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VORWORT ZUR NEUAUFLAGE 1923

In dieser Schrift habe ich vor mehr als zwanzig Jahren die Frage beantworten wollen: Warum stoßen eine besondere Form der Mystik und die Anfänge des gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Denkens in der Zeit vom dreizehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert aufeinander.

Ich wollte nicht eine «Geschichte» der Mystik dieser Zeit schreiben, sondern nur diese Frage beantworten. Etwas an dieser Beantwortung zu ändern, geben die Veröffentlichungen, die seit zwanzig Jahren über den Gegenstand erfolgt sind, nach meiner Meinung, keine Veranlassung. Die Schrift kann daher im wesentlichen unverändert wieder erscheinen.

Die Mystiker, von denen hier gesprochen wird, sind letzte Ausläufer einer Forschungs- und Denkungsart, die in ihren Einzelheiten dem gegenwärtigen Bewußtsein fremd gegenübersteht. Nur die Seelenstimmung, die in dieser Forschungsart gelebt hat, ist in innigen Naturen der Gegenwart vorhanden. Die Art, die Dinge der Natur anzusehen, mit der vor dem hier gekennzeichneten Zeitalter diese Seelenstimmung verbunden war, ist nahezu verschwunden. Die gegenwärtige Naturforschung ist an ihre Stelle getreten.

Die Reihe der Persönlichkeiten, die hier charakterisiert werden, vermochten nicht die einstmalige Forschungsart in die Zukunft hinüber zu tragen. Sie entspricht nicht mehr den Erkenntniskräften, die sich vom dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert an in der europäischen Menschheit entwickeln. Nur wie Reminiszenzen an Vergangenes sieht sich an, was Paracelsus oder Jacob Böhme noch von dieser Forschungsart bewahren. Im wesentlichen bleibt den sinnenden Menschen die Seelenstimmung. Und für diese suchen sie einen Impuls in den Neigungen der Seele selbst, während sie ehedem in der Seele aufleuchtete, wenn diese die Natur beobachtete. Mancher, der heute zur Mystik neigt, wird die mystischen Erlebnisse nicht in Anlehnung an das entzünden wollen, was die gegenwärtige Naturforschung sagt, sondern an das, was die Schriften der hier geschilderten Zeit enthalten. Dadurch aber wird er ein Fremdling gegenüber dem, was die Gegenwart am meisten beschäftigt.

Es könnte nun scheinen, als ob die gegenwärtige Naturerkenntnis, in ihrer Wahrheit gesehen, keinen Weg anzeigte, der so die Seele stimmen könnte, daß sie in mystischem Schauen das Licht des Geistes findet. Warum finden mystisch gestimmte Seelen zwar Befriedigung bei dem Meister Eckhart, bei Jacob Böhme usw.; nicht aber in dem Buche der Natur, soweit dieses heute durch die Erkenntnis aufgeschlagen vor dem Menschen liegt?

Die Gestalt, in der über dieses Buch heute zumeist gesprochen wird, kann allerdings nicht in die mystische Seelenstimmung führen.

Daß aber so nicht gesprochen werden muß, darauf will diese Schrift hinweisen. Es wird dies dadurch versucht, daß auch von solchen Geistern gesprochen wird, die aus der Seelenstimmung der alten Mystik ein Denken entwickeln, das auch die neueren Erkenntnisse in sich aufnehmen kann. Das ist bei Nikolaus von Kues der Fall.

An solchen Persönlichkeiten zeigt sich, daß auch die gegenwärtige Naturforschung einer mystischen Vertiefung fähig ist. Denn ein Nikolaus von Kues könnte sein Denken in diese Forschung hinüberführen. Man hätte zu seiner Zeit die alte Forschungsart ablegen, die mystische Stimmung bewahren, und die moderne Naturforschung annehmen können, wenn sie schon dagewesen wäre.

Was aber die Menschenseele mit einer Forschungsart verträglich findet, das muß sie auch aus ihr gewinnen können, wenn sie stark genug dazu ist.

Ich habe die Wesensart der mittelalterlichen Mystik darstellen wollen, um darauf hinzuweisen, wie sie sich losgelöst von ihrem Mutterboden, der alten Vorstellungsart, als selbständige Mystik ausbildet, sich aber nicht erhalten kann, weil ihr die seelische Impulsivität nunmehr fehlt, die sie in alten Zeiten durch die Forschung gehabt hat.

Das führt zu dem Gedanken, daß die zur Mystik führenden Elemente der neueren Forschung gesucht werden müssen. Aus dieser kann dann die seelische Impulsivität wieder gewonnen werden, die nicht bei dem dunklen mystischen, gefühlsverwandten Innenleben stehen bleibt, sondern von dem mystischen Ausgangspunkte aus zur Geisterkenntnis aufsteigt. Die mittelalterliche Mystik verkümmerte, weil sie den Untergrund der Forschung verloren hatte, der den Seelenkräften hinauf die Richtung zum Geiste gibt. Anregen will dies Büchlein dazu, die nach der geistigen Welt richtunggebenden Kräfte aus der rechtverstandenen neueren Forschung zu gewinnen.

 

Goetheanum in Dornach bei Basel

Herbst 1923 Rudolf Steiner


VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Was ich in dieser Schrift darstelle, bildete vorher den Inhalt von Vorträgen, die ich im verflossenen Winter in der theosophischen Bibliothek zu Berlin gehalten habe. Ich wurde von Gräfin und Grafen Brockdorff aufgefordert, über die Mystik vor einer Zuhörerschaft zu sprechen, der die Dinge eine wichtige Lebensfrage sind, um die es sich dabei handelt. - Vor zehn Jahren hätte ich es noch nicht wagen dürfen, einen solchen Wunsch zu erfüllen. Nicht als ob damals die Ideenwelt, die ich heute zum Ausdruck bringe, noch nicht in mir gelebt hätte. Diese Ideenwelt ist schon ganz in meiner «Philosophie der Freiheit» enthalten. Um aber diese Ideenwelt so auszusprechen, wie ich es heute tue, und sie so zur Grundlage einer Betrachtung zu machen, wie es in dieser Schrift geschieht, dazu gehört noch etwas ganz anderes, als von ihrer gedanklichen Wahrheit felsenfest überzeugt sein. Dazu gehört ein intimer Umgang mit dieser Ideenwelt, wie ihn nur viele Jahre des Lebens bringen können. Erst jetzt, nachdem ich diesen Umgang genossen habe, wage ich, so zu sprechen, wie man es in dieser Schrift wahrnehmen wird.

Wer nicht unbefangen auf meine Ideenwelt eingeht, entdeckt in ihr Widerspruch über Widerspruch. Ich habe erst kürzlich ein Buch über die Weltanschauungen des neunzehnten Jahrhunderts Berlin 1900) dem großen Naturforscher Ernst Haeckel gewidmet, und es in eine Rechtfertigung seiner Gedankenwelt ausklingen lassen. Ich spreche in den folgenden Ausführungen voll zustimmender Hingebung über die Mystiker vom Meister Eckhart bis Angelus Silesius. Von anderen «Widersprüchen», die mir der oder jener noch vorzählt, will ich gar nicht sprechen. - Ich bin nicht verwundert darüber, wenn ich von der einen Seite als «Mystiker», von der anderen als «Materialist» verurteilt werde. - Wenn ich finde, daß der Jesuitenpater Müller eine schwierige chemische Aufgabe gelöst hat, und ich ihm deshalb rückhaltlos in dieser Sache zustimme, so darf man mich wohl nicht als Anhänger des Jesuitismus verurteilen, ohne bei Einsichtigen als Tor zu gelten.

Wer gleich mir seine eigenen Wege wandelt, muß manches Mißverständnis über sich ergehen lassen. Er kann das aber im Grunde leicht ertragen. Sind ihm solche Mißverständnisse Zumeist doch selbstverständlich, wenn er sich die Geistesart seiner Beurteiler vergegenwärtigt. Ich sehe nicht ohne humoristische Empfindungen auf manche «kritische» Urteile zurück, die ich im Laufe meiner Schriftstellerlaufbahn erfahren habe. Im Anfange ging die Sache. Ich schrieb über Goethe und in Anknüpfung an diesen. Was ich da sagte, klang manchem so, daß er es in seine Denkschablonen unterbringen konnte. Man tat das, indem man sagte: Es «darf eine Arbeit wie Rudolf Steiners Einleitungen zu den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes geradezu als das beste bezeichnet werden, was in dieser Frage überhaupt geschrieben worden ist». Als ich später eine selbständige Schrift veröffentlichte, war ich schon um ein gut Teil dümmer geworden. Denn nun gab ein wohlmeinender Kritiker den Rat: «Bevor er weiter fortfährt, zu reformieren und seine ,Philosophie der Freiheit' in die Welt setzt, ist ihm dringend anzuraten, sich erst zu einem Verständnisse jener beiden Philosophen (Hume und Kant) hindurchzuarbeiten.» Der Kritiker kennt leider bloß, was er in Kant und Hume zu lesen versteht; er rät mir also im Grunde nur, mir bei diesen Denkern auch nichts weiter vorzustellen wie er: Wenn ich das erreicht haben werde, wird er mit mir zufrieden sein. - Als nun meine «Philosophie der Freiheit» erschien, war ich einer Beurteilung wie der unwissendste Anfänger bedürftig. Sie ließ mir ein Herr zuteil werden, den wohl kaum etwas anderes zum Bücherschreiben nötigt, als die Tatsache, daß er unzählige fremde - nicht verstanden hat. Er belehrt mich tiefsinnig, daß ich meine Fehler bemerkt hätte, wenn ich «tiefere psychologische, logische und erkenntnistheoretische Studien gemacht hätte»; und er zählt mir gleich die Bücher auf, die ich lesen soll, damit ich so klug werde wie er: «Mill, Sigwart, Wundt, Riehl, Paulsen, B. Erdmann». - Besonders ergötzlich war mir der Rat eines Mannes, dem es so sehr imponiert, wie er Kant «versteht», daß er sich gar nicht denken kann, jemand habe Kant gelesen und urteile doch anders als er. Er gibt mir dabei gleich die betreffenden Kapitel in Kants Schriften an, aus denen ich ein ebenso tiefgründiges Kantverständnis schöpfen könne, wie er es hat.

Ich habe ein paar typische Beurteilungen meiner Ideenwelt hieher gesetzt. Obwohl sie an sich unbedeutend sind. scheinen sie mir doch geeignet zu sein, als Symptome auf Tatsachen Zu weisen, die heute als schwere Hindernisse sich dem in den Weg stellen, der sich in den höherer Erkenntnisfragen schriftstellerisch betätigt. Ich muß schor meinen Weg gehen, gleichgültig, ob der eine mir der guten Rat gibt, Kant zu lesen; oder ob der andere mich verketzert, weil ich Haeckel zustimme. Und so habe ich denn auch über die Mystik geschrieben, gleichgültig dar über, was ein gläubiger Materialist auch urteilen mag. ich möchte bloß - damit nicht ganz unnötig Druckerschwärze verschwendet werde - denjenigen, die mir vielleicht jetzt raten, Haeckels «Welträtsel» zu lesen, mitteilen, daß ich in den letzten Monaten etwa dreißig Vorträge über dieses Buch gehalten habe.

Ich hoffe in meiner Schrift gezeigt zu haben, daß man ein treuer Bekenner der naturwissenschaftlichen Weltanschauung sein und doch die Wege nach der Seele aufsuchen kann, welche die richtig verstandene Mystik führt. Ich gehe sogar noch weiter und sage: Nur wer den Geist im Sinne der wahren Mystik erkennt, kann ein volles Verständnis der Tatsachen in der Natur gewinnen. Man darf wahre Mystik nur nicht verwechseln mit dem «Mystizismus» verworrener Köpfe. Wie die Mystik irren kann, habe ich in meiner «Philosophie der Freiheit» S. 141 ff. gezeigt.

 

Berlin, September 1901 Rudolf Steiner


 

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