Wer also lebte auf in dem Kindlein, das dem Paare Joseph und
Maria geboren war? Der Stammvater der Menschheit, der "alte Adam"
als ein "neuer Adam". Das hat schon Paulus gewußt (1. Korinther 15,
45); das liegt in dem, was sich hinter seinen Worten verbirgt. Und das hat
auch Lukas, der Schreiber des Lukas-Evangeliums, der ein Paulus-Schüler war,
gewußt. Daher spricht Lukas davon in einer ganz besonderen Weise. Er wußte,
daß etwas Besonderes notwendig war, um überhaupt diese Geistessubstanz
herunterzuleiten auf die Menschheit, er wußte, daß eine Blutsverwandtschaft
bis zu Adam hinauf notwendig war. Daher gibt er für den Joseph ein
Geschlechtsregister, das bis hinauf zu Adam führt, der unmittelbar aus der
geistigen Welt selbst hervorgeht, daher in der Redeweise des Lukas von Gott
stammt, er ist ein "Sohn Gottes". Bis zu Gott hinauf wird bei Lukas
die Geschlechterfolge gegeben (Lukas 3, 23–38).
Es verbirgt sich ein bedeutendes Mysterium gerade in dem,
was wir das Geschlechtskapitel des Lukas nennen: daß gemeinsames Blut hinunterfließen
mußte durch die Generationen und in ununterbrochener Folge bewahrt wurde bis
zu dem spätesten Nachkommen, damit, wenn die Zeit erfüllt wäre, auch der
Geist hinuntergeleitet werden könnte auf die Nachkommen. – So verband sich
mit dem Leibe, der dem Joseph und der Maria geboren wurde, dieser unendlich
jugendliche Geist, dieser von allen Erdenschicksalen unberührte Geist, diese
junge Seele, deren Kräfte, wenn wir sie suchen wollten, im alten Lemurien
gesucht werden müßten. Dieser Geist allein war stark genug, um ganz
hineinzustrahlen in den astralischen Mutterleib und, als dieser abgestreift
wurde, ihm die Kräfte zu überlassen, die er brauchte, um sich in fruchtbarer
Weise mit dem Nirmanakaya des Buddha zu vereinigen.
Wir dürfen also fragen: Was schildert uns denn eigentlich
das Lukas-Evangelium, indem es zu reden beginnt über den Jesus von Nazareth?
Es schildert uns erstens einen Menschen, der in der Blutsverwandtschaft
seinen physischen Leib hinaufleitete bis zu Adam, bis zu den Zeiten, in welchen
innerhalb der Erdenverödung durch ein Hauptpaar auf der Erde die Menschheit
gerettet worden ist. Und es schildert uns weiter, sich ganz auf den
Gesichtspunkt der Wiederverkörperung stellend, die Wiederverkörperung einer
Seele, die am längsten gewartet hatte vor ihren Wiederverkörperungen. Die
Adam-Seele vor dem Sündenfall, die am längsten gewartet hatte, finden wir
wieder in dem Jesusknaben. Wir dürfen also, so phantastisch es für die
heutige Menschheit klingen wird, sagen, daß jene Individualität, welche durch
die große Mutterloge der Menschheit hineingeleitet wurde in das
Jesuskindlein, nicht nur abstammte von den physisch ältesten Geschlechtern
der Menschheit, sondern sie ist auch die Wiederverkörperung des ersten
Mitgliedes der Menschheit überhaupt. – Jetzt wissen wir, wer derjenige war,
der da im Tempel dargestellt und dem Simeon gezeigt wurde, wer der "Sohn
Gottes" war nach Lukas. Nicht von dem gegenwärtigen Menschen spricht er,
sondern er bezeugt, daß dieser Mensch die Wiederverkörperung von dem ist, der
früher da war, der als der allerälteste Blutsstammvater aller der
Geschlechter da war.
Wenn wir alles das zusammenfassen, so müssen wir jetzt das
Folgende sagen. Es hat im fünften, sechsten Jahrhundert vor unserer
Zeitrechnung in Indien der große Bodhisattva gelebt, der die Mission hatte,
der Menschheit die Wahrheiten zu bringen, welche nach und nach innerhalb der
Menschheit selbst geboren werden sollten. Die Anregung dazu hat er gegeben.
Er ist dadurch damals zum Buddha geworden. Daher tritt er in einem ferneren
Erdenleibe, der seiner Individualität vollständig entspricht, nicht wieder
auf. Er erscheint aber wieder in dem Nirmanakaya, dem Leib der Verwandlungen,
aber nur bis zur ätherisch-astralischen Welt. In der Form der Engelscharen
sehen ihn da die Hirten, die für einen Moment hellsichtig werden, weil sie
sehen sollen, was ihnen verkündet wird. Er neigt sich über das Kind, das dem
Joseph und der Maria geboren wird. Und es hat einen Zweck, daß er sich gerade
über dieses Kind neigt.
Was der große Buddha der Menschheit hat bringen können, das
mußte in einer reifen Gestalt vorhanden sein; es ist schwierig zu verstehen,
es steht auf bedeutenden Geisteshöhen. Damit es allgemein fruchtbar werden
konnte, mußte in das, was sich der Buddha bis dahin erobert hatte, eine Kraft
einfließen, die ganz jugendfrisch war. Er mußte diese Kraft aus der Erde
heraufsaugen, indem er sich zu einem Menschenkinde herabneigte, von dem er
alle die Jugendkräfte aus dem sich ablösenden astralischen Mutterleibe
aufnehmen konnte. Dieser Mensch wurde ihm dadurch geboren, daß aus der
Bluts-, aus der Generationsfolge ein Kind geboren wurde, das er, der es am
besten wußte, zurückverfolgen konnte bis zu dem Stammvater der Menschheit,
das er aber auch zurückführte bis zu der alt-jungen Seele der Menschheit
während der lemurischen Zeit und das er aufzeigen konnte als den
wiederverkörperten neuen Adam. Dieses Kind, das eine Seele hatte, welche die
Mutterseele der Menschheit war, die jung erhalten worden war durch die
Epochen hindurch, es lebte so, daß es alle frischen Kräfte hineinstrahlte in
den astralischen Leib, der sich dann loslöste, hinaufstieg und sich mit dem
Nirmanakaya des Buddha vereinigte.
Das sind aber nicht alle Tatsachen, durch die wir das
wunderbare Mysterium von Palästina verstehen können, das ist nur eine Seite.
Wir verstehen jetzt, wer in Bethlehem geboren worden ist, nachdem von
Nazareth Joseph und Maria dorthin gereist sind, und wer den Hirten verkündet
worden ist. Aber das ist noch nicht alles. In der Zeit am Beginne unserer
Zeitrechnung geschah so mancherlei Seltsames und Bedeutungsvolles, um das
größte Ereignis der Menschheitsentwickelung zustande zu bringen. Um das
verständlich zu machen, was allmählich zu diesem großen Ereignisse
hinaufführte, müssen wir folgendes noch betrachten.
Es gab innerhalb des althebräischen Volkes das
David-Geschlecht. Diejenigen, welche wir die "davidischen
Geschlechter" nennen, leiteten sich alle auf ihren Stammvater David
zurück. Sie können es nun aus der Bibel ersehen, daß David zwei Söhne hatte,
Salomo und Nathan (2. Samuelis 5, 14). Zwei Geschlechterfolgen, die
salomonische Linie und die nathanische Linie, stammen also von David ab. Wenn
wir daher die Zwischenglieder unberücksichtigt lassen, können wir sagen: In
der Zeit, als unsere Zeitrechnung beginnt, sind in Palästina vorhanden die
Nachkommen sowohl der salomonischen Linie wie auch der nathanischen Linie des
davidischen Geschlechtes. Und es lebt als ein Nachkomme aus derjenigen Linie,
die wir die nathanische Linie des davidischen Geschlechtes nennen, ein Mann
unter dem Namen Joseph in Nazareth. Er hat zu seiner Gemahlin eine Maria. Und
es lebt ein Nachkomme der salomonischen Linie des David-Geschlechtes in
Bethlehem, der auch Joseph heißt. Es ist nicht weiter wunderbar, daß da zwei
Menschen leben aus dem Geschlechte Davids, welche beide Joseph heißen, und
daß beide mit einer Maria, wie sie die Bibel nennt, vermählt sind. Wir haben
also zwei Elternpaare im Beginne unserer Zeitrechnung in Palästina; beide
tragen die Namen Joseph und Maria. Das eine Elternpaar führt seine Abkunft
auf die salomonische Linie des Geschlechtes David zurück, das heißt auf die
"königliche Linie"; das andere Elternpaar, dasjenige in Nazareth,
führt seine Abkunft zurück auf die nathanische Linie, das heißt auf die
"priesterliche Linie". Dieses letztere Elternpaar aus der
nathanischen Linie nun hatte das Kind, das ich Ihnen gestern und heute
geschildert habe. Und dieses Kind lieferte einen solchen astralischen
Mutterleib, der hinaufgenommen werden konnte von dem Nirmanakaya des Buddha.
Dieses Elternpaar aus der nathanischen Linie ging damals, als das Kind
geboren werden sollte, von Nazareth nach Bethlehem – wie Lukas sagt –
"zur Schätzung" (Lukas 2, 4–5). Das schildert uns das
Geschlechtsregister des Lukas-Evangeliums.
Das andere Elternpaar, das gar nicht in Nazareth
ursprünglich wohnte – man muß die Evangelien nur wörtlich nehmen –, lebte in
Bethlehem, und das wird uns geschildert von dem Schreiber des
Matthäus-Evangeliums (Matthäus 2, 1). Die Evangelien schildern immer die
Wahrheit – man braucht gar nicht zu klügeln –, und die Menschen werden durch
die Anthroposophie schon wieder dahin kommen, die Evangelien wörtlich zu
nehmen. Diesem Elternpaar der salomonischen Linie wird ein Kind geboren, das
auch Jesus heißt. Dieses Kind hat auch eine mächtige Individualität innerhalb
seines Leibes. Aber dieses Kind hatte zuerst eine andere Aufgabe – die
Weisheit der Welt ist tief –, dieses Kind sollte nicht dazu berufen sein, dem
astralischen Mutterleibe die jugendfrischen Kräfte abzugeben, sondern es war
dazu berufen, dasjenige der Menschheit zu bringen, was man nur bringen kann,
wenn man eine reife Seele ist. Dieses Kind wurde durch alle Kräfte, die dabei
in Betracht kamen, so gelenkt, daß es die Verkörperung jener Individualität
sein konnte, die einstmals in Persien den Ahura Mazdao gelehrt hat, die
einstmals ihren Astralleib abgeben konnte an Hermes und ihren Ätherleib an
Moses und die wiedererschien als der große Lehrer des Pythagoras, als
Zarathas oder Nazarathos, der große Lehrer im alten Chaldäa: es ist keine
andere Individualität als die Zarathustra-Individualität. Die Ichheit des
Zarathustra wurde wiederverkörpert in dem Kinde, von dem uns der
Matthäus-Evangelist erzählt, daß es geboren wurde von einem Elternpaare
Joseph und Maria, welches aus der königlichen Linie, aus der salomonischen
Linie des davidischen Geschlechtes stammte und ursprünglich schon in
Bethlehem wohnte.
So finden wir bei Matthäus den einen Teil der Wahrheit, bei
Lukas den anderen Teil der Wahrheit. Wörtlich müssen wir beide nehmen, denn
die Wahrheit der Welt ist kompliziert. Jetzt wissen wir, was geboren wurde
aus der priesterlichen Linie des Hauses David. Jetzt wissen wir aber auch,
daß aus der königlichen Linie jene Individualität geboren wurde, welche als Zarathustra
einstmals in Persien gewirkt hat und dort die Magie des alten Perserreiches,
die königliche Magie, begründet hat. So lebten nebeneinander die zwei
Individualitäten: die junge Adam-Individualität in dem Kinde aus der
priesterlichen Linie des Hauses David und die Zarathustra-Individualität in
dem Kinde aus der königlichen Linie des Geschlechtes David.
Wie und warum das alles geschah, und wie die Entwickelung
weitergelenkt wurde, davon morgen weiter.
Fünfter Vortrag
19. September 1909
Der Zusammenfluß der
großen Geistesströmungen des Buddhismus und des Zarathustra in Jesus von
Nazareth. Der nathanische und der salomonische Jesusknabe
Die großen Geistesströmungen der Menschheit, welche ihren
Weg durch die Welt nehmen, haben alle ihre besondere Mission. Sie laufen
nicht vereinzelt durch die Welt hin, sondern sie gehen nur durch gewisse
Epochen hindurch getrennt; dann kreuzen sie sich in der mannigfaltigsten
Weise und befruchten sich. Einen solchen großen, gewaltigen Zusammenfluß von
Geistesströmungen der Menschheit sehen wir insbesondere in dem Ereignis von
Palästina. Wir haben ja die Aufgabe, uns dieses Ereignis mit immer größerer
Klarheit vor die Seele zu führen. Aber Weltanschauungen, wie sie ihren Weg
nehmen, laufen nicht in der Art, daß sie, wie man es sich etwa abstrakt
vorstellen könnte, gleichsam wie durch die Luft gehen und sich wie in einem
Punkte vereinigen, sondern Weltanschauungen gehen durch Wesenheiten, durch
Individualitäten. Wo eine Weltanschauung zuerst auftritt, muß sie getragen
werden durch eine Individualität. Wo Geistesströmungen zusammenfließen und
sich gegenseitig befruchten, da muß auch in denen, welche die Träger dieser
Weltanschauungen sind, etwas ganz Besonderes vorgehen.
Es mag mancher in dem gestrigen Vortrage sehr kompliziert gefunden
haben, wie die beiden großen Geistesströmungen des Buddhismus und des
Zarathustrismus sich im Konkreten in dem Ereignisse von Palästina begegnen.
Würden wir nur abstrakt sprechen und nicht konkret auf die Ereignisse
losgehen, so brauchten wir nur zu zeigen, wie diese beiden Weltanschauungen
sich verbinden. Als Anthroposophen haben wir aber die Aufgabe, sowohl auf
jene Individualitäten hinzuweisen, welche die Träger der beiden
Weltanschauungen waren, wie auch auf das, was in ihnen vorhanden ist; denn
der Anthroposoph soll vom Abstrakten immer mehr ins Konkrete hineinkommen. So
darf es Sie nicht wundern, daß da, wo so etwas Großes, Gewaltiges geschehen
sollte, auch eine große äußere Komplikation der Tatsachen vorhanden war, daß
nicht ohne weiteres der Zarathustrismus und der Buddhismus zusammenfließen
konnten. Das mußte langsam und allmählich vorbereitet werden.
So sehen wir, wie der Buddhismus einströmte und wirkte in
der Persönlichkeit, welche dem Joseph und der Maria aus der nathanischen
Linie des Hauses David geboren wurde als das Kind, das uns durch das
Lukas-Evangelium geschildert wird. Auf der anderen Seite haben wir,
abstammend aus der salomonischen Linie des davidischen Geschlechtes, jenes
Elternpaar Joseph und Maria mit dem Jesuskinde, das ursprünglich in Bethlehem
wohnte und das uns der Schreiber des Matthäus-Evangeliums schildert. Dieser
Jesusknabe aus der salomonischen Linie ist der Träger jener Individualität,
die einst als Zarathustra die urpersische Kultur begründete. So haben wir am
Ausgangspunkte unserer Zeitrechnung als tatsächliche Individualitäten
nebeneinanderstehend die beiden Strömungen des Buddhismus auf der einen
Seite, wie er uns zunächst im Lukas-Evangelium geschildert wird, und des
Zarathustrismus auf der anderen Seite, wie er uns in dem Jesus aus der
salomonischen Linie des Geschlechtes David durch Matthäus geschildert wird.
Die Zeitpunkte der Geburten dieser beiden Knaben fallen nicht genau zusammen.
Ich muß natürlich heute etwas sagen, was in den Evangelien
nicht steht; aber Sie werden gerade die Evangelien genauer verstehen, wenn
Sie etwas aus der Akasha-Chronik erfahren, wovon die Evangelien zwar die
Wirkungen und Folgen andeuten, was sie aber nicht selber erzählen konnten.
Man muß festhalten, daß für alle Evangelien das gilt, was am Schlüsse des
Johannes-Evangeliums steht, "daß alle Bücher der Welt nicht ausreichen
würden, um alle Tatsachen zu schildern, die zu schildern wären"
(Johannes 21,25). Und die Offenbarungen, die durch das Christentum der
Menschheit geworden sind, sind ja auch nicht solche, welche einmal
abgeschlossen und in Büchern geschrieben sind und damit als Ganzes in
Buchform der Welt gegeben worden wären. Wahr ist das Wort "Ich bin bei
euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Matthäus 28, 20). Nicht als ein
Toter, sondern als ein Lebendiger ist der Christus da, und was er uns zu
geben hat, das können die, denen die geistigen Augen geöffnet sind, immer
wieder von ihm erfahren. Das Christentum ist eine lebendige Geistesströmung,
und seine Offenbarungen werden fortdauern, solange die Menschen imstande
sind, die Offenbarungen aufzunehmen. So werden heute einige Tat Sachen
erwähnt werden, die sich in ihren Folgen in den Evangelien finden, die aber
so nicht selbst darinnen stehen. Sie können sie aber durchaus an den äußeren
Tatsachen prüfen, und Sie werden sie dann bewahrheitet finden.
Einige Monate voneinander geschieden also lagen die Geburten
der beiden Jesusknaben. Aber sowohl der Jesus des Lukas-Evangeliums wie auch
der Johannes waren doch um so viel später geboren, daß sie der sogenannte
bethlehemitische Kindermord nicht treffen konnte. Denn haben Sie einmal
darüber nachgedacht, daß diejenigen, welche von dem bethlehemitischen
Kindermord lesen, sich doch fragen müßten: Warum konnten wir denn einen
Johannes dann noch haben? – Aber die Tatsachen sind solche, daß Sie sie gegen
alles bewahrheitet finden können. Denken Sie sich, daß der Jesus des
Matthäus-Evangeliums nach Ägypten geführt wird von seinen Eltern und daß kurz
vorher oder zu gleicher Zeit der Johannes geboren wird. Der bleibt nach der
gewöhnlichen Anschauung in Palästina, wo ihn doch eigentlich das hätte
treffen müssen, was Herodes verhängt hat. Er hätte also eigentlich durch die
Mordtat des Herodes sterben müssen und nicht da sein können. Sie sehen, daß
man über alle diese Dinge wirklich nachdenken muß. Denn wenn damals wirklich
alle Kinder getötet worden sind, die in den ersten zwei Lebensjahren waren,
so hätte der Johannes mitgetötet werden müssen. Sie werden es aber erklärlich
finden, wenn Sie die Tatsachen der Akasha-Chronik nehmen und sich klar sind,
daß die Geschehnisse des Matthäus-Evangeliums und des Lukas-Evangeliums nicht
in die gleiche Zeit fallen, so daß die Geburt des nathanischen Jesus nicht
mehr in die Zeit des bethlehemitischen Kindermordes fällt. Und ebenso ist es
mit dem Johannes. Obwohl nur Monate dazwischen sind, so genügen sie doch, um
diese Tatsachen möglich zu machen.
Ebenso werden Sie aus den intimeren Tatsachen den Jesus des
Matthäus-Evangeliums verstehen lernen. In diesem Knaben wird die
Individualität wiederverkörpert, die wir als den Zarathustra der urpersischen
Kultur kennengelernt haben. Wir wissen von diesem Zarathustra, daß er einst
die große Lehre von dem Ahura Mazdao, dem großen Sonnenwesen, seinem
persischen Volke gegeben hat. Wir wissen, daß wir uns dieses Sonnenwesen so
vorzustellen haben, daß es der geistig-seelische Teil von dem ist, wovon uns
die äußere physische Sonne den physischen Teil darstellt. Daher konnte
Zarathustra sagen: Sehet nicht nur die physische Sonne strahlen, sondern
sehet das gewaltige Wesen, das geistig ebenso seine wohltätigen Wirkungen
herunterschickt, wie die physische Sonne ihre wohltätigen Wirkungen in Licht
und Wärme sendet. – Ahura Mazdao, den man später mit anderen Worten den
Christus nannte, den verkündete Zarathustra dem persischen Volke. Er
verkündete ihn noch nicht als ein Wesen, das auf der Erde gewandelt ist; er
konnte nur hinweisen zur Sonne und sagen: Da oben wohnt er; er nähert sich
allmählich der Erde und wird einstmals in einem Leibe auf der Erde wohnen.
Hier kann uns auch der große, gewaltige Unterschied des
Zarathustrismus und des Buddhismus aufgehen. Es ist ein tiefgehender
Unterschied zwischen beiden, solange sie getrennt waren; und die Unterschiede
gleichen sich aus in dem Momente, als sie durch die Ereignisse von Palästina
zusammenfließen und wieder verjüngt werden.
Lenken wir noch einmal den Blick zurück auf das, was der
Buddha der Welt zu geben hatte. Wir haben die Lehre des Buddha aufgezählt als
den achtgliedrigen Pfad, als das, was die Menschenseele als ihren Inhalt
aufzunehmen hat, wenn sie den schlimmen Wirkungen des Karma entgehen will.
Was Buddha der Welt gab, war das, was die Menschen im Laufe der Zeit aus
ihrer eigenen Gesinnung und Moral zu entwickeln haben als Mitleid und Liebe.
Ich habe Ihnen auch gesagt, daß in dem Augenblicke, als das Bodhisattva-Wesen
in Buddha erschien, ein einzigartiger Zeitpunkt vorliegt. Wäre es damals
nicht geschehen, daß der Bodhisattva vollständig in dem Leibe des großen
Gautama Buddha erschienen wäre, dann hätte nicht in die eigene menschliche
Seele aller Menschen dasjenige übergehen können, was wir Gesetzmäßigkeit,
Dharma, nennen, die der Mensch aus sich selbst heraus nur entwickeln kann,
wenn er seinen astralischen Inhalt aus sich heraussetzt, um sich zu befreien
von allen schlimmen Wirkungen des Karma. Das wird uns auch in großartiger
Weise in der Buddha-Legende angedeutet, indem gesagt wird, daß Buddha dahin
gelangt, "das Rad des Gesetzes zu rollen". Das heißt, es ging
wirklich von der Erleuchtung des Bodhisattva zum Buddha eine Stromwelle über
die ganze Menschheit hin, und die Folge davon war, daß die Menschen jetzt aus
ihrer eigenen Seele heraus Dharma entwickeln konnten und nach und nach sich
hinaufschwingen können zu der ganzen Tiefe des achtgliedrigen Pfades. Dort
liegt der Ursprung, als der Buddha zuerst die Lehre entwickelte, die
eigentlich der moralischen Gesinnung der Erdenmenschen zugrunde zu legen war.
Das war die Aufgabe dieses Bodhisattva. Und wie die
einzelnen Aufgaben auf die großen Individualitäten verteilt sind, das ersehen
wir, wenn wir ursprünglich im Buddhismus groß und gewaltig alles finden, was
der Mensch in seiner eigenen Seele als sein großes Ideal erleben kann. Das
Ideal der menschlichen Seele, was der Mensch ist und sein kann, das ist der
Inhalt der Predigt des Buddha. Aber das war auch genug für diese
Individualität. Alles ist Innerlichkeit im Buddhismus, alles bezieht sich auf
den Menschen und seine Entwickelung, und wir finden nichts im ursprünglichen,
wirklichen Buddhismus von dem, was wir kosmologische Lehren nennen können,
wenn sie auch später hineingetragen worden sind. Es muß ja alles
zusammengegliedert werden. Aber die eigentliche Mission des Bodhisattva war
diese: den Menschen die Lehre von der Innerlichkeit der ureigenen Seele zu
bringen. So lehnt es der Buddha in gewissen Predigten sogar ab, über die
kosmischen Zusammenhänge etwas Besonderes zu sagen. Alles wird so geprägt,
daß die menschliche Seele, wenn sie die Lehre des Buddha auf sich wirken
läßt, immer besser und besser werden kann. Der Mensch wird aufgefaßt als ein
Wesen in sich; abgesehen wird von dem großen Mutterschoße des Universums, aus
dem der Mensch hervorgegangen ist. Weil das die besondere Mission des
Bodhisattva war, deshalb wirkt die Lehre des Buddha, wenn sie wahr erkannt
wird, so warm und innerlich auf die menschliche Seele, und deshalb erscheint
sie der menschlichen Seele, die sich mit ihr befassen will, so gefühlsmäßig
durchdrungen, so innerlich warm da, wo sie, wiederum verjüngt, in dem Evangelium
des Lukas auftritt.
Eine ganz andere Aufgabe hatte die Individualität, die als
Zarathustra im alten persischen Volke inkarniert war, ganz die
entgegengesetzte Aufgabe. Zarathustra lehrte, den Gott draußen, den großen
Kosmos geistig zu begreifen und geistig zu durchdringen. Buddha lenkte den
Blick auf die Innerlichkeit und sagte: Wenn sich der Mensch entwickelt, so
treten aus dem Nichtwissen allmählich auf die "sechs Organe", die
wir aufgezählt haben als die fünf Sinnesorgane und das Manas. – Alles aber,
was im Menschen ist, ist aus der großen Welt herausgeboren. Wir hätten kein
lichtempfindendes Auge, wenn das Licht nicht das Auge aus dem Organismus
herausgeboren hätte. "Das Auge ist am Lichte für das Licht
geschaffen", sagt Goethe. Das ist eine tiefe Wahrheit. Aus
gleichgültigen Organen, die einst im Menschenleibe waren, hat das Licht das
Auge herausgebildet. Ebenso bilden alle geistigen Kräfte in der Welt am
Menschen. Was in ihm innerlich ist, das ist zuerst aus den göttlich-geistigen
Kräften zusammenorganisiert. Für alles Innerliche findet sich daher ein
äußerliches. Es strömen von außen die Kräfte in den Menschen ein, die dann in
ihm sind. Und Zarathustra hatte die Aufgabe, auf das hinzuweisen, was äußeres
ist, was in der Umgebung des Menschen ist. Daher sprach er zum Beispiel von
den Amshaspands, von den großen Genien, von denen er zunächst sechs aufzählte
– eigentlich sind es zwölf, aber die anderen sechs sind verborgen. Diese
Amshaspands wirken von außen organisierend als die Bildner und Gestalter der
Organe des Menschen. Zarathustra zeigte, wie hinter den Sinnesorganen des
Menschen die Schöpfer des Menschen stehen. Auf die großen Genien, auf die
Kräfte, die wir außer uns finden, wies Zarathustra hin. Was als Kräfte im
Menschen wirkt, was verborgene Kräfte im Menschen sind, darauf wies Buddha
hin. Zarathustra aber wies dann auf diejenigen Kräfte und Wesenheiten, die
unter den Amshaspands stehen, die er die achtundzwanzig Izards oder Izeds
nannte, und die wieder von außen in den Menschen hineinwirken, um mit an
seiner inneren Organisation zu arbeiten. Also wieder auf das Geistige im
Kosmos, auf die äußeren Zusammenhänge wies Zarathustra hin. Und während der
Buddha auf die eigentliche Denksubstanz hinwies, woraus die Gedanken aus der
menschlichen Seele aufsteigen, wies Zarathustra zu den Farohars oder Feruers
oder Frawarschai hin, zu den weltschöpferischen Gedanken, die uns umgeben,
die überall in der Welt zerstreut sind. Denn was der Mensch an Gedanken hat,
das ist überall in der Welt draußen vorhanden.
So hatte Zarathustra eine Weltanschauung zu verkünden, die
sich mit der Entzifferung, mit der Zergliederung der äußeren Welt zu befassen
hatte. Er hatte eine Weltanschauung für ein Volk zu liefern, das äußerlich
Hand anzulegen, das die äußere Welt zu bearbeiten hatte. Ganz im Einklang ist
die Mission des Zarathustra mit den Charaktereigentümlichkeiten des
urpersischen Volkes. So könnten wir auch sagen, daß es dem Zarathustra
beschieden war, Kraft und Tüchtigkeit in der äußeren Weltenwirkung
heranzuerziehen, wenn dies auch zunächst in einer vielleicht für den heutigen
Menschen abstoßenden Weise zum Ausdruck kam. Kraft und Tüchtigkeit und
Sicherheit für das äußere Wirken zu erzeugen durch das Wissen, daß der Mensch
nicht nur in seinem Innern geborgen ist, sondern daß er im Schöße einer
göttlichgeistigen Welt ruht, das war die Mission des Zarathustra –
hinzuweisen darauf, daß der Mensch sich sagt: Wo du auch immer im Weltall
stehst, du stehst nicht allein, du stehst in einem durchgeistigten Kosmos und
bist ein Teil der Weltengötter und Weltengeister, du bist herausgeboren aus
dem Geiste und ruhst darinnen. Mit jedem Atemzuge saugst du göttlichen Geist
ein, mit jedem Atemzuge magst du dem großen Geiste ein Opfer bringen, indem
du ausatmest. – Daher mußte auch die Einweihung des Zarathustra entsprechend
seiner Mission eine andere sein als die der anderen großen Missionare der
Menschheit.
Erinnern wir uns nun, was jene
Individualität tun durfte, die in Zarathustra inkarniert war. Sie stand auf
einer solchen Höhe der Entwickelung, daß sie Vorsorgen konnte für die nächste
Kulturströmung nach der urpersischen, für die ägyptische Kultur. – Zwei
Schüler hatte Zarathustra: diejenige Individualität, die später als der
ägyptische Hermes wiedererschien, und jene, die später als Moses
wiedererschien. Und als die beiden Individualitäten wieder in der Menschheit
zu ihrem weiteren Wirken inkarniert wurden, da wurde der Astralleib des
Zarathustra, den er als Opfer hingegeben hatte, dem Hermes eingegliedert.
Eine Wiederverkörperung des Astralleibes des Zarathustra haben wir in dem
ägyptischen Hermes zu sehen. Hermes trug in sich den Astralleib des
Zarathustra, der ihm übergeben wurde, damit alles, was Zarathustra an äußerer
Weltwissenschaft in sich aufgenommen hatte, in der äußeren Welt
wiedererstehen konnte. Und es wurde an Moses der Ätherleib des Zarathustra
übertragen; und weil mit dem Ätherleibe alles verknüpft ist, was sich in der
Zeit entwickelt, so konnte Moses, als er sich der Geheimnisse seines
Ätherleibes bewußt wurde, auferwecken die Vorgänge in der Zeit in großen,
gewaltigen Bildern, wie sie uns in der Genesis entgegentreten. So wirkte
Zarathustra durch die Gewalt seiner Individualität weiter, inaugurierend,
influenzierend die ägyptische Kultur und das, was sich aus dieser bildete als
die althebräische Kultur.
Eine solche Individualität ist zu Großem berufen auch durch
ihr Ich. Das Ich des Zarathustra inkarnierte sich in anderen Persönlichkeiten
immer wieder. Denn eine Individualität, die es so weit gebracht hat, kann
sich immer wieder einen astralischen Leib heiligen und einen Ätherleib stark
machen, auch wenn sie die ursprünglichen abgegeben hat. So wurde auch
Zarathustra wiedergeboren und erschien wieder sechshundert Jahre vor unserer
Zeitrechnung im alten Chaldäa als Zarathas oder Nazarathos, der der Lehrer
der chaldäischen Geheimschule wie auch der Lehrer des Pythagoras wurde und
große, gewaltige Einblicke in die äußere Welt gewinnen konnte. Wenn wir uns
mit wahrem Verständnis in die Weisheit der Chaldäer hineinversetzen mit dem,
was uns nicht die Anthropologie, sondern die Anthroposophie zu geben vermag,
dann bekommen wir eine Ahnung davon, was Zarathustra als Zarathas in den
Geheimschulen der alten Chaldäer lehren konnte.
Alles, was Zarathustra lehren und der Welt bringen konnte,
das zielte, wie wir gesehen haben, auf die äußere Welt ab, um in die äußere
Welt Ordnung und Harmonie zu bringen. Daher war auch die Kunst, Reiche zu
bilden und zu organisieren, wie es dem Fortgange der Menschheit entspricht,
und was die soziale Ordnung möglich macht, die Mission des Zarathustra. Und
daher können diejenigen, die zu den Schülern des Zarathustra gehörten, mit
Recht nicht nur große Magier, große Eingeweihte, sondern auch immer Könige
genannt werden, das heißt solche, welche die Kunst der Herstellung äußerer
sozialer Organisation und Ordnung kennen.
Eine ungeheure Anhänglichkeit entwickelte sich in den
Schulen der Chaldäer zu der Individualität – nicht zu der Persönlichkeit –
des Zarathustra. Sie fühlten sich verwandt, diese Weisen des Morgenlandes,
mit ihrem großen Führer. Sie sahen in ihm den Stern der Menschheit, denn
"Zoroaster" ist eine Umschreibung des Wortes "Goldstern"
oder "Stern des Glanzes". Sie sahen in ihm einen Abglanz der Sonne
selbst. Und aus ihrer tiefen Weisheit heraus konnte es ihnen nicht verborgen
bleiben, als ihr Meister in Bethlehem wiedererschien. Da wurden sie durch
ihren Stern geführt und brachten ihm die äußeren Zeichen für das Beste, was
er den Menschen hatte geben können. Das Beste, was man einem Menschen aus der
Zarathustra-Strömung geben konnte, war das Wissen von der äußeren Welt, von
den Geheimnissen des Kosmos, aufgenommen in den menschlichen Astralleib, in
Denken, Fühlen und Wollen, so daß die Zarathustra-Schüler ihr Denken, Fühlen
und Wollen, die Kräfte ihrer Seele, durchsetzen wollten mit der Weisheit, die
man einsaugen kann aus den tiefen Grundlagen der göttlich-geistigen Welt. Für
dieses Wissen, das man sich durch die Einsaugung der äußeren Geheimnisse zu
eigen machen kann, hatte man als Symbole Gold, Weihrauch und Myrrhen: Gold
als Symbolum für das Denken, Weihrauch für die Frömmigkeit, für das, was uns
als Fühlen durchdringt, und Myrrhen für die Kraft des Wollens. So zeigten sie
ihre Zusammengehörigkeit mit ihrem Meister, als sie vor ihm erschienen, da er
wiedergeboren wurde in Bethlehem. Daher erzählt uns der Schreiber des
Matthäus-Evangeliums tatsächlich richtig, wie die Weisen, unter denen der
Zarathustra gewirkt hatte, wußten, daß er wiedererschienen war unter den
Menschen, und wie sie durch die drei Symbole – Gold, Weihrauch und Myrrhen –,
die Symbole für das Beste, was er ihnen gegeben hat, ihre Verwandtschaft mit
ihm ausdrückten (Matthäus 2,11).
Es handelte sich nun darum, daß der Zarathustra in der
Gestalt des Jesus aus der salomonischen Linie des davidischen Geschlechtes
kraftvoll wirken konnte, um in einer verjüngten Gestalt alles der Menschheit
wiederzugeben, was er ihr schon früher gegeben hatte. Er mußte dazu alle
Kraft zusammenfassen, die er schon einmal besessen hatte. Daher konnte er auch
zunächst nicht in einen Leib hineingeboren werden, der aus der priesterlichen
Linie des Hauses David stammte, sondern nur in einen solchen aus der
königlichen Linie. Damit ist im Matthäus-Evangelium ausgedrückt die
Verwandtschaft des Königsnamens im alten Persien mit der Abstammung jenes
Kindes, in das Zarathustra inkarniert wurde. Auf diese Geschehnisse haben
auch die alten Weisheitsbücher Vorderasiens immer hingedeutet. Wer diese
Weisheitsbücher wirklich versteht, der liest sie anders als jene, welche die
Tatsachen nicht kennen und daher alles durcheinanderwerfen. Da haben wir zum
Beispiel im Alten Testament zwei Prophezeiungen, eine in den Apokryphen des
Henoch, die mehr hinweist auf den nathanischen Messias aus der priesterlichen
Linie, und eine in den Psalmen, die hingeht auf den Messias aus der
königlichen Linie. Alles einzelne, was in den Schriften gemeint ist, stimmt
mit den Tatsachen, die wir aus der Akasha-Chronik gewinnen können, überein.
Aber alles einzelne mußte der Zarathustra jetzt zusammennehmen, was einst an
Kräften in ihm war. An die ägyptische und an die althebräische Kultur – an
Hermes und an Moses – hatte er abgegeben, was in seinem Astralleibe und in
seinem Ätherleibe war. Damit mußte er sich wieder vereinigen. Er mußte
gleichsam wieder zurückholen die Kräfte seines Ätherleibes aus Ägypten. Ein
tiefes Geheimnis tut sich da vor unseren Augen auf: der Jesus der
salomonischen Linie des Hauses David, der der wiederverkörperte Zarathustra
ist, muß nach Ägypten geführt werden; und er wird dahin geführt. Denn da sind
die Kräfte, die seinem Astralleib und Ätherleib entströmt sind, die er
abgegeben hat zuerst an Hermes und dann an Moses. Weil er auf die ägyptische
Kultur gewirkt hatte, mußte er gleichsam wieder zurückholen die Kräfte, die
er dahin abgegeben hatte. Deshalb die "Flucht nach Ägypten" und
das, was geistig geschah, die Aufsaugung aller der Kräfte, die er jetzt
brauchte, um kraftvoll der Menschheit in verjüngter Form das wiederzugeben,
was er ihr in den verflossenen Zeiten gegeben hatte.
So sehen wir, wie der bethlehemitische Jesus, dessen Eltern
also früher in Bethlehem ansässig waren, von Matthäus richtig geschildert
wird. Nur Lukas erzählt, daß die Eltern seines Jesus in Nazareth ansässig
waren, daß sie zur Schätzung nach Bethlehem gingen und daß in dieser kurzen
Zeit der Jesus des Lukas dort geboren wurde, worauf dann die Eltern wieder
nach Nazareth zurückgingen. Im Matthäus-Evangelium wird nur darauf
hingewiesen, daß der Jesus in Bethlehem geboren wird und daß er nach Ägypten
geführt werden muß. Erst nach der Rückkehr aus Ägypten siedeln sich seine
Eltern in Nazareth an, um den Jesus, der der wiederverkörperte Zarathustra
ist, in der Nähe dessen zu haben, der die andere Strömung, den Buddhismus
darstellt. So werden im Konkreten die beiden Weltanschauungen
zusammengeführt.
Wo die Evangelien ganz tief werden, da zeigen sie uns auch
in aller Tiefe das, worum es sich handelt. Was bei den Menschen mehr
zusammenhängt mit dem Wollen und der Kraft, mit dem königlichen Element –
wenn wir den Ausdruck technisch gebrauchen –, von dem wußten die Menschen,
welche die Geheimnisse des Daseins kannten, daß es in der äußeren Vererbung
übertragen wird von dem väterlichen Element. Was aber zusammenhängt mit dem
innerlichen Element, mit Weisheit und innerer Beweglichkeit des Geistes, das
wird übertragen durch das mütterliche Element. Goethe, der so tief in die
Geheimnisse des Daseins hineingeschaut hat, deutet uns diesen Zusammenhang in
den Worten an:
Vom Vater hab' ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren
- eine Wahrheit, die Sie so oft in der Welt bestätigt finden
können. Die Statur, die äußere Gestalt, was sich in der äußeren Gestalt
unmittelbar ausdrückt, und "des Lebens ernstes Führen", was mit dem
Charakter des Ich zusammenhängt, das ererbt der Mensch von dem väterlichen
Element. Deshalb mußte der salomonische Jesus vor allem von dem väterlichen
Element die Kraft erben, weil es immer seine Mission war: die Überführung
dessen in die Welt, was die Welt im Räume an göttlichen Kräften umstrahlt.
Das drückt der Schreiber des Matthäus-Evangeliums so großartig aus, wie man
es nur ausdrücken kann. Daß sich eine besondere Individualität verkörpern
wird, das wird aus der geistigen Welt heraus als ein bedeutsames Ereignis
verkündet, und es wird nicht der Maria, sondern dem Vater, dem Joseph,
verkündet (Matthäus l, 20-21). Hinter alledem verbergen sich die tiefsten
Wahrheilen; nicht als Zufälliges darf man so etwas nehmen. – Auf den Jesus
aus der nathanischen Linie gingen über die innerlichen Eigenschaften, die
sich von der Mutter vererben. Daher mußte der Jesus des Lukas-Evangeliums der
Mutter verkündet werden, und wir sehen auch im Lukas-Evangelium die
Verkündigung an die Mutter geschehen (Lukas l, 26–38). So tief drücken sich
die Tatsachen in den religiösen Schriften aus. Aber gehen wir weiter.
Auch in all den anderen Tatsachen, die geschildert werden,
drückt sich Bedeutsames aus. Zunächst soll der Vorläufer des Jesus von
Nazareth in dem Täufer Johannes der Menschheit erstehen. Wir können uns erst
im Laufe der Zeit näher auf die Individualität des Täufers einlassen. Nehmen
wir ihn zunächst hin, wie er uns im Bilde entgegentritt, wie er
vorherzuverkünden hat, was da kommen soll in dem Jesus. Er verkündet es,
indem er mit einer unendlich starken Kraft alles zusammenfaßt, was im äußeren
Gesetz, was in der alten Verkündigung lag. Daß die Menschen halten, was im
Gesetz geschrieben steht, was alt geworden ist in der Kultur, was die
Menschen aber vergessen haben, was reif ist, was die Menschen aber nicht mehr
beachten, das will ihnen der Täufer bringen. Er muß daher vor allen Dingen
die Kraft in sich haben, die eine Seele hat, die reif, überreif in die Welt
hineingeboren wird. Er wird geboren von einem alten Elternpaare, wird so
geboren, daß sein astralischer Leib von Anfang an gegenüber all den Kräften,
die den Menschen herunterziehen, rein und geläutert ist, weil Leidenschaft
und Begierde bei dem alten Elternpaar nicht mitwirken. Das ist wiederum eine
tiefe Weisheit, die uns da im Lukas-Evangelium angedeutet wird (Lukas l, 18).
Für eine solche Individualität wird auch von der großen Mutterloge der
Menschheit aus gesorgt. Da, wo der große Manu die Vorgänge im Geistigen lenkt
und leitet, da werden die Ströme dahin gesendet, wo sie gebraucht werden. Ein
solches Ich wie das Ich Johannes des Täufers wird hineingeboren in einen Leib
unmittelbar unter der Lenkung und Leitung der großen Mutterloge der
Menschheit, der Zentralstätte des irdischen Geisteslebens. Aus derselben
Stätte stammte das Johannes-Ich, aus der auch das Seelenwesen für das
Jesuskind des Lukas-Evangeliums stammte, nur daß dem Jesus mehr jene
Eigenschaften übergeben wurden, die noch nicht durchdrungen waren von dem
egoistisch gewordenen Ich, das heißt, eine junge Seele wird dorthin gelenkt,
wo der wiedergeborene Adam inkarniert werden soll.
Es wird Ihnen sonderbar erscheinen, daß hier einmal von der
großen Mutterloge aus an eine Stätte eine Seele hingelenkt werden konnte ohne
ein eigentliches ausgebildetes Ich. Denn dasselbe Ich, das im Grunde genommen
dem Jesus des Lukas-Evangeliums vorenthalten wird, das wird dem Körper
Johannes des Täufers beschert, und dieses beides, was als Seelenwesen lebt im
Jesus des Lukas-Evangeliums und was als Ich im Täufer Johannes lebt, das steht
von Anfang an in einer innerlichen Beziehung. Wenn sich der menschliche Keim
im mütterlichen Leibe entwickelt, dann vereinigt sich allerdings in der
dritten Woche das Ich mit den anderen Gliedern der menschlichen Organisation,
aber es kommt erst in den letzten Monaten vor der Geburt nach und nach zur
Wirksamkeit. Da erst wird das Ich eine innerliche, bewegende Kraft. Denn in
einem normalen Falle, wo das Ich in gewöhnlicher Weise wirkt, um den
Menschenkeim zur Bewegung zu bringen, da haben wir es mit einem Ich zu tun,
das aus früheren Inkarnationen herstammt und den menschlichen Keim zur
Bewegung bringt. Hier aber, bei dem Johannes, haben wir es mit einem Ich zu
tun, das in Zusammenhang steht mit der Seelenwesenheit des nathanischen
Jesus. Daher muß sich im Lukas-Evangelium die Mutter des Jesus zu der Mutter
des Täufers Johannes begeben, als diese im sechsten Monate der
Schwangerschaft ist, und was sonst durch das eigene Ich angeregt wird in der
eigenen Persönlichkeit, das wird hier angeregt durch die andere Leibesfrucht.
Das Kind der Elisabeth beginnt sich zu bewegen, als sich ihm nähert die Frau,
die das Jesuskind in sich trägt; denn es ist das Ich, durch welches das Kind
in der anderen Mutter angeregt wird (Lukas l, 39–44). So tief ist der
Zusammenhang zwischen demjenigen, der da wirken sollte zu dem Zusammenströmen
der beiden Geistesströmungen, und dem, der ihn vorherverkünden sollte.
So sehen wir, wie im Beginne unserer Zeitrechnung in der Tat
etwas vor sich geht, was außerordentlich großartig ist. Wenn die Menschen die
Wahrheit gewöhnlich gern einfach haben möchten, so rührt das von der
menschlichen Bequemlichkeit her, die sich nicht gerne viel Begriffe machen
will; aber die größten Wahrheiten sind auch nur durch die größten
Anstrengungen der geistigen Kräfte zu schauen. Wenn der Mensch schon die
größten Anstrengungen machen muß, um eine Maschine zu beschreiben, so darf er
erst recht nicht verlangen wollen, daß die größten Wahrheiten auch die
einfachsten sein sollen. Die Wahrheit ist groß und deshalb kompliziert, und
wir müssen unsere geistigen Kräfte schon anstrengen, wenn wir nach und nach
die Wahrheiten verstehen wollen, die sich auf das Ereignis von Palästina
beziehen. Es möge sich auch keiner dem Einwand hingeben, daß die Dinge zu
kompliziert dargestellt würden; sie werden so dargestellt, wie sie sind, und
sie sind so, weil wir es mit der größten Tatsache der Erdenentwickelung zu
tun haben.
So sehen wir zwei Jesuskinder heranwachsen, einmal den Sohn
des nathanischen Elternpaares Joseph und Maria, und wir sehen diesen Sohn
geboren werden von einer jungen Mutter – im Hebräischen würde man das Wort
Alma dafür gebraucht haben –; denn das, was als eine junge Seele wirken
sollte, mußte von einer ganz jungen Mutter geboren werden. Mit diesem Sohne
wohnte das Elternpaar nach der Rückkehr aus Bethlehem wieder in Nazareth. Sie
hatten keine anderen Kinder. Es war der Mutter aufgespart, einzig und allein
die Mutter dieses Jesus zu sein. – Dann haben wir den Jesus des Elternpaares
Joseph und Maria aus der salomonischen Linie. Nachdem dieses Elternpaar aus
Ägypten zurückgekehrt und nach Nazareth übergesiedelt war, bekam es noch eine
Reihe von Kindern, die Sie im Markus-Evangelium angeführt finden: Simon,
Judas, Joses, Jakobus und auch zwei Schwestern (Markus 6, 3). – Die beiden
Jesuskinder wachsen heran. Das Kind, welches die Zarathustra-Individualität
in sich birgt, entwickelt nach und nach mit einer ungeheuer schnellen Reifung
diejenigen Kräfte, die es entwickeln muß, wenn eine so mächtige
Individualität in dem Körper tätig ist. Die Individualität, die in dem Körper
des anderen Jesus tätig ist, ist von anderer Art. Das Wichtigste ist ja an
ihr der Nirmanakaya des Buddha. Das ist etwas, was auf diesem Kinde ruht.
Daher wird uns auch gesagt, als die Eltern von Jerusalem zurückkommen: Das
Kind ist voll Weisheit – das heißt, in seinem Ätherleibe ist es durchströmt
von Weisheit –, und die Gnade des Gottes ist über ihm (Lukas 2, 40). Aber es
wuchs so heran, daß es die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften, die sich
auf Verstehen und Erkennen in der äußeren Welt beziehen, außerordentlich
langsam entwickelte. Der triviale Mensch würde gerade dieses Jesuskind ein
"verhältnismäßig zurückgebliebenes Kind" genannt haben, wenn er nur
auf das gesehen hätte, was Kräfte zum Verstehen und Begreifen der äußeren
Welt sind. Dafür aber entwickelte sich gerade in diesem Kinde das, was
herunterströmte aus dem es beschattenden Nirmanakaya des Buddha. Es
entwickelte eine Tiefe der Innerlichkeit, die sich mit nichts an
Innerlichkeit in der Welt vergleichen läßt. Es entwickelte sich eine
Gefühlstiefe in dem Knaben, die auf die ganze Umgebung in außerordentlicher
Art wirkte. – So sehen wir eine gefühlstiefe Wesenheit in dem nathanischen
Jesus heranwachsen, und wir sehen eine Individualität mit einer ungeheuren
Reife, mit einem tiefen Weltverständnis in dem salomonischen Jesus
heranwachsen.
Nun war der Mutter des nathanischen Jesus, jenes
gefühlstiefen Kindes, Bedeutsames gesagt worden. Schon als Simeon dem
neugeborenen Kinde gegenüberstand und es überstrahlt sah von dem, den er
einst in Indien als Buddha noch nicht hatte sehen können, da sagte er voraus
das Große und Gewaltige, was sich jetzt vollziehen sollte; aber er sagte auch
die großen, bedeutungsvollen Worte von dem "Schwert, das der Mutter durch
das Herz gehen" sollte (Lukas 2, 35). Auch dieses Wort bezieht sich auf
etwas, was wir heute noch verstehen lernen wollen.
In unmittelbarer Nachbarschaft und unter den
freundschaftlichen Beziehungen der Eltern wuchsen die beiden Kinder heran und
entwickelten sich beide ungefähr bis zu ihrem zwölften Jahre. Als das zwölfte
Jahr des nathanischen Jesus herankam, begaben sich dessen Eltern nach
Jerusalem, wie gesagt wird, der Sitte gemäß, um an dem Osterfeste
teilzunehmen, und sie nahmen das Kind mit, wie es gebräuchlich war, wenn die
Kinder reif wurden. Nun findet sich im Lukas-Evangelium in außerordentlich
geheimnisvoller Weise eine Erzählung von dem zwölfjährigen Jesus im Tempel.
Es heißt da: Als sich die Eltern wieder zurückbegaben von dem Fest, vermißten
sie plötzlich den Knaben, und als sie ihn nirgends unter der
Reisegesellschaft fanden, da begaben sie sich wieder zurück und fanden ihn im
Tempel mitten unter den großen Lehrern, alle erstaunend durch seine Weisheit
(Lukas2,41–50).
Was war da geschehen? Fragen wir darüber die unvergängliche
Akasha-Chronik. Die Tatsachen der Welt sind nicht so ganz einfach. Was hier
geschehen war, das geschieht in anderer Weise auch sonst in der Welt. Es
kommt vor, daß eine Individualität auf einer gewissen Entwickelungsstufe
andere Bedingungen braucht, als sie ihr von Anfang an gegeben wurden. Daher
kommt es immer wieder vor, daß ein Mensch bis zu einem gewissen Lebensalter
heranwächst – und dann auf einmal in Ohnmacht fällt und wie tot ist. Da geht
dann eine Umwandlung vor sich: es verläßt ihn sein eigenes Ich, und ein
anderes Ich nimmt in seiner Körperlichkeit Platz. Eine solche Umlagerung des
Ich findet auch in anderen Fällen statt; das ist eine Erscheinung, die jeder
Okkultist kennt. Hier, bei dem zwölfjährigen Jesus war folgendes geschehen:
Jene Ichheit, die bis dahin als Zarathustra-Ichheit den Körper des Jesus aus
der königlichen Linie des davidischen Geschlechtes gebrauchte, um auf die
Höhe seiner Zeit zu kommen, drang aus dem Körper des salomonischen
Jesusknaben heraus und übertrug sich auf den nathanischen Jesus, der daher
wie ein Verwandelter erschien. Die Eltern erkannten ihn nicht wieder, sie
verstanden seine Worte nicht. Denn jetzt sprach aus dem nathanischen Jesus
das Zarathustra-Ich, das sich auf ihn übertragen hatte. Das war der
Zeitpunkt, als der Nirmanakaya des Buddha sich mit dem ausgeschiedenen
astralischen Mutterleibe vereinigte, und das war auch der Zeitpunkt, da sich
das Zarathustra-Ich mit dem nathanischen Jesus vereinigte. Jetzt lebte das
Zarathustra-Ich in dem nathanischen Jesus. Und dieses Kind, das so verwandelt
war, daß es die Eltern nicht verstehen konnten, das nahmen sie jetzt mit nach
Hause.
In nicht zu ferner Zeit starb dann die Mutter dieses
Jesuskindes, so daß dieses Kind, in dem das Zarathustra-Ich jetzt wohnte, von
mütterlicher Seite her verwaist war. Wir werden sehen, daß die Tatsache, daß
diese Mutter starb und das Kind verwaist zurückließ, noch auf einen besonders
tiefen Zusammenhang hinweist. – Auch das andere Kind konnte nicht unter gewöhnlichen
Verhältnissen fortleben, als das Zarathustra-Ich es verlassen hatte. Der
Joseph aus der salomonischen Linie war schon früher gestorben, und die Mutter
des salomonischen Jesuskindes mit ihren Kindern, dem Jakobus, Joses, Judas,
Simon und den beiden Töchtern, wurde in dem Hause des nathanischen Joseph
aufgenommen, so daß also der Zarathustra jetzt wieder zusammenlebte mit
derjenigen Familie, in die er sich hineininkarniert hatte, bis auf den Vater.
Auf diese Weise haben sich die beiden Familien in eine zusammengesetzt, und
so lebt denn die Mutter der Geschwister – wir können sie Geschwister nennen,
denn nach dem Ich hin sind sie Geschwister -in dem Hause des nathanischen
Joseph mit dem Jesus, der aber seiner Vaterstadt nach, leiblich, in Nazareth
heimisch war. So lebte er mit ihnen zusammen.
So sehen wir im Konkreten den Zusammenfluß des Buddhismus
und des Zarathustrismus. Denn jener Leib, in dem die reife Ich-Seele des
Zarathustra war, konnte das in sich aufnehmen und mit sich vereinigen, was
dadurch geworden war, daß der Nirmanakaya des Buddha die abgegebene
astralische Mutterhülle des nathanischen Jesus aufgenommen hatte. So sehen
wir jetzt eine Individualität heranwachsen in dem Jesus von Nazareth, die in
sich trägt die Ichheit des Zarathustra, welche bestrahlt und durchgeistigt
ist von dem verjüngten Nirmanakaya des Buddha. Was der Zusammenfluß des
Buddhismus und des Zarathustrismus ist, das sehen wir in der Seele des Jesus
von Nazareth auf diese Art leben. Da auch der Joseph aus der nathanischen
Linie starb, und zwar verhältnismäßig früh, so ist eigentlich in Wahrheit das
Zarathustra-Kind ein Waisenkind; es fühlt sich verwaist. Es ist nicht das,
was es seiner leiblichen Abstammung nach ist. Es ist dem Geiste nach der
wiedererstandene Zarathustra. Der leiblichen Abstammung nach ist sein Vater
der Joseph der nathanischen Linie, und der äußeren Anschauung nach mußte es
die Welt dafür halten. Lukas erzählt es uns genau, und wir müssen seine Worte
genau nehmen:
"Und es begab sich, da sich alles Volk taufen ließ und
Jesus auch getauft war und betete, daß sich der Himmel auftat; und der
Heilige Geist fuhr hernieder in leiblicher Gestalt auf ihn wie eine Taube,
und eine Stimme kam aus dem Himmel, die sprach: Du bist mein lieber Sohn,
heute habe ich dich gezeugt.
Und Jesus war, da er anfing zu wirken, ungefähr dreißig
Jahre alt…"
und jetzt wird nicht einfach gesagt, daß er ein Sohn des
Joseph ist, sondern es heißt:
"…und ward gehalten für einen Sohn Josephs" (Lukas
3, 21–23), denn das Ich hatte sich ursprünglich in dem salomonischen Jesus
inkarniert, hatte also im Grunde nichts mit dem nathanischen Joseph zu tun.
Nun haben wir eine einheitliche Wesenheit vor uns in dem
Jesus von Nazareth, die ein großes, gewaltiges Inneres hatte, in dem sich
alles vereinigte, was wir an Segnungen des Buddhismus, und alles, was wir an
Segnungen des Zarathustrismus erkennen. Jene Innerlichkeit war zu Großem,
Gewaltigem später berufen. Mit ihr mußte noch etwas ganz anderes geschehen
als mit denen, die Johannes im Jordan taufte. Und wir werden sehen, daß
später diese Innerlichkeit die Individualität des Christus im Jordan
aufzunehmen hatte. Da senkte sich auch wieder das Unsterbliche der
ursprünglichen Mutter des nathanischen Jesus herab und verwandelte diejenige
Mutter, die in dem Hause des nathanischen Joseph aufgenommen war, und machte
sie wieder jungfräulich, so daß die Seele jener Mutter, die der Jesus
verloren hatte, ihm bei der Johannes-Taufe wiedergegeben wird. Diese Mutter,
die ihm geblieben ist, birgt also in sich die Seele seiner ursprünglichen
Mutter, die in der Bibel die gebenedeite Maria genannt wird (Lukas l, 28).
Sechster Vortrag
20. September 1909
Die Mission des
hebräischen Volkes. Die Lehre des Buddha von der Veredelung des menschlichen
Inneren und die kosmische Lehre des Zarathustra. Elias und Johannes der
Täufer.
Es wird uns verhältnismäßig leicht werden, die Einzelheiten
des Lukas-Evangeliums zu verstehen, wenn wir zuerst in der entsprechenden
Weise vorgearbeitet haben, so daß diejenigen Wesenheiten und Individualitäten,
die in Betracht kommen, gewissermaßen lebendig vor uns stehen, daß wir
wissen, mit wem wir es eigentlich zu tun haben. Daher dürfen Sie es sich
nicht verdrießen lassen, wenn wir sozusagen viel "Vorgeschichte"
haben. Erst müssen wir die große Gestalt, die im Mittelpunkt der Evangelien
steht, in ihrer ganzen komplizierten Wesenheit kennenlernen, und auch einiges
andere, ohne das wir niemals würden fassen können, was uns dann in aller
Einfachheit im Lukas-Evangelium entgegentritt.
Da müssen wir zuerst an etwas erinnern, was wir schon in den
letzten Tagen besprechen konnten: an die große Bedeutung jener einzigartigen
Wesenheit, die wir als den Buddha bezeichnen, und von der wir sagen konnten,
daß sie im fünften bis sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung eben vom
Bodhisattva zum Buddha sich erhob. Wir haben charakterisiert, was das für die
Menschheit bedeutete, und wir wollen uns das noch einmal genau vor die Seele
stellen.
Was der Inhalt der Lehre des Buddha ist, das mußte sozusagen
einmal der Menschheit als ihr Eigentum übergeben werden. Wenn wir hinter das
Zeitalter des Buddha zurückgehen würden, so würden wir für alle
vorhergehenden Epochen der Menschheit sagen müssen: Es hat in diesen Zeiten
keinen Menschen auf unserer Erde geben können, der aus sich selbst heraus
diese Lehre vom Mitleid und der Liebe hätte finden können, die sich in dem
achtgliedrigen Pfade ausdrückt. Die menschliche Entwickelung war noch nicht
so weit, daß irgendeine Seele durch Versenkung in das eigene Nachdenken, in
die eigene Empfindung diese Wahrheiten hätte finden können. Alles wird ja
erst in der Welt, alles entsteht erst, und für alles, was entstehen soll,
müssen die Ursachen gegeben werden. Auf welche Weise konnten die Menschen in
früheren Zeiten zum Beispiel die Grundsätze des achtgliedrigen Pfades
befolgen? Sie konnten es nur dadurch, daß sie ihnen in gewisser Weise
überliefert wurden, daß sie ihnen wie eingeflößt wurden aus den okkulten
Schulen der Eingeweihten und der Seher. Innerhalb der Mysterien, innerhalb
der okkulten Schulen der Seher lehrte eben der Bodhisattva, weil in solchen
Schulen die Möglichkeit gegeben war, sich hinaufzuheben zu den höheren Welten
und dasjenige zu empfangen, was dem äußeren Menschenverstände, der äußeren
Menschenseele noch nicht gegeben werden konnte. Das mußte aber in diesen
alten Zeiten von denen, die der Gnade teilhaftig werden konnten, direkt mit
den Lehrern in den okkulten Schulen in Verkehr zu kommen, der übrigen
Menschheit sozusagen eingeflößt werden. Ohne daß die Menschen selbst auf die
Grundsätze hätten kommen können, mußte ihr Leben so beeinflußt werden, daß es
sich im Sinne dieser Grundsätze abspielte. Es befolgten also jene Menschen,
die außerhalb der Mysterien lebten, in einer gewissen Weise unbewußt, was
ihnen wie unbewußt auch gegeben wurde von denen, die ihnen aus den okkulten
Schulen heraus das geben konnten. Es war noch kein Menschenleib auf der Erde,
der so hätte organisiert werden können, auch wenn alles Geistige in ihn
eingedrungen wäre, daß der Mensch aus sich selbst heraus den Inhalt des
achtgliedrigen Pfades hätte finden können. Das mußte eine Offenbarung von
oben sein, durch die entsprechenden Wege vermittelt. Daraus aber folgt, daß
ein solches Wesen wie der Bodhisattva gar nicht in der Lage war, vor dem
Zeitalter des Buddha einen Menschenleib voll zu benutzen. Er konnte auf der
Erde keinen Leib finden, in dem er alle die Fähigkeiten hätte verkörpern
können, durch die er auf die Menschen wirken sollte. Es gab einen solchen
Menschenkörper nicht. – Was war also notwendig? Wie verkörperte sich ein
solcher Bodhisattva? Diese Frage müssen wir uns einmal vorlegen.
Er verkörperte dasjenige, was er als geistige Wesenheit war,
nicht vollständig. Würde man einen solchen Leib, der von einem Bodhisattva
beseelt war, hellseherisch angesehen haben, so würde man gesehen haben, daß
er nur teilweise die Wesenheit eines Bodhisattva umschloß, die als
ätherischer Leib weit hinausragte über die menschliche Hülle und in dieser
Art ihre Verbindung mit dem Geistigen hatte, das sie nie ganz verließ. So
verließ der Bodhisattva die geistige Welt nie voll ständig. Er lebte zu
gleicher Zeit in einem Geistleibe und in einem physischen Leibe. Das war nun
der Übergang vom Bodhisattva zum Buddha, daß jetzt zum ersten Male ein
solcher Leib vorhanden war, in den der Bodhisattva sozusagen ganz
hineinsteigen und innerhalb dieses Leibes seine Fähigkeiten entwickeln
konnte. Damit hatte er jene Menschenform hingestellt, der die Menschen
nachzustreben haben, um ihr ähnlich zu werden, so daß sie ebenso aus sich selbst
heraus die Lehre vom achtgliedrigen Pfad finden, wie sie der Bodhisattva
unter dem Bodhibaume aus sich selbst heraus gefunden hat. Würde man also
diejenige Wesenheit, die in dem Buddha verkörpert war, in ihren früheren
Inkarnationen geprüft haben, so hätte man sagen müssen: Sie war so, daß sie
zum Teil in der geistigen Welt bleiben mußte und nur einen Teil ihrer
Wesenheit in den Leib hineinsenden konnte. Jetzt erst, im fünften bis
sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, war die erste menschliche
Organisation vorhanden, in welche der Bodhisattva ganz hineingehen und so das
Beispiel geben konnte, daß die Menschheit selbst aus der moralischen
Gesinnung der Seele heraus den achtgliedrigen Pfad finden konnte.
Diese Erscheinung, daß es Menschenwesen gab, die mit einem
Teil ihrer Wesenheit in der geistigen Welt sind, kannten alle Religionen und
Weltanschauungen. Sie wußten, daß es solche Wesenheiten gibt, für welche die
Menschenwesenheit gleichsam zu eng ist, um die volle Individualität von
solchen Wesenheiten aufzunehmen, die auf der Erde wirken müssen. Innerhalb
der vorderasiatischen Weltanschauung nannte man diese Art der Verbindung der
höheren Individualitäten solcher Wesenheiten mit einem physischen Leibe das
Erfülltsein mit dem Heiligen Geist. Das ist ein ganz bestimmter technischer
Ausdruck. Und in dem Wortgebrauch der vorderasiatischen Sprachen würde man
von einer solchen Wesenheit wie einem auf der Erde verkörperten Bodhisattva
gesagt haben, sie ist "erfüllt mit dem Heiligen Geist", das heißt,
die Kräfte, die eine solche Wesenheit ausmachen, sind nicht ganz in dieser
Wesenheit darinnen, es muß da von außen etwas Geistiges hineinwirken. Man
könnte also ebenso sagen: Der Buddha war in seinen vorhergehenden
Inkarnationen erfüllt mit dem Heiligen Geist.
Wenn wir dies verstanden haben, werden wir uns auch in das
hineinfinden können, was wir im Anfange des Lukas-Evangeliums lesen und was
wir gestern schon berühren konnten. Wir wissen, daß in dem Ätherleibe des
einen Jesuskindes, das physisch entsprossen ist der nathanischen Linie des
davidischen Hauses, der bisher unberührt gebliebene Teil desjenigen
Ätherleibes lebte, welcher der Menschheit bei dem Ereignis entzogen worden
ist, das man den Sündenfall nennt, so daß also gleichsam jene ätherische
Substanz, die aus Adam herausgenommen worden ist vor dem Sündenfalle,
aufbewahrt und in dieses Kind hineinversenkt wurde. So mußte es sein, damit
eine so junge, von allen Erlebnissen der Erdenentwickelung unberührte
Wesenheit da war, die alles aufnehmen konnte, was sie aufnehmen sollte. Hätte
denn ein gewöhnlicher Mensch, der seit der lemurischen Zeit seine
Inkarnationen durchgemacht hat, die Überschattung durch den Nirmanakaya des
Buddha aufnehmen können? Nimmermehr! Und noch weniger hätte er das aufnehmen
können, was später in ihn hineingehen sollte. Es mußte ein so veredelter
Menschenleib entstehen, der nur dadurch entstehen konnte, daß die von allen
Erdenerlebnissen unberührte ätherische Substanz des Adam hineinversenkt wurde
in den Ätherleib gerade dieses Jesuskindes. Dadurch aber war diese
Äthersubstanz auch verbunden mit allen den Kräften, welche vor dem
Sündenfalle auf die Erdenentwickelung gewirkt haben, die deshalb jetzt eine
gewaltige Machtentfaltung in diesem Kinde hatten. Dadurch war möglich
geworden, was wir eben gestern schon berührten: jener merkwürdige Einfluß,
den die Mutter des nathanischen Jesus auf die Mutter Johannes des Täufers
ausübte und auch auf diesen Johannes selber, bevor er geboren wurde.
Dazu müssen wir uns dann klarmachen, mit was für einer
Wesenheit wir es in Johannes dem Täufer zu tun haben. Wir können diese
Wesenheit des Johannes nur dann verstehen, wenn wir uns den Unterschied vor
die Seele rücken, der zwischen jener eigentümlichen Verkündigung besteht,
welche innerhalb Indiens durch den Buddha herabgeflossen ist – die wir für
unser Ziel genügend charakterisiert haben –, und jener Verkündigung, die dem
althebräischen Volke durch Moses und seine Nachfolger, die althebräischen
Propheten, geworden ist.
Durch Buddha ist der Menschheit das geworden, was die Seele
als ihre eigene Gesetzmäßigkeit finden kann, was sie aufstellen kann, um sich
zu läutern und sich zu einer hohen moralischen Höhe hinaufzuorganisieren, wie
sie auf der Erde erreicht werden kann. Das Gesetz der Seele, Dharma, wurde durch
den Buddha verkündet, wurde so verkündet, wie es der Mensch auf der höchsten
Entwickelungsstufe der Menschennatur aus der menschlichen Seele selber heraus
finden kann. Und Buddha war derjenige, der es zuerst herausgelöst hat. Aber
die Menschheitsentwickelung ist keine geradlinige. Die verschiedensten
Kulturströmungen müssen sich gegenseitig befruchten.
Was sich in Vorderasien als das Christus-Ereignis zutragen
sollte, das machte nötig, daß in gewisser Weise diese vorderasiatische
Entwickelung hinter der indischen zurückblieb, um in frischerer Weise später
aufzunehmen, was der indischen in anderer Art gegeben war. Es mußte sozusagen
innerhalb Vorderasiens ein Volk geschaffen werden, hingestellt werden, das
auf eine ganz andere Art sich entwickelte, das weiter zurückblieb als die
Völker mehr nach dem Osten hin. Hatte man im Sinne der Weltenweisheit die
Völker im Osten so weit gebracht, daß sie den Bodhisattva als Buddha schauen
konnten, so mußte man bei den Völkern in Vorderasien – insbesondere bei dem
althebräischen Volke – die Menschen auf einer kindlichen, niedrigeren Stufe
lassen. Das war notwendig. Denn es mußte im großen in der
Menschheitsentwickelung dasselbe gemacht werden, was wir etwa im kleinen
beobachten könnten, wenn wir einen Menschen hätten, der sich bis zu seinem
zwanzigsten Jahre zu einer gewissen Reife entwickelt; er hat sich dabei
gewisse Fähigkeiten angeeignet, aber angeeignete Fähigkeiten sind in gewisser
Beziehung zugleich eine gewisse Fessel, ein Hemmnis.
Wenn man sich in einem gewissen Lebensalter Fähigkeiten
angeeignet hat, dann haben diese die Eigentümlichkeit, daß sie sich auf ihrer
Stufe erhalten wollen, daß sie den Menschen auf dieser Höhe halten wollen.
Sie halten ihn fest, und er kann dann später, in seinem dreißigsten Jahre, nicht
leicht über die Stufe hinausrücken, die er sich in seinem zwanzigsten Jahre
erworben hat. Wenn wir dagegen einen zweiten Menschen haben, der im
zwanzigsten Jahre noch wenig durch sich selbst erworben hat und nun nachher
diese Fähigkeiten von dem anderen lernt, dann kann der, welcher sich länger
kindlich erhalten hat, leichter hinaufrücken auf diese Stufe und dann im
dreißigsten Jahre eher auf einer höheren Stufe stehen als der erstere. Wer
das Leben beobachten kann, der wird finden, daß es so ist. Erreichte
Fähigkeiten, die man sozusagen zu seinem Eigentum gemacht hat, bilden auch
eine Fessel für später, während das, was man nicht so sehr mit seiner Seele
verknüpft hat, was man sich mehr äußerlich angeeignet hat, weniger eine
Fessel ist.
Wenn die Menschheit vorrücken will, dann muß stets die
Einrichtung getroffen werden, daß eine Kulturströmung vorhanden ist, die eine
gewisse Summe von Fähigkeiten innerlich aufnimmt und verarbeitet, und eine
andere Strömung muß gleichsam daneben herlaufen, die gewissermaßen in der
Entwickelung mehr zurückgehalten wird. Dann haben wir eine Kulturströmung,
welche gewisse Fähigkeiten bis zu einer entsprechenden Stufe entwickelt;
diese Fähigkeiten sind nun verquickt mit dem innersten Wesen dieser Strömung
und der Menschennatur. Es geht weiter: ein Neues tritt auf. Aber diese
Strömung würde nicht imstande sein, aus sich selbst heraus zu einer höheren
Stufe aufzusteigen. Daher mußte die Einrichtung getroffen werden, daß eine
andere Strömung neben der ersten hergeht. Diese zweite bleibt in einer
gewissen Weise unentwickelt, hat also keineswegs die Höhe der ersteren
erreicht. Sie schreitet nun weiter und nimmt von der anderen das entgegen,
was diese erreicht hat, und weil sie sich in der Zwischenzeit jung erhalten
hat, kann sie dann später höher hinaufsteigen. So hat die eine die andere
befruchtet. So müssen die Geistesströmungen nebeneinander herlaufen in der
Menschheitsentwickelung. Und es muß durch die geistige Weltenleitung Vorsorge
getroffen werden, daß dieses so ist.
Wie konnte in der geistigen Weltenlenkung Vorsorge getroffen
werden, daß neben derjenigen Strömung, die in dem großen Buddha ihren
Ausdruck gefunden hat, eine andere läuft, die erst später das aufnimmt, was
der Buddhismus der Menschheit gebracht hat? Man konnte nur dadurch Vorsorge
treffen, daß man jener Strömung, die für uns die althebräische ist, die
Möglichkeit vorenthielt, Menschen aus sich hervorzubringen, die aus eigener
moralischer Gesinnung heraus Dharma entwickeln, das heißt, etwa auf den
achtgliedrigen Pfad kommen. Einen Buddha durfte diese Strömung nicht haben.
Was der Buddha als Innerlichkeit seiner Geistesströmung gebracht hat, das
mußte dieser anderen Geistesströmung von außen gegeben werden. Daher wurde,
und zwar, damit die Sache besonders weise verlief, lange Zeit vor der
Erscheinung des Buddha dieser vorderasiatischen Völkerschaft das Gesetz nicht
innerlich gegeben, sondern äußerlich durch die Offenbarung im Dekalog, im
Zehn-Gebote-Gesetz (2. Mose 20,2–17). Was einer anderen Menschheitsströmung
als innerlicher Besitz zukommen sollte, das wurde in dem Zehn-Gebote-Gesetz
als eine Summe von äußeren Gesetzen dem althebräischen Volke wie etwas
gegeben, was man von außen empfing, was noch nicht mit der Seele verwachsen
ist. Daher empfindet der Angehörige des althebräischen Volkes die Gebote als
etwas, was ihm vom Himmel herunter gegeben worden ist wegen der Kindlichkeit
seiner Entwickelungsstufe.
Das indische Volk war herangebildet worden, anzuerkennen,
daß die Menschen aus sich selber Dharma, das Gesetz der Seele, erzeugen, und
das althebräische Volk war so gebildet worden, daß es gehorchte dem Gesetz,
das ihm von außen gegeben worden ist. So aber bildet das hebräische Volk eine
wunderbare Ergänzung zu dem, was Zarathustra für seine Kultur und für alle
Kulturen, die daraus hervorgegangen sind, geleistet hat.
Das mußten wir ja hervorheben, daß Zarathustra den Blick auf
die Außenwelt hingelenkt hat. Während wir bei Buddha tief einschneidende
Lehren haben über die Veredelung des menschlichen Innern, finden wir bei Zarathustra
die große, gewaltige Lehre über den Kosmos, das, was uns Aufschlüsse geben
soll über die Welt, aus deren Schoß wir erwachsen sind. War der Blick des
Buddha nach innen gerichtet, so war der Blick der Angehörigen des
Zarathustra-Volkes auf die Außenwelt gerichtet, um diese geistig zu
durchdringen.
Versuchen wir uns einmal in das zu vertiefen, was
Zarathustra gab von seinem ersten Auftreten an, wo er die Verkündigung des
Ahura Mazdao brachte, bis in die nächste Zeit, wo er als Nazarathos erschien.
Er gab immer eindringlichere Lehren über die großen geistigen Gesetze und
über die Wesenheiten des Kosmos. Gewissermaßen Andeutungen waren es erst, die
der Zarathustra der persischen Kultur über den Geist der Sonne gab; dann aber
wurden sie von ihm ausgebaut und treten uns entgegen als die wunderbare,
heute nur so wenig verstandene chaldäische Lehre über den Kosmos und über die
geistigen Ursachen, aus denen wir herausgeboren sind. Prüfen wir diese Lehren
über den Kosmos, so zeigen sie uns eine wichtige Eigentümlichkeit.
Als Zarathustra noch dem urpersischen Volke von den äußeren
geistigen Ursachen der Sinneswelt sprach, da stellte er vor die Menschen hin
die zwei Mächte Ormuzd und Ahriman oder Angramainyu, die im ganzen Weltall
einander entgegenarbeiten. Was sie aber nicht in dieser Lehre gefunden
hätten, ist das, was wir nennen könnten die Seele durchdringende moralische
Wärme. Der Mensch ist für die urpersische Anschauung sozusagen
hineingesponnen in den ganzen kosmischen Prozeß. Es ist eine Angelegenheit von
Ormuzd und Ahriman, die gegeneinander arbeiten, die da in der menschlichen
Seele ausgemacht wird. Weil diese beiden miteinander kämpfen, deshalb toben
Leidenschaften in der menschlichen Seele. Was innere menschliche Seele ist,
das wurde noch nicht erkannt. Es ist kosmische Lehre, was gebracht wurde.
Wenn man von Gut und Böse sprach, so meinte man die vortrefflichen, die
nützlichen und die schädlichen Wirkungen, die sich im Kosmos gegenüberstehen
und die sich auch im Menschen äußern. Die "moralische Weltanschauung"
war gewissermaßen noch nicht in diese Lehre des Blickens nach außen
aufgenommen. Man lernte in dieser Lehre alle die Wesenheiten kennen, welche
die sinnliche Welt beherrschen, alles, was als Vortreffliches, Lichtvolles,
und was als Schwarzes, Schädliches die Welt beherrscht. Man fühlte sich darin
eingesponnen. Aber das eigentlich Moralische, an dem der Mensch mit seiner
Seele beteiligt ist, fühlte man noch nicht so in seiner Seele, wie das später
der Fall war. Man fühlte zum Beispiel, wenn man irgendeinen Menschen als
einen "bösen" Menschen vor sich hatte, daß durch diesen Menschen
Kräfte strömten von den bösen Wesenheiten der Welt; man fühlte ihn
"besessen" von diesen bösen Wesenheiten der Welt. Man konnte auch
nicht sagen, daß ihn dafür die Schuld treffe. Eingesponnen von einem noch
nicht von moralischen Eigenschaften durchsetzten Weltensystem fühlte man den
Menschen. Das war die Eigentümlichkeit einer Lehre, die den Blick zunächst
nach außen richtete, wenn es auch der geistige Blick war Deshalb bildet die
hebräische Lehre eine so wunderbare Ergänzung zu dieser kosmologischen Lehre,
weil sie in das, was von außen offenbart worden ist, das moralische Element
hineinverlegt, das eine Möglichkeit gab, mit dem Begriffe von Schuld, von
menschlicher Verschuldung einen Sinn zu verbinden. Vor dem hebräischen
Element konnte man von einem bösen Menschen nur sagen: Er ist von bösen
Kräften besessen. Die Verkündigung des Zehn-Gebote-Gesetzes hat notwendig
gemacht, daß man unterschied zwischen Menschen, die dieses Gesetz beachteten,
und solchen, die es nicht beachteten. Der Begriff von Schuld, von
menschlicher Verschuldung tritt auf. Und wie er hineintritt in die
Menschheitsentwickelung, das kann man fühlen, wenn man etwas vor seine Seele
rückt, wo deutlich dargestellt wird, wie die Menschen noch im unklaren
darüber sind, was eigentlich der Begriff von Schuld besagt, wo es tragisch
wird, daß eine Unklarheit besteht über den Begriff der Schuld. Lassen Sie das
Buch Hiob auf sich wirken, und Sie werden die Unklarheit über den
Schuldbegriff bemerken, das Nicht-recht-Wissen, wie man es eigentlich zu
halten hat, wenn einen ein Unglück trifft, und Sie werden doch schon das
Hereinleuchten des neuen Schuldbegriffes darin finden.
So wurde als eine Offenbarung von außen – wie die anderen
Offenbarungen über die anderen Reiche der Natur – das Moralische gerade
diesem althebräischen Volke gegeben. Das konnte nur dadurch geschehen, daß
Zarathustra für die Fortsetzung seines Werkes Sorge getragen hat, wie ich es
Ihnen erzählt habe, indem er seinen Ätherleib übertrug auf Moses und auf
Hermes seinen Astralleib. Dadurch wurde Moses fähig, in derselben Art
wahrzunehmen, was in der äußeren Welt wirkt, wie es Zarathustra konnte, aber
jetzt dabei nicht nur gleichgültige, neutrale Kräfte zu empfinden, sondern
das, was die Welt moralisch regiert, was Gebot werden kann. Deshalb lebte
dieses althebräische Volk so, daß es in seiner Kultur dasjenige barg, was wir
nennen können Gehorsam, Unterwerfung unter das Gesetz, während die
Geistesströmung des Buddha das Ideal in sich barg, die Richtung für das
menschliche Leben in dem achtgliedrigen Pfad zu finden.
Aber dieses althebräische Volk sollte auch bis zu dem
rechten Zeitpunkt erhalten bleiben, den wir eben daran sind, zu
charakterisieren bis zu der Erscheinung des Christus-Prinzips. Es sollte
sozusagen hinübergerettet werden über die Offenbarung des Buddha und auf
einem – wenn wir es so nennen wollen – unreiferen Kulturzustand erhalten
bleiben. Daher mußten sich innerhalb des althebräischen Volkes Persönlichkeiten
finden, die so, wie sie als Menschen waren, nicht die ganze volle Wesenheit
einer Individualität aufnehmen konnten, welche etwa das "Gesetz" zu
vertreten hatte. Es konnte nicht innerhalb des althebräischen Volkes eine
Persönlichkeit auftreten, die etwa wie der Buddha gewesen wäre. Es ist auch
nur möglich gewesen, zu dem Gesetze zu kommen durch Erleuchtung von außen,
dadurch, daß Moses den Ätherleib des Zarathustra gehabt hat und das empfangen
konnte, was nicht aus der eigenen Seele geboren wird. Das Gesetz erstehen zu
lassen aus dem eigenen Herzen, war dem hebräischen Volke nicht möglich. Aber
fortgeführt werden mußte das Werk des Moses, fortgeführt so, wie jedes andere
Werk fortgeführt werden muß, damit es zur rechten Zeit die rechte Frucht trägt.
Daher mußten in dem althebräischen Volke diejenigen Individualitäten
auftreten, die uns als die Propheten und Seher erscheinen. Und einer der
bedeutendsten dieser Seher ist derjenige, den wir als den Elias kennen.
Wie müssen wir uns eine solche Persönlichkeit vorstellen?
Elias sollte innerhalb des hebräischen Volkes einer der Statthalter dessen
sein, was von Moses eingeleitet war. Aber aus der eigenen Volkssubstanz
heraus konnten keine Menschen geboren werden, die ganz verwoben sein konnten
mit dem, was das Gesetz des Moses enthielt, das man ja nur als eine
Offenbarung von oben empfangen konnte. Was wir als notwendig für die indische
Zeit charakterisiert haben, auch als die eigenartige Natur des Bodhisattva,
das mußte daher auch im hebräischen Volke und immer wieder und wieder
eintreten. Es mußte Individualitäten geben, die nicht ganz in der
menschlichen Persönlichkeit aufgingen, die mit einem Teil ihrer Wesenheit in
der irdischen Persönlichkeit waren und mit dem anderen Teil in der geistigen
Welt. Eine solche Wesenheit war Elias. In dem, was wir auf dem physischen
Plane als die Persönlichkeit des Elias finden, ist nur teilweise die
Wesenheit des Elias enthalten. Die Ichheit des Elias kann nicht ganz
eindringen in den physischen Leib des Elias. Ihn muß man nennen eine
Persönlichkeit, die "von dem Geiste erfüllt" ist. Und unmöglich
wäre es, eine solche Erscheinung wie den Elias durch die bloß normalen Kräfte
in der Welt hervorzurufen, wodurch sonst ein Mensch in die Welt gestellt
wird.
Wenn im normalen Falle ein Mensch in die Welt treten soll,
dann entwickelt sich aus den physischen Vorgängen die menschliche Wesenheit
im mütterlichen Leibe so, daß zu einer bestimmten Zeit sich die
Individualität, die früher inkarniert war, einfach mit der physischen Wesenheit
verbindet. Alles geht beim gewöhnlichen Menschen sozusagen einen geradlinigen
Weg, ohne daß besondere Kräfte eingreifen, die außerhalb des normalen Weges
liegen. Das konnte nicht der Fall sein bei einer solchen Individualität, wie
Elias es ist. Da mußten andere Kräfte eingreifen, die sich beschäftigen mit
jenem Teil der Individualität, der in die geistige Welt hineinragt. Da muß
von außen auf den sich entwickelnden Menschen gewirkt werden. Daher
erscheinen solche Individualitäten, wenn sie in der Welt inkarniert werden,
als inspiriert, vom Geist getrieben. Sie erscheinen als ekstatische
Persönlichkeiten, die weit über das hinausgehen, was ihnen ihre gewöhnliche
Intelligenz sagen kann. So erscheinen die alttestamentlichen Propheten alle.
Der Geist treibt sie; das Ich kann sich nicht immer Rechenschaft geben von
dem, was es tut. Der Geist lebt in der Persönlichkeit, und von außen wird er
erhalten.
Solche Persönlichkeiten ziehen sich zuzeiten in die
Einsamkeit zurück; aber das ist dann ein Zurücktreten jenes Teiles des Ich,
den die Persönlichkeit braucht, und ein Einsprechen des Geistes von außen. In
gewissen ekstatischen, unbewußten Zuständen lauscht eine solche Wesenheit den
Eingebungen von oben. So war es besonders bei Elias. Was während seines
Lebens als Elias lebte, was sein Mund sprach, was seine Hand deutete, stammte
nicht nur von dem Teil, der in ihm lebte, sondern das waren Offenbarungen
göttlich-geistiger Wesenheiten, die dahinterstanden.
Als diese Wesenheit wiedergeboren wurde, sollte sie sich mit
dem Körper des Kindes verbinden, das dem Zacharias und der Elisabeth geboren
wurde. Wir wissen aus dem Evangelium selber, daß wir Johannes den Täufer als
den wiedergeborenen Elias aufzufassen haben (Matthäus 17, 10–13). Aber wir
haben es dabei zu tun mit einer Individualität, die aus ihren früheren
Inkarnationen nicht gewohnt war, durch die in dem normalen Lebensgange selbst
liegenden Kräfte alles das zu entwickeln, was herauskommen sollte. Beim
normalen Lebensgange regt sich, während der menschliche physische Leib sich
im mütterlichen Leibe entwickelt, die innere Kraft des Ich. Was damit
innerlich verbunden ist, das hatte die Individualität des Elias in früheren
Zeiten noch nicht durchgemacht, sie war noch nicht so weit hinuntergestiegen.
Das Ich war nicht durch die eigenen Kräfte, wie in normalen Verhältnissen, in
Bewegung gesetzt worden, sondern von außen. Das mußte wieder jetzt geschehen.
Mehr aus der geistigen Welt heraus, näher schon der Erde ist das Ich dieser
Wesenheit, die jetzt viel mehr mit der Erde verbunden ist als die
Wesenheiten, welche früher den Elias geleitet haben. Es sollte ja jetzt der
Übergang geschaffen werden zu der Verbindung der Buddha- mit der
Zarathustra-Strömung. Alles sollte verjüngt werden. Jetzt mußte gerade
diejenige Wesenheit von außen einwirken, welche sich mit der Erde und ihren
Angelegenheiten so verknüpft hatte wie der Buddha, der jetzt in seinem
Nirmanakaya verbunden war mit dem nathanischen Jesus. Diese Wesenheit, welche
auf der einen Seite mit der Erde verbunden war, anderseits aber doch wieder
entrückt war, weil sie nur in dem Nirmanakaya wirkte, die
"jenseits" der Erde lebte, weil sie wieder hinaufgestiegen ist, und
nun über dem Haupte des nathanischen Jesus schwebte, sie mußte jetzt von
außen hereinwirken und die Ich-Kraft Johannes des Täufers entfalten.
So war es der Nirmanakaya des Buddha, der auf die Entfaltung
der Ich-Kraft des Johannes so wirkte, wie früher die geistigen Kräfte auf den
Elias gewirkt haben. Damals war das Elias-Wesen in gewissen Zeiten entrückt
in ekstatische Zustände; da sprach der Gott, füllte sein Ich mit einer realen
Kraft, die es dann der Außenwelt mitteilen konnte. Jetzt war wieder eine
geistige Wesenheit da, die als der Nirmanakaya des Buddha über dem
nathanischen Jesus schwebte; die wirkte jetzt herein auf die Elisabeth, als
der Johannes geboren werden sollte, regte im Leibe der Elisabeth den Keim des
Johannes im sechsten Monate der Schwangerschaft an und weckte da das Ich. Nur
bewirkte diese Kraft, weil sie jetzt näher der Erde stand, nicht bloß eine
Inspiration, sondern wirklich die Herausgestaltung des Ich des Johannes.
Unter dem Einflüsse des Besuches derjenigen, welche da die Maria genannt
wird, regte sich das Ich Johannes des Täufers. So wirkt der Nirmanakaya des
Buddha aufweckend und bis in die physische Substanz hinein erlösend auf das
Ich des einstigen Elias, auf das jetzige Ich Johannes des Täufers. Was können
wir jetzt erhoffen?
Wie Elias einst im neunten Jahrhundert vor unserer
Zeitrechnung seine gewaltigen Worte gesprochen hatte, wie das eigentlich
Gottesworte waren und wie das, was seine Hand deutete, Gottesgebärde war, so
mußte es jetzt bei Johannes dem Täufer ähnlich sein, indem das wieder
auflebte, was in dem Elias vorhanden war. Was in dem Nirmanakaya des Buddha
war, das wirkte als Inspiration hinein in das Ich Johannes des Täufers. Was
sich den Hirten verkündete, was über dem nathanischen Jesus schwebte, das
erstreckte seine Kraft hinein in Johannes den Täufer. Und die Predigt
Johannes des Täufers ist zunächst die wiedererweckte Buddha-Predigt. Es
erscheint dabei etwas höchst Eigentümliches, was tief auf unsere Seele wirken
muß, wenn wir uns an die Predigt von Benares erinnern, wenn darin von Buddha
gesprochen wurde von dem Leid des Lebens und von der Erlösung von dem Leid
des Lebens durch den achtgliedrigen Pfad, den die Seele suchen soll. Damals
hat der Buddha das verkündet, was er als achtgliedrigen Pfad erkannt hat;
damals hat er seine Predigt auch öfter fortgesetzt, indem er sagte: Ihr habt
bis heute die Lehre der Brahmanen gehabt; sie schreiben ihre Herkunft her von
Brahma selber. Sie sagen, sie seien etwas Vorzüglicheres als die anderen
Menschen, weil sie von diesem edlen Ursprünge abstammen. Diese Brahmanen
sagen, der Mensch sei etwas wert durch seine Abstammung. Ich aber sage euch:
Der Mensch ist etwas wert durch das, was er aus sich selbst heraus macht, und
nicht durch das, was durch seine Abstammung in ihn gelegt ist. Er ist wert
der großen Weisheit der Welt durch das, was er als individueller Mensch aus
sich selber macht. – Dadurch erregte Buddha gerade den Zorn der
Brahmanenwelt, indem er auf die individuelle Qualität hinwies und sagte:
Wahrlich, ich sage euch, es mag sich einer noch so viel einen Brahmanen
nennen, darauf kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, daß ihr aus
euren eigenen persönlichen Kräften heraus einen geläuterten Menschen macht. –
Das war, wenn auch nicht wörtlich, so doch der Sinn vieler Buddha-Reden. Und
dann setzte er gewöhnlich diese Lehre fort, indem er zeigte, wie der Mensch,
wenn er die Welt des Leidens versteht, Mitleid empfinden kann, Tröster und
Helfer werden kann, wie er gerade teilnehmen wird am Geschick der anderen,
weil er weiß, daß er mit ihnen das gleiche Leid und den gleichen Schmerz
empfindet.
Jetzt war der Buddha in seinem Nirmanakaya, überstrahlte das
nathanische Jesuskind und setzte dann seine Predigt fort, indem er die Worte
ertönen ließ aus dem Munde Johannes des Täufers. Was der Mund des Johannes
sprach, das geschah unter der Inspiration des Buddha. Und es klingt uns wie
eine Fortsetzung der Rede, die der Buddha einst gehalten hat, wenn zum
Beispiel der Johannes sagt: Ihr, die ihr viel darauf baut, daß ihr von denen
euch herstammend nennt, die in dem Dienst der geistigen Mächte die
"Kinder der Schlange" genannt werden, und euch beruft auf die
"Weisheit der Schlange", wer hat denn euch dazu gebracht? Nur so
glaubt ihr würdige Früchte der Buße zu bringen, indem ihr sagt: Wir haben
Abraham zum Vater. –
Jetzt aber setzte Johannes die Predigt des Buddha fort: Sagt
nicht, ihr habt Abraham zum Vater, sondern werdet dort wahrhaftige Menschen,
wo ihr in der Welt steht. Ein wahrhaftiger Mensch kann an der Stelle des
Steines erweckt werden, auf dem euer Fuß steht. Wahrlich, der Gott kann dem
Abraham aus den Steinen Kinder erwecken (Lukas 3, 7–8). Und dann sagte er, so
recht die Predigt des Buddha fortsetzend: "Wer zwei Röcke hat, der teile
sie mit dem, der keinen hat" (Lukas 3,11). Sie kamen zu ihm und fragten:
"Meister, was sollen wir tun?" (Lukas 3,12), genau so, wie auch die
Mönche einst zu Buddha gekommen waren und gefragt haben: "Was sollen wir
tun?" Das alles sind Worte, die sich ausnehmen wie die Worte des Buddha
oder wie eine Fortsetzung derselben.
So erscheinen diese Wesenheiten auf dem physischen Plan
durch der Zeiten Wende, und so lernen wir verstehen die Einheit der
Religionen und geistigen Verkündigungen der Menschheit. Was der Buddha war,
lernen wir nicht dadurch kennen, daß wir an dem Traditionellen festhalten,
sondern wenn wir hinhorchen auf das, was der Buddha wirklich spricht. Buddha
hat fünf bis sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung so gesprochen, wie
wir es aus der Predigt von Benares hören. Aber des Buddha Mund ist nicht
verstummt. Er spricht auch da, wo er nicht mehr verkörpert ist, wo er
inspiriert durch den Nirmanakaya. Aus dem Munde Johannes des Täufers hören
wir, was der Buddha zu sagen hatte sechs Jahrhunderte später, nachdem er in
einem physischen Leibe gelebt hat. So ist die "Einheit der
Religionen". Wir müssen eine jede Religion im Laufe der Menschheitsentwickelung
an dem richtigen Punkte aufsuchen und in ihr das Lebendige suchen, nicht das
Tote; denn alles entwickelt sich weiter. Das müssen wir verstehen und
begreifen lernen. Wer aber nicht den Buddha-Spruch aus dem Munde Johannes des
Täufers hören will, der kommt einem vor wie ein Mensch, der den Keim eines
Rosenstockes gesehen hat und einige Zeit später, nachdem der Rosenstock
aufgegangen ist und Blüten trägt, nicht glauben will, daß dieser Rosenstock
aus diesem Rosenkeim entstanden ist, und der jetzt sagen würde: Das ist etwas
anderes. – Was in dem Keim lebendig war, das blüht jetzt in dem Rosenstock.
Und was in der Predigt von Benares lebendig war, das blühte in der Predigt
Johannes des Täufers am Jordan.
Damit haben wir eine andere Individualität in ihrem Wesen
kennengelernt, die uns in jener Zeit entgegentritt, und von der uns das
Lukas-Evangelium so eindringlich redet. Wir lernen diese Evangelien nur
dadurch kennen, daß wir uns nach und nach dazu aufschwingen, wirklich jedes
Wort so zu verstehen, wie es gemeint ist. Und Lukas sagt uns in der
Einleitung, daß er wiedererzählen will die Mitteilung derer, die als
"Selbstseher" gewirkt haben. Aber diese Selbstseher sahen die
wahren Verhältnisse, wie sie sich durch die Zeiten hindurch nach und nach offenbarten;
sie sahen nicht bloß, was auf dem physischen Plane vorgeht. Wer nur das
sieht, der könnte sagen: Fünf bis sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung
hat in Indien einmal ein Mensch gelebt, welcher der Sohn des Königs
Suddhodana war und welcher der Buddha geheißen hat, und dann hat einmal ein
Johannes der Täufer gelebt. Er findet aber nicht dasjenige, was sich von dem
einen zum anderen hindurchschlingt. Denn das ist erst zu sehen in der
geistigen Welt. Lukas aber sagt, daß er nach denen erzählt, die "gesehen
haben", die Seher waren. Es genügt nicht, daß wir die Worte der
religiösen Urkunden nur hinnehmen; wir müssen diese Worte auch im richtigen
Sinne lesen lernen. Dazu müssen aber die Individualitäten, die dabei
auftreten, so recht anschaulich vor unserer Seele stehen. Anschaulich können
sie aber nur vor unserer Seele stehen, wenn wir wissen, was alles in sie
eingeflossen ist.
Eines wurde noch gesagt: Was auch immer für eine
Individualität auf die Erde heruntersteigt, sie muß sich entwickeln im Sinne
der Fähigkeiten, die aus dem Körper herauskommen können, in welchen sie sich
hineininkarniert. Damit muß diese Wesenheit rechnen. Nehmen wir an, heute
wollte eine hohe Wesenheit heruntersteigen; sie könnte dann nur mit den
Gesetzmäßigkeiten rechnen, die eben heute ein Menschenleib haben kann.
Erkennen, was diese Individualität eigentlich ist, das kann nur der Seher,
der da sieht, wie die intimeren Fäden sich hineinverweben in das Innere des
Wesens. Eine solche Wesenheit auf hoher Stufe der Weisheit muß sich aber durch
die Kindheit herauf den Körper reif machen, damit in einem bestimmten
Zeitpunkte das hervortreten kann, was diese Wesenheit in früheren
Inkarnationen einmal war. Soll eine solche Wesenheit ganz besondere
Empfindungen in den Menschen erregen, so muß auch demgemäß die irdische
Inkarnation sein, so daß auch der Körper ertragen kann, was Gegenstand der
Mission sein soll. In den geistigen Welten sieht es wahrhaftig nicht so aus
wie in der physischen Welt. Will eine Wesenheit Heilung vom Schmerz, Erlösung
vom Leid verkünden, dann muß sie die ganze Tiefe des Leides durchkosten,
damit sie die rechten Worte finden kann, die im menschlichen Sinne darauf
anwendbar sind.
Was später jene Wesenheit zu sagen hatte, die sich im Körper
des nathanischen Jesus verbarg, das war etwas, was eine Kundschaft war an die
ganze Menschheit. Das war etwas, was die Menschheit hinwegbringen sollte über
alle frühere engere Blutsverwandtschaft. Nicht nehmen sollte sie die
Blutsverwandtschaft, nicht aufheben, was zwischen Vater und Sohn, zwischen
Bruder und Schwester steht, sondern zu der Liebe, die an die
Blutsverwandtschaft gebunden ist, dasjenige hinzufügen, was man allgemeine
Menschenliebe nennt, die von Seele zu Seele geht, die erhaben ist über alle
Blutsbande. Das sollte diejenige Wesenheit bringen, die sich später in dem
nathanischen Jesus zeigte. Sie sollte etwas bringen von Liebe, von Vertiefung
der Liebe, die nichts zu tun hat mit dem, was an die Verwandtschaft des
Blutes geknüpft ist. Dazu aber mußte diese Wesenheit, die in dem Körper des
nathanischen Jesus lebte, erst auf der Erde selber erfahren, was es heißt,
keine Verbindungen fühlen, nicht durch das Blut mit anderen zusammenhängen.
Dann konnte sie rein empfinden, was nur von Mensch zu Mensch spielt. Frei
mußte sie sich erst fühlen von allen Blutsbanden, ja von der Möglichkeit der
Blutsbande. Nicht nur ein "heimatloser" Mensch werden wie der
Buddha, der aus der Heimat in die Fremde gegangen ist, sondern als
herausgetreten aus allen Familienzusammenhängen, aus allem, was mit irgendwelchen
Blutsbanden etwas zu tun hat, mußte die Individualität des nathanischen Jesus
vor der Welt stehen. All den tiefen Schmerz mußte sie empfinden, den man
empfinden kann, wenn man von dem, was sonst dem Menschen nahestehen kann,
Abschied nehmen muß, wenn man allein stehen muß; aus der großen Einsamkeit,
der Familienverlassenheit heraus mußte die Individualität sprechen, die in
dem nathanischen Jesus lebte. Wer war diese Wesenheit?
Wir wissen, es ist jene Wesenheit, welche etwa bis zum
zwölften Lebensjahre in dem salomonischen Jesus lebte, es ist die
Individualität, der Geist des Zarathustra, welcher in dem salomonischen Jesus
lebte, der den salomonischen Vater und die salomonische Mutter zu Eltern
hatte. Der Vater aber war früh gestorben, verwaist war der Knabe von
väterlicher Seite. Außer ihm waren in dieser Familie Brüder und Schwestern
vorhanden. In dieser Familie ist er darinnen, solange er, der Zarathustra, in
dem Leibe des salomonischen Jesus ist. Diese Familie verläßt er dann mit
zwölf Jahren, gibt die Mutter auf, gibt die Brüder und Schwestern auf, um in
den Leib des nathanischen Jesus hinüberzugehen. Da stirbt ihm auch die
[nathanische] Mutter, da stirbt später der [nathanische] Vater. Und als er zu
seinem Wirken in die Welt hinauszutreten hatte, da hat er von allem Abschied
genommen, was mit Blutsbanden etwas zu tun hat. Da ist er nicht bloß gänzlich
verwaist, hat verlassen müssen Brüder und Schwestern, sondern da hat er auch
als Zarathustra-Wesenheit darauf verzichten müssen, jemals Nachkommen zu
haben, jemals eine Familie zu begründen. Denn die Zarathustra-Wesenheit hat
nicht nur Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, sondern auch den eigenen
Leib verlassen, ist in einen anderen Leib hineingegangen, in den Leib des
nathanischen Jesus. Diese Wesenheit konnte vorarbeiten für eine noch höhere
Wesenheit, welche dann in dem Leibe des nathanischen Jesus sich vorbereiten
konnte zu dem großen Beruf, die allgemeine Menschenliebe zu verkünden. Und
als dann die Mutter und die Brüder dieser Wesenheit kamen und man ihr sagte:
"Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen dich
sehen", da konnte diese Wesenheit aus tiefster Seele heraus, so daß man
sie nicht mißverstehen kann, vor allem Volke die Worte sprechen, ohne
irgendeine Pietät zu verletzen: Das sind sie nicht! – Denn selbst den Leib
hatte der Zarathustra verlassen, der mit dieser Familie zusammenhing. Und
hinweisend auf die, welche in freier Seelengemeinschaft mit ihm waren, konnte
er sagen: Das sind meine Mutter und meine Brüder, die das Wort Gottes hören
und tun! (Lukas 8, 20–21). So weit sind die religiösen Urkunden wörtlich zu
nehmen.
Damit einer einmal die allgemeine Menschenliebe verkünden
konnte, mußte er wirklich einmal in einer Gestalt inkarniert sein, in welcher
er erfahren konnte das Verlassensein von allem, was Blutsbande begründen
können. Zu dieser Gestalt schweifen unsere Gefühle hin, so daß sie zu ihr
ganz wie in menschliche Nähe treten, zu einer Gestalt, die von hohen
geistigen Höhen heruntersteigt und menschlich Erfahrenes und Erlittenes zum
Ausdruck bringt. Daher schlagen unsere Herzen ihr zu. Und je geistiger wir
sie verstehen, desto besser werden wir sie verstehen, und desto mehr werden
unsere Herzen ihr entgegenschlagen und unsere Seelen ihr zujauchzen.
Siebenter Vortrag
21. September 1909
Die beiden
Jesusknaben. Die Verkörperung des Christus im Jesus von Nazareth. Vishva
Karman, Ahura Mazdao, Jahve. Die Geistloge der zwölf Bodhisattvas und der
Dreizehnte.
Wir haben uns in den verflossenen Tagen Vorstellungen zu
bilden versucht über die wichtigsten Wesenheiten, von denen uns das
Lukas-Evangelium zu sagen hat. Wir haben umfassende Begriffe gewonnen von
dem, was dieser Urkunde zugrunde liegt. Eines aber haben wir noch nötig: die
weitere Entwickelung der Hauptwesenheit, und damit der Hauptwesenheit unserer
Erde, des Christus Jesus selber zu verfolgen. Es wird dabei notwendig sein,
daß wir uns zunächst an das erinnern, was schon gesagt worden ist, daß der
Christus Jesus, der dann später vor uns steht, von dem die Schilderung im Lukas-Evangelium
handelt, sozusagen leiblich geboren worden ist als der nathanische Jesus aus
dem davidischen Hause. Dieses Kind wächst heran bis ungefähr zum zwölften
Jahre. In der Zeit, als seine Entwickelung bis dahin vorwärtsgeschritten ist,
tritt in seinen Leib diejenige Ichheit ein, welche einstmals inkorporiert war
in der Wesenheit, welche die persische Kultur eingeleitet hat, so daß wir
also vom zwölften Jahre an in dem Leibe des nathanischen Jesus das Ich des
Zarathustra haben. Jetzt wird es uns obliegen, genauer die Entwickelung
dieser Wesenheit zu verfolgen. Da müssen wir uns an etwas erinnern, wofür wir
ja durch unsere vorhergehenden geisteswissenschaftlichen Betrachtungen
vorbereitet sind. Wir wissen, daß die Entwickelung des Menschen im normalen
Falle so fortschreitet, daß ein wichtiger Zeitabschnitt in die Zeit vom
ersten bis zum siebenten Lebensjahre fällt; ein weiterer wichtiger Abschnitt
in der Entwickelung fällt in die Zeit vom siebenten bis ungefähr vierzehnten
Jahre, das heißt bis zur Geschlechtsreife; ein weiterer Abschnitt geht vom
vierzehnten bis einundzwanzigsten Jahre, dann kommt ein Zeitabschnitt bis zum
achtundzwanzigsten und darauf ein weiterer bis zum fünfunddreißigsten Jahre.
Diese Zeitabschnitte sind natürlich nicht in pedantischer Weise so
aufzufassen, daß etwa ihr Ende immer genau zusammenfällt mit dem Jahresdatum,
sondern wir haben jenen wichtigen Übergang in der menschlichen Entwickelung,
der ungefähr mit dem Ablaufe des siebenten Jahres bezeichnet wird, in die
Zeit des Zahnwechsels zu setzen. Dieser Übergang geht also nicht auf einmal
vor sich, sondern allmählich in der Zeit des Zahnwechsels. Ebenso geht alles
bei den übrigen Abschnitten allmählich vor sich. Wir wissen nun – genauer ist
das dargestellt in der kleinen Schrift "Die Erziehung des Kindes vom
Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft" –, daß mit dem Ablauf des
siebenten Jahres geistig etwas Ähnliches geschieht wie physisch mit dem
Verlassen des Mutterleibes: eine Art ätherischer Geburt geht dann vor sich. Mit
dem vierzehnten Jahre, mit der Geschlechtsreife, geht eine astralische Geburt
vor sich; da wird das frei, was des Menschen Astralleib ist. Wenn wir nun die
menschliche Entwickelung genau verfolgen, verfolgen mit den Augen des
Geistes, so stellt sie sich uns noch viel komplizierter dar. Wie der Mensch
im Leben gewöhnlich beobachtet, entgehen ihm jene wichtigen Unterschiede im
ganzen Menschenleben, die doch auch noch in den späteren Lebensjahren
auftreten. Man hält heute dafür, daß von einem gewissen Zeitpunkte an nicht
mehr viel mit dem Menschen vorgehe. Das ist aber nur eine grobe Betrachtung,
die das meint. In Wahrheit können wir auch für die späteren Lebensjahre, wenn
wir feiner beobachten, gewisse Unterschiede in der menschlichen Entwickelung
wahrnehmen.
Wenn die physische Mutterhülle zurückgestreift wird, so ist
das, was jetzt vom Menschen geboren ist, eigentlich nur der physische Leib,
so daß das, was in den ersten sieben Lebensjahren frei hervortritt, der
physische Leib ist. In den verschiedenen Vorträgen über die Erziehung des
Kindes ist betont worden, wie wichtig es für den Erzieher ist, gerade dieses
zu wissen. Dann, wenn die ätherische Hülle abgestreift wird, liegt frei der
Ätherleib; wenn mit dem vierzehnten Jahre die astralische Mutterhülle
abgestreift wird, liegt frei der Astralleib. Genau gesprochen können wir aber
die menschliche Wesenheit nur verstehen, wenn wir von jener Gliederung
ausgehen, die in meiner "Theosophie" angegeben ist. Dort sind die
höheren, die seelischen Glieder der menschlichen Natur noch weiter geteilt.
Da finden wir zunächst an den Lebensleib sich anschließend das, was man den
Empfindungsleib nennt, und eigentlich ist bis zum einundzwanzigsten Jahre,
genau gesprochen, gegenüber der äußeren Welt erst der Empfindungsleib
vollständig frei. Mit dem einundzwanzigsten Jahre wird allmählich im Menschen
dasjenige frei, was man die Empfindungsseele nennt; mit dem
achtundzwanzigsten Jahre wird die Verstandes- oder Gemütsseele frei, und
nachher die Bewußtseinsseele. So ist es beim gegenwärtigen Menschen. Und wer,
geleitet durch die Erkenntnis der Geisteswissenschaft, das menschliche Leben
beobachtet, der weiß sehr wohl, daß diese Entwickelungsstadien vorhanden
sind. Und die, welche die großen Führer der Menschheit sind, wissen auch,
warum das fünfunddreißigste Jahr ein so wichtiges ist. Dante wußte,
warum er besonders auf sein fünfunddreißigstes Jahr hinwies, als er erklärte,
daß er da jene gewaltigen Weltvisionen hatte, die in seinem großen
Weltengedichte niedergelegt sind. Gleich im Anfange der "Göttlichen
Komödie" finden wir darauf hingewiesen, daß er diese Visionen im
fünfunddreißigsten Lebensjahr hatte. Da ist die Wesenheit des Menschen so
weit, daß sie diejenigen Fähigkeiten als Werkzeuge voll benutzen kann, welche
am Empfindungsleib, an der Empfindungsseele und an der Verstandes- oder
Gemütsseele hängen.
Diejenigen, welche von dem Menschen im Sinne unserer
Entwickelung gesprochen haben, haben diese Einteilung immer gekannt. Bei den
Orientalen war es etwas anders, da ändern sich die Zeiten etwas. Daher aber
hatte man für die orientalische Kultur recht, wenn man nicht dieselben
Unterschiede machte in der Einteilung. Im Abendlande aber mußte man sie immer
machen. Die Griechen zum Beispiel haben nur mit etwas anderen Worten das
bezeichnet, was wir hier haben. Indem sie das Seelische bezeichnen wollten,
fingen sie an bei dem, was wir den Lebensleib nennen, und nannten es
Treptikon; was wir den Empfindungsleib nennen, nannte man mit einem sehr
bezeichnenden Ausdruck Aesthetikon; unsere Empfindungsseele bezeichnete man
als Orektikon, die Verstandesseele als Kinetiken, und was die
Bewußtseinsseele ist, das kostbarste Gut, was sich der Mensch jetzt erwirbt,
nannte man Dianoetikon. So haben wir die Entwickelung des Menschen vor uns,
wenn wir sie genau und exakt betrachten.
Nun war durch gewisse Verhältnisse, die uns heute auch noch
zum Teil klarwerden sollen, die Entwickelung des nathanischen Jesus etwas
vorangeschoben, etwas beschleunigt worden. Das war ja dadurch auch möglich,
daß in seinen Gegenden die Geschlechtsreife früher fiel. Aber es lagen bei
ihm noch ganz besondere Gründe vor, daß dasjenige, was sonst im vierzehnten
Jahre eintritt, bei ihm im zwölften Jahre eintrat. Und so trat das, was sonst
mit einundzwanzig Jahren eintritt, bei ihm mit neunzehn Jahren ein, und was
sonst mit achtundzwanzig und fünfunddreißig Jahren vorgeht, das ereignete
sich bei ihm mit sechsundzwanzig und dreiunddreißig Jahren. Das ist sozusagen
das Schema der Entwickelung unseres irdischen Mittelpunktwesens. Wir haben
nun zu beachten, daß wir bis zum zwölften Jahre leiblich den nathanischen
Jesus vor uns haben, daß aber vom zwölften Jahre an in dem nathanischen Jesus
weiterlebt das Ich des Zarathustra. Was heißt das eigentlich? Es heißt nichts
anderes, als daß dieses Ich, dieses reife Ich, von dem zwölften Jahre
angefangen, an des nathanischen Jesus Empfindungsleib, Empfindungsseele und
Verstandesseele arbeitete und diese Eigenschaften der menschlichen Natur in
der Weise ausarbeitete, wie nur ein so reifes Ich, das durch die verschiedensten
Inkarnationen hindurch die Schicksale des Zarathustra-Ich durchgemacht hat,
die menschlichen Fähigkeiten ausarbeiten kann. So haben wir jene wunderbare
Tatsache vor uns stehen, daß in den Leib des nathanischen Jesus hinein mit
dem zwölften Jahre sich das Ich des Zarathustra verkörperte, daß es die
Fähigkeiten in der Seele in der denkbar feinsten Weise ausarbeitete. Also es
entwickelte sich ein Empfindungsleib heran, der imstande war, so
hinaufzuschauen in den Kosmos, daß er die Empfindungen haben konnte von dem
alten Ahura Mazdao, was dieser seiner geistigen Wesenheit nach ist; es
entwickelte sich eine Empfindungsseele, welche das Wissen, die Weisheit in
sich hegen konnte, die nach und nach sich erst auf Grundlage der
Ahura-Mazdao-Lehre innerhalb der Menschheit entwickelte; und es entwickelte
sich dann eine Verstandesseele, die das alles begriff, das heißt in Begriffe,
in Worte, in leichtfaßliche Worte fassen konnte, was die Menschheit früher
nur durch ihre geistigen Strömungen von außen erlangt hatte.
Normales Verhältnis; Nathanischer Jesus
Physischer Leib 1-7
Ätherleib (Threptikon) 7-14; 12
Astralleib oder Empfindungsleib (Aesthetikon) 14-21; 19
Empfindungsseele (Orektikon) 21-28; 26
Verstandesseele (Kinetikon) 28-33; 35
Bewußtseinsseele (Dianoetikon)
So entwickelte sich dieser nathanische Jesus mit dem
Zarathustra-Ich in sich. Und er entwickelte sich so lange in dieser Weise,
bis das dreißigste Jahr herannahte. Da machte sich eine neue Tatsache
geltend. Diejenige Erscheinung, die in einer gewissen Weise schon mit zwölf
Jahren bei dem nathanischen Jesus aufgetreten ist, daß sein Innerstes mit
einer neuen Ichheit erfüllt worden ist, die tritt noch einmal ein, jetzt
jedoch in einer universelleren, bedeutenderen Weise. Gegen das dreißigste
Jahr sehen wir, wie das Zarathustra-Ich seine Aufgabe an der Seele des
nathanischen Jesus vollendet hat, wie es die Fähigkeiten in der höchsten
Weise ausgebildet hat. Da hatte es sozusagen die Mission für diese Seele
vollendet, da hatte es alles das, was es durch die früheren Inkarnationen
gewonnen hatte, in diese Seele hineingearbeitet und konnte nunmehr sagen:
Meine Aufgabe ist jetzt vollendet. – Und es verließ das Zarathustra-Ich eines
Tages den Leib des nathanischen Jesus.
Das Zarathustra-Ich lebte also bis zum zwölften Jahre in dem
Leibe des salomonischen Jesus. Dieser Knabe hätte sich irdisch nun nicht
weiterentwickeln können. Er blieb sozusagen deshalb, weil das
Zarathustra-Ich, das in ihm gewohnt hatte, ihn verlassen hatte, auf seinem
damaligen Standpunkte stehen. Er war allerdings bis zu einer hohen und
seltenen Reife gelangt, weil ein so hohes Ich in ihm war. Wer äußerlich das
salomonische Jesuskind beobachtet hätte, würde gefunden haben, daß es ein im
höchsten Maße frühreifes Kind war. Aber von dem Momente an, als das
Zarathustra-Ich es verlassen hatte, blieb es stehen, da konnte es nicht
weiter. Und als der Zeitpunkt heranrückte, wo verhältnismäßig früh die Mutter
des nathanischen Jesus starb, in bezug auf die geistigen Glieder in die
geistige Welt entrückt wurde, da nahm sie dasjenige, was an Ewigkeitswert, an
bildender Kraft in dem salomonischen Jesuskinde war, mit sich. Dieses Kind
starb auch, also ungefähr zur gleichen Zeit, als die Mutter des nathanischen
Jesus starb.
Es war eine wertvolle Ätherhülle, welche damals den Leib des
salomonischen Jesus verließ. Wir wissen, daß der Ätherleib von jener Zeit an
seine besondere Ausbildung erlangt, wenn ein Kind ungefähr das siebente Jahr
überschritten hat, zwischen dem siebenten Jahre und der Geschlechtsreife. Das
war also ein Ätherleib, der durch die Kräfte ausgebildet war, die das
Zarathustra-Ich hatte. Wir wissen, daß beim Tode der Ätherleib den physischen
Leib verläßt, daß alles, was nicht für die Ewigkeit brauchbar ist, im
normalen Menschenleben abgestreift wird und daß eine Art Extrakt von dem
Ätherleibe mitgenommen wird. Bei dem salomonischen Jesusknaben war das
denkbar größte Quantum des Ätherleibes für die Ewigkeit brauchbar. Der ganze
Lebensleib dieses Kindes wurde von der Mutter des nathanischen Jesus in die
geistige Welt mitgenommen.
Nun ist aber der Ätherleib der Bildner und Aufbauer des
physischen Menschenleibes. Wir können uns nun vorstellen, daß in der Tat eine
tiefe Verwandtschaft war zwischen diesem Ätherleibe, der als der Ätherleib
des salomonischen Jesus in die geistige Welt entrückt worden war, und dem Ich
des Zarathustra, denn dasselbe war bis zum zwölften Jahre eins mit ihm im
Erdenwandel. Und als es durch die Entwickelung des Jesus von Nazareth dann
dessen Leib verließ, sich sozusagen herausbegab aus dem Leibe des
nathanischen Jesus, da machten sich die Anziehungskräfte geltend zwischen dem
Zarathustra-Ich und dem Ätherleibe, welcher dem salomonischen Jesuskinde
entstammte. Die kamen wieder zusammen und bauten sich dann einen neuen
physischen Leib auf. Das Zarathustra-Ich war so reif, daß es nicht einen
weiteren Durchgang durch ein Devachan brauchte. Es konnte sich nach
verhältnismäßig kurzer Zeit mit Hilfe jenes Ätherleibes, den wir eben
charakterisiert haben, einen neuen physischen Leib aufbauen. Und dadurch
wurde nunmehr zum ersten Male dasjenige Wesen geboren, welches nachher immer
wieder und wieder erschien, immer so erschien, daß verhältnismäßig kurze
Zeiträume zwischen dem physischen Tode und einer neuen Geburt verliefen, so
daß dieses Wesen immer, wenn es den physischen Leib im Tode verließ, bald
wieder auf der Erde neu inkarniert erschien.
Diese Wesenheit, welche also ihren auf die geschilderte
Weise abgelegten Ätherleib wieder aufgesucht hat, wandelte nachher durch die
Geschichte der Menschheit. Sie wurde, wie Sie sich vorstellen können, der
größte Helfer derjenigen, welche das große Ereignis von Palästina begreifen
wollten. Als sogenannter "Meister Jesus" wandelt diese
Individualität durch der Zeiten Wende; so daß also der Zarathustra, das
Zarathustra-Ich, nach der Wiederauffindung seines Ätherleibes seine Laufbahn
durch die Menschheitsentwickelung als der "Meister Jesus" begann,
der seitdem auf unserer Erde immer wieder und wieder verkörpert lebt zur
Lenkung und Leitung jener Geistesströmung, die wir die christliche nennen. Er
ist der Inspirator derjenigen, welche das sich lebendig entwickelnde
Christentum verstehen wollen; er hat innerhalb der esoterischen Schulen
diejenigen inspiriert, welche die Lehren des Christentums fortdauernd zu pflegen
hatten. Hinter den großen geistigen Gestalten des Christentums steht er,
immerdar lehrend, was eigentlich das große Ereignis von Palästina bedeutet.
Dieses Zarathustra-Ich, das den Leib des nathanischen Jesus
vom zwölften bis zum dreißigsten Jahre belebt hat, es war nunmehr außerhalb
dieses Leibes. Eine andere Wesenheit drang jetzt in diesen Leib ein. Der
Zeitpunkt, da dies geschah, da nun sozusagen ein "höchstes Ich"
statt des Zarathustra-Ich in den nathanischen Jesus eindrang, dieser Zeitpunkt
wird uns in allen Evangelien charakterisiert als der jenige der
Johannes-Taufe im Jordan. Es ist schon bei Gelegenheit der Besprechung des
Johannes-Evangeliums darauf aufmerksam gemacht worden, daß die Taufe in jenen
älteren Zeiten noch etwas ganz anderes war, als sie später geworden ist, wo
sie nur ein Symbol ist. Sie wurde auch anders von Johannes dem Täufer
vorgenommen. Die getauft wurden, sie wurden ihrer ganzen Leiblichkeit nach,
mit ihrem ganzen Körper in das Wasser eingetaucht. Nun wissen Sie aber aus den
verschiedenen vorbereitenden anthroposophischen Vorträgen, daß bei einer
solchen Tatsache etwas ganz Besonderes geschehen kann. Schon im gewöhnlichen
Leben, wenn der Mensch zum Beispiel dem Ertrinken nahe ist und einen Schock
bekommt, tritt das ein, daß er sein bisheriges Leben wie in einem großen
Tableau vor sich stehen hat. Das kommt daher, weil da für einen Augenblick
das geschieht, was sonst nur nach dem Tode eintritt: der Ätherleib wird
herausgehoben aus dem physischen Leibe, wird frei von den Gewalten des
physischen Leibes. Das vollzog sich bei den meisten Täuflingen des Johannes,
und das vollzog sich besonders bei der Taufe des nathanischen Jesus: sein
Ätherleib wurde herausgezogen. Und während dieses Momentes konnte in den Leib
des nathanischen Jesus untertauchen und Besitz von ihm nehmen jene hohe
Wesenheit, die wir die Christus-Wesenheit nennen.
So ist von jenem Zeitpunkte der Johannes-Taufe an der
nathanische Jesus durchdrungen von der Christus-Wesenheit. Das bedeuten die
Worte, welche in den älteren Evangelienurkunden handschriftlich stehen:
"Dies ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn gezeuget" –
das heißt, es ist jetzt der Sohn des Himmels, der Christus gezeugt. Der
Befruchter war die einheitliche Gottheit, die durch die Welt webt, und empfangend
war der Leib und die ganze Organisation des nathanischen Jesus, der
vorbereitet worden war, um den Fruchtkeim aus den Höhen zu empfangen.
"Dies ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn gezeuget", so
hieß es sonst in den älteren Evangelienhandschriften, und so sollte es in
Wahrheit in den Evangelien stehen (Lukas 3, 22).
Wer ist diese Wesenheit, die sich damals mit dem Ätherleibe
des nathanischen Jesus vereinigte? Diese Christus-Wesenheit können wir wieder
nicht verstehen, wenn wir unseren Blick nur auf die Erdenentwickelung lenken.
Diese Christus-Wesenheit ist diejenige Wesenheit, welche wir nennen müssen
den Führer jener geistigen Wesenheiten, welche damals, als die Sonne sich von
der Erde getrennt hat, mit der Sonne aus der Erde hinausgingen und sich einen
höheren Schauplatz begründeten, um von dieser Sonne aus, also von außen
herein, auf die Erde zu wirken. Wenn wir uns also in die vorchristliche
Erdenzeit zurückversetzen – von der Zeit an, als sich die Sonne von der Erde
getrennt hat, bis zu der Erscheinung des Christus auf der Erde –, so müssen
wir sagen: Wenn der Mensch zur Sonne hinauf schaute, so hätte er bei einer
Reife seiner Empfindungen dasjenige empfinden müssen, was der Zarathustra
gelehrt hat, daß das, was im Sonnenlicht und in der Sonnenwärme zu uns
dringt, nur das physische Kleid ist jener hohen geistigen Wesenheiten, die
hinter dem Sonnenlichte stehen; denn dahinter verbergen sich die geistigen
Kraftstrahlen, die von der Sonne auf die Erde hereindringen. Der Führer aber
aller der anderen Wesenheiten, welche da ihre wohltätigen Wirkungen von der
Sonne heruntersenken auf die Erde, das ist das Wesen, das später der Christus
genannt worden ist. Man hat es also in den vorchristlichen Zeiten nicht auf
der Erde zu suchen gehabt, sondern man hatte es auf der Sonne zu suchen. Und
Zarathustra tat recht, wenn er es mit dem Namen Ahura Mazdao bezeichnete, es
auf die Sonne versetzte und sagte: Wenn wir über die Erde wandeln, finden wir
ihn nicht, diesen Lichtgeist, wenn wir aber auf die Sonne schauen, dann ist
dasjenige, was auf der Sonne geistig lebt, der Ahura Mazdao, und was als
Licht zu uns strömt, das ist der Leib des Sonnengeistes, des Ahura Mazdao,
wie der menschliche physische Leib der Leib des Menschengeistes ist. – Aber
immer mehr näherte sich dieses hohe Wesen durch die großen kosmischen
Vorgänge der Erdensphäre. Man konnte hellseherisch sozusagen immer mehr und
mehr verspüren die Annäherung des Christus an die Erde. Und ein deutliches
Erkennen dieses Christus trat ein, als der große Vorgänger des Christus
Jesus, als Moses auf dem Sinai im Blitzesfeuer seine Offenbarungen empfing.
Was bedeuteten diese Offenbarungen des Moses? Sie
bedeuteten, daß sich das, was als Christus-Wesenheit sich der Erde näherte,
zunächst wie in einer Reflexion zeigt, wie in einem Spiegelbilde. Denken wir
uns den Vorgang vergeistigt, den wir jede Vollmondnacht am Vollmonde
wahrnehmen. Wenn wir zum Vollmond hinaufblicken, sehen wir die Sonnenstrahlen
zurückgestrahlt, gespiegelt. Es ist Sonnenlicht, was uns da entgegenströmt;
nur heißen wir es Mondenlicht, weil es vom Monde widergespiegelt erscheint.
Wen sah Moses im brennenden Dornbusch und im Feuer auf dem Sinai? Den
Christus! Aber wie man das Sonnenlicht nicht auf dem Monde direkt sieht,
sondern gespiegelt, so sah er in einer Spiegelung den Christus. Und wie wir
das Sonnenlicht, wenn wir es vom Monde gespiegelt erblicken, Mondenlicht
nennen, so wurde damals der Christus Jahve oder Jehova genannt. Daher ist
Jahve oder Jehova nichts anderes als die Widerspiegelung des Christus, bevor
dieser selbst auf der Erde erschien. So verkündigte sich der Christus der
menschlichen Wesenheit, die ihn noch nicht in seiner ureigenen Wesenheit zu
schauen vermochte, indirekt, wie in der sonst dunklen Vollmondnacht das
Sonnenlicht sich durch die Mondenstrahlen verkündigt. Jahve oder Jehova ist
der Christus, aber nicht direkt gesehen, sondern als reflektiertes Licht.
Immer mehr und mehr sollte sich menschlichem Erkennen,
menschlichem Wahrnehmen dieser Christus nähern. Das heißt, er sollte eine
Zeitlang selber auf der Erde wandeln, Mensch unter Menschen sein,
menschlicher Mitbewohner auf unserer Erde werden, wie er vorher aus dem
Kosmos herunter für die Eingeweihten sich kundgetan hat. Dazu mußte erst der
richtige Zeitpunkt kommen. Daß er vorhanden ist, der Christus, das hat man
dort, wo man die Weisheit der Welt durchdrungen hat, immer gewußt. Und weil
er sich in der verschiedensten Weise geoffenbart hat, so hat man ihn auch mit
den verschiedensten Namen benannt. Zarathustra hat ihn Ahura Mazdao genannt,
weil er sich ihm in dem Sonnenlichtkleide offenbarte. Jene großen Lehrer der
Menschheit, die in der ersten Epoche nach der atlantischen Katastrophe im
alten Indien aufgetreten sind, die heiligen Rishis, sie haben, da sie
Eingeweihte waren, durchaus von diesem Wesen gewußt; nur wußten sie, daß es
mit Erdenweisheit in dieser Epoche noch nicht zu erreichen ist, daß es sich
mit Erdenweisheit erst in einer späteren Epoche wird erreichen lassen. Daher
war die Formel für jene Zeit die, daß dieses Wesen lebe jenseits der Region
der sieben Rishis. Vishva Karman nannte man es. So also lehrten auch sie von
jenem Wesen, das sie Vishva Karman nannten, das der Zarathustra Ahura Mazdao
nannte. Das sind verschiedene Namen für diese Wesenheit, die sich langsam aus
Geisteshöhen, aus kosmischen Örtlichkeiten der Erde näherte.
Aber es mußte die Menschheitsentwickelung vorbereitet
werden, damit ein Leib dieses Wesen aufnehmen konnte. Dazu mußte erst eine
solche Wesenheit, wie sie in dem Zarathustra
gelebt hat, heranreifen von Inkarnation zu Inkarnation, um dann in einem so
reinen Leibe, wie es der des Jesus von Nazareth war, die Fähigkeiten des
Empfindungsleibes, der Empfindungsseele und der Verstandesseele
auszuarbeiten, so daß diese menschliche Wesenheit fähig wurde, ein so hohes
Wesen aufzunehmen. Das mußte langsam vorbereitet werden. Damit eine
Empfindungsseele, eine Verstandesseele so vorbereitet werden konnte, mußte
erst ein Ich durch die vielen Erfahrungen und Erlebnisse durchgehen, durch
die der Zarathustra durchgegangen ist, und mußte umgestalten die Fähigkeiten
in dem nathanischen Jesus. Das war nicht möglich in einer früheren Zeit. Denn
an dem nathanischen Jesuskinde mußte nicht nur das Zarathustra-Ich arbeiten,
sondern auch jene hohe Wesenheit, die wir charakterisiert haben als den
Nirmanakaya des Buddha. Sie arbeitete insbesondere von außen herein von der
Geburt bis zum zwölften Lebensjahre. Dazu mußte sie aber erst da sein. Es
mußte jener Bodhisattva selbst erst zum Buddha-Dasein aufsteigen, um in sich
möglich zu machen, den Geistleib des Nirmanakaya zu entwickeln, damit er das
nathanische Jesuskindlein von der Geburt bis zum zwölften Jahre bearbeiten
konnte. Der Bodhisattva selbst mußte erst die Buddha-Stufe übersteigen, um in
sich die Kraft zu haben, einen Leib reif zu machen zu jenem großen Ereignis.
Er hatte es in jener Inkarnation, als er Buddha wurde, noch nicht dazu
gebracht, diese Fähigkeit auszubilden. Dazu war erst sein Buddha-Leben
notwendig.
Wenn einmal die Menschheit wirklich verstehen wird, was als
große Weistümer in den Legenden aufbewahrt ist, dann wird sie an den
entsprechenden Stellen lesen können, daß alles, was wir aus der
Akasha-Chronik entziffern, in einer wunderbaren Weise in den alten Legenden
enthalten ist. Es wird uns erzählt, und mit Recht, daß die Christus-Wesenheit
auch im alten Indien gelehrt worden ist als kosmische Wesenheit jenseits der
Sphäre der sieben heiligen Rishis. Sie wußten, daß diese Wesenheit in der
Höhe lebt und sich erst allmählich der Erde nähert. Zarathustra wußte auch,
daß er den Blick hinauszuwenden hatte von der Erde zur Sonne; und das
althebräische Volk war durch die Eigenschaften und Fähigkeiten, die wir
gestern hervorgehoben haben, in der Lage, die Widerspiegelung der
Christus-Wesenheit zuerst verkündigt zu erhalten. – Auch das wird uns
angedeutet, und zwar in einer Erzählung, wie der Buddha, als er sich eben
anschickte, von dem Bodhisattva zu einem Buddha zu werden, in Berührung kam
mit dem Vishva Karman, der später der Christus genannt wurde. Die Legende
erzählt ja, daß er, als sein neunundzwanzigstes Jahr heranrückte, jene
berühmte Ausfahrt aus seinem Palaste machte, wo er bis dahin gehegt und
gepflegt worden war. Da sah er zuerst einen alten Mann, dann einen Kranken,
dann einen Leichnam, und lernte so nach und nach das Elend des Lebens kennen;
dann sah er einen Mönch, der dieses Leben verlassen hatte, in dem Alter,
Krankheit und Tod sind. Da beschloß er, so erzählt die Legende, die eine
tiefe Wahrheit verkündet, zunächst nicht gleich hinauszuziehen, sondern erst
noch einmal zurückzukehren. Aber bei dieser Ausfahrt, so sagt uns diese
Legende, wurde er von den geistigen Höhen herein geschmückt mit jener Kraft,
welche der Götterkünstler Vishva Karman, der ihm erschien, auf die Erde
heruntersandte. Geschmückt wurde der Bodhisattva mit der Kraft des Vishva
Karman selbst, der später der Christus genannt wurde. Also etwas äußerliches
war der Christus noch für ihn, war noch nicht mit ihm vereinigt. Damals hatte
sich auch der Bodhisattva dem dreißigsten Jahre genähert; damals aber hätte
er noch nicht vollständig die Christus-Aufnahme in einem menschlichen Leib
bewirken können. Dazu mußte er erst reif sein. Gerade durch sein
Buddha-Dasein hat er sich erst reif gemacht. Und als er in dem Nirmanakaya
erschien, hatte er die Aufgabe, diesen Leib des nathanischen Jesus, den er
nicht selber einnahm, reif zu machen für die Aufnahme des Vishva Karman, des
Christus.
So hatten die Kräfte der Erdenentwickelung zusammengewirkt,
um das große Ereignis zustande zu bringen. Nun muß sich uns die Frage auf die
Lippen legen: Wie steht dieser Christus, dieser Vishva Karman, zu solchen
Wesenheiten wie den Bodhisattvas, von denen zum Beispiel jener Bodhisattva
einer war, der später zum Buddha geworden ist?
Mit dieser Frage kommen wir hart an den Rand eines der
größten Geheimnisse unserer Erdenentwickelung heran. Es wird im allgemeinen
für die heutigen Gefühle und Empfindungen der Menschen schwer, das Gewaltige
auch nur zu ahnen, was sich hinter diesem Geheimnis verbirgt. Solcher Wesenheiten,
wie der Bodhisattva eine ist, der zum Buddha wurde und der die Mission hatte,
die große Lehre vom Mitleid und von der Liebe der Menschheit einzuverleiben,
solcher Wesenheiten gibt es im Zusammenhange mit unserem Kosmos, zu dem die
Erde gehört, zwölf. Jener Bodhisattva, der fünf bis sechs Jahrhunderte vor
unserer Zeitrechnung zum Buddha wurde, ist einer von diesen zwölfen. Alle
Bodhisattvas haben eine bestimmte Mission. Wie dieser eine die Mission hatte,
die Lehre vom Mitleid und von der Liebe auf die Erde zu bringen, so haben
auch die anderen ihre Missionen, die in den verschiedenen Erdenepochen
erfüllt werden müssen. Der Buddha steht der Erdenmission deshalb besonders
nahe, weil die Entwickelung der moralischen Gesinnung gerade die Aufgabe
unseres Zeitalters ist, von dem Zeitpunkte an, da der Bodhisattva fünf bis
sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung erschien, bis dieser Bodhisattva
von seinem Bodhisattva-Nachfolger abgelöst werden wird, der später auf der
Erde als der Maitreya Buddha zu leben hat. So geht überhaupt die
Erdenentwickelung vorwärts: die Bodhisattvas steigen herab und haben der
Erdenentwickelung das, was Gegenstand ihrer Mission ist, von Zeit zu Zeit
einzuverleiben. Würden wir die ganze Erdenentwickelung überblicken, so fänden
wir eben zwölf solcher Bodhisattvas. Sie gehören jener gewaltigen
Geistergemeinschaft an, welche also von Zeit zu Zeit einen der Bodhisattvas
als einen besonderen Sendboten auf die Erde zu senden hat, als einen der
großen Lehrer. Gleichsam eine große Loge von zwölf Bodhisattvas haben wir als
regierende Loge unserer ganzen Erdenentwickelung anzuerkennen. Diese zwölf
Bodhisattvas decken sich im wesentlichen mit dem Begriffe, den wir auf
niederen Stufen des Daseins als den Begriff des Lehrers kennen. Lehrer sind
sie, große Inspiratoren für diesen oder jenen Teil dessen, was sich die
Menschen anzueignen haben.
Woher empfangen die Bodhisattvas das, was sie von Epoche zu
Epoche zu verkünden haben? Wenn Sie hineinschauen könnten in die große
Geistloge der Bodhisattvas, in den Kreis der zwölf Bodhisattvas, so würden
Sie finden, daß inmitten der zwölf Bodhisattvas in unserem Weltendasein ein
dreizehntes Wesen sitzt, das wir nicht in demselben Sinne einen Lehrer nennen
können wie die zwölf Bodhisattvas, sondern das wir nennen müssen dasjenige
Wesen, von dem die Weisheit selber substantiell ausströmt. Daher sagt man
ganz richtig, wenn man den Tatbestand bezeichnen will: Die zwölf Bodhisattvas
sitzen in der großen Geistloge um ihren Mittelpunkt herum; sie sind in dem
Anschauen der großen Wesenheit versunken, die ihnen alles zuströmt, was sie
dann als ihre Mission in die Erdenentwickelung hineinzutragen haben. So
strömt von diesem Dreizehnten das aus, was die anderen zu lehren haben. Sie
sind die Lehrer, die Inspiratoren, der Dreizehnte ist als Wesenheit selber
das, was die anderen lehren. Über ihn verkünden sie immer von Epoche zu
Epoche. Dieser Dreizehnte ist derjenige, den die alten Rishis nannten Vishva
Karman, den Zarathustra nannte Ahura Mazdao; das ist der, den wir den Christus
nennen. Und so steht er zu allen Bodhisattvas, so ist er der Führer und
Lenker der großen Loge der Bodhisattvas. Und so ist der Inhalt der
Verkündigung durch den ganzen Chor der Bodhisattvas hindurch die Lehre von
dem Christus, von dem Vishva Karman. – Derjenige, der fünf bis sechs
Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung vom Bodhisattva zum Buddha geworden
ist, er wurde geschmückt mit den Kräften des Vishva Karman. Derjenige, der
als nathanischer Jesus den Christus in sich aufgenommen hatte, er wurde nicht
bloß "geschmückt", sondern "gesalbt", das heißt
durchdrungen, durchtränkt von dem Vishva Karman, von dem Christus.
Überall, wo Menschen eine Ahnung oder auch durch die
Einweihung eine Erkenntnis hatten von diesem Tatbestand, von diesen großen
Geheimnissen der Menschheitsentwickelung, da bildete sich wie in einem
Symbolum, wie in einem Bilde dieses Geheimnis ab. Wir sehen, wie zum Beispiel
in jenen wenig bekannten, geheimnisvollen Mysterien des europäischen Nordens,
in den Drotten-Mysterien, vor der Erscheinung des Christentums ein irdisches
Symbolum von dem geistigen Tatbestand der Loge der zwölf Bodhisattvas
geschaffen wurde. In den Drotten-Mysterien gehörte in den alten Zeiten
Europas immer zu denjenigen, die innerhalb der geistigen Entwickelung die Lehrer
waren, eine Gemeinschaft von Zwölf. Die hatten zu verkündigen. Und einen
Dreizehnten hatten sie, der nicht lehrte, sondern der durch seine bloße
Gegenwart die Weisheit ausstrahlte, welche die anderen empfingen. Das war das
Bild auf der Erde von einem himmlischen, geistigen Tatbestand. – Und
anderseits werden wir in dem Gedicht "Die Geheimnisse", wo Goethe
auf seine Rosenkreuzer-Inspiration hingewiesen hat, daran erinnert, wie Zwölf
herumsitzen um einen Dreizehnten und wie dieser nicht ein großer Lehrer zu
sein braucht; denn der Bruder Markus soll von den Zwölfen – nachdem der
Dreizehnte von ihnen gegangen sein wird – in seiner Einfachheit als dieser
Dreizehnte angesprochen werden. Er soll der Bringer nicht einer Lehre,
sondern der spirituellen Substanz selber sein. Und überall, wo man eine
Ahnung oder eine Erkenntnis von diesem hohen Tatbestand hatte, war es so.
Es war also mit der Johannes-Taufe im Jordan derjenige
Zeitpunkt für die Menschheitsentwickelung eingetreten, wo dieser himmlische
Dreizehnte als die geistige Substanz selber auf der Erde erschien, von der
alle anderen – Bodhisattvas und Buddhas – zu lehren hatten; und es waren jene
gewaltigen Vorbereitungen notwendig, damit sich diese Wesenheit in einen
menschlichen Leib hineinsenken konnte. Das ist das Geheimnis der
Jordan-Taufe. Und das ist das Wesen, das uns in den Evangelien geschildert
wird: Vishva Karman, Ahura Mazdao oder der Christus, wie er später genannt
worden ist, in dem Leibe des nathanischen Jesus. Als solcher sollte dieses
Wesen durch die drei Jahre auf der Erde wandeln in Menschengestalt, Mensch
unter Menschen, in jener geprüften Erdenwesenheit, die bis zu ihrem
dreißigsten Jahre das alles erlebt hatte, was wir im Laufe dieser Vorträge
gehört haben. Diesen nathanischen Jesus durchleuchtete, durchströmte die
Wesenheit, die sich früher in den leuchtenden und wärmenden Sonnenstrahlen
verbarg, die aus dem Kosmos herunterleuchteten, jene Wesenheit also, welche
mit der Sonne bei ihrer Trennung von der Erde weggegangen war.
Nunmehr können wir uns aber noch eine andere Frage vorlegen,
die Frage: Warum hat sich diese Wesenheit so spät erst mit der
Menschheitsentwickelung auf der Erde vereinigt? Warum ist sie nicht früher
auf die Erde heruntergestiegen? Warum durchdrang sie nicht früher einen menschlichen
Ätherleib, wie sie ihn bei der Johannes-Taufe im Jordan durchdrungen hat? Das
können wir begreifen, wenn wir etwas genauer noch jenes Ereignis verstehen,
das uns im Alten Testament als der Sündenfall dargelegt wird. Dieses Ereignis
besteht darin, daß gewisse Wesenheiten, die auf der Stufe der alten
Mondenentwickelung stehengeblieben waren, in der alten lemurischen Zeit ihren
Einzug hielten in den menschlichen Astralleib. Derselbe ist damals
durchdrungen worden von den luziferischen Wesenheiten. Das wird uns bildlich
dargestellt in dem Sündenfalle des Paradieses. Dadurch, daß diese Kräfte in
den menschlichen Astralleib eindrangen, ist der Mensch tiefer in die
Erdenangelegenheiten verstrickt worden, als es sonst geschehen wäre. Wenn er
diesen luziferischen Einfluß nicht erhalten hätte, würde er gleichsam in
höheren Sphären, weniger in die Erdenmaterie hineinverstrickt, seine
Entwickelungslaufbahn auf der Erde vollendet haben. Der Mensch ist dadurch
früher heruntergestiegen auf die Erde, als er eigentlich hätte
heruntersteigen sollen. Wäre nun sonst nichts eingetreten, wäre nur das alles
geschehen, was eben jetzt angedeutet worden ist, so hätte sich damals die
ganze Wirkung der luziferischen Kräfte, welche im Astralleib des Menschen
verankert waren, auch im menschlichen Ätherleibe geltend gemacht. Das aber
mußten die Weltenmächte verhindern. Daher mußte etwas ganz Besonderes
eintreten. – Was damit gemeint ist, wird noch von einer anderen Seite her
klarwerden durch meine demnächst erscheinende "Geheimwissenschaft".
– Der Mensch durfte nicht so bleiben, wie er war, nachdem er die
luziferischen Kräfte in seinen Astralleib aufgenommen hatte. Er mußte behütet
werden vor der Wirkung der luziferischen Kräfte auf seinen Ätherleib. Das
wurde dadurch erreicht, daß der Mensch damals unfähig gemacht wurde, seinen
vollen Ätherleib zu benutzen. Es wurde ein Teil des Ätherleibes der Willkür
des Menschen entzogen. Wäre diese Wohltat der Götter nicht gekommen, hätte
der Mensch die Kraft über seinen vollen Ätherleib beibehalten, so hätte er
nimmermehr den Weg durch die Erdenentwickelung in entsprechender Weise finden
können. Gewisse Teile des menschlichen Ätherleibes haben damals herausgezogen
werden müssen, um aufgespart zu werden für spätere Zeiten. Versuchen wir
jetzt einmal uns vor das geistige Auge zu führen, welche Teile dieses waren.
Der Mensch besteht zunächst aus den Teilen, die wir auch
draußen in der Welt sehen, aus dem Erdigen oder Festen, aus Wasser oder
Flüssigem und aus Luft oder Gasförmigem. Das sind die Elemente, die den
physischen Menschenleib bilden, wie sie auch alles Physische bilden. Das
ätherische beginnt mit dem ersten Ätherzustande, den wir den Zustand des
Feueräthers oder des Feuers schlechtweg nennen. Feuer oder Wärme, was die
heutige Physik nicht als ein Substantielles, sondern nur als eine bloße
Bewegung ansieht, ist aber der erste Zustand des Äthers. Der zweite
Ätherzustand ist der Lichtäther oder Licht schlechtweg, und der dritte
Zustand ist das, was für den Menschen zunächst gar nicht in seiner ursprünglichen
Gestalt erscheint; nur einen Abglanz, gleichsam einen Schatten dieses Äthers
kann der Mensch in der physischen Welt wahrnehmen als Ton, als Schall. Aber
dem, was äußerlich Schall ist, liegt etwas Feineres, ätherisches, etwas
Geistiges zugrunde, so daß wir den physischen Ton nur als ein Schattenbild
des geistigen Tones, des Tonäthers oder auch Zahlenäthers zu bezeichnen
haben. Das vierte Äthergebiet ist der Lebensäther, das, was allem
eigentlichen Leben zugrunde liegt.
Wie nun der heutige physische Mensch ist, so prägt sich
alles, was sein Seelenhaftes ist, in seiner physischen Leiblichkeit und in
seiner ätherischen Leiblichkeit aus. Aber alles Seelische ist sozusagen
gewissen Substanzen des ätherischen zugeteilt. Was wir den Willen nennen, drückt
sich ätherisch aus in dem, was wir das Feuer nennen. Wer nur ein wenig
empfänglich ist für gewisse empfindungsgemäße Zusammenhänge, der wird fühlen,
daß man ein gewisses Recht hat, so von dem Willen zu sprechen, daß dieser
Wille, der sich physisch im Blute ausdrückt, in dem Feuerelement des
ätherischen lebt; physisch drückt er sich im Blute aus, beziehungsweise in
der Bewegung des Blutes. Was wir Gefühl nennen, drückt sich aus in dem Teile
des Ätherleibes, der dem Lichtäther entspricht. Weil das so ist, deshalb
sieht auch der Hellseher die Willensimpulse des Menschen wie Feuerflammen,
die seinen Ätherleib durchzucken und in den Astralleib hineinstrahlen, und
die Gefühle sieht er als Lichtformen. Was aber der Mensch als sein Denken in
seiner Seele erlebt und was wir in den Worten aussprechen, das sind auch nur
Schattenbilder des Denkens, wie Sie sich ja leicht denken können, weil ja der
physische Ton auch nur ein Schattenbild eines Höheren ist. Die Worte haben
ihr Organ in dem Tonäther. Unseren Worten liegen zugrunde die Gedanken, die
Worte sind Ausdrucksformen für die Gedanken. Diese Ausdrucksformen erfüllen
den ätherischen Raum, indem sie ihre Schwingungen durch den Tonäther
schicken. Was Ton ist, das ist eben nur die Abschattung der eigentlichen
Gedankenschwingungen. Das aber, was das Innerliche aller unserer Gedanken
ist, was unseren Gedanken Sinn gibt, das gehört seinem ätherischen Zustande
nach dem eigentlichen Lebensäther an.
Sinn – Lebensäther
Denken – Tonäther
Gefühl – Lichtäther
Wille – Feueräther
Luft
Wasser
Erde
Von diesen vier Ätherformen wurden in der lemurischen Zeit
nach dem luziferischen Einflusse dem Menschen nur die zwei unteren zur
freien, willkürlichen Verfügung gelassen: Feueräther und Lichtäther; dagegen
wurden die zwei oberen Ätherarten dem Menschen entzogen. Das ist der innere
Sinn, wenn uns gesagt wird: Nachdem die Menschen durch den luziferischen
Einfluß die Unterscheidung von Gut und Böse erlangt hatten – bildlich
ausgedrückt durch den Genuß vom "Baume der Erkenntnis" –, wurde
ihnen entzogen der Genuß vom "Baume des Lebens". Das heißt, es
wurde ihnen entzogen, was frei, willkürlich durchdrungen hätte den
Gedankenäther und den Sinnesäther. Dadurch mußten sich die Menschen nun in
folgender Weise entwickeln: In jedes Menschen Willkür war das gestellt, was
seinem Willen entspricht. Der Mensch kann seinen Willen als seinen
persönlichen geltend machen, ebenso auch seine Gefühle. Gefühl und Wille ist
dem einzelnen Menschen für das Persönliche freigegeben, daher das
Individuelle der Gefühlswelt und der Willenswelt. Das Individuelle hört aber
sofort auf, wenn wir aufsteigen vom Gefühl zum Denken, ja sogar schon zu dem
Ausdruck der Gedanken, zu den Worten auf dem physischen Plan. Während jeder
Mensch seine Gefühle und seinen Willen persönlich hat, kommen wir sofort in
etwas Allgemeines hinein, wenn wir in die Wortwelt und in die Gedankenwelt
hinaufrücken. Es kann nicht jeder sich seine eigenen Gedanken machen. Wenn
die Gedanken so individuell wären wie die Gefühle, so würden wir uns nie
verstehen. Es wurden also Gedanke und Sinn der menschlichen Willkür entzogen
und vorläufig in der Göttersphäre aufbewahrt, um später erst dem Menschen
gegeben zu werden. Daher können wir auf dem Erdenkreis überall individuelle
Menschen finden mit individuellen Gefühlen und individuellen Willensimpulsen,
aber wir haben überall gleiches Denken, gleiche Sprache bei den Völkern. Wo
eine gemeinsame Sprache ist, da herrscht eine gemeinsame Volksgottheit. Diese
Sphäre ist der menschlichen Willkür entzogen; da wirken vorläufig die Götter
hinein.
Wenn nun Zarathustra mit seinen Schülern hinaufwies in das
Reich des Geistigen, so konnte er sagen: Aus dem Himmel herunter strömt die
Wärme, das Feuer, aus dem Himmel herunter strömt das Licht. Das sind die
Kleider von Ahura Mazdao. Aber hinter diesen Kleidern verbirgt sich das, was
noch nicht heruntergestiegen ist, was noch in den geistigen Höhen oben
geblieben ist, was in den physischen Gedanken und den physischen Worten des
Menschen nur einen Schatten hinuntergeworfen hat. – Hinter der Sonnenwärme,
hinter dem Sonnenlichte verbirgt sich das, was im Tone, im Sinn lebt, was
sich nur denjenigen verkündete, die hinter das Licht schauen konnten, was
sich verhält zu dem irdischen Wort wie das himmlische Wort zu dem vor der
Menschheit vorläufig bewahrten Teile des Lebens. Daher sagte Zarathustra:
Blicket hinauf zu Ahura Mazdao! Ihr seht, wie er sich offenbart in dem
physischen Kleide des Lichtes und der Wärme. Dahinter ist aber das göttliche
Schöpfungswort; das nähert sich der Erde.
Was ist Vishva Karman? Was ist Ahura Mazdao? Was ist der
Christus in seiner wahren Gestalt? Das göttliche Schöpfungswort! Daher tritt
uns in der Zarathustra-Lehre die merkwürdige Mitteilung entgegen, daß
Zarathustra eingeweiht wird, um in dem Lichte seinen Ahura Mazdao
wahrzunehmen, aber auch noch das göttliche Schöpfungswort, Honover, das
herniedersteigen sollte auf die Erde und das zuerst herniedergestiegen ist
bei der Johannes-Taufe in einen einzelnen menschlichen Ätherleib. Was seit
der lemurischen Zeit aufgespart worden ist, das Wort, das Geistwort, drang
bei der Johannes-Taufe aus den Ätherhöhen ein in den Ätherleib des
nathanischen Jesus. Und als die Taufe vollendet war, was war geschehen? Das
Wort war Fleisch geworden.
Was haben Zarathustra oder die, welche um seine Geheimnisse
wußten, von jeher verkündet? Als Sehende haben sie verkündet das
"Wort", das sich hinter der Wärme und dem Licht verbirgt.
"Diener des Wortes" waren sie. Und der Schreiber des
Lukas-Evangeliums schrieb das auf, was die "Selbstseher" verkündet
haben, die dadurch "Diener des Wortes" geworden sind.
So sehen wir wieder an diesem Beispiel, wie die Evangelien
wörtlich zu nehmen sind. Was wegen des luziferischen Prinzips so lange der
Menschheit vorenthalten werden mußte, das war in einer einzelnen
Persönlichkeit zunächst Fleisch geworden, war heruntergestiegen auf die Erde,
lebte auf der Erde. Daher ist diese Wesenheit das größte Vorbild derer, die
allmählich seine Natur verstehen werden. Daher muß unsere Weisheit auf der
Erde sich zum Beispiele nehmen die Bodhisattvas. Diese haben immer die
Aufgabe, das zu verkündigen, was der Dreizehnte unter ihnen ist. Wir aber
haben unsere Geisteswissenschaft zusammenzunehmen, haben unsere Weisheit,
unsere Kenntnisse, die Ergebnisse der Geistesforschung dazu zu benutzen, um
Wesen und Natur des Vishva Karman, des Ahura Mazdao – des Christus zu
durchdringen.
Achter Vortrag
24. September 1909
Die
Bewußtseinsentwickelung der Menschheit in der nachatlantischen Zeit. Die
Mission der Geisteswissenschaft: Wiedergewinnung der Herrschaft des Geistigen
über das Physische. Die von dem Christus-Ich ausgehenden Wirkungen.
Wir haben versucht, uns darüber Vorstellungen zu bilden, was
eigentlich den ersten Kapiteln des Lukas-Evangeliums zugrunde liegt. Nur wenn
man jene Vorgänge kennt, die sich innerhalb der Menschheitsevolution
abgespielt haben und die uns so lange beschäftigen mußten, um sie eingehend
zu besprechen, kann man enträtseln, was der Schreiber des Lukas-Evangeliums
wie eine Art Vorgeschichte des großen Christus-Ereignisses erzählt hat. Man
wird dadurch in die Lage versetzt, zu wissen, wer derjenige war, der dann im
dreißigsten Jahre seines Lebens jenes Weltenprinzip aufgenommen hat, das wir
ja auch charakterisiert haben: das Christus-Prinzip. Zum Verständnis dessen, was
der Schreiber des Lukas-Evangeliums uns von der Persönlichkeit und der
Wirksamkeit des Christus Jesus erzählt – das heißt derjenigen Individualität,
die dann drei Jahre in der Welt wirkte und welche den Christus innerhalb
eines Menschenleibes darstellt –, ist nun aber notwendig, daß wir mit einigen
Strichen auf die Menschheitsentwickelung hinweisen und Eigenschaften dieser
Menschheitsentwickelung berücksichtigen, von denen sich unsere Zeit so wenig
einen Begriff machen kann. Unsere Zeit ist in vieler Beziehung
außerordentlich kurzsichtig und glaubt, alles, was heute oder im Laufe von
ungefähr zwei bis drei Jahrhunderten mit der Menschheit geschieht, was dieser
Zeit als Gesetze der Menschheitsentwickelung zugrunde liegt, das wäre immer
dagewesen, und namentlich das, was heute nicht gilt, habe immer nicht
gegolten. Deshalb wird es für den heutigen Menschen so schwer, Erzählungen,
die sich auf eine Vergangenheit beziehen wie diejenige, in welcher der
Christus auf der Erde gelebt hat, zu begreifen und unbefangen hinzunehmen.
Die Taten des Christus auf der Erde erzählt uns der
Schreiber des Lukas-Evangeliums. Er erzählt sie uns so, daß wir, wenn wir
wirklich auf den Sinn seiner Darstellungen eingehen, immer mehr und mehr
einen Begriff empfangen müssen von dem, was eigentlich die
Menschheitsentwickelung damals war. Wir müssen schon ein wenig wieder auf das
aufmerksam machen, was im Laufe unserer anthroposophischen Betrachtungen
öfter gesagt worden ist: daß unsere gegenwärtige Menschheit ihren
Ausgangspunkt zunächst von der atlantischen Katastrophe genommen hat, daß
unsere Vorfahren – das heißt unsere eigenen Seelen in anderen Leibern – in
der alten Atlantis gelebt haben, auf jenem Kontinent, den wir zu suchen haben
zwischen Europa und Afrika einerseits und Amerika andererseits. Dann kam die
große atlantische Katastrophe, wodurch das Antlitz der Erde umgestaltet
wurde. Die Menschenmassen sind von der Atlantis nach dem Osten und nach dem
Westen gezogen und haben so die Erde besiedelt, wie wir das für die
nachatlantische Zeit bezeichnet haben. Da entstanden dann in der
nachatlantischen Zeit die verschiedenen Kulturen, die wir charakterisiert
haben als die alte indische Kultur, als die urpersische Kultur, die
ägyptisch-chaldäische Kultur, die griechisch-lateinische Kultur und jene, in
der wir heute leben.
Nun macht man sich von der Menschheitsentwickelung eine ganz
falsche Vorstellung, wenn man glaubt, daß der Mensch während dieses
Zeitraumes der nachatlantischen Entwickelung immer so beschaffen war, wie er
heute ist. Er hat sich immer wieder verändert; gewaltige Veränderungen gingen
mit der Menschennatur vor sich. Die äußeren geschichtlichen Dokumente
berichten ja nur von wenigen Jahrtausenden. Einzig und allein jene für die
äußere Forschung unzugängliche Urkunde, die wir die Akasha-Chronik nennen und
die wir auch bei diesem Zyklus ein wenig charakterisiert haben, gibt uns
Aufschluß über die Entwickelung seit der atlantischen Katastrophe. – Da
finden wir, daß sich nach der atlantischen Katastrophe zunächst die altindische
Kultur entwickelt hat, in welcher die Menschen mehr noch in ihrem Ätherleibe
lebten und noch nicht so stark in ihrem physischen Leibe, wie das später der
Fall war. Der weitaus größte Teil der indischen Bevölkerung war, ohne daß er
freilich das heutige Ich-Bewußtsein entwickelt hatte, hellsichtig,
dumpf-dämmerhaft hellsichtig. Sein Bewußtsein war ähnlich einem
Traumbewußtsein, aber dafür war es ein Bewußtsein, das noch hineinschaute in
die Untergründe des Daseins, in die geistige Welt. Nun sind wir gewohnt, bei
unseren Vorstellungen hervorzuheben, wie es für den heutigen Menschen
notwendig ist zu wissen – weil es ihm vorwärtshelfen kann in die Zukunft
hinein –, was mit der Erkenntnis und der Erkenntnisform zusammenhängt. Wir
betonen immer, wie diese unsere Vorfahren im alten Indien die Welt erkannt,
angeschaut haben, wie sie noch viel hellsehender waren als in späterer Zeit.
Wenn wir aber das Lukas-Evangelium verstehen wollen, so müssen wir noch eine
andere Eigenschaft dieser unserer Vorfahren hervorheben.
In dieser Zeit, als noch der Ätherleib viel mehr auf allen
Seiten über den physischen Leib hinausragte und mit diesem noch nicht so
dicht verbunden war wie das heute der Fall ist, da hatte auch noch alles, was
seelische Kräfte und Eigenschaften des Menschen sind, eine größere Gewalt
über den physischen Leib. Aber je mehr der Ätherleib in den physischen Leib
hineindrang, desto schwächer wurde er und desto weniger Macht hatte er über
den physischen Leib. Bei den alten Atlantiern ragte der Kopfteil des Ätherleibes
noch stark über den physischen Leib hinaus. In gewissem Maße war das aber
auch noch bei den alten Indern der Fall. Das gestattete ihnen, auf der einen
Seite das hellsichtige Bewußtsein zu entfalten, aber andererseits auch eine
große Macht zu haben über die Vorgänge im physischen Leibe.
Obwohl sie weit auseinanderliegen, können wir einen alten
indischen Leib mit einem Leibe unserer Zeit vergleichen. In unserer Zeit ist
der Ätherleib am tiefsten hineingestiegen in den physischen Leib, ist am
meisten mit den Tatsachen des physischen Leibes verbunden. Wir sind heute
hart an der Grenze, wo der Ätherleib wieder heraustritt, sich freimacht von
dem physischen Leibe und mehr selbständig wird; und indem die Menschheit der
Zukunft entgegeneilt, wird der Ätherleib immer mehr und mehr herauskommen aus
dem physischen Leibe. Heute ist die Menschheit über den tiefsten Punkt, wo
die größte Gemeinschaft des Ätherleibes mit dem physischen Leibe vorhanden
war, schon etwas hinaus. Wenn wir einen alten indischen Leib mit einem heutigen
Leib vergleichen, so können wir sagen: Beim indischen Leib ist der Ätherleib
noch verhältnismäßig frei, und die Seele kann Kräfte entfalten, die in den
physischen Leib hineinwirken. Der Ätherleib nimmt die Kräfte der Seele auf,
weil er noch nicht so an den physischen Leib gebunden ist; dafür aber
beherrscht er auch mehr den physischen Leib, und die Folge davon ist, daß die
Wirkungen, die in dieser Zeit auf die Seele ausgeübt werden, in ungeheurem
Maße auch auf den Leib wirken. Wenn in der indischen Zeit ein Mensch, der
einen anderen Menschen haßte, ein haßerfülltes Wort sprach, so stach dieses
Wort den anderen – es wirkte bis in das physische Gefüge hinein. Die Seele
wirkte noch auf den Ätherleib und der Ätherleib auf den physischen Leib.
Diese Kraft ist heute ja dem Ätherleibe genommen worden. Und wenn
andererseits ein Wort der Liebe gesprochen wurde, so wirkte das erweiternd,
erwärmend, aufschließend auf den anderen Menschen und auch so auf den
physischen Leib. Daher war es damals sehr wichtig, ob ein liebes oder ein
haßerfülltes Wort gesprochen wurde, denn das wirkte auf alle Vorgänge des
Leibes. Diese Wirkung nahm in der Menschheit immer mehr und mehr ab, je mehr
der Ätherleib in den physischen Leib hineinstieg. Heute ist das anders. Heute
wirkt ein Wort, das wir sprechen, zunächst nur auf die Seele, und recht
selten sind die Menschen geworden, welche ein haßerfülltes, ein liebloses
Wort so fühlen, als ob es ihnen etwas zusammenschnürte, ein liebeerfülltes
Wort dagegen so, wie wenn es sie erweiterte und beseligte. Jene eigenartigen
Wirkungen, die wir heute noch in unserem physischen Herzen als die Wirkung
eines liebe- oder haßerfüllten Wortes spüren können, sind von einer
ungeheuren Intensität gewesen im Aufgange unserer nachatlantischen Entwickelung.
Daher konnte man sozusagen mit diesen Einwirkungen auf die Seele etwas ganz
anderes anfangen, als man heute damit anfangen kann. Denn heute hängt es ja
nicht davon ab, wie ein Wort gesprochen wird. Es kann ein Wort mit noch so
warmer Liebe gesprochen sein, wenn es aufstößt auf die heutige
Menschenorganisation, so wird es stets mehr oder weniger zurückgeworfen, es
dringt nicht hinein, denn das hängt nicht nur davon ab, wie es gesprochen
wird, sondern auch davon, wie es aufgenommen werden kann.
Heute ist es also nicht möglich, so unmittelbar auf die
Seele des Menschen zu wirken, daß das auch wirklich bis in seine ganze
physische Organisation hineindringt. Nicht unmittelbar ist das möglich. In
gewisser Weise wird es aber doch möglich sein, denn wir nähern uns ja jener
Zukunft, in der das Geistige wiederum seine Bedeutung haben wird. Wir können
auch heute schon wieder darauf hinweisen, wie das in der Zukunft sein wird.
Wir können in unserem jetzigen Menschheitszyklus heute auf diesem Felde sehr
wenig tun, damit das, was in unserer eigenen Seele an Liebe, an Wohlwollen,
an Weisheit lebt, sich unmittelbar hinüberergießt in die andere Seele und
dort diejenige Stärke gewinnt, die bis in den physischen Leib hinein wirkt.
Wir müssen uns heute sagen, daß wir eine solche Wirkung nur nach und nach
erzeugen können. Aber diese geistige Wirkungsweise beginnt wieder. Und sie
beginnt gerade auf dem Boden, wo die geisteswissenschaftliche Weltanschauung
gepflanzt wird, denn diese Weltanschauung ist der Anfang der Verstärkung der
Seelenwirkungen. Das ist heute nur in wenigen Fällen möglich, daß ein Wort
physische Wirkungen erzielt. Aber es ist möglich, daß sich Menschen
zusammentun, um eine Summe geistiger Wahrheiten in ihre Seelen aufzunehmen.
Diese geistigen Wahrheiten werden sich nach und nach verstärken, werden in
den Seelen Gewalt gewinnen und dadurch auch die Kraft, bis in die physische
Organisation hinein zu wirken und diese darnach zu formen, wie sie selber
sind. So wird in der Zukunft wiederum das Seelisch-Geistige eine große Gewalt
gewinnen über das Physische und wird sich dieses Physische als sein Nachbild
formen.
In jenen alten Zeiten der indischen Urkultur war zum
Beispiel auch das, was man "heilen" nennt, etwas anderes als
später, denn das hängt alles mit dem zusammen, was eben gesagt worden ist.
Weil man mit dem, was auf die Seele wirkte, eine ungeheure Wirkung auf den
Leib erzielen konnte, deshalb konnte man mit dem vom richtigen Willensimpuls
durchströmten Wort auf die Seele des anderen Menschen so wirken, daß diese
Seele wiederum die Wirkung übertrug auf den Ätherleib und dieser wieder auf
den physischen Leib. Hatte man eine Ahnung davon, welche Wirkung man auf die
andere Seele ausüben wollte, so konnte man bei erkrankter Organisation die
richtige Wirkung in der angedeuteten Weise auf die Seele ausüben und dadurch
auf den physischen Leib, was dann die Gesundheit herbeiführte. Nun denken Sie
sich dies im höchsten Maße gesteigert, so daß der indische Arzt vorzugsweise
jene Seeleneinflüsse und -einwirkungen beherrschte, die dabei in Frage
kommen, dann müssen Sie sich klar sein, daß alles Heilen in der indischen
Zeit ein viel geistigerer Vorgang war, als es heute sein kann – ausdrücklich
ist gesagt: als es heute sein kann. Aber wir nähern uns wieder solchen
Wirkungsweisen. Was aus kosmischen, aus geistigen Höhen als eine
Weltanschauung, als eine Summe von Wahrheiten heruntergeholt wird, welche dem
großen geistigen Inhalte der Welt entsprechen, das wird in die Menschenseelen
einfließen und das wird, indem die Menschheit der Zukunft entgegenlebt,
selbst ein Gesundungsmittel sein aus dem innersten Wesen des Menschen heraus.
Geisteswissenschaft ist das große Heilmittel der Seelen im Leben in die
Zukunft hinein. Nur müssen wir verstehen, daß die Menschheit auf einem
absteigenden Wege der Entwickelung war, daß die geistigen Wirkungen immer
mehr und mehr zurückgegangen sind, daß wir im Tiefstande der Entwickelung
stehen und daß wir uns nur ganz allmählich hinaufheben können zu den Höhen,
auf denen wir einstmals gestanden haben.
Ganz langsam verloren sich jene Wirkungen, die im alten
Indien in so eminentem Maße vorhanden waren. Noch eine ähnliche Organisation
– so daß von Seele zu Seele gewirkt werden konnte – war zum Beispiel in der
altägyptischen Kultur vorhanden. Je weiter wir in der ägyptischen Kultur
zurückgehen, desto mehr finden wir, daß eine unmittelbare Wirkung von einer
Seele auf die andere da war, die dann übergehen konnte auf die physische
Organisation. Viel weniger war sie vorhanden in der alten persischen Zeit.
Denn diese hatte eine andere Aufgabe; sie war dazu berufen, den ersten Anstoß
zu geben zu dem Hineindringen in die physische Welt. In bezug auf diejenigen
Eigenschaften, welche ich jetzt charakterisiert habe, steht das Ägyptertum
dem Indertum viel näher als der persischen Kultur. Im Persertum beginnt die
Seele bereits, sich sozusagen immer mehr in sich zu verschließen, immer
weniger Gewalt über die äußere Organisation zu haben, weil sie das
Selbstbewußtsein immer mehr und mehr in sich ausbilden sollte. Deshalb mußte
mit jener Richtung, die sich die Herrschaft des Geistigen über das Physische
bewahrt hatte, eine andere Kulturströmung zusammenströmen, die vorzugsweise
auf die innerliche Vertiefung, auf die Erzeugung des Selbstbewußtseins
angelegt war; und eine Art von Ausgleich finden diese beiden Strömungen in
dem, was wir die griechisch-lateinische Kultur nennen. Das ist die vierte
nachatlantische Kulturperiode. Da ist die Menschheit bereits so weit in die
physische Welt herabgestiegen, daß jetzt eine Art Gleichgewicht zwischen dem
Physischen und dem Seelisch-Geistigen eintritt. Das heißt, in dieser vierten
Kulturperiode ist es so, daß der Geist und die Seele etwa so viel Herrschaft
über den Leib haben, als der Leib wiederum Herrschaft hat über die Seele.
Eine Art Ausgleich zwischen den beiden ist eingetreten: die Menschheit ist
heruntergestiegen bis zum Gleichgewichtszustand.
Nun muß aber die Menschheit erst wieder eine Art
Weltenprüfung durchmachen, um wiederum in die geistigen Höhen hinaufsteigen
zu können. Daher ist es gekommen, daß die Menschheit seit der
griechisch-lateinischen Zeit eigentlich noch tiefer in die physische
Materialität heruntergestiegen ist. Alles, was mit dem Körperlichen, mit dem
Physischen zu tun hat, ist noch tiefer heruntergestiegen. Der Mensch wurde in
der Zeit, in welcher wir leben, in der fünften nachatlantischen Kulturepoche,
im Grunde genommen unter die Gleichgewichtslinie heruntergetrieben und konnte
sich zunächst nur in seinem Innern erheben, konnte ein Bewußtsein aufnehmen
von der geistigen Welt, das einen mehr theoretischen Charakter hatte. Er
mußte sich innerlich stärken.
So sehen wir in der griechisch-lateinischen Kultur einen
verhältnismäßigen Gleichgewichtszustand, während jetzt, in unserer Zeit, das
Physische ein Übergewicht erlangt hat und das Geistig-Seelische beherrscht.
Wir sehen, daß das Geistig-Seelische in gewisser Beziehung ohnmächtig
geworden ist; es kann nur mehr theoretisch aufgenommen werden. Es hat sich
das Innere des Menschen durch die Jahrhunderte hindurch darauf beschränken
müssen, sich innerlich zu stärken in einer Kräftigung, die nicht in dem
offenbaren Bewußtsein sich abspielt. Nach und nach muß es wieder stärker und
kräftiger werden, damit darüber auch ein neues Bewußtsein entwickelt werden
kann. Und wenn es bei einer gewissen Stärke angelangt sein wird – das wird in
der sechsten nachatlantischen Kulturperiode der Fall sein –, dann wird das
Geistig-Seelische dadurch, daß der Mensch immer mehr und mehr geistige
Nahrung aufgenommen hat, von dieser geistigen Nahrung nicht mehr eine
theoretische, sondern eine lebendige Weisheit, eine lebendige Wahrheit haben.
Dann wird dieses Geistige so stark sein, daß es nun wiederum – und zwar jetzt
von der anderen Seite her – die Herrschaft über den physischen Leib gewinnen
wird.
Wie können wir also die Mission der Geisteswissenschaft von
diesem Gesichtspunkte aus für die Menschheit eigentlich erklären? Wenn in
unserer Zeit die Geisteswissenschaft immer mehr zu etwas wird, das innerlich
lebendig wird in der Seele, das imstande sein wird, nicht nur den Verstand,
den Intellekt der Menschen anzuregen, sondern immer mehr und mehr die Seele
zu erwärmen, dann wird die Seele so stark werden, daß sie die Herrschaft über
das Physische gewinnt. Dazu sind natürlich gewisse Übergänge notwendig; dazu
ist mancherlei notwendig, was sich zunächst sogar wie ein Abfallen ausnimmt,
wie Schäden. Aber das sind Übergangsformen, die jenem Zukunftszustande
weichen werden, wo die Menschen in ihre Ideen das spirituelle Leben aufnehmen
werden und wo für die gesamte Menschheit jener Zustand eintreten wird,
welcher die Herrschaft des Seelisch-Geistigen über das Physisch-Materielle
bedeuten wird. Und ein jeder Mensch, den heute die geisteswissenschaftlichen
Weistümer nicht nur interessieren, weil sie seinen Verstand anregen, sondern
der entzückt sein kann von den geisteswissenschaftlichen Wahrheiten, der
seine innerliche, lebendige Befriedigung daran haben kann, der wird ein
Vorläufer derjenigen Menschen sein, die wiederum die rechte Herrschaft der
Seele über den Leib gewonnen haben werden.
Wir können in unserer Zeit schon die großen Wahrheiten
hinstellen über solche Vorgänge, wie wir sie in den letzten Tagen haben vor
unsere Seele treten lassen, jene gewaltigen Vorgänge von dem Zusammenfließen
des Buddha-Elementes mit dem Zarathustra-Element, alles, was vorgegangen ist
im Beginne unserer Zeitrechnung in Palästina. Wir konnten darstellen, wie die
Weisheit im Fortschritte der Welt sich jene zwei Kindheitsgestalten des
nathanischen und des salomonischen Jesus geschaffen hat und durch diese
großen, gewaltigen Vorgänge jene Weltenströmungen hat zusammenfließen lassen,
die vorher getrennt über die Erde geflossen sind.
Es kann eine doppelte Anschauung von allem geben, was wir in
den letzten Tagen auf uns haben wirken lassen. Da könnte jemand sagen: Das
sieht für das heutige Bewußtsein zunächst etwas phantastisch aus, aber wenn
ich alles auf die Waagschale lege, was an äußeren Wirkungen da ist, so
erscheint es mir sehr plausibel, und erst dann sind mir die Evangelien
erklärlich, wenn ich voraussetze, was mir aus der Akasha-Chronik erzählt
wird. Es kann sich jemand von dem, was ihm zum Beispiel über die zwei
Jesusgestalten und so weiter erzählt wird, interessiert fühlen, es kann sein
Interesse befriedigen. Er kann sagen: Jetzt kann ich mir vieles erklären, was
ich mir vorher nicht erklären konnte. Und ein anderer wieder könnte dann
sagen: Es gibt für mich jetzt noch etwas anderes. Wenn ich alle diese
Vorgänge überblicke, wenn ich alles überschaue, was aus der okkulten
Forschung gesagt wird über jenes wunderbare Herniederwirken des Nirmanakaya
des Buddha, was zugrunde liegt jener Verkündigung der Hirten und so weiter,
und wenn ich auch die andere Strömung nehme und sehe, wie der Stern die
Gesinnungsgenossen des Zarathustra leitete, als ihr Führer wieder erschien
auf der Erde, wenn ich da sehe, wie Weltenströmung zu Weltenströmung fließt,
wie sich vereinigt, was erst getrennt gegangen ist, wenn ich das alles auf
meine Seele wirken lasse, dann habe ich vor allem einen Eindruck: den Eindruck,
daß das alles unbeschreiblich schön ist im Laufe des Weltenwerdens! – Diesen
Eindruck kann man auch haben, daß es herrlich, gewaltig, großartig ist. Da
ist in Wahrheit etwas, an dem unsere Seele Feuer fangen, was uns erglühen
lassen kann für die wirklichen Weltenvorgänge.
Und das ist das Beste, was wir aus den großen Wahrheiten
gewinnen können. Die kleinen Wahrheiten werden unsere Erkenntnisbedürfnisse
befriedigen, und die großen werden unsere Seele warm machen, und wir werden
sagen: Was so durch die Weltenvorgänge geht, das ist zu gleicher Zeit ein
ungeheuer Schönes. Wenn wir es so in seiner Schönheit, in seiner Herrlichkeit
empfinden, dann fängt es an, in uns Wurzel zu fassen, dann dringt es hinaus
über das bloße theoretische Verständnis. -Wie sagt doch im Sinne des
Lukas-Evangeliums der Christus Jesus?
"Der Säemann ging
aus, seinen Samen zu säen. Und da er säte, fiel das eine an den Weg und ward
zertreten, und die Vögel des Himmels fraßen es auf;
und anderes fiel auf felsigen Boden, und wie es aufging, verdorrte es, weil
es keine Feuchtigkeit hatte;
und anderes fiel mitten unter die Dornen, und die Dornen wuchsen mit heran
und erstickten es;
und anderes fiel auf das gute Land und wuchs und brachte hundertfältige
Frucht" (Lukas 8, 5–8).
So ist es auch mit der anthroposophischen Weltanschauung.
Auf sie ist anwendbar, was der Christus Jesus seinen Schülern als Erklärung
dieses Gleichnisses vom Säemann gibt. Der Same ist das Reich der Götter, das
Reich der Himmel, das Reich des Geistes. Dieses Reich des Geistes soll als
Same einströmen in die Menschenseelen, soll wirksam werden auf der Erde. Da
sind nun solche Menschen, die in sich nur jene Seelenkräfte haben, welche die
spirituelle Weltanschauung, das Reich der göttlich-geistigen Wesenheiten
zurückstoßen. Es wird aufgefressen von den Hindernissen in der menschlichen
Seele, wird gleich, ehe es irgendwie keimen kann, zurückgestoßen. Das gilt
für viele Menschen gegenüber den Worten des Christus Jesus, das gilt heute
für viele gegenüber dem, was die Anthroposophie in die Welt zu bringen hat:
es wird zurückgestoßen, die Vögel sozusagen fressen es auf und lassen es
überhaupt nicht in einen Grund und Boden eindringen. – Dann aber kann .es
zwar zu einer Seele gesprochen werden – sei es das Wort des Christus Jesus, sei
es das Wort der spirituellen Weisheit –, aber die Seele ist nicht tief genug.
Die Seele ist gerade so weit vorbereitet, daß sie verstehen kann, daß das
ganz plausible Wahrheiten sind, aber das vereinigt sich nicht mit ihrer
eigenen Substanz und Wesenheit. Sie kann die Weisheit vielleicht sogar wieder
von sich geben, aber sie ist nicht mit ihr eins geworden; sie gleicht dem
Samenkorn, das auf den Felsen gefallen ist und nicht sprießen kann. – Und das
dritte Samenkorn ist in den Dornenstrauch gefallen; da keimt es zwar, aber es
kann nicht aufsprießen. Das heißt, der Christus Jesus erklärt, daß es
Menschen gibt, die in ihrer Seele so erfüllt sind von den Sorgen und
Interessen des gewöhnlichen Lebens, daß sie zwar imstande sind, das Wort der
spirituellen Wahrheit zu verstehen, aber alles andere in der Seele wirkt so
wie ein Dornenstrauch, der es immer zurückhält. Es gibt auch heute Seelen –
sie sind sehr zahlreich –, die würden gerne in sich die
geisteswissenschaftlichen Wahrheiten verarbeiten, wenn nicht das andere, das
äußere Leben, so an sie heranträte, daß es sie immer wieder niederhielte. Und
nur wenige sind imstande, die spirituellen Wahrheiten zu entfalten als etwas
Freies, wie das vierte Samenkorn. Das sind die, welche beginnen, das
anthroposophische Element als lebendige Wahrheit zu empfinden, die es als das
Lebenselement in die Seele aufnehmen und ganz darinnen leben; das sind
zugleich die, welche die Vorläufer für die Wirksamkeit der spirituellen
Wahrheiten in der Zukunft sind. Niemand aber, der nicht durch seine eigene
innere Seelenkraft das richtige Vertrauen, die richtige Überzeugungskraft von
der Wirkungsweise dieser spirituellen Weisheit hat, kann durch irgend etwas
äußerliches heute von der Wahrheit und der Wirkungskraft der spirituellen
Weisheit überzeugt werden.
Denn ist es ein Beweis gegen die Wirksamkeit der
spirituellen Weisheit, wenn sie heute bei so und so vielen Menschen nicht
schon physisch wirkt? Im Gegenteil, man könnte sagen, es ist ein Beweis für
die Gesundheit der spirituellen Weisheit, daß sie jene mächtigen physischen
Leiber, auf die sie trifft, oftmals im negativen Sinne berührt, wie zum
Beispiel ein Stadtkind mit einer schwachen physischen Gesundheit, das von
frühester Kindheit auf nur Stadtluft eingesogen hat und sich in einer gewissen
Weise dadurch geschwächt hat, nicht gesund zu werden braucht, wenn es in die
scharfe, gesunde Bergesluft hinauskommt, sondern vielleicht gerade recht
krank wird. So wenig das ein Beweis ist gegen das Gesunde der Bergesluft, so
wenig ist es ein Beweis gegen die Wirkungsweise der spirituellen Weistümer,
wenn sie, eindringend in gewisse menschliche Organisationen, auch
vorübergehend Unheil anrichten können. Denn sie dringen an das heran, was
seit Jahrhunderten und Jahrtausenden in den Menschenkörpern vererbt ist; sie
treffen ja nicht etwas anderes als das, was zu ihnen nicht paßt.
In, der äußeren Welt können wir noch nicht in dieser
Beziehung die Beweisgründe suchen; wir müssen in diese Weistümer eindringen
und uns die starke Überzeugung für sie verschaffen. Wie viele Indizienbeweise
auch in der Außenwelt sein können, wir müssen in das Innere einzudringen die
Möglichkeit haben, müssen in uns selbst die Überzeugung ausbilden und uns
sagen: Wenn diese anthroposophischen Weistümer heute da oder dort zu angreifend
sind, so ist das deshalb, weil sie an ungesunde Verhältnisse der Menschen
geraten sind. Deshalb ist die spirituelle Weisheit doch gesund, aber nicht
immer die Menschen. Deshalb ist es auch begreiflich, daß nicht alles heute
enthüllt wird, was an spiritueller Weisheit an die Menschen im Laufe der Zeit
herankommen kann. Es wird schon dafür gesorgt, daß der Schaden nicht zu groß
wird; man schickt nicht die Stadtkinder hinaus in für sie zehrende
Bergesluft. Daher aber kann nur von Zeit zu Zeit dasjenige mitgeteilt werden,
was im Durchschnitt die Menschen vertragen können. Wenn das, was zum Beispiel
noch an tieferen Weistümern vorhanden ist, ganz enthüllt würde, dann würde es
so sein, daß Menschen mit gewissen Organisationen darunter zusammenbrechen
würden wie die physisch gestörte Gesundheit in der Bergesluft. Nach und nach
nur können die großen Weistümer der Menschheit enthüllt werden; aber es wird
geschehen, und es wird zu einem umfassenden Gesunden der Menschheit werden.
Das alles liegt hinter dem, was wir zusammenfassen in dem
Begriffe der geisteswissenschaftlichen Bewegung. Langsam müssen sich die
Menschen das wieder erobern, was sie verlieren mußten: die Herrschaft des
Geistig-Seelischen über das Materielle. Langsam ist es verlorengegangen, von
der Entwickelung der indischen Kultur an bis in die griechisch-lateinische
Zeit hinein. Es waren in der griechisch-lateinischen Zeit immer noch Menschen
da, die als Erbstück aus alten Zeiten jenes Herausgehobensein des Ätherleibes
hatten, die in ihrer ganzen Organisation zugänglich waren für
seelisch-geistige Wirkungen. Deshalb mußte in dieser Zeit gerade der Christus
Jesus erscheinen. Wäre er in unserer Zeit erschienen, so hätte er nicht
wirken können, wie er damals gewirkt hat, und nicht das große Vorbild hinstellen
können wie damals. In unserer Zeit würde er auf Menschenorganisationen
auftreffen, die viel tiefer hineingestiegen sind in die physische Materie. Er
selber müßte heute in eine physische Organisation hineinsteigen, in der jene
mächtige Wirkung vom Seelisch-Geistigen auf die physische Organisation nicht
mehr möglich sein könnte wie damals.
Das gilt aber nicht nur für den Christus Jesus, das gilt
auch für alle ähnlichen Erscheinungen, und wir verstehen die
Menschheitsevolution nur, wenn wir sie von diesem Gesichtspunkte aus
durchleuchten. Das gilt zum Beispiel auch für den Buddha und sein Auftreten
auf der Erde. Wir haben gesehen, was der Buddha für eine Mission hatte. Er
hat zuerst hingestellt, was man nennen kann die große Lehre von der Liebe und
dem Mitleid und allem, was damit zusammenhängt und was umschrieben ist in dem
achtgliedrigen Pfad. Meinen Sie, wenn der Buddha heute erscheinen würde, er
würde in derselben Weise das hinstellen können? Nein. Denn heute ist eine
physische Organisation nicht möglich, die den Buddha jene Entwickelung
durchmachen ließe, die er zu seiner Zeit durchgemacht hat. Die physischen
Organisationen ändern sich fortwährend. Es mußte genau jener Zeitpunkt
eingehalten werden, damit gerade eine solche Musterorganisation hingestellt
werden konnte, damit der Buddha heruntersteigen und jene menschliche
Organisation benutzen konnte, um einmal die gewaltige Tat des achtgliedrigen
Pfades hinzustellen, die fortwirken soll, damit die Menschen sie geistig
durchdringen. Heute ist die Menschheit darauf angewiesen, nach und nach
diesen achtgliedrigen Pfad geistig-seelisch sich anzueignen. Es nimmt sich
sonderbar aus, ist aber doch so: Alles, was hinterher die Menschheit in allen
philosophischen und moralischen Lehren geleistet hat, das ist nur ein ganz
schwacher Anfang, um das zu erreichen, was der Buddha einmal hingestellt hat.
Mögen die Menschen noch so sehr alle möglichen Philosophien bewundern, mögen
sie schwärmen von Kantianismus und sonstigen Dingen, alles das ist nur eine
Kleinigkeit, ist nur ein Elementarstes gegen die umfassenden Grundsätze des
achtgliedrigen Pfades. Und nur langsam kann die Menschheit wieder aufsteigen,
um zu verstehen, was hinter den Worten des achtgliedrigen Pfades liegt.
Zuerst wird so etwas im richtigen Zeitpunkte in einer umfassenden Tatsache
hingestellt; dann geht von da aus die Entwickelung weiter. Es nimmt die
Menschheit von da den Ausgangspunkt und erlangt erst nach langer Zeit das,
was zuerst als eine gewaltige Tat vorbildlich hingestellt wurde. So stand der
Buddha in seiner Zeit da und brachte der Welt die Lehre von der Liebe und dem
Mitleid als ein Wahrzeichen für kommende Geschlechter, die sich nach und nach
die Fähigkeit erobern sollen, aus sich heraus das zu er kennen, was in dem
achtgliedrigen Pfade liegt. Und in dem sechsten Kulturzeitraume wird es schon
eine gute Anzahl von Menschen geben, die dazu fähig sein werden. Oh, wir
haben es noch ziemlich weit bis dahin, daß die Menschen sich sagen: Was der
Buddha im fünften, sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung vorbildlich
hingestellt hat, das können wir jetzt aus unserer eigenen Seele heraus
gewinnen; wir sind jetzt in unserer eigenen Seele ähnlich geworden dem
Buddha. So muß die Menschheit nach und nach aufsteigen zum Gipfel. Die ersten
Bekenner sind die, welche mit der betreffenden
Individualität hineinragen in eine große Zeit und sich dann
die Erbstücke mitbringen, um so etwas zu verstehen. Die übrige große
Menschheit geht langsam hinauf und erlangt das erst viel später, was ihr als
ein zu Erreichendes angegeben wird. Dann aber, wenn eine größere Anzahl von
Menschen dahin gelangt sein wird, den achtgliedrigen Pfad aus ureigener
Erkenntnis der Seele als ihr Eigenes zu haben – nicht als etwas, was sie aus
dem Buddhismus haben, was ihnen darin vorerzählt wird –, dann werden diese
selben Menschen auch schon in bezug auf etwas anderes sehr weit gekommen
sein. Lesen Sie nach in der Zeitschrift "Lucifer-Gnosis" "Wie
erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?", wie die Entwickelung der
sechzehnblättrigen Lotusblume mit dem achtgliedrigen Pfade zusammenhängt. Die
Menschen werden dann dahin gelangt sein, gerade die sechzehnblättrige
Lotusblume zu entwickeln durch den achtgliedrigen Pfad. Das hängt innig
zusammen. Und für denjenigen, der in die Menschheitsentwickelung
hineinschauen kann, gibt es ein Zeichen dafür, wie weit die Menschheit in der
Entwickelung gediehen ist. Sie ist so weit gediehen, wie sie gediehen ist in
der Entwickelung der sechzehnblättrigen Lotusblume, die eines der ersten
Organe ist, deren sich die Menschen in der Zukunft bedienen werden. Wenn aber
dieses Organ entwickelt sein wird, dann wird eine gewisse Herrschaft des
Seelisch-Geistigen über das Physische eingetreten sein. Nur der, der sich
heute darauf einläßt, eine geistige Entwickelung im esoterischen Sinne
durchzumachen, kann davon sprechen, daß er auf dem Wege ist, sich richtig den
achtgliedrigen Pfad einzuverleiben. Der andere "studiert" ihn. Das
ist natürlich auch sehr nützlich; es wird eben eine Anregung sein.
So sehen wir aber auch, daß im Grunde genommen das
Geistig-Seelische nur bei denjenigen Menschen wirken kann, die bereits
beginnen, mit ihrer eigenen Seele ganz organisch zu verbinden, was ihnen als
spirituelle Weisheit gegeben wird. In demselben Maße, wie der acht-,
gliedrige Pfad eigenes Erlebnis der Seele wird, wirkt er auch wieder auf das
Physische zurück. Jetzt freilich können die ganz gescheiten Menschen der
Gegenwart, die am Materialismus hängen, kommen und sagen: Da haben wir ganz
besondere Erfahrungen gemacht; da hatten wir diesen oder jenen, der
angefangen hat, eine spirituelle Entwickelung zu pflegen, das heißt, in
deinem Sinne die spirituellen Weisheiten in sich lebendig zu machen, er ist
aber mit fünfzig Jahren gestorben; also haben sie wenig zur Verlängerung
seines Lebens beigetragen. – Das ist eine recht gescheite Wahrheit, man kann
sie immer wieder erleben. Es ist nur schade, daß nicht die gegenteiligen
Instanzen ins Feld geführt werden, nämlich wie lange der Betreffende gelebt
haben würde, wenn er keine spirituelle Entwickelung durchgemacht hätte – ob
er nicht dann vielleicht nur vierzig Jahre alt geworden wäre! Diese Frage
müßte man ja erst entscheiden. Man konstatiert immer nur das, was da ist, und
gibt nicht acht auf das, was nicht da ist. Das ist das Wesentliche, daß man
die Dinge so ansieht.
Nach und nach also ist der Menschheit die Herrschaft des
Geistig-Seelischen über das Physische hingeschwunden, bis in den vierten
Kulturzeitraum hinein, in welchem der Christus erschien und in welchem noch
genügend Menschen vorhanden waren, an denen man sehen konnte, wie das
Geistige auf das Physische wirkt. Da mußte der Christus erscheinen. Wäre er
später erschienen, so hätten alle die Dinge nicht gezeigt werden können, die
damals gezeigt worden sind. Es mußte eine solche große Erscheinung in die
Welt, aber gerade zur rechten Zeit, hineintreten.
Was bedeutet denn das Hineintreten des Christus in die Welt?
Daß der Mensch, indem er den Christus richtig versteht, sich nun voll seines
Selbstbewußtseins bedienen lernt, daß er sein ganzes Ich-Bewußtsein damit
durchdringen lernt, daß sein Ich ganz und gar Herrschaft gewinnt über alles,
was in ihm ist, das bedeutet das Hineintreten des Christus in die Welt.
Dieses Ich, dieses seiner selbst bewußte Ich wird es sein, das sich wieder
alles zurückerobert, was der Menschheit verlorengegangen ist durch die
Zeiträume hindurch. Aber genau ebenso, wie der achtgliedrige Pfad durch den
Buddha zuerst hingestellt werden mußte, so mußte zuerst einmal vor Ablauf der
alten Zeiten die Herrschaft dieses Ich-Prinzips über alles, was in der Welt
an Vorgängen der äußeren Leiblichkeit vorhanden sein kann, sichtbarlich
hingestellt werden. In unserer Zeit würde es nicht mehr möglich sein, daß,
indem das Christus-Prinzip in die Welt hereinträte, auf die Umgebung jene
gewaltigen Heilwirkungen ausgehen könnten, die in der damaligen Zeit
ausgegangen sind. Dazu war jene Zeit notwendig, in der es noch Menschen gab,
die so weit ihre Ätherleiber herausragen hatten, daß sie durch das bloße
Wort, durch die bloßen Berührungen so gewaltige Wirkungen empfangen konnten,
von denen heute höchstens schwache Nachklänge vorhanden sein können. Und die
Menschheit fing an, das Ich zu entwickeln, damit sie zuerst den Christus
verstehen kann, um, davon ausgehend, wieder zurückzugewinnen, was sie einst
verloren hat. An den letzten Exemplaren der Menschheit aus der Vorzeit mußte
gezeigt werden, wie das Ich, das jetzt voll in einem Menschen vorhanden war,
in dem Christus Jesus, so, wie es am Ende der Erdenzeit einst in den übrigen
Menschen sein wird, auf allen Gebieten mächtig auf die Menschen der damaligen
Zeit wirkte. Das stellt der Schreiber des Lukas-Evangeliums dar, um uns zu
zeigen: Jetzt trägt der Christus in die Welt hinein ein Ich, das den
menschlichen physischen Leib, den Ätherleib und Astralleib in der Art
durchdringt, daß es Wirkungen ausüben kann, welche die ganze Organisation der
Leiblichkeit beeinflussen können, sie auch gesundend beeinflussen können.
Hingestellt mußte diese Tatsache werden, um zu zeigen: Wenn die Menschen alles,
was als Kraft von dem Christus-Ich ausgehen kann, in der Zukunft, in
Jahrhunderttausenden sich angeeignet haben werden, dann werden von den
Menschen-Ichen Wirkungen ausgehen können, wie sie damals von dem Christus in
die Menschheit hineingestrahlt sind. Das mußte gezeigt werden auf allen
Gebieten; das konnte aber nur gezeigt werden für die damalige Menschheit.
Es wurde gezeigt, daß es Krankheiten gibt, welche im
astralischen Leibe des Menschen ihren Ursprung haben. Wie sie sich äußern,
das hängt zusammen mit der Wesenheit des ganzen Menschen. Wenn heute der
Mensch schlechte moralische Eigenschaften hat, so sind diese vielleicht nur
darauf beschränkt, daß sie schlechte Eigenschaften seiner Seele sind. Weil
die Seele heute nicht jene Herrschaft über den Leib hat, die sie zur Zeit des
Christus Jesus hatte, so wird nicht leicht jede Sünde auch zu einer äußeren
Krankheit. Nach und nach nähern wir uns schon jenem Zustande wieder, wo der
Ätherleib wieder herausrückt. Daher beginnt für die Menschheit eine Epoche, wo
gar sehr darauf geachtet werden muß, daß die seelischen Untugenden in
moralischer und intellektueller Beziehung sich nicht als Krankheiten physisch
äußern. Diese Zeit fängt jetzt schon an. Und viele von jenen Krankheiten, die
als halb seelische, halb körperliche Krankheiten – die nervösen Erkrankungen
unserer Zeit – hingestellt werden, bezeichnen den Anfang dieser Epoche. Weil
die heutigen Menschen das Unharmonische der Außenwelt in ihren Wahrnehmungen
und in ihrem Denken in sich aufgenommen haben, können sich natürlich solche
Dinge nur äußern in Erscheinungen wie Hysterie und ähnlichem. Das hängt aber
zusammen mit der Eigenart der geistigen Entwickelung, der wir entgegengehen:
dem Herauslösen des Ätherleibes.
In der Zeit, als der Christus auf der Erde erschien, waren
zahlreiche Menschen in seiner Umgebung, bei denen Sünde, namentlich aber
Charakterversündigung von aus früherer Zeit herrührenden schlechten
Eigenschaften sich in Krankheiten äußerten. Das, was im Grunde genommen im
Astralleib als Versündigung liegt und als Krankheit erscheint, das wird im
Lukas-Evangelium Besessenheit genannt, wo der Mensch fremde Geister in seinen
Astralleib hereinzieht, wo er nicht durch seine besseren Qualitäten Herr ist
über seine ganze Menschlichkeit. Bei jenen Menschen, die noch die alte
Trennung des Ätherleibes vom physischen Leibe hatten, äußerte es sich in
hervorragendem Maße in jenen Zeiten darin, daß schlechte Eigenschaften,
schlechte Qualitäten so wirkten, wie sie uns der Schreiber des
Lukas-Evangeliums als Krankheitsformen schildert, die sich als Besessenheit
darstellen. – Nun zeigt uns das Lukas-Evangelium, wie solche Menschen durch
die Nähe und den Zuspruch jener Individualität, die in dem Christus Jesus
war, geheilt wurden, wie das, was als Böses wirkte, aus solchen
Individualitäten herausgetrieben wurde. Das wird als ein Vorbild dafür
hingestellt, wie die guten Eigenschaften am Ende der Erdenzeit auf alle
Eigenschaften gesundend wirken werden.
Man merkt das Feinere gewöhnlich nicht, was sich hinter
manchem verbirgt, so daß auch da noch die Rede ist von ganz anderen
Erkrankungen, wie sie uns in dem Kapitel geschildert werden, das gewöhnlich
genannt wird die "Heilung des Gichtbrüchigen" (Lukas 5, 17–26).
Eigentlich sollte es heißen die "Heilung eines Gelähmten", denn im
griechischen Texte steht an dieser Stelle das Wort "paralelyménos";
das bedeutet einen, der an seinen Gliedern gelähmt ist. Von diesen
Krankheitsformen wußte man in jenen Zeiten noch, daß sie von den
Eigenschaften des Ätherleibes herrühren. Und indem uns geschildert wird, daß
der Christus Jesus auch solche heilt, die gelähmt sind, wird uns gesagt, daß
durch die Kräfte seiner Individualität nicht nur Wirkungen bis in die
Astralleiber hinein erzielt werden, sondern bis in die Ätherleiber, so daß
auch solche Menschen, die in ihrem Ätherleibe schadhaft sind, heilende
Wirkungen erleben können. Gerade wo der Christus von dem spricht, was als
"tiefere Sünde" bis in den Ätherleib hinein seinen Sitz hat, da
gebraucht er einen besonderen Ausdruck. Das weist ersichtlich darauf hin, daß
das krankmachende Geistige erst weggeschafft werden muß; denn er spricht
nicht gleich zu dem Gelähmten: "Stehe auf und wandle", sondern er
geht auf die Ursache, die als Krankheit bis in den Ätherleib hinein wirkt,
und sagt: "Deine Sünden sind dir vergeben", das heißt: was sich als
Sünde in den Ätherleib hineingefressen hat, das muß erst fort. Auf diese
feineren Unterscheidungen geht aber die gewöhnliche Bibelforschung nicht ein,
sie sieht nicht, daß hier gezeigt ist, wie diese Individualität Einfluß hatte
auf die Geheimnisse des Astralleibes und auch auf die des Ätherleibes. Ja,
sie hatte sogar auf die Geheimnisse des physischen Leibes Einfluß.
Warum wird in diesem Zusammenhange von den Geheimnissen des
physischen Leibes als sozusagen von den obersten Geheimnissen gesprochen?
Sogar für das äußere Leben ist zunächst die Einwirkung von Astralleib zu
Astralleib die offenbarste. Sie können einen Menschen verletzen, wenn Sie zum
Beispiel ein haßerfülltes Wort sagen. Das ist ein Vorgang in seinem
astralischen Leibe. Er hört das verletzende Wort, er empfindet das als Leid
in seinem astralischen Leibe. Da haben Sie den Austausch zwischen Astralleib
und Astralleib. Viel verborgener ist schon das, was Austausch ist zwischen
Ätherleib und Ätherleib; dazu gehören schon feinere Wirkungen von Mensch zu
Mensch, die heute gar nicht mehr beachtet werden. Aber die verborgensten sind
die Wirkungen, welche auf den physischen Leib gehen, weil der physische Leib
am meisten durch die dichte Materialität die Wirkungen des Geistigen
verhüllt. Nun aber soll uns auch gezeigt werden, daß der Christus Jesus
Herrschaft hat über den physischen Leib. Wie wird das gezeigt? Da berühren
wir ein Kapitel, das den heutigen materialistisch denkenden Menschen ganz
unverständlich sein würde. – Es ist gut, daß nur vorbereitete Kenner der
Geisteswissenschaft bei diesem Zyklus beisammen sind; denn wer nur von der
Straße hereinkäme, der würde das, was heute gesprochen wird, für ganzen
Wahnsinn halten, auch wenn er das andere nur für halben oder viertel Wahnsinn
hielte.
Der Christus Jesus zeigt, daß er durchschauen kann durch die
physische Leiblichkeit und bis in dieselbe hineinwirken kann. Das wird
dadurch gezeigt, daß er auch durch seine Kraft auf diejenigen Krankheiten
heilend wirken kann, die im physischen Leibe wurzeln. Dazu muß man aber die
geheimnisvollen Wirkungen kennen, die vom physischen Leibe des einen Menschen
auf den physischen Leib des anderen Menschen hin wirken, wenn man im
physischen Leibe die Krankheiten beheben will. Wenn man geistig wirken will,
so kann man nicht den Menschen als ein in seiner Haut abgeschlossenes Wesen
betrachten. Es ist hier schon oft gesagt worden, daß unser Finger gescheiter
ist als wir. Unser Finger weiß, daß das Blut in ihm nur dadurch fließen kann,
daß es in dem ganzen Leibe ordentlich fließt, und er weiß, daß er verdorren
muß, wenn er von dem übrigen Organismus getrennt wird. So müßte der Mensch
auch wissen, wenn er die Verhältnisse seines Leibes durchschauen würde, daß
er seiner physischen Organisation nach, zur ganzen Menschheit gehört, daß
fortwährend Wirkungen von dem einen auf den anderen übergehen und daß man gar
nicht seine physische Gesundheit als Einzelmensch abtrennen kann von der
Gesundheit der ganzen Menschheit. In den gröberen Wirkungen werden das heute
die Menschen auch zugeben, in bezug auf die feineren Wirkungen aber nicht,
weil sie die Tatsachen nicht wissen können. Hier im Lukas-Evangelium wird
aber auf die feineren Wirkungen hingedeutet. Lesen Sie im 8. Kapitel, wo es
heißt:
"Als aber Jesus
zurückkam, empfing ihn die Menge; denn alles
wartete auf ihn.
Und siehe, es kam ein Mann mit Namen Jairus, der war Oberer
der Synagoge, und er fiel Jesus zu Füßen und bat ihn, in sein Haus
zukommen;
denn er hatte eine einzige Tochter von ungefähr zwölf Jahren, die
lag im Sterben. Als er aber hinging, drängte ihn die Menge.
Und eine Frau, die seit zwölf Jahren am Blutfluß litt und all ihr
Vermögen an Ärzte gewendet hatte, und niemand vermochte sie
zu heilen,
trat von hinten herzu und rührte die Quaste seines Kleides an,
und alsbald stand ihr Blutfluß stille" (Lukas 8,40–44).
Also der Christus Jesus soll das zwölfjährige Töchterchen
des Jairus heilen. Wie kann es nur geheilt werden, denn es ist nahe am Tode?
Das kann man nur verstehen, wenn man weiß, wie seine physische Krankheit
zusammenhängt mit einer anderen Erscheinung bei einem anderen Menschen, und
daß es nicht geheilt werden kann, ohne daß man diese andere Erscheinung ins
Auge faßt. Denn als das jetzt zwölfjährige Mädchen geboren wurde, da gab es
eine gewisse Beziehung zu einer anderen Persönlichkeit, die tief im Karma
begründet war. Deshalb wird uns jetzt erzählt, daß sich von hinten an den
Christus Jesus heran ein Weib drängte, das seit zwölf Jahren an einer
gewissen Krankheit litt, und den Saum seines Kleides berührte. Warum wird
dieses Weib hier erwähnt? Weil sie in ihrem Karma verknüpft war mit diesem
Kinde des Jairus. Dieses zwölfjährige Mädchen und die seit zwölf Jahren
kranke Frau hängen zusammen, und nicht umsonst wird uns wie ein Zahlengeheimnis
dies hingestellt. Da tritt diese Frau mit einer zwölf Jahre dauernden
Krankheit an Jesus heran, und sie wird geheilt – und jetzt erst konnte er in
das Haus des Jairus hineingehen, und nun konnte das zwölfjährige Mädchen
geheilt werden, das schon für tot gehalten wurde.
So tief muß man in die Dinge hineingehen, um das Karma, das
von Mensch zu Mensch geht, zu erfassen. Dann kann man sehen, wie die dritte
der Wirkungsweisen des Christus Jesus – die auf den ganzen menschlichen
Organismus – gezeigt wird. Insbesondere mit Rücksicht darauf muß man die
höhere Wirksamkeit des Christus betrachten, wie sie uns im Lukas-Evangelium
gezeigt wird.
So werden wir in anschaulicher Weise darauf hingewiesen, wie
auf alle übrigen Glieder des Menschen die Ich-Wesenheit des Christus wirkte.
Das ist das, worauf es ankommt. Und der Schreiber des Lukas-Evangeliums, der
insbesondere in diesen Partien auf die Darstellung der Heilwirkungen ausgeht,
wollte zeigen, wie die Heilwirkungen des Ich uns darstellen die Entfaltung des
Ich auf einem hohen Gipfel der Menschheitsentwickelung, und er zeigt, wie der
Christus wirken mußte auf den astralischen Leib, auf den Ätherleib und auf
den physischen Leib der Menschen. Lukas hat gleichsam das große Ideal der
Menschheitsentwickelung hingestellt: Sehet hin auf eure Zukunft; heute ist
euer Ich, wie es sich herausentwickelt hat, noch schwach, es hat noch wenig
Herrschaft. Aber es wird nach und nach Herr werden über den Astralleib, über
den Ätherleib und über den physischen Leib und wird dieselben umgestalten.
Vor euch ist das große Ideal des Christus hingestellt, der der Menschheit
zeigt, wie die Herrschaft des Ich über den Astralleib, Ätherleib und
physischen Leib sein kann.
Das sind solche Wahrheiten, wie sie den Evangelien zugrunde
liegen, und die nur diejenigen schreiben konnten, die sich nicht auf äußere
Dokumente stützten, sondern auf das Zeugnis derjenigen, die
"Selbstseher" und "Diener des Wortes" waren. Nach und
nach wird sich die Menschheit erst eine Überzeugung von dem aneignen, was
hinter den Evangelien liegt. Dann aber wird sie sich allmählich das, was den
religiösen Urkunden zugrunde liegt, in solcher Intensität und Stärke zu eigen
machen, daß es wirklich auf alle übrigen Glieder der menschlichen
Organisation wirken kann.
Neunter
Vortrag
25. September 1909
Das Gesetz vom Sinai
als letzte Vorverkündigung des Ich. Die Lehre des Buddha von Mitleid und
Liebe. Das Rad des Gesetzes. Der Christus als Bringer der lebendigen Kraft
der Liebe.
Es wird Ihnen bereits aus dem gestrigen Vortrage
hervorgegangen sein, daß man eine Urkunde wie das Lukas-Evangelium nur
verstehen kann, wenn man die Entwickelung der Menschheit in jenem höheren
Sinne auffaßt, der uns durch die Geisteswissenschaft an die Hand gegeben
wird, das heißt, wenn man wirklich die Veränderungen ins Auge faßt, die sich
im Laufe der Menschheitsentwickelung vollzogen haben und die den ganzen
Menschen in seiner Organisation anders gemacht haben. Wenn wir uns jenen
radikalen Vorgang, der sich zur Zeit des Christus Jesus mit der Menschheit
vollzogen hat, verständlich machen wollen – was notwendig ist zum Begreifen
des Lukas-Evangeliums –, so ist es gut, daß wir ihn vergleichen mit dem, was
sich zwar nicht so rasch, sondern mehr nach und nach, aber doch auch deutlich
wahrnehmbar für den, der sehen kann, in unserer Zeit vollzieht.
Um das zu verstehen, müssen wir erst einmal gründlich mit
einem anderen Urteile brechen, das so häufig ausgesprochen wird, und an dem
die menschliche Bequemlichkeit so gerne hängt. Das ist das Urteil, die Natur
oder die Entwickelung mache keine Sprünge. Es kann, wenn man die gewöhnliche
Auffassung dieses Satzes zugrunde legt, gar keinen falscheren Satz geben als
gerade diesen. Die Natur macht fortwährend Sprünge! Und das ist gerade das
Wesentliche, daß Sprünge geschehen. Sehen wir uns zum Beispiel an, wie sich
der Pflanzenkeim entwickelt. Wenn er das erste Blättchen herauswachsen läßt,
so ist das ein bedeutsamer Sprung. Ein weiterer bedeutsamer Sprung findet
statt, wenn die Pflanze übergeht vom Blatt zur Blüte, dann wieder, wenn es
vom äußeren zum inneren Teil der Blüte geht, und ein weiterer, ganz
bedeutsamer Sprung geschieht in der Ausbildung der Frucht. Es geschehen
fortwährend Sprünge, und wer das nicht berücksichtigt, wird die Natur nicht
begreifen. Er wird glauben, wenn er die Menschheitsentwickelung betrachtet
und an einem Jahrhundert bemerkt, daß da die Entwickelung im
Schneckenschritte vorwärtsgeht, daß dann auch zu anderen Zeiten die
Entwickelung in demselben Tempo vorwärtsgehen müsse. Es kann aber durchaus sein,
daß die Entwickelung zu einer gewissen Zeit langsam geht wie bei der grünen
Pflanze vom ersten grünen Blatt bis zum letzten; wie aber dann bei der
Pflanze ein Sprung geschieht, wenn sich das letzte Blatt entwickelt hat und
die Blüte ansetzt, so geschehen in der Menschheitsentwickelung fortwährend
Sprünge.
Und ein solcher bedeutsamer Sprung geschah in der Zeit, als
der Christus Jesus auf Erden auftrat. Da geschah ein solcher Sprung, daß in
verhältnismäßig kurzer Zeit die Eigenschaften des alten Hellsehens und die
Herrschaft des Geistigen über das Leibliche sich verwandelten, so daß nur
noch wenig vorhanden war von hellseherischer Kraft und von Wirksamkeit des
Seelisch-Geistigen über das Leibliche. Daher mußte, bevor jener Umschwung
geschah, noch einmal zusammengefaßt werden, was von alten Zeiten als
Erbschaft vorhanden war. Darinnen mußte der Christus Jesus wirken. Dann
konnte das Neue aufgenommen werden in der Menschheit und konnte sich nun
langsam und allmählich entwickeln.
Auf anderem Gebiete geschieht, nicht ganz so rasch, aber
doch auch ein Sprung in unserer Zeit. Er vollzieht sich zwar in längerem
Zeitraum, aber er muß für die, welche unsere Zeit verstehen wollen, durchaus
begreiflich erscheinen. Wir machen uns am besten einen Begriff davon, wenn wir
hinhören auf Menschen, die heute, von diesem oder jenem geistigen Gebiete
ausgehend, an die Geisteswissenschaft herankommen. Es kann zum Beispiel, was
öfters vorkommt, ein Vertreter dieser oder jener Religionsgemeinschaft zu
einem geisteswissenschaftlichen Vortrage kommen. Was ich jetzt ausspreche,
ist etwas, was durchaus erklärlich ist, und soll kein Tadel sein. Ein solcher
Mensch hört sich also einen geisteswissenschaftlichen Vortrag an, der sich
etwa gerade mit dem Wesen des Christentums befaßt, und sagt hinterher: Das
ist ja alles sehr schön, und im Grunde genommen widerspricht es gar nicht
dem, was wir von der Kanzel oder vom Lehrstuhle herab auch sagen; aber wir
sagen es so, daß es jeder verstehen kann. Was dagegen hier gesagt wird, das
ist so, daß es nur einzelne verstehen können. – Das ist etwas, was sehr
häufig geschieht. Wer so etwas sagt oder meint, daß nur das das einzig
Mögliche ist, wie er das Christentum auffaßt oder verkündet, der
berücksichtigt eines nicht: daß man die Verpflichtung hat, nicht nach seinen
Liebhabereien, sondern nach den Tatsachen zu urteilen. Und einmal mußte von
mir einem solchen Menschen geantwortet werden: Sie haben vielleicht den
Glauben, daß Sie die christlichen Wahrheiten für alle Menschen verkünden.
Aber unser Glaube entscheidet nichts in diesem Falle, sondern es entscheiden
die Tatsachen. Gehen alle Leute zu Ihnen in die Kirche hinein? Die Tatsachen
beweisen das Gegenteil! Für diejenigen, für welche Sie das Richtige treffen,
ist eben die Geisteswissenschaft nicht da; sondern sie ist für diejenigen da,
die etwas anderes brauchen. – Wir müssen eben nach den Tatsachen urteilen und
nicht nach unseren Liebhabereien; und das ist in der Regel für die Menschen
sehr schwierig, ihre Liebhabereien von den Tatsachen zu unterscheiden.
Wenn nun solche Menschen gar nicht von der Meinung kuriert
werden könnten, daß sie das Richtige treffen, und jeden anderen
perhorreszieren, der anders spricht als sie, und wenn gegen solche Menschen
das spirituelle Leben gar nicht aufkommen könnte, was würde da geschehen?
Immer zahlreicher würden dann die Menschen werden, die nicht die Art der
Verkündigung der geistigen Tatsachen hören könnten, wie sie in dieser oder
jener Geistesströmung bisher üblich war. Immer weniger Menschen würde es
geben, die dahin gehen, wo so etwas zu hören ist. Und wenn es dann keine
geisteswissenschaftliche Strömung gäbe, so würden diese Menschen gar nichts
haben, keine Befriedigung ihrer geistigen Bedürfnisse; sie würden verkommen,
denn es würde ihnen keine Nahrung gegeben. Es hängt aber nicht von dem Willen
des einzelnen ab, wie man die geistige Nahrung zugeformt bekommt – das hängt
ab von der Entwickelung. Wir sind jetzt an der Tatsache und an dem Zeitpunkte
angekommen, wo die Menschen Befriedigung haben wollen für ihre geistigen
Bedürfnisse, für die Interpretation der Evangelien und so weiter. Aber nicht
darauf kommt es an, wie wir die geistige Nahrung geben wollen, sondern wie
die Menschenseele sie verlangt. Die Sehnsucht der menschlichen Seele nach der
Geisteswissenschaft ist heute geboren. Und es hängt gar nicht von denen ab,
die etwas anderes lehren wollen, ob sie die geistigen Bedürfnisse der Zeit
befriedigen; denn sie werden immer weniger Zuhörer bekommen.
Wir leben in einer Zeit, in welcher immer mehr aus den
Menschenherzen die Möglichkeit verschwindet, die Bibel so hinzunehmen, wie
sie während der letzten vier bis fünf Jahrhunderte der europäischen
Kulturentwickelung hingenommen worden ist. Entweder wird die Menschheit die
Geisteswissenschaft bekommen und durch die Geisteswissenschaft die Bibel in
einem neuen Sinne verstehen lernen, oder die Menschen werden dahin kommen,
wie es bei vielen schon heute der Fall ist, welche die Anthroposophie nicht
kennen, daß sie nicht mehr hinhorchen können auf die Bibel. Die Menschheit würde
die Bibel vollständig verlieren, die Bibel würde verschwinden, und ungeheure
Geistesgüter würden der Menschheit verlorengehen – die wichtigsten
Geistesgüter unserer Erdenentwickelung. Das muß eingesehen werden. Wir stehen
an einem solchen Sprunge unserer Entwickelung. Das Menschenherz verlangt nach
geisteswissenschaftlicher Erklärung der Bibel. Wird der Menschheit diese
geisteswissenschaftliche Erklärung der Bibel, so wird die Bibel zum Segen der
Menschheit erhalten bleiben; wird ihr diese Erklärung nicht, so wird die
Bibel verlorengehen. Das sollten sich diejenigen sagen, welche glauben, ihre
Liebhabereien, ihre hergebrachte Art, die Bibel zu nehmen, unbedingt
aufrechterhalten zu müssen. So können wir jenen Sprung charakterisieren, den
wir jetzt in der Menschheitsentwickelung machen. Wer diese Tatsache kennt,
den kann nichts beirren in der Pflege der anthroposophischen Geistesströmung,
weil er sie als eine Notwendigkeit für die Menschheitsentwickelung erkennt.
Nun ist das, was jetzt geschieht, von einem höheren Gesichtspunkte aus
betrachtet, sogar verhältnismäßig etwas Kleines gegenüber dem, was damals
geschah, als der Christus Jesus auf der Erde erschien. Zu jener Zeit war die
Menschheitsentwickelung so, daß sozusagen noch die letzten Ausläufer jener Entwickelung
vorhanden waren, die seit uralten Zeiten, sogar seit der vorherigen
Verkörperung unserer Erde, stattgefunden hat. Der Mensch entwickelte sich im
wesentlichen in seinem physischen Leib, Ätherleib und Astralleib. Er hatte
zwar schon längst das Ich eingegliedert, aber dieses Ich spielte zu jener
Zeit noch eine untergeordnete Rolle. Das vollständig selbstbewußte Ich war
noch überdeckt von den drei Hüllen: physischer Leib, Ätherleib und
Astralleib, bis zur Zeit der Erscheinung des Christus Jesus.
Nehmen wir an, der Christus Jesus wäre nicht auf die Erde
gekommen. Was würde da geschehen sein? Da wäre die Menschheitsentwickelung so
fortgeschritten, daß das Ich voll herausgekommen wäre. Aber in demselben Maße
wie das Ich voll herausgekommen wäre, würden alle früheren hervorragenden
Fähigkeiten des Astralleibes, Ätherleibes und physischen Leibes geschwunden
sein; alles alte Hellsehen, alle alte Herrschaft von Seele und Geist über den
Leib würden geschwunden sein, denn das wäre die Notwendigkeit der Entwickelung
gewesen. Der Mensch wäre ein selbstbewußtes Ich geworden, aber ein Ich, das
den Menschen immer mehr zum Egoismus geführt hätte, das immer mehr dazu
geführt hätte, die Liebe auf der Erde ersterben zu machen, die Liebe von der
Erde verschwinden zu machen. Iche wären die Menschen auch geworden, aber ganz
egoistische Iche. Das ist das Wesentliche.
Die Menschheit war in dem damaligen Zeitpunkte reif, um zu
der Entwickelung des Selbstes, des Ich, aufzusteigen; daher war sie aber zu
gleicher Zeit darüber hinaus, in der alten Weise auf sich wirken zu lassen.
In der alten hebräischen Entwickelung konnte zum Beispiel das Gesetz, die
Verkündigung vom Sinai deshalb wirken, weil das Ich noch nicht völlig
herausgetreten war und dem astralischen Leibe, der als Höchstes dastand,
sozusagen eingeflößt und eingeprägt wurde, was er tun und fühlen sollte, um
in der Außenwelt in der richtigen Weise zu handeln. So war das Gesetz vom
Sinai wie eine Vorverkündigung erflossen, aber wie eine letzte
Vorverkündigung, bevor das Ich völlig herausgekommen war. Wenn das Ich
herausgekommen wäre und wenn nichts anderes eingetreten wäre, würde der
Mensch nur auf sein Ich geschaut haben. Die Menschheit war eben reif zu der
Entwickelung des Ich, aber das Ich wäre so ein leeres Ich gewesen, ein Ich,
das nur an sich gedacht hätte und nichts für die anderen Menschen oder für
die Welt hätte wirken wollen.
Diesem Ich den Inhalt zu geben, dieses Ich nach und nach zu
einer solchen Entwickelung anzutreiben, daß es von sich aus jene Kraft
ausströmt, die wir die Kraft der Liebe nennen, das war die Tat des Christus
auf der Erde. Wie ein leeres Gefäß wäre das Ich ohne den Christus geworden;
wie ein sich immer mehr und mehr mit Liebe erfüllendes Gefäß steht das Ich da
durch die Erscheinung des Christus. Daher konnte der Christus zu seiner
Umgebung sagen: Ihr sagt, wenn ihr Wolken heranziehen seht, es komme dieses
oder jenes Wetter; so beurteilt ihr das Wetter nach den äußeren Zeichen. Die
Zeichen der Zeit aber versteht ihr nicht. Denn würdet ihr sie verstehen und
beurteilen können, was um euch herum vorgeht, dann würdet ihr wissen, daß in
das Ich der Gott eindringen muß, der es durchdringt und imprägniert; dann
würdet ihr nicht sagen: Wir können auch mit dem leben, was von den Vorzeiten
her überliefert ist. – Was von den Vorzeiten stammt, das geben euch die
Schriftgelehrten und Pharisäer, welche das Alte bewahren und nichts
hinzukommen lassen wollen zu dem, was vorher an die Menschen herangetreten
ist. Das ist aber ein Sauerteig, der nichts weiter wirken wird in der
Menschheitsevolution. Wer aber sagt: Ich will stehenbleiben bei Moses und den
Propheten –, der versteht nicht die Zeichen der Zeit, der weiß nicht, welcher
Übergang in der Menschheit sich vollzieht (Lukas 12, 54–59). In
bedeutungsvollen Worten sagte der Christus Jesus zu seiner Umgebung, daß es
gar nicht von der Liebhaberei des einzelnen abhänge, ob man nun christlich
werden wolle oder nicht, sondern von der Notwendigkeit in der
Fortentwickelung der Menschheit. Begreiflich machen wollte er mit den Reden,
die uns im Lukas-Evangelium überliefert sind als die von den "Zeichen
der Zeit", daß der alte Sauerteig bei den Schriftgelehrten und
Pharisäern, die nur das Alte bewahren, nicht mehr ausreiche, und glauben, daß
er ausreiche, könne nur derjenige, der nicht die Verpflichtung fühlt, nach
den Notwendigkeiten zu urteilen, die für die Entwickelung der Welt gelehrt
werden, der alles nach seinen Liebhabereien beurteilt. Daher nannte der
Christus Jesus das, was die Schriftgelehrten und Pharisäer wollten, eine Unwahrheit,
etwas, was nicht mehr mit der äußeren Welt stimmt. Das würde der Ausdruck
eigentlich bedeuten.
Wir können uns die Gefühlskraft seiner Rede am besten vor
die Seele rücken, wenn wir sie mit den entsprechenden Vorgängen in unserer
Zeit vergleichen. Wie müßte man denn in bezug auf das Angedeutete in unserer
Zeit sprechen, wenn man ganz auf unsere Zeit übertragen wollte, was der
Christus Jesus von den Schriftgelehrten und Pharisäern gesagt hat? Haben wir
in unserer Zeit etwas Ähnliches wie die Schriftgelehrten? Ja, wir haben etwas
Ähnliches! Und das sind die, welche nicht mehr mitgehen wollen mit der
tieferen Erklärung der Evangelien, die da stehenbleiben wollen bei dem, was
ihnen ihre ohne die Geisteswissenschaft erworbenen Fähigkeiten über die Evangelien
sagen können; das sind die, welche nicht mitgehen wollen die Schritte in die
Untergründe der Evangelien, die durch die Geisteswissenschaft gemacht werden.
Das ist im Grunde genommen überall da der Fall, wo man versucht –
gleichgültig, ob in mehr fortschrittlicher oder mehr rückschrittlicher Weise
–, die Evangelien zu interpretieren. Denn die Kraft, um die Evangelien
interpretieren zu können, wächst einzig und allein auf
geisteswissenschaftlichem Boden. Nur aus der Geisteswissenschaft ist die
Wahrheit über die Evangelien zu gewinnen! Daher ist auch alles andere, was
heute über die Evangelien geforscht wird, so trostlos, läßt so kalt, wenn wir
wirklich nach der Wahrheit forschen wollen. Nur haben wir heute zu den
Schriftgelehrten und Pharisäern noch eine dritte Sorte von Menschen erhalten,
die Naturgelehrten, so daß wir heute von drei Kategorien sprechen können, die
überhaupt alles ausschließen wollen, was zum Geistigen führt, was der Mensch
sich an Fähigkeiten erwerben kann, um zu den geistigen Grundlagen der
Naturerscheinungen zu kommen. Und diejenigen, welche man für die heutige
Zeit, wenn man im Sinne des Christus Jesus redet, mittreffen muß, die sitzen
heute vielfach auf den Lehrstühlen; sie haben es in der Hand, die
Naturerscheinungen zusammenzustellen, und lehnen die geistigen Erklärungen
ab. Sie sind es, die den Fortschritt der Menschheitsentwickelung aufhalten,
denn der Fortschritt der Menschheit wird überall da aufgehalten, wo man die
Zeichen der Zeit in dem angedeuteten Sinne nicht erkennen will.
In unserer Zeit würde es der Nachfolge des Christus Jesus
nur entsprechen, wenn man den Mut fände, so wie er sich gegen die wandte, die
nur Moses und die Propheten gelten lassen wollten, überall sich gegen
diejenigen zu wenden, die den Fortschritt der Menschheit zurückschrauben
wollen, indem sie sich gegen die anthroposophische Interpretation der
Schriftwerke auf der einen Seite und der Naturwerke auf der anderen Seite
wenden. Es sind zuweilen wirklich gutmeinende Leute, die gern einmal da oder
dort hinein einen vagen Frieden vermitteln möchten. Allen solchen Leuten
müßte etwas davon ins Herz wachsen, was gerade der Christus Jesus im Sinne
des Lukas-Evangeliums gesprochen hat.
Es gehört zu den schönsten und
eindringlichsten Gleichnissen des Lukas-Evangeliums jenes, das gewöhnlich
genannt wird das Gleichnis von dem ungerechten Hausverwalter (Lukas 16,
1–13). Da wird erzählt: Ein reicher Mann hatte einen Hausverwalter, von dem
ihm gesagt worden war, daß er ihm sein Gut verschwende. Er beschloß daher,
diesen Hausverwalter zu entlassen. Dieser aber war im höchsten Grade darüber
bestürzt und fragte sich: Was soll ich nun tun? Ich kann mich nicht dadurch
ernähren, daß ich irgendwie Ackerbauer werde, denn das verstehe ich nicht;
ich kann auch nicht Bettler werden, denn zu betteln schäme ich mich. Da kam
er auf ein Auskunftsmittel. Er sagte sich: Ich habe ja als Verwalter immer
die Leute, die mit mir in Berührung kamen, so behandelt, daß ich nur auf die
Interessen meines Herrn gesehen habe. Daher haben sie mich nicht besonders
gern, weil ich auf ihre Interessen nicht gesehen habe; ich muß etwas tun,
damit sie mich aufnehmen bei sich, damit ich nicht zugrunde gehe; ich werde
etwas tun, damit die Leute sehen, daß ich Wohlwollen für sie habe. – Da kam
er zu einem der Schuldner seines Herrn, fragte ihn: Wieviel bist du schuldig?
– und ließ ihn die Hälfte der Schuld abstreichen. Ebenso machte er es bei den
anderen. Auf diese Weise suchte er das Wohlwollen der Schuldner zu erreichen,
damit er, wenn ihn sein Herr fortjagt, zu den Leuten gehen und Aufnahme
finden könne und nicht Hungers sterbe. Das ist der Zweck. – Nun heißt es im
Evangelium weiter, worüber vielleicht dieser oder jener, der das
Lukas-Evangelium liest, recht erstaunt sein könnte (Vers 8): "Und der
Herr lobte den ungerechten Haushalter, daß er klüglich getan hatte." Es
hat wirklich von der Sorte der Leute, die heute die Evangelien erklären,
welche gegeben, die sich Gedanken machten, welcher "Herr" damit
gemeint sei, trotzdem da ganz deutlich steht, daß Jesus selber den Verwalter
wegen seiner Klugheit gelobt hat. Und dann heißt es weiter: "denn die
Kinder dieser Welt sind klüger denn die Kinder des Lichtes in ihrem
Geschlechte". So steht es seit Jahrhunderten in der Bibel. Man möchte
sich fragen, ob denn niemand darüber nachgedacht hat, was das heißen soll:
"die Kinder dieser Welt sind klüger denn die Kinder des Lichtes in ihrem
Ge schlechte". "In ihrem Geschlechte" steht überall in den
verschiedenen Bibelübersetzungen. Wenn jemand mit bloß einiger Kenntnis den
griechischen Text übersetzen würde – er müßte ihn natürlich richtig
übersetzen –, dann aber hieße es richtig: "denn die Kinder dieser Welt
sind klüger als die Kinder des Lichtes in ihrer Art" \ Das heißt,
nach ihrer Art sind die Kinder der Welt klüger als die Kinder des Lichtes,
nach dem, wie sie es verstehen, sind sie klüger, meinte der Christus.
Diejenigen, die seit Jahrhunderten diese Stelle übersetzt haben, haben
einfach bis heute die Bezeichnung "in ihrer Art" verwechselt mit
einem Wort, das zwar in der griechischen Sprache sehr ähnlich klingt: thu geueau =
(ten genean), sie haben es mit
"Geschlecht" verwechselt, weil man unter Umständen dieses Wort auch
für den anderen Begriff brauchte. Ist es möglich, so möchte man fragen, daß
sich durch Jahrhunderte hindurch eine solche Sache fortschleppte und daß
neuere Menschen auftreten, von denen gesagt wird, daß sie gute
Bibelübersetzungen zustande gebracht haben und sich bemüht haben, den
richtigen Text herzustellen, die es nicht anders machen? Bei Weizsäcker
zum Beispiel steht es gerade so! So sonderbar es ist, es ist geradeso, wie
wenn die Menschen ihre allerersten Schulkenntnisse verlernten, wenn sie sich
anschicken, die wahre Gestalt der biblischen Urkunden zu erforschen.
Vor allen Dingen wird die geisteswissenschaftliche
Weltanschauung dazu führen müssen, die biblischen Urkunden der Welt wieder so
zu geben wie sie sind. Denn die Welt hat heute die Bibel nicht, und sie kann
sich gar keine Vorstellung machen, wie diese Bücher sind. Man könnte geradezu
fragen: Sind das die biblischen Bücher? Nein, sie sind es in den wichtigsten
Teilen geradezu nicht! Ich will Ihnen das auch noch näher zeigen.
Was soll denn überhaupt mit diesem Gleichnis vom ungerechten
Haushalter gesagt werden? Das ist klar darin ausgedrückt. Der Hausverwalter
hat sich überlegt: Wenn ich hier fortgehen muß, dann muß ich mich bei den
Leuten beliebt machen. Er hat eingesehen, daß man nicht "zweien
Herren" dienen kann. So sollt ihr einsehen – sagte der Christus zu
seiner Umgebung –, daß ihr auch nicht zweien Herren dienen könnt, demjenigen,
der jetzt als Gott in die Herzen einziehen soll, und demjenigen, den bisher
die Schriftgelehrten verkündet haben, welche die Prophetenbücher
interpretiert haben; denn ihr könnt nicht dem Gotte dienen, der als
Christus-Prinzip in eure Seelen einziehen soll und die Menschheit in ihrer
Entwickelung um ein Mächtiges vorwärtsbringen soll, und dem Gotte, der als
ein Hindernis sich davorlegen würde in dieser Entwickelung. – Denn alles, was
in einer verflossenen Zeit richtig war, das wird zu einem Hemmnis in der späteren
Entwickelung. Darauf beruht in gewisser Weise die Entwickelung, daß
dasjenige, was für eine Zeit richtig ist, zum Hindernis wird, wenn es
hineingetragen wird in eine spätere Zeit. Diejenigen Mächte, welche die
Hindernisse dirigieren, nannte man damals mit einem technischen Ausdruck den
Mammon. – Ihr könnt nicht dem Gott, der den Fortschritt will, und dem Mammon,
dem Gott der Hindernisse, dienen. Sehet euch den Verwalter an, wie er als ein
Kind der Welt einsah, wie man nicht einmal mit dem gewöhnlichen Mammon zwei
Herren dienen kann! So sollt ihr einsehen, indem ihr euch erhebt, daß ihr
Kinder des Lichtes werdet, daß ihr nicht zwei Herren dienen könnt (Lukas
16,11–13).
Ebenso muß der, der in unserer Zeit lebt, einsehen, daß es
eine Vermittlung nicht gibt zwischen dem Gotte Mammon in unserer Zeit –
zwischen den Schriftgelehrten und Naturgelehrten – und der Richtung, welche
der Menschheit heute die Nahrung geben muß, die sie braucht. Das ist
christlich gesprochen. Das ist für unsere Zeit in entsprechende Worte
gekleidet, was der Christus Jesus im Sinne des Lukas-Evangeliums seiner
Umgebung hatte sagen wollen in dem Gleichnis, daß man nicht zweien Herren
dienen kann, wie er es anschaulich machte an dem Hausverwalter.
Wir müssen die Evangelien lebendig verstehen.
Geisteswissenschaft selber soll etwas Lebendiges werden! Daher soll alles,
was sie anfaßt, unter ihrem Einflüsse Leben gewinnen. Das Evangelium soll uns
etwas sein, was in unsere eigenen geistigen Fähigkeiten einfließt. Wir sollen
nicht nur davon schwatzen, daß man zur Zeit des Christus Jesus die
Schriftgelehrten und Pharisäer abweisen konnte, denn dann gedächten wir
wieder nur einer verflossenen Zeit. Sondern wir sollen wissen, wie in unserer
Zeit dasjenige lebendig wird, und wo in unserer Zeit die Nachfolge dessen
liegt, was der Christus Jesus für seine Zeit als den Gott Mammon bezeichnete.
Das ist das lebendige Verstehen. Das ist aber auch das, was eine tiefe,
bedeutsame Rolle in dem spielt, was uns im Lukas-Evangelium erzählt wird.
Denn es verbindet sich mit dieser Anschauung, die eben jetzt klargemacht
worden ist, mit dem Gleichnis, das nur im Lukas-Evangelium steht, einer der
allerwichtigsten Begriffe im Evangelium überhaupt; und wir können uns diesen
allerwichtigsten Begriff des Evangeliums nur in unser Gemüt schreiben, wenn
wir in der Lage sind, uns noch einmal in gewisser anderer Weise die Beziehung
des Buddha und des von ihm gegebenen Einschlages zu dem Christus Jesus
herstellen zu können.
Wir haben gesagt, daß der Buddha die große Lehre vom Mitleid
und von der Liebe vor die Menschheit hingestellt hat. Hier haben wir einen
der Fälle, wo das, was im Okkultismus gesagt wird, ganz genau genommen werden
muß; denn sonst könnte jemand sagen: Du sprichst einmal davon, daß der
Christus die Liebe auf die Erde gebracht hat, und dann wird ein andermal
gesagt, daß der Buddha die Lehre von der Liebe gebracht hat. Wird denn aber
beide Male dasselbe gesagt? Das eine Mal sage ich, daß Buddha die Lehre von
der Liebe auf die Erde gebracht hat, und das andere Mal dagegen, der Christus
habe die Liebe selber als eine lebendige Kraft auf die Erde gebracht. Das ist
der große Unterschied. Wo die tiefsten Sachen für die Menschheit in Betracht
kommen, da muß man eben genau hinhorchen; denn sonst geschieht es, daß die
Dinge, die an einem Orte mitgeteilt werden, wenn sie sich verbreiten, an
einem anderen Orte in einer ganz anderen Gestalt erscheinen und daß dann
gesagt wird: Ja, der hat, um allen gerecht zu werden, eigentlich zwei
Verkündiger der Liebe aufgestellt. – Auf genaues Hinhorchen kommt es gerade
auf dem Felde des Okkultismus an. Wenn wir die in dieser Weise in Worte
gekleideten bedeutsamen Wahrheiten wirklich verstehen, dann erscheinen sie
uns im richtigen Lichte.
Wir wissen, daß die Umschreibung der großen Lehre vom Mitleid
und von der Liebe, wie sie Buddha gebracht hat, im achtgliedrigen Pfade
liegt, und wir fragen uns: Was stellt eigentlich dieser achtgliedrige Pfad
für ein Ziel dar? Wir können die Frage auch so stellen: Wohin gelangt der
Mensch, der nun wirklich aus den Tiefen seiner Seele heraus den
achtgliedrigen Pfad als sein Lebensideal hinstellt, wenn er sich dieses Ziel
so vor Augen setzt, daß er sagt: Wie werde ich am vollkommensten? Wie reinige
und läutere ich mein Ich in der allervollkommensten Weise? Was muß ich alles
tun, um in möglichst vollkommener Weise mein Ich in die Welt zu stellen? Er
wird sich sagen: Wenn ich alles beobachte, was im achtgliedrigen Pfade gesagt
wird, dann wird mein Ich das denkbar vollkommenste werden, denn alles geht
auf die Läuterung und Veredelung des Ich; alles, was aus diesem wunderbaren
achtgliedrigen Pfade herausstrahlen kann, soll sich sozusagen in uns
hineinarbeiten, alles ist Arbeit unseres Ich an seiner Vervollkommnung. Das
ist das Wesentliche. Wenn also die Menschheit das, was der Buddha als das
"Rad des Gesetzes" rollen ließ, wie der technische Ausdruck heißt,
weiter bei sich entwickeln würde, so würde sie nach und nach dazu kommen,
möglichst vollkommene Iche zu haben, beziehungsweise zu wissen, welches die
vollkommensten Iche sind. Im Gedanken, als Weisheit, würde die Menschheit die
vollkommensten Iche haben. Wir könnten auch sagen: Buddha hat der Menschheit
die Weisheit von der Liebe und dem Mitleid gebracht, und wenn wir unseren
Astralleib so durchsetzen, daß er ganz ein Produkt des achtgliedrigen Pfades
ist, dann wissen wir, was wir wissen sollen über die Gesetze von der Lehre
des achtgliedrigen Pfades.
Aber es ist ein Unterschied zwischen der Weisheit, dem
Gedanken, und der lebendigen Kraft, die wirkt. Und es ist ein Unterschied, zu
wissen, wie das Ich sein muß, und die lebendige Kraft in sich einfließen zu
lassen, die dann wieder von dem Ich ausfließen kann in alle Welt, so wie von
dem Christus ausfließend diese Kraft wirkte auf die Astralleiber, Ätherleiber
und physischen Leiber seiner Umgebung. Zu wissen, was der Inhalt der Lehre
vom Mitleid und von der Liebe ist, das ist der Menschheit möglich geworden
durch den Einschlag, den der große Buddha gebracht hat. Was dagegen der
Christus gebracht hat, das ist zunächst eine lebendige Kraft, ist nicht
Lehre. Er selber hat sich hingegeben, er ist heruntergestiegen, um nicht bloß
in die menschlichen Astralleiber einzufließen, sondern in das Ich, damit
dieses die Kraft hat, das Substantielle der Liebe von sich strahlen zu lassen.
Das Substantielle, den lebendigen Inhalt der Liebe, nicht bloß den
weisheitsvollen Inhalt der Liebe hat der Christus auf die Erde gebracht.
Darum handelt es sich.
Es ist jetzt neunzehnhundert Jahre und etwa fünf
Jahrhunderte her, daß der große Buddha auf der Erde gelebt hat. Und es werden
noch – das ist etwas, was uns die okkulten Tatsachen lehren – etwa
dreitausend Jahre über die Erdenentwickelung dahingehen. Dann werden die
Menschen in größerer Anzahl so weit sein, daß sie aus ihrer eigenen
moralischen Gesinnung, aus ihrer eigenen Seele und dem eigenen Herzen heraus
den achtgliedrigen Pfad, die Weisheit des Buddha entwickeln können. Der
Buddha mußte einmal da sein. Von da ging jene Kraft aus, welche die Menschen
nach und nach als die Weisheit des achtgliedrigen Pfades entwickeln werden.
Dann, nach ungefähr dreitausend Jahren von jetzt ab, werden sie ihn zu ihrem
Eigentum haben. Die Menschen werden selbst diese Lehre entwickeln können, sie
nicht bloß von außen aufnehmen, sondern aus sich entwickeln und sich sagen:
Dieser achtgliedrige Pfad sprießt aus uns hervor als die Weisheit vom Mitleid
und der Liebe.
Wenn nichts weiter eingetreten wäre, als daß der große
Buddha das "Rad des Gesetzes" hätte rollen lassen, dann würde zwar
die Menschheit von jetzt ab nach dreitausend Jahren auch die Fähigkeit
erlangt haben, die Lehre vom Mitleid und von der Liebe zu wissen; aber etwas
anderes ist es, auch die Kraft erlangt zu haben, um wirklich darinnen zu
leben. Und das ist der Unterschied: nicht nur vom Mitleid und der Liebe zu
wissen, sondern unter dem Einflüsse einer Individualität auch diese Kraft zu
entwickeln. Diese Fähigkeit ging von dem Christus aus. Er goß die Liebe
selber in die Menschen hinein, und sie wird immer mehr wachsen. Und wenn die
Menschen am Ende ihrer Entwickelung angekommen sein werden, dann werden sie
in Weisheit wissen, welches der Inhalt der Lehre vom Mitleid und von der
Liebe ist; das werden sie dem Buddha zu verdanken haben. Aber sie werden zu
gleicher Zeit die Fähigkeit haben, die Liebe herausströmen zu lassen aus dem
Ich über die Menschheit; das wird die Menschheit dem Christus zu verdanken
haben.
So mußten diese beiden zusammenwirken, und so mußte es
geschildert werden, um das Lukas-Evangelium verständlich zu machen. Das tritt
uns aber auch sogleich entgegen, wenn wir die Worte, die uns im
Lukas-Evangelium gegeben werden, im richtigen Sinne zu deuten wissen (Lukas
2, 13–14). Da sind die Hirten, die herbeieilen, um die Verkündigung zu
empfangen. Da oben ist die Engelschar, die nichts anderes ist als der geistig
imaginative Ausdruck für den Nirmanakaya des Buddha. Was wird ihnen verkündet
von dem, was da oben ist? Die Offenbarung des weisheitsvollen Gottes aus den
Höhen! Das verkündet ihnen der Nirmanakaya des Buddha, der als Engelschar
über dem nathanischen Jesuskindlein schwebt. Aber noch etwas anderes wird
hinzugefügt: "Und Frieden den Menschen auf der Erde unten, die
durchdrungen sind von einem guten Willen", das heißt denjenigen
Menschen, in denen die wirkliche lebendige Kraft der Liebe aufkeimt. Das ist
es, was sich nach und nach auf der Erde verwirklichen muß durch den
Einschlag, den der Christus gegeben hat. Er brachte die lebendige Kraft hinzu
zu dem, was die "Offenbarung aus den Höhen" war. Das brachte er in
jedes Menschenherz hinein und brachte jeder Menschenseele etwas, wovon diese
Menschenseele überfließen konnte. Er gab ihr nicht bloß etwas, was eine Lehre
war, die man aufnehmen konnte als Gedanke und Idee, sondern eine Kraft, die
hinausfließen kann aus dieser Menschenseele. Und keine andere Kraft als jene,
die als Christus-Kraft in der Menschenseele wirken kann, und welche die
Menschenseele überströmen lassen kann, ist diejenige, welche ständig – zum
Beispiel im Lukas-Evangelium und in den anderen Evangelien – als die Kraft
des Glaubens bezeichnet wird. Das ist Glaube im Sinne der Evangelien.
Derjenige hat den Glauben, der in sich aufnimmt den Christus, so daß der
Christus in ihm lebt, daß sein Ich nicht bloß als ein leeres Gefäß in ihm
lebt, sondern einen überfließenden Inhalt hat. Und dieser überfließende
Inhalt ist kein anderer als der Inhalt der Liebe.
Warum konnte denn der Christus mit seinen Worten jenes große
Beispiel der "Heilung durch das Wort" hinstellen? Er konnte es,
weil er der erste war, der das "Rad der Liebe" – nicht das "Rad
des Gesetzes" – als eine freie Fähigkeit und Kraft der Menschenseele
rollen ließ weil er im höchsten Maße die Liebe in sich hatte, so überfließend
und überschäumend, daß sie überfloß in diejenigen, die in seiner Umgebung
gesund werden sollten; weil sein Wort, das er sprach – sei es "Stehe auf
und wandle" oder "Deine Sünden sind dir vergeben" oder ein
anderes Wort, aus seiner im Innern überfließenden Liebe hervorging. Er sprach
Worte, die aus einem Überlaufen der Liebe über das Maß des Ich hinaus
gesprochen waren. Und die, welche sich ein wenig mit dieser Tatsache erfüllen
konnten, nannte der Christus Gläubige. Nur diesen Gedanken müssen wir jetzt
mit dem Begriffe des Glaubens – einem der wesentlichsten im Neuen Testament –
verbinden. Glauben ist die Fähigkeit des Hinübergehens über sich selbst, des
Hinausfließens über das, was das Ich zu seiner eigenen Vervollkommnung
zunächst tun kann. Daher lehrt der Christus, da er in den Leib des
nathanischen Jesus eingezogen ist und sich dort mit der Kraft des Buddha verbunden
hat, nicht etwa: Wie soll sich das Ich möglichst vervollkommnen? – sondern:
Wie soll das Ich überfließen? Wie kann es über sich hinausgehen? – Er sagt es
oft mit einfachen Worten, wie die Worte des Lukas-Evangeliums überhaupt zu
den einfältigsten Herzen sprechen können. Er sagt: Es ist nicht genug, daß
ihr nur denen etwas gebt, von denen ihr genau wißt, daß sie es euch wieder
zurückgeben, denn das tun die Sünder auch. Wenn sie genau wissen, daß sie
wieder zurückbekommen, was sie gegeben haben, dann haben sie es noch nicht
aus der überschäumenden Liebe getan. Wenn ihr aber gebt und wißt, daß ihr es
nicht wiederbekommt, dann habt ihr es aus der wirklichen Liebe heraus getan;
dann ist das die Liebe, die das Ich nicht umschließt, sondern die dieses Ich aus
sich entlassen muß als eine Kraft, die aus dem Menschen ausfließt (Lukas
6,33–34). Und in den mannigfaltigsten Variationen sagt der Christus, wie das
Ich überschäumen soll, wie aus dem Überfluß des Ich heraus, aus einem Gefühl,
das aus sich herauskann, in der Welt gewirkt werden soll.
Das sind die wärmsten Worte im Lukas-Evangelium, wo von
dieser überschäumenden Liebe geredet wird. Das Lukas-Evangelium enthält diese
Kraft der überströmenden Liebe, wenn wir die Worte so auf uns wirken lassen,
daß wir sie finden, diese überströmende Liebe, daß sie alle unsere Worte so
durchdringt, daß sie die entsprechende Kraft haben, ihre Wirkung in der
Außenwelt zu tun. Ein anderer Evangelist, der aus seinen Vorbedingungen
heraus jene überströmende Liebe weniger betont hat, hat wenigstens in kurzen
Worten dieses Geheimnis des Christentums zusammengefaßt, indem er sagt: Aus
der Überfülle des Ich heraus fließt die Liebe. Und sie soll natürlich auch
einfließen in alles, was wir sprechen und handeln. Im Matthäus-Evangelium haben
Sie noch in der lateinischen Übersetzung die echten, ursprünglichen Worte wie
eine kurze Zusammenfassung all der schönen Liebespreisungen, die im
Lukas-Evangelium enthalten sind. Da heißt es lateinisch: "Ex abundantia
cordis os loquitur": Aus dem Überfließen des Herzens heraus spricht der
Mund (Matthäus 12, 34). Eines der höchsten christlichen Ideale! Der Mund
spricht aus dem überfließenden Herzen heraus, aus dem, was das Herz nicht
umschließt. Das Herz wird vom Blute bewegt, und das Blut ist der Ausdruck des
Ich. Das heißt also: Aus einem überquellenden Ich, das Kraft aus sich
ausstrahlt – denn diese Kraft ist die Kraft des Glaubens –, sprich aus dieser
Kraft heraus! Dann sind deine Worte solche, die wirklich die Christus-Kraft
enthalten. – "Aus dem Überfließen des Herzens heraus spricht der
Mund." Das ist ein Kardinalsatz von dem Wesen des Christentums.
Und nun lesen Sie in der heutigen Bibel. Was steht an dieser
Stelle? "Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über." Das sind
Worte, die hingereicht haben, um einen Kardinalsatz des Christentums durch
Jahrhunderte hindurch zu verdecken. Die Menschheit ist nicht darauf gekommen,
was es für ein Unding ist, zu sagen, daß das Herz, wenn es voll ist, sich
ausschütte. Gewöhnlich schütten sich die Dinge in der Welt erst aus, wenn sie
mehr als voll sind, wenn sie übergehen. So hat sich die Menschheit – das soll
keine Kritik sein – notwendigerweise in eine Vorstellung eingesponnen, welche
einen allerwichtigsten, einen Kardinalsatz des Christentums geradezu verdeckt
hat, und wurde nicht einmal darauf aufmerksam, daß an dieser Stelle eine
völlige Unmöglichkeit steht. Wenn gesagt wird, die deutsche Sprache vertrage
nicht, daß wörtlich übersetzt wird "Ex abundantia cordis os
loquitur" mit "Aus dem Überfließen des Herzens spricht der
Mund", und wenn das damit belegt wird, daß man auch nicht sagen kann,
der Überfluß des Kachelofens mache das Zimmer warm, so ist das eben ein
Unding. Denn wenn Sie den Kachelofen nur so weit heizen, daß die Wärme bis an
seine Wände dringt, so wird das Zimmer nicht warm; es wird erst warm, wenn
gerade ein Überfluß an Wärme eintritt, so daß die Wärme aus dem Ofen
herausdringt. So stoßen wir hier auf eine wichtige Sache. Ein Kardinalsatz
des Christentums, auf dem ein Teil des Lukas-Evangeliums aufgebaut ist, wird
zugedeckt, so daß die Menschheit gerade an wichtigster Stelle nicht hat, was
im Evangelium steht.
Diese Kraft, die aus dem menschlichen Herzen heraus
überfließen kann, ist die Christus-Kraft. "Herz" steht hier für
"Ich". Was das Ich über sich hinaus schaffen kann, das fließt
hinaus durch das Wort. Das Ich wird erst am Ende der Erdenentwickelung so
sein, daß es den ganzen Christus in sich hat. Vorläufig ist der Christus
etwas, was aus dem Herzen überschäumt. Wenn man das Herz nur voll haben will,
so hat man überhaupt den Christus nicht. Daher deckt man gerade das
Christentum zu, wenn man diesen Satz nicht in seinem vollen Ernste und in
seiner vollen Würde nimmt. Die wichtigsten Dinge, das Wesen des Christentums
wird richtig zutage treten durch das, was die Geisteswissenschaft als
Erklärung der hohen Urkunden des Christentums zu sagen hat. Durch das Lesen
in der Akasha-Chronik der geistigen Welt deckt sie den ursprünglichen Sinn
auf und ist dadurch in der Lage, die Urkunden in ihrer Wahrheit zu lesen.
Und jetzt werden wir verstehen, wie die Menschheit in die
Zukunft hinein vorwärtsschreitet. Derjenige, der sich fünf bis sechs
Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung vom Bodhisattva zum Buddha entwickelt
hat, ist damit so in die geistige Welt aufgestiegen, daß er nun als
Nirmanakaya wirkt. Er ist damit auf eine höhere Stufe gehoben worden und
braucht nicht mehr in einen physischen Leib hinunterzusteigen. Die
Wirkungsweisen, die er als Bodhisattva hatte, sind in einer anderen Art
wieder vorhanden. Als er damals vom Bodhisattva zum Buddha wurde, übergab er
das Amt des Bodhisattva an einen anderen. Da wurde ein anderer sein
Nachfolger, ein anderer zum Bodhisattva. Das drückt die buddhistische Legende
durch etwas aus, was für das tiefere Christentum eine tiefe Wahrheit ist. Es
wird erzählt, bevor die Individualität des Bodhisattva zu ihrem Buddha-Werden
heruntergestiegen ist, habe sie die himmlische Tiara abgenommen und dem ihr
folgenden Bodhisattva aufgesetzt. Der folgende Bodhisattva wirkt weiter mit seiner
etwas anders gearteten Mission. Auch ihm ist es vorgesetzt, ein Buddha zu
werden. Gerade zu jener Zeit, wenn eine Anzahl Menschen aus sich selbst
heraus die Lehre vom achtgliedrigen Pfade entwickelt haben werden – in etwa
dreitausend Jahren –, wird derjenige zum Buddha werden, der zum Bodhisattva
geworden ist, als sein Vorgänger Buddha wurde. Fünf bis sechs Jahrhunderte
vor unserer Zeitrechnung wurde er mit seiner Mission betraut; er wird ein
Buddha werden nach dreitausend Jahren, von unserer Zeit angefangen gerechnet.
Das ist derjenige, den die orientalische Lehre als den Maitreya Buddha kennt.
Damit der jetzige Bodhisattva zum Maitreya Buddha werden kann, muß eine
größere Anzahl von Menschen aus dem eigenen Herzen heraus die Lehre vom
achtgliedrigen Pfade entwickelt haben; die Menschen werden dann in einer
größeren Anzahl so weise sein, daß sie das können. Dann wird derjenige, der
jetzt Bodhisattva ist, eine neue Kraft in die Welt bringen.
Wenn nun bis dahin nichts weiter geschehen würde, so würde
er zwar Menschen finden, die durch innere Versenkung die Lehre vom
achtgliedrigen Pfade ausdenken können, aber nicht solche Menschen, die aus
dem innersten Wesen ihrer Seele heraus die überschäumende Kraft der Liebe,
die lebendige Liebe haben. Diese lebendige Kraft der Liebe muß in der
Zwischenzeit einströmen, damit der Maitreya Buddha nicht nur Menschen findet,
die einsehen, was Liebe ist, sondern Menschen, die in sich die Kraft der
Liebe haben. Dazu mußte der Christus auf die Erde herabsteigen, eine Wesenheit,
die nur drei Jahre auf der Erde war, vorher aber nicht auf der Erde
verkörpert war, wie Sie aus allen Ausführungen entnehmen konnten, welche
Ihnen bisher gegeben worden sind. Die dreijährige Anwesenheit des Christus
auf der Erde – von der Johannes-Taufe bis zum Mysterium von Golgatha -war die
Ursache dazu, daß sich auf der Erde hinfort die Liebe immer mehr und mehr in
das menschliche Herz, in die menschliche Seele ergießen wird, in das
menschliche Ich mit anderen Worten; so daß die Menschen immer mehr und mehr
von dem Christus durchzogen sein werden, damit am Ende der Erdenentwickelung
das Ich des Menschen ganz ein Christus-erfülltes sein wird. So wie die Lehre
vom Mitleid und von der Liebe zuerst durch den Bodhisattva angeregt werden
mußte, so mußte die Substanz der Liebe durch denjenigen auf die Erde gebracht
werden, der sie aus Himmelshöhen herunterbrachte und sie nach und nach zum
Eigentum des eigenen menschlichen Ich werden läßt. Wir dürfen nicht sagen,
daß die Liebe vorher nicht dagewesen wäre. Es war nicht jene Liebe vorher da,
die unmittelbar Eigentum des menschlichen Ich sein konnte; es war eine Liebe,
die inspiriert wurde, die der Christus herunterströmen ließ aus kosmischen
Höhen, die ebenso unbewußt einströmte, wie der Bodhisattva vorher unbewußt
einströmen ließ die Lehre von dem achtgliedrigen Pfad. Wie sich der Buddha
zum achtgliedrigen Pfade verhält, so verhält sich das Christus-Wesen zu dem,
was es vorher war, bevor es heruntersteigen konnte, um Menschengestalt
anzunehmen. Es war für den Christus ein Fortschritt, Menschengestalt
anzunehmen. Das ist das Wesentliche dabei.
Der Nachfolger des Buddha, der heute ein Bodhisattva ist,
ist denjenigen, die in der Geisteswissenschaft bewandert sind, wohl bekannt,
und es wird schon einmal die Zeit kommen, wo über diese Tatsachen ausführlich
gesprochen werden wird, wo auch der Name dieses Bodhisattva zu nennen ist,
der dann zum Maitreya Buddha werden wird. Jetzt, wo schon so viele der
Außenwelt unbekannte Tatsachen gesagt worden sind, müssen wir uns darauf
beschränken, nur darauf hinzuweisen. Wenn dieser Bodhisattva auf der Erde
erscheinen und zum Maitreya Buddha werden wird, dann wird er auf der Erde
vorfinden die Saat des Christus. Das werden jene Menschen sein, welche sagen
werden: Nicht nur mein Kopf ist angefüllt mit der Weisheit des achtgliedrigen
Pfades, ich habe nicht nur die Lehre, die Weisheit von der Liebe, sondern
mein Herz ist voll von der lebendigen Substanz der Liebe, von dem, was
überfließt und hinausstrahlt in die Welt. Mit solchen Menschen wird dann der
Maitreya Buddha seine weitere Mission in der Fortentwickelung der Welt
ausführen können.
So schließen sich die Dinge zusammen, und so erst verstehen
wir das Lukas-Evangelium in seiner Tiefe. Es spricht uns nicht von einer
Lehre; es spricht uns von jener Wesenheit, die in die Erdenwesen, in die
menschliche Organisation substantiell einfloß. Das ist eine Tatsache, die man
im Okkultismus so ausdrückt, daß man sagt: Die Bodhisattvas, welche zu
Buddhas werden, können die Erdenmenschen in bezug auf ihren Geist durch
Weisheit erlösen, sie können aber niemals den ganzen Menschen erlösen. Denn
der ganze Mensch kann nur erlöst werden, wenn nicht nur Weisheit, sondern
wenn warme Liebeskraft seine ganze Organisation durchströmt. Die Seelen zu
erlösen durch die Flut von Liebe, welche der Christus auf die Erde gebracht
hat, das war die Aufgabe des Christus. Die Weisheit von der Liebe zu bringen,
war die Aufgabe der Bodhisattvas und des Buddha, die Kraft der Liebe der
Menschheit zu bringen, war die Aufgabe des Christus. Das müssen wir
unterscheiden.
Zehnter Vortrag
26. September 1909
Die Lehre von
Reinkarnation und Karma und das Christentum. Zwei Arten der alten Einweihung,
Jonas und Salomon. Das Christus-Prinzip und die neue Art der Einweihung. Das
Ereignis von Golgatha als die auf den äußeren Plan der Weltgeschichte
hinausgetragene Initiation
Was uns heute beschäftigen soll, ist die Hinführung der
verschiedenen Erkenntnisse, die wir in den letzten Tagen gewonnen haben, zu
dem Gipfelpunkte des Ganzen, wie es uns gerade an der Hand des
Lukas-Evangeliums aus der Geistesforschung heraus erscheinen kann, zu jenem
Gipfelpunkte, den wir das Mysterium von Golgatha nennen.
Wir haben gestern versucht, in eindringlicher Weise zu
schildern, was eigentlich an jenem Zeitpunkte der Menschheitsentwickelung
geschehen ist, als der Christus durch drei Jahre hindurch auf der Erde
wandelte, und wir haben in den vorhergehenden Vorträgen zu charakterisieren
versucht, wie dieses Ereignis überhaupt durch den Zusammenfluß jener Geistesströmungen,
die wir betrachtet haben, Zustandekommen konnte. Gerade der Schreiber des
Lukas-Evangeliums charakterisiert uns die ganze Mission des Christus Jesus
auf der Erde in einer wunderbaren Weise, wenn wir nur das, was er schildert,
im Lichte jener Erkenntnisse zu sehen vermögen, die aus der Akasha-Chronik
gewonnen sind.
Es könnte jemand nun die Frage auf werfen: Wie kommt es
denn, da sich doch die buddhistische Geistesströmung ganz organisch in die
christliche Lehre hineinverwebt, daß innerhalb der christlichen Lehre keine
Andeutungen geschehen von dem großen Gesetze des Karma, von jener
Ausgleichung, die im Verlaufe der einzelnen Inkarnationen des Menschen
geschieht? Es wäre aber nur ein Mißverständnis, wenn man glauben wollte, daß
das, was wir durch das Gesetz des Karma erkennen sollen, nicht auch in der
Verkündigung des Lukas-Evangeliums liege. Es liegt darin. Nur müssen wir uns
klar sein, wenn wir so etwas richtig verstehen wollen, daß die Bedürfnisse
der Seelen der Menschen zu den verschiedenen Zeiten eben verschiedene sind
und daß die großen Missionare der Weltentwickelung nicht immer die Aufgabe
haben, die absolute Wahrheit in abstrakter Gestalt den Menschen zu geben.
Denn die würden die Menschen auf den verschiedenen Reifestufen gar nicht
verstehen, sondern die großen Missionare müssen so zu den Menschen sprechen,
daß diese das Richtige in einer entsprechenden Epoche erhalten. In dem, was
die Menschheit durch den Einschlag des großen Buddha erhalten hat, ist alles
das als Weisheit enthalten, was in Verbindung mit der Lehre vom Mitleid und
von der Liebe und der Umschreibung dieser Lehre in dem achtgliedrigen Pfade
zu einem weisheitsvollen Verständnis der Lehre vom Karma führen kann. Und es
heißt: nicht alles in der Menschenseele suchen, was zu der Lehre vom Karma
und der damit verbundenen Lehre von der Reinkarnation führt, wenn man, von
diesem ausgehend, nicht zu dieser Lehre kommt.
Gestern ist geschildert worden, wie dreitausend Jahre nach
unserer eigenen Zeit ein großer Teil der Menschheit so weit sein wird, daß er
die Lehre vom achtgliedrigen Pfade und damit – wie wir heute hinzu fügen
können – auch die Lehre von Karma und Reinkarnation aus sich selbst heraus
gewinnen kann. Dies muß aber nach und nach geschehen, muß ganz allmählich
geschehen. Denn ebensowenig, wie bei der Pflanze, unmittelbar nachdem wir den
Keim in die Erde gesenkt haben, sich gleich die Blüte entwickeln kann,
sondern wie sich nach notwendigen Gesetzen erst Blatt für Blatt entwickeln
muß, ebenso ist notwendig, daß die geistige Entwickelung, die sich durch die
Menschheit hindurch zieht, von Stufe zu Stufe geht und daß zur richtigen Zeit
das Richtige erscheint. Wer, durchströmt von den Fähigkeiten, welche ihm die
Geisteswissenschaft geben kann, sich heute in die eigene Seele versenkt, findet
die Lehre von Karma und Reinkarnation als eine notwendige Lehre. Aber
beachten Sie, daß die Entwickelung nicht umsonst ist, daß es wirklich so ist,
daß erst in unserer Zeit die Seelen wieder reif geworden sind, um in sich zu
finden, was man die Lehre von Karma und Reinkarnation nennt. Es wäre nicht
gut gewesen, wenn etwa einige Jahrhunderte vorher diese Lehre exoterisch
verkündet worden wäre, und es wäre für die Menschheitsentwickelung nicht gut
gewesen, wenn das, was heute Inhalt der Geisteswissenschaft ist, wonach die
Menschenseelen lechzen, und womit die Erforschung der Untergründe der
Evangelien verbunden ist, schon vor ein paar Jahrhunderten der Menschheit in
offener Gestalt verkündet worden wäre. Denn dazu war not wendig, daß diese
Seelen der Menschheit danach lechzten und Fähigkeiten entwickelten, um die
Lehre von Karma und Reinkarnation auf zunehmen. Dazu war notwendig, daß diese
Seelen durch frühere Inkarnationen, auch der nachchristlichen Zeit, schon
durchgegangen sind und das erlebt haben, was man erlebt, bevor man eben reif
ist, um die Lehre von Karma und Reinkarnation zu empfangen. Hätte man in den
ersten Jahrhunderten des Christentums die Lehre von Karma und Reinkarnation
so offen verkündet, wie dies heute geschieht, so würde das geheißen haben,
von der Menschheitsentwickelung dasselbe zu verlangen, was man verlangen
würde, wenn aus der Pflanze statt des grünen Blattes gleich unmittelbar die
Blüte herauswachsen sollte.
So ist die Menschheit erst heute dazu herangereift, die
Lehre von Karma und Reinkarnation ihrem geistigen Inhalt nach in sich
aufzunehmen. Es ist daher durchaus nicht zu verwundern, daß in dem, was der
Menschheit seit Jahrhunderten aus den Evangelien übergeben worden ist,
manches steht, was eigentlich ein ganz falsches Bild vom Christentum gibt. Es
ist das Evangelium den Menschen sozusagen in einer gewissen Beziehung
verfrüht übergeben worden, und erst heute reift die Menschheit heran, in der
Seele alle Fähigkeiten zu entwickeln, welche zu einem Verständnisse dessen
führen können, was in den Evangelien eigentlich enthalten ist. Es war
durchaus notwendig, daß das, was als Verkündigung des Christus Jesus
erfolgte, auf den damaligen Zustand, auf die damalige Verfassung der
Menschenseelen Rücksicht nahm; so daß man damals nicht in abstrakten Lehren
Reinkarnation und Karma lehrte, sondern daß man solche Gefühle in die
Menschenseele einströmen ließ, durch welche die Seelen erst nach und nach
reif wurden, die Lehre von Reinkarnation und Karma aufzunehmen. Das heißt,
man mußte in der damaligen Zeit das sagen, was nach und nach zum Verständnis
der Lehre von Karma und Reinkarnation führen konnte, und nicht die Lehre
selber.
Sagten das der Christus Jesus und die, welche um ihn waren?
Um das zu verstehen, müssen wir das Lukas-Evangelium aufschlagen und es in
richtiger Weise vor unsere Seele treten lassen. Und wenn wir es mit dem
Verständnis für diese Dinge richtig vor unsere Seelen treten lassen, so
werden wir schon lesen, wie damals gerade das Karmagesetz den Menschen
verkündet werden konnte.
"Selig seid ihr, die ihr arm seid, denn euch wird das
Reich der Himmel werden.
Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet
gesättigt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weinet, denn ihr werdet
lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Leute hassen, wenn sie euch
ausschließen und beschimpfen und euren Namen ausstoßen als einen bösen wegen
des Sohnes des Menschen.
Freuet euch an diesem Tage und jubelt, denn siehe euer Lohn
ist groß in den geistigen Welten" (Lukas 6, 20–23).
Hier haben wir die Lehre von der Ausgleichung, welche, ohne
auf die Lehre von Karma und Reinkarnation in abstrakter Weise einzugehen,
bemüht ist, die gefühlsmäßige Gewißheit in die Seelen fließen zu lassen, daß
der, welcher auf irgendeinem Gebiete noch eine Zeit hungert, den Ausgleich
erfahren wird. Diese Gefühle mußten in die Menschenseelen einfließen. Und die
Seelen, die damals lebten, und in die sich diese Lehre damals in dieser Form
hineingegossen hat, sie waren erst, als sie wieder verkörpert waren, reif, um
als Weisheit die Lehre von Karma und Reinkarnation aufzunehmen.
So mußte zu jener Zeit in die Seelen hinüberfließen, was in
den Seelen heranreifen sollte. Denn es war eine vollständig neue Zeit
gekommen, eine Zeit, in welcher sich die Menschen in völliger Reife
anschickten, ihr Ich, ihr Selbstbewußtsein, zu entwickeln. Während früher die
Menschen die Offenbarungen empfingen und deren Wirkungen im Astralleibe,
Ätherleibe und physischen Leibe hatten, sollte jetzt das Ich vollbewußt
werden. Aber es sollte sich erst nach und nach mit den Kräften anfüllen, die
es erhalten sollte. Nur das eine Ich, das damals auf der Erde wandelte und in
seiner Leiblichkeit dazu vorbereitet war, das als nathanischer Jesus die
Individualität des Zarathustra in sich verkörpert hatte, nur dieses Ich konnte
das allumfassende Christus-Prinzip in sich verwirklichen. Die anderen
Menschen müssen nun nach und nach in der Nachfolge des Christus das
entwickeln, was damals in der einen Persönlichkeit drei Jahre hindurch auf
der Erde war. Nur die Anregung sozusagen, den Keim, konnte damals der
Christus Jesus in die Menschheit hineinverpflanzen, und dieser Keim muß nun
nach und nach wachsen und sich entfalten. Auch dafür wurde vorgesorgt, daß
immer in entsprechend richtigen Zeiten diejenigen Menschen innerhalb der
Erdenentwickelung erscheinen können, die nun das bringen können, wofür die
Menschheit in einer späteren Zeit reif wird. Der, welcher damals auf der Erde
als der Christus erschienen ist, mußte dafür sorgen, daß die Menschheit
unmittelbar nach seinem Erscheinen die Verkündigung hatte, so wie sie
dieselbe verstehen konnte; und er mußte auch Vorsorge treffen, daß später
Individualitäten erschienen, die in dem Maße für die Seelen in spiritueller
Beziehung sorgten, als diese später reifer geworden sind.
Die Art und Weise nun, wie der Christus für die Zeiten
vorgesorgt hat, die auf das Ereignis von Golgatha folgten, schildert uns der
Schreiber des Johannes-Evangeliums. Er zeigt uns, wie der Christus selber in
Lazarus jene Individualität auferweckte, die dann als Johannes weiterwirkte,
und von der die Lehre in der Form ausging, wie sie in den Vorträgen über das
Johannes-Evangelium beschrieben worden ist. Aber der Christus mußte auch
dafür Vorsorgen, daß in späteren Zeiten jene Individualität kommen konnte,
welche ganz sachgemäß im Sinne der weiteren Entwickelung das in die
Menschheit hineinbringen konnte, wofür die Menschen später reif sein konnten.
Dazu mußte der Christus aber eine andere Individualität auferwecken Wie das
geschah, schildert uns treulich der Schreiber des Lukas-Evangeliums. Während
er sagt, daß er schildern will, was damals die imaginativen und inspirierten
Hellseher über das Ereignis von Palästina sagen konnten, weist er zugleich
darauf hin, was einmal gelehrt werden wird von einem anderen; aber erst in
der Zukunft wird es gelehrt werden. Und um uns diesen geheimnisvollen Vorgang
zu schildern, hat der Schreiber des Lukas-Evangeliums in sein Dokument auch
eine Auferweckung hineinverwoben (Lukas 7,11–17). Was wir über die
"Auferweckung des Jünglings zu Nain" lesen, enthält das Geheimnis
von dem fortwirkenden Christentum. Während bei der Heilung der Tochter des
Jairus, die ich Ihnen vorgestern wenigstens andeutungsweise erklären konnte,
die damit verknüpften Geheimnisse so tiefe sind, daß der Christus Jesus nur
einige der Menschen mitnimmt, die den Heilungsvorgang ansehen konnten, und
ihnen dann den Auftrag gibt, daß es nicht erzählt werden solle, sehen wir
eine andere Auferweckung sich so abspielen, daß sie dann gleich erzählt wird.
Das eine war ein Heilungsvorgang, der voraussetzte, daß der, der ihn vollzog,
tief hineinschaute in die Vorgänge des physischen Leibes. Das andere war eine
Auferweckung, eine Initiation. Diejenige Individualität, die in dem Leibe des
Jünglings zu Nain enthalten ist, sollte eine Initiation ganz besonderer Art
erfahren.
Es gibt verschiedene Arten von Initiation oder Einweihung.
Die eine Art besteht darin, daß der Betreffende, der eingeweiht worden ist,
unmittelbar nach dem Einweihungsvorgange in sich aufleuchten sieht die
Erkenntnisse der höheren Welten, daß er hineinschauen kann in die Vorgänge
und Gesetze der geistigen Welten. Eine andere Art der Initiation kann aber so
stattfinden, daß zunächst in die betreffende Seele nur der Keim
hineinversenkt wird, so daß sie dann noch eine Inkarnation abzuwarten hat;
dann tritt dieser Keim heraus, und es wird dann in der späteren Inkarnation
der Betreffende ein Initiierter im ausdrücklichen Sinne.
Eine solche Initiation wurde mit dem Jüngling zu Nain
vollzogen. Damals wurde seine Seele bei dem Ereignis von Palästina
umgewandelt; da hatte sie noch nicht das Bewußtsein, hinaufgestiegen zu sein
in die höheren Welten. Erst in der nächsten Inkarnation keimten die Kräfte
heraus, die damals in diese Seele gelegt waren. – Es können hier in einem exoterischen
Vortrage nicht die Namen genannt werden, welche damals in Betracht kamen, es
kann nur darauf hingewiesen werden, daß später in einem gewaltigen
Religionslehrer diejenige Individualität erwachte, welche der Christus Jesus
in dem Jüngling zu Nain auferweckt hatte, und daß auf diese Weise in späterer
Zeit ein neuer Lehrer des Christentums erstehen konnte mit den Kräften, die
damals in seine Seele versenkt worden waren.
So hat der Christus dafür gesorgt, daß auch später eine
Individualität erscheinen konnte, die das Christentum weiterbrachte. Und
diese Individualität, die in dem Jüngling zu Nain auf erweckt wurde, ist dazu
berufen, später immer mehr und mehr das Christentum mit den Lehren von
Reinkarnation und Karma zu durchdringen, jene Lehren mit dem Christentum zu
verbinden, welche damals, als der Christus selber auf der Erde wandelte, noch
nicht ausdrücklich als Weisheitslehren verkündet werden konnten, weil sie
damals erst gefühlsmäßig in die Menschenseelen hineinversenkt werden mußten.
Der Christus Jesus weist in der Tat, auch im Sinne des
Lukas-Evangeliums, genügend darauf hin, wie etwas ganz Neues, das
Bewußtwerden des Ich, in die Menschheitsentwickelung eingetreten ist; er
weist darauf hin, und man muß es nur lesen können, daß die Menschen früher
die geistige Welt nicht in ihr selbstbewußtes Ich einströmend gesehen haben,
sondern daß sie dieses Geistige in sich einströmend hatten durch ihren
physischen Leib, Ätherleib und Astralleib und daß immer ein Grad von
Unbewußtheit dabei war, wenn früher göttlich-geistige Kräfte in den Menschen
einströmten. Das sollte jetzt anders werden. Früher mußten die Menschen in
der Strömung, in die der Christus Jesus unmittelbar hineinversetzt war, das
Gesetz vom Sinai empfangen, das nur zum menschlichen Astralleib sprechen
konnte. Es war dem Menschen so gegeben, daß es zwar in ihm wirkte, aber nicht
unmittelbar aus den Kräften seines Ich heraus wirkte. Diese Kräfte waren erst
in den Zeiten des Christus Jesus möglich, weil erst da die Menschen überhaupt
zu einem Bewußtsein ihres Ich kamen. Das deutet der Christus Jesus auch im
Lukas-Evangelium an da, wo er davon spricht, daß die Menschen allerdings zur
Aufnahme eines ganz neuen Prinzips in ihre Seele erst völlig reif werden
müssen; das deutet er an, wo er von seinem Vorläufer Johannes dem Täufer
spricht (Lukas 7,18–35).
Wie sah der Christus selbst diese Individualität des
Johannes an? Er sagte: Johannes war dazu berufen, vor dem Erscheinen des
Christus selbst den Menschen in der reinsten, edelsten Form das zu charakterisieren,
was alte Prophetenlehre war, was rein und edel von alten Zeiten
heraufströmte. Er sah den Johannes sozusagen als denjenigen an, der als der
letzte in reinster, edelster Form brachte, was den alten Zeiten angehörte.
Das "Gesetz und die Propheten" gehen bis zu Johannes. Er sollte
noch einmal vor die Menschen hinstellen, was alte Lehre und alter
Seeleninhalt den Menschen bringen konnte. Denn wie mußte dieser alte
Seeleninhalt in den Zeiten vor dem Eintritt des Christus-Prinzips wirken?
Hier haben wir etwas, was auch einmal Lehre der modernen
Natur Wissenschaft werden wird, wenn diese sich ein wenig inspirieren lassen
wird von dem, was Geisteswissenschaft oder Theosophie ist, wenn es ihr auch
heute noch ganz sonderbar vorkommen würde. Ich muß hier auf etwas eingehen,
was ich allerdings nur streifen kann, was Ihnen aber zeigen wird, in welche
Tiefen Geisteswissenschaft gerade in bezug auf die Naturwissenschaft
hineinzuleuchten berufen ist. Wenn Sie sich heute auf den Gebieten der
Naturwissenschaft umsehen und sehen, wie diese durch die eingeschränkten
Fähigkeiten des menschlichen Gedankens in die Geheimnisse des Menschendaseins
eindringen will, so können Sie dargestellt finden, daß das Zusammenwirken des
männlichen und weiblichen Fruchtkeims den ganzen Menschen zustande bringe.
Das ist gerade ein Grundbestreben der modernen Naturwissenschaft, daß sie
darstellen will, wie aus dem Zusammenwirken des männlichen und des weiblichen
Keims der ganze Mensch wird. Sorgfältig sucht die Mikroskopie in den
Substanzen festzustellen, was von den Eigenschaften aus dem männlichen und
was aus dem weiblichen Keim herrühren kann, und sie ist befriedigt, wenn sie
beweisen zu können glaubt, wie der Mensch wird aus einer Zusammenwirkung von
männlichem und weiblichem Keim. Aber die Naturwissenschaft wird durch sich
selber gedrängt werden, anzuerkennen, daß nur ein Teil der menschlichen
Wesenheit durch das Zusammenwirken von männlichem und weiblichem Keim
bestimmt wird und daß es für den heutigen Menschen in dem gegenwärtigen Entwickelungszyklus
in der Tat so ist, daß man, selbst wenn man noch so genau weiß, was von dem
einen und was von dem anderen Keim kommt, in der Regel nicht den ganzen
Menschen erklärt hat.
Es gibt in jedem Menschen etwas, was nicht durch den Keim
angeregt wird, sondern was sozusagen jungfräulicher Geburt ist, was sich von
ganz anderen Gebieten her in die Keimung ergießt. Es verbindet sich mit dem
Keime des Menschen etwas, was nicht von Vater und Mutter abstammt und was
doch zu ihm gehört, was doch für ihn bestimmt ist, was sich hineinergießt in
sein Ich und was veredelt werden kann, wenn es das Christus-Prinzip aufnimmt.
Dasjenige ist im Menschen jungfräulich geboren, was sich im Laufe der
Menschheitsentwickelung mit dem Christus verbindet. Und das hängt zusammen –
das wird einmal die Naturwissenschaft mit ihren eigenen Mitteln erkennen –
mit jenem bedeutsamen Übergänge, der sich in der Zeit des Christus Jesus
abgespielt hat. Vorher konnte nichts in des Menschen Innern sein, was nicht
auf dem Wege des Keimes in die Menschen gekommen ist. Es geschieht wirklich
etwas zur Veränderung der Ich-Entwickelung im Laufe der Zeit. Die Menschheit
ist seit jener Zeit anders geworden; nur muß sie das, was ihr seit jener Zeit
zu den Bestandteilen des bloßen Keimes hinzugefügt wird, nach und nach
entwickeln und veredeln durch die Aufnahme des Christus-Prinzips.
Wir nähern uns damit einer sehr subtilen Wahrheit. Und für
den, der die moderne Naturwissenschaft kennt, ist es merkwürdig und
interessant, wie es heute schon Gebiete gibt, wo die Naturforscher sozusagen
mit der Nase darauf hingestoßen werden, daß etwas im Menschen nicht aus dem
Keime stammt. Es sind die Vorbedingungen dafür schon da, nur ist der
Intellekt der Forscher nicht weit genug, um das, was er selbst in seinen
Experimenten, in seinen Beobachtungen gegeben hat, richtig zu erkennen. Denn
in dem, was objektiv in den Experimenten vorgeht, wirkt mehr, als die heutige
Naturwissenschaft erkennt. Die Naturwissenschaft käme wenig weit, wenn sie
nur der Geschicklichkeit der Forscher überlassen wäre. Während dieser oder
jener im Laboratorium steht, in der Klinik oder im Kabinette arbeitet, stehen
hinter ihm die die Welt lenkenden und leitenden Mächte und lassen an die
Oberfläche kommen, was der Forscher nicht versteht, und wozu er nur Werkzeug
ist. Es ist daher durchaus auch richtig, daß sogar die objektive Forschung
von den "Meistern", das heißt von den höheren Individualitäten
geleitet wird. Nur werden die Dinge, auf die jetzt hingewiesen ist,
gewöhnlich nicht beobachtet. Aber sie werden beobachtet werden, wenn die
bewußten Fähigkeiten der Forscher mit dem durchdrungen sein werden, was die
spirituelle Lehre der Anthroposophie ist.
Dadurch, daß das stattgefunden hat, was ich jetzt
geschildert habe, ist mit den Fähigkeiten des Menschen seit dem Erscheinen
des Christus auf der Erde eine große Veränderung vorgegangen. Vorher hat der
Mensch nur jene Fähigkeiten benutzen können, die ihm aus dem väterlichen und
mütterlichen Keime zugeflossen sind; denn nur diese sind so, daß sie sich in dem
Menschen ausgestalten. Wenn wir zwischen Geburt und Tod stehen, entwickeln
wir das an Fähigkeiten, was wir aus dem physischen Leibe, Ätherleibe und
Astralleibe sind. Vor der Zeit des Christus Jesus waren die Werkzeuge, die
der Mensch für sich verwendete, allein zu präparieren aus dem bloßen Keim;
nachher kam das hinzu, was jungfräulicher Geburt ist, was gar nicht durch den
Keim angeregt ist. Das kann natürlich sehr verdorben werden, wenn der Mensch
der bloßen materiellen Anschauung hingegeben ist. Wenn er sich aber der Wärme
hingibt, die von dem Christus-Prinzip ausgeht, dann kann es veredelt werden,
und er bringt es dann in die folgenden Inkarnationen in einer immer höheren
und höheren Art hinein.
Was aber jetzt gesagt worden ist, das setzt voraus, daß wir
verstehen, daß in allen jenen Verkündigungen, welche der
Christus-Verkündigung vorausgingen, etwas steckte, was an die Fähigkeiten
gebunden war, die aus der Abstammung herrührten, welche der Mensch mit dem
Keim empfing; und es setzt weiter voraus, daß wir uns bewußt werden müssen,
daß der Christus Jesus zu den Fähigkeiten sprechen mußte, die nichts mit dem
Keime aus der Erde zu tun haben, sondern die sich verbinden mit dem Keim aus
den göttlichen Welten heraus. Alle die, welche vor dem Christus Jesus auftraten,
konnten sich, um zu den Menschen zu sprechen, nur jener Fähigkeiten bedienen,
die ihnen in ihrer irdischen Wesenheit durch die Keimanlagen übertragen
worden sind. Alle die Propheten und Verkünder, so hoch sie waren, selbst wenn
sie als Bodhisattvas herunterstiegen, sie mußten sich, um zu verkündigen, der
Fähigkeiten bedienen, die durch den Keim gegangen sind. Der Christus Jesus
aber sprach zu demjenigen im Menschen, was nicht durch den Keim geht, sondern
was aus dem Reiche des Göttlichen ist. Darauf weist er im Sinne des
Lukas-Evangeliums hin, wenn er zu seinen Jüngern über das Wesen Johannes des
Täufers spricht:
"Ich sage euch, einen größeren Propheten als Johannes
gibt es nicht unter denen, die vom Weibe geboren sind"
das heißt, die in ihrer Wesenheit, wie sie vor uns stehen,
erklärt werden dadurch, daß diese Wesenheit durch die physische Geburt aus
dem männlichen und weiblichen Keim entstanden ist. Aber er sagt weiter:
"Der kleinste Teil desjenigen, was nicht aus dem Weibe
geboren ist, der sich mit dem Menschen aus dem Reich Gottes verbindet, ist
größer als Johannes" (Lukas 7,28).
So Tiefes verbirgt sich hinter solchen Worten. Wenn die
Menschen einmal die Bibel studieren werden, durchleuchtet von dem Wesen der
Geisteswissenschaft, dann werden sie sehen, daß in ihr physiologische
Wahrheiten enthalten sind, die größer sind als alles, was neues,
stümperhaftes physiologisches Denken zutage fördern kann. In einem solchen
Worte wie dem eben angeführten liegt der Antrieb zur Erkenntnis einer der
größten physiologischen Wahrheiten. So tief ist die Bibel, wenn wir sie in
Wahrheit auffassen.
Was ich Ihnen jetzt gesagt habe, erläutert der Christus
Jesus in mannigfaltiger Weise auch in anderer Form. Er will darauf hinweisen,
wie das, was sich durch ihn in die Welt einleben soll, ein ganz Neues ist,
ein ganz anderes, als was jemals früher verkündet worden ist, weil es mit den
Fähigkeiten verkündet wird, die herausgeboren sind aus den Reichen der
Himmel, die wir nicht vererbt haben. Er weist darauf hin, wie schwierig es
für die Menschen ist, sich nach und nach zum Verständnis einer solchen Lehre,
eines solchen Evangeliums aufzuschwingen, wie die Menschen verlangen werden,
so überzeugt zu werden, wie sie früher überzeugt worden sind. Aber er sagt
ihnen zugleich: Von dem Neuen, was da gekommen ist, von der neuen Wahrheit
könnt ihr nicht in derselben Art überzeugt werden; denn was als Zeugnis von
der alten Form kommen konnte, das könnte euch an der neuen Form nicht
überzeugen. Art und Form im Sinne der alten Wahrheit stellen sich am höchsten
dar, so wie es der Mensch fassen kann, in der Weise, wie es symbolisiert wird
in dem Zeichen des Jonas. In diesem wird durch die alte Art symbolisiert, wie
der Mensch allmählich zur Erkenntnis hinaufwächst und in die geistigen Welten
eindringt, oder wie er, um biblisch zu sprechen, Prophet wird (Lukas 11,
29–32).
Das ist die alte Art, zur Initiation zu kommen, zuerst seine
Seele reif zu machen, alles vorzubereiten, was die Seele reif machen kann,
dann durch dreieinhalb Tage hindurch in einen Zustand gebracht zu werden, in
welchem man völlig der äußeren Welt entrückt ist und auch den Werkzeugen, mit
denen man die äußere Welt wahrnimmt. Daher wurden die, welche in die geistige
Welt hinaufgeführt werden sollten, zuerst sorgfältig vorbereitet; ihre Seele
wurde zum Erkennen des geistigen Lebens präpariert. Dann wurden sie durch
dreieinhalb Tage der Welt entrückt und dazu an einen Ort gebracht, wo sie
auch durch ihre äußeren Sinne nichts wahrnehmen konnten, wo ihr Körper in
einem todähnlichen Zustande war, und nach dreieinhalb Tagen wurden sie wieder
auf erweckt; da wurde ihre Seele wieder in den Körper zurückgerufen. Dann
waren solche Menschen fähig, sich an das, was sie als Anschauung der höheren
Welten empfangen hatten, zu erinnern und selber von den geistigen Welten zu
künden. Das war das große Geheimnis der Initiation, daß die lange
vorbereitete Seele durch dreieinhalb Tage aus ihrem Körper herausgeführt
wurde in eine ganz andere Welt; da war sie abgeschlossen von der äußeren Welt
und drang in die geistige Welt ein. Immer gingen unter den Völkern solche
Menschen herum, die Verkünder der geistigen Welt sein konnten; sie waren es,
die das durchgemacht hatten, was in der Bibel angedeutet wird als das Ruhen
des Jonas im Walfisch (Jona 2, 1). Dazu wurde ein solcher vorbereitet, und er
trug dann als alter Initiierter, wenn er vor dem Volke erschien, das Zeichen
an sich, das die an sich trugen, die selbst die geistige Welt erleben
konnten, das Zeichen des Jonas.
Dies war die eine Art der Einweihung. Es gibt – so sagte der
Christus – im alten Sinn kein anderes Zeichen denn das Zeichen des Jonas
(Lukas 11, 29). Und noch deutlicher drückt er sich aus im Sinne des
Lukas-Evangeliums: Es gibt allerdings als eine Erbschaft der alten Zeiten
noch dieses, daß man ohne sein Zutun, ohne Initiation dumpf, dämmerhaft
hellsehend werden kann und durch Offenbarung von oben in die geistige Welt
hinaufgeführt werden könnte. – Er wollte darauf hinweisen, daß es neben der
eben geschilderten jene zweite Art von Eingeweihten in die geistige Welt
gäbe, daß es solche Menschen gäbe, die herumgingen unter den anderen Menschen
und dadurch, daß sie eine entsprechende Abstammung hinter sich hatten, fähig
waren, ohne eine besondere Initiation durchgemacht zu haben, in einer Art erhöhten
Trancezustandes Offenbarungen von oben zu bekommen. Und der Christus wies
darauf hin, daß diese zweifache Art, sich in die geistige Welt zu versetzen,
von den alten Zeiten überkommen ist. Er sagte: Sehet hin und erinnert euch an
den König Salomo. – In diesem wollte er eine Individualität jener Art
hinstellen, welche ohne ihr Zutun, durch Offenbarung von oben, in die
geistige Welt hineinschauen konnte. Daher ist auch die Königin von Saba, die
zu dem König Salomo kommt, die Trägerin der Weisheit von oben, die
Repräsentantin derjenigen, die dazu prädestiniert sind, alle die Erbstücke
dumpfen, dämmerhaften Hellsehens zu haben, wie es in der atlantischen Zeit
alle Menschen gehabt haben (Lukas 11,31).
Diese zwei Arten von Eingeweihten gab es: die eine Art, dargestellt
durch Salomo und in dem bildhaften Hingehen der Königin von Saba, der Königin
des Südens, zu ihm; die andere Art war die, welche im Zeichen des Jonas
erfolgte, das heißt die alte Initiation, bei der man in vollem
Abgeschlossensein von der Außenwelt während dreieinhalb Tagen durch die
geistige Welt durchgeht. Nun fügt der Christus hin zu: "Hier ist mehr
denn Salomo …… hier ist mehr denn Jonas" (Lukas 11, 31 und 32), und
weist damit darauf hin, daß etwas Neues in die Welt eingetreten ist, daß
nicht bloß zu den Ätherleibern von außen durch Offenbarungen gesprochen wird
wie bei Salomo und daß nicht gesprochen wird zu den Ätherleibern von innen
durch Offenbarungen, die der dazu vorbereitete Astralleib dem Ätherleib
mitteilen kann, wie bei denen, die symbolisiert sind durch das Zeichen des
Jonas. Der Christus will sagen: Hier ist etwas, wo der Mensch, wenn er sich
in seinem Ich dazu reif macht, sich mit dem verbindet, was den Reichen der
Himmel angehört, weil die Kräfte aus den Reichen der Himmel sich mit dem
jungfräulichen Teil in der Menschenseele verbinden, der den Reichen der
Himmel angehört, und den die Menschen verderben können, indem sie sich von
dem Christus-Prinzip abwenden, den sie aber auch hegen und pflegen können,
wenn sie sich mit dem durch dringen, was von dem Christus-Prinzip ausströmt.
So fügt der Christus Jesus – im Sinne des Lukas-Evangeliums
– dasjenige seiner Lehre ein, was als ein neues Element damals auf die Erde
gekommen ist, und wir sehen, wie sich alle alten Arten der Verkündigung des
Gottesreiches durch das Ereignis von Palästina geändert haben. Daher sagt er
zu denen, von welchen er voraussetzen konnte, daß sie ihn durch ihre
Präparation ein wenig verstehen können: Wahrhaftig, es sind solche unter
euch, die nicht nur in der Weise wie Salomo durch Offenbarung oder durch
Initiation im Zeichen des Jonas das Reich Gottes sehen können; würden solche
unter euch nichts anderes erlangen, so würden sie in dieser Inkarnation
niemals das Reich Gottes sehen, sie würden eher sterben. – Das heißt, vor
ihrem Tode würden sie das Reich Gottes nicht sehen, wenn sie nicht etwa
initiiert würden; dann aber müßten sie auch einen todähnlichen Zustand
durchmachen. Nun aber wollte der Christus zeigen, daß es auch solche Menschen
geben kann, die, ehe sie sterben, durch das, was jetzt als neues Element in
die Welt gekommen ist, die Reiche der Himmel zu sehen vermögen. Die Jünger
verstanden zunächst nicht, um was es sich handelte. Doch wollte er ihnen
zeigen, daß sie es sein sollten, die, ehe sie eines natürlichen Todes stürben
oder jenes Todes, den man früher bei der Initiation gestorben ist, die
Geheimnisse der Reiche der Himmel erfahren würden. Das ist jene wunderbare
Stelle im Lukas-Evangelium, wo der Christus von einer höheren Offenbarung
spricht und sagt:
"Ich sage euch aber wahrhaftig: es sind einige unter
denen, die hier stehen, welche den Tod nicht kosten werden, bis sie die
Reiche der Himmel sehen" (Lukas 9, 27).
Das verstanden sie nicht, daß sie, die um ihn herum waren,
dazu ausersehen waren, jene starke Wirkung von jenem Ich, von dem
Christus-Prinzip, zu erfahren, durch die sie unmittelbar in die geistige Welt
hinaufdringen sollten. Die geistige Welt sollte ihnen offenbar werden ohne
das Zeichen des Salomo und ohne das Zeichen des Jonas. Ist das geschehen?
Unmittelbar an diese Worte schließt sich die Szene der
Verklärung an, wo drei Jünger, Petrus, Jakobus und Johannes, in die geistige
Welt hinaufgeführt werden und ihnen entgegentritt, was in der geistigen Welt
als Moses und Elias vorhanden ist, und zugleich das Geistige selbst, was in
dem Christus Jesus lebt (Lukas 9, 28–36). Sie schauen für einen Moment in die
geistige Welt hinein, um ein Zeugnis dafür zu bekommen, daß man ohne das
Zeichen des Salomo und ohne das Zeichen des Jonas in die geistige Welt Einblick
erhält. Aber zugleich zeigt sich, daß sie noch Anfänger sind: Sie schlafen
gleich ein, nachdem sie durch die Gewalt dessen, was geschieht, aus ihren
physischen und Ätherleibern herausgerissen sind. Daher findet der Christus
sie schlafend. Daran sollte gezeigt werden, welches die dritte Art, in die
geistige Welt hineinzukommen, ist, außer der unter dem Zeichen des Salomo und
der unter dem Zeichen des Jonas. Das wußte eben derjenige, der für die
damalige Zeit die Zeichen der Zeit zu deuten verstand, daß das Ich sich
entwickeln mußte, daß es jetzt unmittelbar inspiriert werden mußte, daß die
göttlichen Kräfte unmittelbar in das Ich hineinwirken mußten. Es sollte aber
zu gleicher Zeit gezeigt werden, wie die damaligen Menschen, wenn sie auch
Exemplare höchster Art waren, nicht fähig waren, das Christus-Prinzip in sich
aufzunehmen. Ein Anfang sollte in dieser Beziehung in der Verklärung gemacht
werden, aber zugleich gezeigt werden, daß die Jünger zunächst nicht fähig
waren, das Christus-Prinzip ganz aufzunehmen. Daher versagen gleich hinterher
ihre Kräfte, als sie das Christus-Prinzip anwenden und einen Menschen heilen
wollen, der von einem bösen Geiste gepackt ist; sie können es aber nicht. Da
weist der Christus darauf hin, daß sie erst an einem Anfange stehen, indem er
sagt: Ich werde noch lange bei euch bleiben müssen, bis eure Kräfte auch in
die anderen Menschen einströmen können (Lukas 9, 41). Und er heilt dann den,
den die Jünger nicht heilen konnten. Dann aber sagt er, sie noch einmal auf
alles hinweisend, was sich als Geheimnis dahinter verbarg: "Jetzt ist
die Zeit gekommen, daß der Sohn des Menschen ausgeliefert werden soll in
Menschenhände", das heißt, wo das, was die Menschen in ihrer
Erdenmission aus sich heraus entwickeln sollen, nach und nach in die Menschen
einströmen soll, wo das menschliche Ich dem Menschen übergeben werden soll,
das sie in der höchsten Gestalt, in dem Christus, erkennen sollen.
"Nehmt euch diese Worte zu Ohren: es ist an der Zeit,
daß der Sohn des Menschen ausgeliefert wird in Menschenhände. Sie aber
verstanden dieses Wort nicht, und es war vor ihnen verborgen, daß sie es
nicht begriffen" (Lukas 9,44–45).
Nun, wieviel Menschen haben bis heute dieses Wort
verstanden? Aber immer mehr und mehr Menschen werden dieses Wort verstehen,
daß damals das Ich, der Menschensohn, an die Menschen hat ausgeliefert werden
sollen. Was für die damalige Zeit als Erklärung beigefügt werden konnte, das
fügt der Christus Jesus nun auch bei. Er sagt: So, wie der heutige Mensch vor
uns steht, ist er ein Produkt, das entstanden ist aus jenen alten Kräften,
die wirksam waren, als noch keine luziferischen Wesenheiten in den Menschen
eingegriffen hatten; dann sind die luziferischen Kräfte gekommen und haben
den Menschen heruntergezogen. Das alles hat sich in die Fähigkeiten
hineinversenkt, welche heute dem Menschen zu eigen sind. In alles das, was
aus dem Keime ist, hat sich in des Menschen Bewußtsein dasjenige
hineingemischt, was ihn in eine niedere Sphäre herunterzog.
Der Mensch ist ein zweifaches Wesen. Was er bisher aber an
Bewußtsein entwickelt hat, das ist ganz von dem Früheren durchdrungen, von
den luziferischen Kräften. Nur das, worinnen Unbewußtes im Menschen waltet,
ist dasjenige, was sozusagen wie ein letzter Rest aus der Entwickelung durch
Saturn, Sonne und Mond, als noch keine luziferischen Kräfte vorhanden waren,
heute als jungfräuliches Teil in den Menschen hineinströmt; aber das kann
sich nicht mit dem Menschen verbinden ohne das, was der Mensch durch das
Christus-Prinzip in sich ausbilden kann. So wie der Mensch heute vor uns
steht, ist er zunächst ein Ergebnis der Vererbung, ein Zusammenfluß dessen,
was aus den Keimen heraus stammt. Indem er so heranwächst, ist er von
vornherein eine Zweiheit. Nur ist diese Zweiheit schon von luziferischen Kräften
durchdrungen. Solange aber der Mensch noch nicht von Selbstbewußtsein
durchleuchtet ist, solange er aus seinem eigenen Ich heraus noch nicht
zwischen Gut und Böse voll unterscheiden kann, solange zeigt er uns durch den
Schleier des Späteren hindurch seine frühere, seine ursprüngliche Natur. Nur
das, was an dem heutigen Menschen kindlich ist, hat noch einen letzten Rest
jener Wesenheit, die der Mensch gehabt hat, bevor er dem Einfluß der
luziferischen Wesenheiten unterlegen ist.
Daher haben wir jetzt den Menschen so vor uns, daß wir einen
"kindlichen" Teil und einen "erwachsenen" Teil haben. Der
erwachsene Teil ist der von den luziferischen Kräften durchdrungene, aber er
macht seinen Einfluß geltend von der allerersten Keimanlage an. Die
luziferischen Kräfte durchdringen auch schon das Kind, so daß im gewöhnlichen
Leben nicht das zum Vorschein kommen kann, was schon früher, vor dem
luziferischen Einfluß, in den Menschen hineinversenkt worden ist. Das muß die
Christus-Kraft wieder aufwecken. Die Christus-Kraft muß sich mit dem
verbinden, was die besten Kräfte der kindlichen Natur im Menschen sind. Sie
darf nicht an die Fähigkeiten anknüpfen, die der Mensch verdorben hat, an
das, was aus der aus dem bloßen Intellekt geborenen Weisheit herstammt,
sondern sie muß an das anknüpfen, was aus den alten Zeiten der kindlichen
Natur geblieben ist. Das ist das Beste; das muß sie wieder regenerieren und
von da ausgehend das andere befruchten.
"Es fuhr aber der Gedanke unter sie, wer von ihnen der
größte sei"
das heißt, wer am meisten geeignet sei, das Christus-Prinzip
in sich aufzunehmen.
"Da aber Jesus ihres Herzens Gedanken wußte, nahm er
ein Kind,
stellte es neben sich
und sagte: Wer dieses Kind aufnimmt in meinem Namen,"
das heißt, wer sich im Namen des Christus mit dem verbindet,
was aus den vorluziferischen Zeiten geblieben ist –,
"der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt
den auf, der mich gesandt hat" (Lukas 9,46–48),
das heißt, der diesen Teil des Menschen auf die Erde gesandt
hat. Da haben Sie die große Bedeutung dessen betont, was im Menschen kindlich
geblieben ist und was gehegt und gepflegt werden soll in der menschlichen
Natur.
Man kann sagen: Der Mensch, welcher da vor mir steht, hat
eigentlich ganz gute Anlagen. Man kann sich alle Mühe geben, diese Anlagen zu
entwickeln, wie der Mensch im gewöhnlichen Leben ja auch gute Fortschritte
macht. Wie man es heute macht, so wird man nicht auf das in den Untergründen
des Menschen Vorhandene Rücksicht nehmen. Man sollte aber auf das im Menschen
kindlich Gebliebene schauen, denn auf dem Umwege über dieses kindlich
Gebliebene sollen durch die Christus-Fähigkeit erst wieder die anderen
Fähigkeiten erwärmt werden. Das Kindliche sollen wir gescheit machen, damit
von da aus die anderen Fähigkeiten wieder gescheit werden. Jeder trägt in
dieser Beziehung die kindliche Natur in sich, und diese wird, wenn sie rege
ist, auch eine Empfänglichkeit haben für die Verbindung mit dem
Christus-Prinzip. Die Kräfte aber, die unter dem luziferischen Einfluß
stehen, wenn sie auch noch so hoch sind, sie werden heute nur, wenn sie
allein im Menschen wirken, dasjenige, was als Christus-Kraft auf der Erde
leben kann, ablehnen und verspotten, wie es der Christus selber vorausgesagt
hat.
So wird uns gerade im Sinne des Lukas-Evangeliums klar vor
die Seele gestellt, welches der Sinn der neuen Verkündigung ist. Wenn einer,
der das Zeichen des Jonas an der Stirne trug, ein alter Initiierter, durch
die Menschen schritt, so erkannte man ihn als einen solchen, der von den
geistigen Welten zu verkünden hatte. Aber nur diejenigen wußten es, wie ein
solcher aussieht, die darüber unterrichtet worden waren; es gehört eine
besondere Vorbereitung dazu, um das Zeichen des Jonas zu verstehen. Eine neue
Vorbereitung aber sollte dazu gehören, um – mehr als das Zeichen des Salomo
und mehr als das Zeichen des Jonas – eine neue Art des Verstehens, eine neue
Art, die Seele reif zu machen, hervorzubringen. Die Zeitgenossen des Christus
Jesus konnten zunächst nur die alte Art verstehen, und eine den meisten bekannte
Art war noch das, was Johannes der Täufer brachte. Daß aber jetzt der
Christus Jesus etwas vollständig Neues brachte, daß er Seelen unter denen
suchte, die gar nicht so aussahen, wie man sich früher solche Menschen
vorgestellt hatte, das war den Leuten etwas ganz Fremdes. Sie hatten
vorausgesetzt, daß er bei denen sitzen werde, welche Übungen der alten Art
durchmachten, und ihnen seine Lehre verkünden werde. Daher konnten sie nicht
verstehen, daß er bei denen sitzt, welche sie als Sünder ansahen. Aber er
sagte ihnen: Würde ich das, was ich als ganz Neues der Menschheit zu geben
habe, in der alten Art verkünden, würde nicht auch eine ganz neue Form an die
Stelle der alten treten, so würde ich dasselbe machen, wie wenn ich einen
neuen Flicken auf ein altes Kleid nähen würde oder wenn ich neuen Wein nehmen
und ihn in alte Schläuche geben würde. Was jetzt der Menschheit gegeben
werden soll und was mehr ist als das Zeichen des Salomo oder das des Jonas,
das muß in neue Schläuche, in neue Formen gegossen werden. Und ihr müßt euch
dazu aufraffen, um in einer neuen Form auch die neue Verkündigung zu
verstehen (Lukas 5, 36–37).
Die, welche verstehen sollten, sie mußten verstehen durch
den gewaltigen Einfluß des Ich, nicht durch das, was sie gelernt hatten,
sondern durch das, was übergeströmt war aus der spirituellen "Wesenheit
des Christus in sie. Dazu aber waren nicht diejenigen ausersehen, die im
Sinne der alten Lehren vorbereitet waren, sondern die, welche durch
Inkarnationen und Inkarnationen durchgegangen waren und sich trotzdem als
einfache Leute zeigten, die durch die in sie übergeströmte Glaubenskraft
verstehen konnten. Daher mußte auch vor sie ein Zeichen hingestellt werden,
das vor aller Augen sich abspielte. Was sich durch Jahrhunderte und
Jahrtausende in den Mysterientempeln abgespielt hatte als das Hindurchgehen
durch den "mystischen Tod", das mußte sich auf dem großen
Schauplatze der Weltgeschichte abspielen. Alles, was sich geheimnisvoll in
den großen Initiationstempeln zugetragen hatte, das trat jetzt heraus und
stand da als ein einzelnes Ereignis auf Golgatha. In intensiver Weise trat
vor die Menschheit hin, was sonst nur vor die Eingeweihten in den dreieinhalb
Tagen getreten war, wo eine alte Initiation vollzogen worden war. Daher mußte
der, welcher die Tatsachen kannte, den Vorgang von Golgatha als das
schildern, was er war, als die in Historie umgewandelte, auf den äußeren
Platz der Weltgeschichte gebrachte alte Initiation.
Das ist es, was sich auf Golgatha zugetragen hat. Was die
wenigen Eingeweihten früher in den Initiationstempeln gesehen hatten, das
Ruhen während dreieinhalb Tagen in einem todähnlichen Zustande, wodurch sie
die Überzeugung gewonnen hatten, daß das Geistige immer das Leibliche
überwinden wird, daß das Seelisch-Geistige des Menschen einer geistigen Welt
angehört, das sollte sich jetzt einmal vor aller Augen abspielen. Eine
Initiation, hinausgetragen auf den Plan der Weltgeschichte, ist das Ereignis
von Golgatha. Damit ist diese Initiation aber nicht bloß für diejenigen
vollzogen, welche damals um dieses Ereignis herumstanden, sondern für die
ganze Menschheit. Und was vom Tode am Kreuz ausgeflossen ist, das strömt von
da aus in die ganze Menschheit ein. Ein Strom geistigen Lebens geht von den
Blutstropfen aus, die auf Golgatha aus den Wunden des Christus Jesus
geflossen sind, ausströmend von da in die ganze Menschheit hinein. Denn als
Kraft sollte in die Menschheit gehen, was als Weisheit von anderen
Verkündigern ausgeflossen ist. Das ist der große Unterschied zwischen dem
Ereignis von Golgatha und der Lehre der anderen Religionsstifter. Es gehört
ein tieferes Verständnis dazu, als es heute vorhanden ist, um richtig
aufzufassen, was damals auf Golgatha geschehen ist. Dasjenige, woran das
menschliche Ich physisch gehängt wurde, als die Erdenentwickelung begann, das
ist das Blut. Das Blut ist der äußere Ausdruck des menschlichen Ich. Die
Menschen würden ihr Ich immer stärker und stärker gemacht haben und ohne die
Erscheinung des Christus in eine Entwickelung des Egoismus hineingekommen sein.
Davor wurden sie bewahrt durch das Ereignis von Golgatha. Was mußte fließen?
Dasjenige, was das überschüssige Substantielle des Ich ist, das Blut mußte
ausfließen. Was damit begonnen hat, als auf dem Ölberge die Schweißtropfen
von dem Erlöser wie Blutstropfen herunterrannen, das mußte fortgesetzt
werden, indem aus den Wunden des Christus Jesus auf Golgatha das Blut floß.
Was damals als Blut geflossen ist, das ist das Zeichen für das, was als das
Überschüssige des Egoismus in der Menschennatur hingeopfert werden mußte.
Daher müssen wir tiefer eindringen in die spirituelle Bedeutung des Opfers
auf Golgatha. Was auf Golgatha geschah, das ist nicht für den Chemiker – als
den Menschen mit dem nur äußeren intellektuellen Blick – durchsichtig. Wenn
jemand das Blut, das auf Golgatha geflossen ist, chemisch untersucht haben
würde, so würde er dasselbe an Stoffen gefunden haben, was er in dem Blute
von anderen Menschen finden würde. Wer aber dieses Blut mit den Mitteln der
okkulten Forschung untersucht, der findet, daß es in der Tat ein anderes Blut
ist. Es ist das überschüssige Blut der Menschheit, durch welches die Menschen
in Egoismus hätten verkommen müssen, wenn nicht die unendliche Liebe gekommen
wäre und dieses Blut hätte fließen können. Die unendliche Liebe ist
beigemischt dem Blute, das auf Golgatha geflossen ist, und der okkulte
Forscher findet diese unendliche Liebe, wie sie das Blut auf Golgatha ganz
durchdringt. Und weil der Schreiber des Lukas-Evangeliums ins besondere
schildern wollte, wie die unendliche Liebe durch den Christus in die Welt
gekommen ist, die den Egoismus allmählich herauszutreiben hat, so bleibt er
in dieser Rolle. Ein jeder Evangelist schildert das, was er nach seiner
besonderen Rolle gerade schildern muß.
Wenn wir noch tiefer in diese Zusammenhänge hineinleuchten
könnten, so würden wir finden, daß alle Widersprüche fortfallen, welche die
materialistische Forschung etwa finden könnte, wie die Widersprüche in der
Vorgeschichte des Jesus von Nazareth dadurch weggefallen sind, daß wir gesehen
haben, wie es sich mit dieser Jugendgeschichte verhält. Jeder der
Evangelienschreiber schildert das, was nach seinem Gesichtspunkte ihm
besonders nahelag; daher schildert Lukas das, was seine Berichterstatter, die
"Selbstseher" und "Diener des Wortes", nach ihrer
besonderen Präparation haben wahrnehmen können. Die anderen Evangelisten
nehmen anderes wahr, der Schreiber des Lukas-Evangeliums nimmt das wahr, was
die ausströmende Liebe ist, die auch da verzeiht, wo ihr das für die
physische Welt Furchtbarste angetan ist, so daß noch vollständig zu Recht von
dem Kreuze von Golgatha die Worte heruntertönen, die der Ausdruck dieses
Liebeideals sind – Verzeihung auch dann, wenn einem das ärgste angetan ist –:
"Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lukas
23, 34). Verzeihung erfleht der, der da an dem Kreuze von Golgatha das
Unendliche vollzieht, aus seiner unendlichen Liebe für die, welche ihn
gekreuzigt haben.
Und noch einmal das Evangelium von der Macht des Glaubens.
Bekräftigt werden sollte, daß es in der menschlichen Natur etwas gibt, was
aus ihr ausströmen kann, was nur vorhanden zu sein braucht, um den Menschen
der Sinneswelt zu entreißen, wenn er auch noch so sehr mit ihr verknüpft ist.
Denken wir uns einen Menschen, der durch alle möglichen Verbrechen mit der
Sinneswelt verwachsen ist, so daß das Gericht der Sinneswelt die Strafe
vollzieht; denken wir uns aber, er habe sich das gerettet, was die Kraft des
Glaubens in ihm aufkeimen lassen kann; dann wird er sich von einem anderen,
der das nicht in sich aufkeimen lassen kann, so unterscheiden, wie der eine
der beiden Verbrecher sich von dem anderen unterschied. Der eine hat den
Glauben nicht; an ihm hat sich das Strafgericht vollzogen. Der andere aber
hat diesen Glauben wie ein schwaches Licht, das hineinscheint in die geistige
Welt, daher kann er den Zusammenhang mit dem Geistigen nicht verlieren. Darum
muß ihm gesagt werden: Heute noch – wo du weißt, daß du verbunden bist mit
der geistigen Welt – wirst du mit mir in dem sein, was im Paradiese ist
(Lukas 23,43).
So ertönen auch die Wahrheiten vom Glauben und der Hoffnung
zu der Wahrheit von der Liebe hinzu aus dem Lukas-Evangelium vom Kreuze
herab.
Und dann ist noch eines zu erfüllen aus jenem Seelengebiete
heraus, das uns insbesondere der Schreiber des Lukas-Evangeliums schildern
will. Der Mensch kann, wenn er von jener Liebe durchdrungen ist, die von dem
Kreuz auf Golgatha herunterströmte, in die Zukunft hineinsehen und sagen: Auf
der Erde muß allmählich die Entwickelung so stattfinden, daß dasjenige, was
als Geist in mir lebt, nach und nach das ganze physische Erdendasein
umgestaltet. Was vor dem luziferischen Einfluß da war, das Vater-Prinzip, der
Geist, den wir empfangen, wir werden ihn allmählich dem Vater-Prinzip
wiedergeben; aber wir werden unseren ganzen Geist durchströmt sein lassen von
dem Christus-Prinzip, und unsere Hände werden zum Ausdruck bringen, was in
unseren Seelen lebt als ein klares, deutliches Bild. Wie unsere Hände nicht
von uns, sondern von dem Vater-Prinzip geschaffen sind, so werden sie
durchströmt werden von dem Christus-Prinzip. Und indem die Menschen durch
Inkarnationen und Inkarnationen durchgehen, wird nach und nach in das, was
die Menschen in ihren äußeren Leibern verrichten, das einströmen, was als
Geistiges herunterströmt von dem Mysterium von Golgatha bis in das
Vater-Prinzip, so daß die äußere Welt durchdrungen werden wird von dem
Christus-Prinzip. Nachleben werden die Menschen jene Gelassenheit, die vom
Kreuz von Golgatha heruntertönte und die zur höchsten Hoffnung für die
Zukunft führt, zu dem Ideal: Ich lasse in mir aufkeimen den Glauben, lasse in
mir aufkeimen die Liebe; dann werden Glaube und Liebe in mir leben, und ich
weiß dann, daß sie, wenn sie stark genug sind, alles äußere durchdringen
werden. Dann weiß ich auch, daß das Vater-Prinzip in mir von ihnen
durchdrungen sein wird. – Die Hoffnung von der Menschheitszukunft wird
hinzukommen zu Glaube und Liebe, und verstehen werden die Menschen, daß sie
sich nach der Zukunft hin jene Gelassenheit aneignen müssen: Habe ich nur den
Glauben, habe ich nur die Liebe, so darf ich mich der Hoffnung hingeben, daß
das, was von dem Christus Jesus in mir ist, nach und nach hinübergehen wird
nach außen. Dann werden die Menschen die Worte verstehen, die als hohes Ideal
von dem Kreuze heruntertönen:
"Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist"
(Lukas 23, 46).
So tönen Worte der Liebe, so tönen Worte des Glaubens und
der Hoffnung vom Kreuze herunter in dem Evangelium, wo geschildert wird, wie
in der Seele des Jesus von Nazareth die früher getrennten Geistesströmungen
zusammengeflossen sind. Was ehedem der Menschheit als Weisheit geworden war,
das ist als Seelenkraft, als das hohe Ideal des Christus in sie eingeströmt.
Und es ist die Aufgabe der Menschenseele, das, was uns durch eine solche
Urkunde wie das Lukas-Evangelium verkündet wird, immer besser zu verstehen,
damit lebendiger und immer lebendiger in den Menschenseelen die tief
eindringenden Töne werden, die in den drei Worten liegen, die von dem Kreuze
heruntertönen. Wenn die Menschen mit den Fähigkeiten, die sich durch die
spirituellen Wahrheiten, die uns die Geisteswissenschaft geben kann, in ihnen
entwickeln werden, so fühlen werden, daß ihnen nicht mehr eine tote
Mitteilung, sondern ein lebendiges Wort von dem Kreuze herunterströmt, dann
werden sie sagen: Wir beginnen zu begreifen, daß ein lebendiges Wort in einer
solchen religiösen Urkunde enthalten ist, wie sie Lukas geschrieben hat. So
muß die Geisteswissenschaft allmählich enthüllen, was in den religiösen
Urkunden verborgen liegt.
Durch die Reihe dieser Vorträge suchten wir soviel als
möglich von dem tiefen Sinn des Lukas-Evangeliums zu ergründen. Es ist
natürlich auch diesem Evangelium gegenüber so, daß ein Vortragszyklus nicht
ausreichend ist, um alles zu enthüllen. Daher werden Sie begreifen, daß
vieles unerklärt geblieben ist, ohne daß wir besonders betonen, daß vieles
unerklärt bleiben muß in einem Dokument mit einem solchen universellen
Inhalt. Aber wenn Sie sich auf den Weg begeben, der einmal mit einem solchen
Vortragszyklus angedeutet ist, so werden Sie auch immer tiefer und tiefer in
solche Wahrheiten hineindringen können, und Ihre Seelen werden immer mehr zu
dem Empfangen eines solchen lebendigen Wortes heranreifen, das unter dem
äußeren Worte verborgen ist. Die Geisteswissenschaft oder Theosophie ist
keine neue Lehre. Sie ist ein Instrument, um das zu begreifen, was der
Menschheit zunächst gegeben ist. Und so ist uns Geisteswissenschaft ein
Instrument, um die religiösen Urkunden der christlichen Offenbarung zu
begreifen. Verstehen Sie Geisteswissenschaft in diesem Sinne, so werden Sie
nicht mehr sagen: Da ist eine christliche Theosophie, da ist eine andere
Theosophie. – Es gibt nur eine einzige Theosophie oder Geisteswissenschaft,
nur ein einziges Instrument zur Verkündigung der Wahrheit. Und wir wenden es
an, um die Schätze des Geisteslebens der Menschheit zu heben. Dieselbe
Geisteswissenschaft ist es, die wir anwenden, um einmal die Bhagavad Gita,
ein anderes Mal das Lukas-Evangelium zu erklären. Das ist das Große an der
geisteswissenschaftlichen Strömung, daß sie in jeglichen Schatz eindringen
kann, der auf geistigem Gebiete der Menschheit gegeben ist, aber wir würden
sie falsch verstehen, wenn wir uns verschließen wollten gegen irgendeine der
Verkündigungen, die der Menschheit gegeben worden sind.
Nehmen Sie gerade in dieser Gesinnung die Verkündigung des
Lukas-Evangeliums auf und verstehen Sie, wie es ganz durchströmt ist von der
Inspiration der Liebe. Dann wird das, was Sie am Lukas-Evangelium durch Geisteswissenschaft
immer besser erkennen lernen, in Ihre Seele fließen und dazu beitragen
können, nicht nur zu durchschauen, was die Geheimnisse des Umkreises sind,
was uns die geistigen Untergründe des Daseins offenbart, sondern es wird
Ihnen aus einem solchen Verständnis der Geisteswissenschaft, die auch das
Lukas-Evangelium durchdringen kann, das strömen, was die eindringlichen
Grundworte besagen: "Und Frieden in den Seelen der Menschen, in denen
ein guter Wille lebt." Denn mehr als irgendeine Urkunde ist gerade das
Lukas-Evangelium geeignet, wenn wir es ganz verstehen, jene warme Liebe in
die Menschenseele hineinzugießen, durch welche der Friede auf der Erde lebt,
das schönste der Spiegelbilder, das erscheinen kann, wenn sich die göttlichen
Geheimnisse auf der Erde offenbaren können. Was sich offenbaren kann, das muß
sich auf der Erde spiegeln und im Spiegelbilde wieder hinaufdringen in die
geistigen Höhen.
Lernen wir in diesem Sinne die Geisteswissenschaft erkennen,
dann wird sie uns die Geheimnisse der göttlich-geistigen Wesenheiten und des
geistigen Daseins offenbaren können, und das Spiegelbild dieser Offenbarungen
wird in unseren Seelen leben, Liebe und Friede, das schönste Spiegelbild, das
auf der Erde wiedergibt, was ihr aus den Höhen zuströmt.
So können wir uns die Worte des Lukas-Evangeliums zu eigen
machen, die ertönen, als der Nirmanakaya des Buddha seine Kraft
herunterströmt auf das nathanische Jesuskindlein. Die Offenbarungen ergießen
sich aus den geistigen Welten auf die Erde herunter, und die Offenbarungen
spiegeln sich aus den Menschenherzen heraus als Liebe und Friede in dem Maße,
als die Menschen sich zu dem entfalten, was das Christus-Prinzip wahrhaftig
als den aus dem menschlichen Zentrum, aus dem menschlichen Ich
herausfließenden guten Willen zur Entfaltung bringt. Das klingt hell, und das
strömt zugleich warm aus diesen Worten heraus, wenn wir das Lukas-Evangelium
begreifen:
"Die Offenbarung der geistigen Welten aus den Höhen und
ihr Spiegelbild aus den Menschenherzen heraus bringt den Menschen Frieden,
die auf der Erde aus sich heraus den wahrhaft guten Willen im Laufe der
Erdenentwickelung entfalten wollen."
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