DIE
ERKENNTNIS DER HÖHEREN WELTEN
(VON DER EINWEIHUNG ODER INITIATION)
Zwischen
Geburt und Tod durchlebt der Mensch auf seiner gegenwärtigen
Entwickelungsstufe im gewöhnlichen Leben drei Seelenzustände: das
Wachen, den Schlaf und zwischen beiden den Traumzustand. Auf den
letzteren soll an späterer Stelle dieser Schrift noch kurz hingedeutet
werden. Hier mag das Leben zunächst in seinen beiden wechselnden
Hauptzuständen, dem Wachen und dem Schlafen, betrachtet werden. — Zu
Erkenntnissen in höheren Welten gelangt der Mensch, wenn er sich, außer
dem Schlafen und Wachen, noch einen dritten Seelenzustand erwirbt. Während
des Wachens ist die Seele hingegeben den Sinneseindrücken und den
Vorstellungen, welche von diesen Sinneseindrücken angeregt werden. Während
des Schlafes schweigen die Sinneseindrücke; aber die Seele verliert
auch das Bewußtsein. Die Tageserlebnisse sinken in das Meer der Bewußtlosigkeit
hinunter. — Man denke sich nun: die Seele könnte während des
Schlafes zu einer Bewußtheit kommen, trotzdem die Eindrücke der Sinne,
wie sonst im tiefen Schlafe, ausgeschaltet blieben. Ja, es würde auch
die Erinnerung an die Tageserlebnisse nicht vorhanden sein. Befände
sich nun die Seele in einem Nichts? Könnte sie nun gar keine Erlebnisse
haben? — Eine Antwort auf diese Frage ist nur möglich, wenn ein
Zustand wirklich hergestellt werden kann, welcher diesem gleich oder ähnlich
ist. Wenn die Seele etwas erleben kann, auch dann, wenn keine
Sinneswirkungen und keine Erinnerungen an solche in ihr vorhanden sind.
Dann befände sich die Seele in bezug auf die gewöhnliche Außenwelt
wie im Schlafe; und doch schliefe sie nicht, sondern wäre wie im Wachen
einer wirklichen Welt gegenüber. — Nun kann ein solcher Bewußtseinszustand
hergestellt werden, wenn der Mensch diejenigen Seelenerlebnisse herbeiführt,
welche ihm die Geisteswissenschaft möglich macht. Und alles, was diese
über jene Welten mitteilt, welche über die sinnliche hinausliegen, ist
durch einen solchen Bewußtseinszustand erforscht. — In den
vorhergehenden Ausführungen sind einige Mitteilungen über höhere
Welten gemacht worden. In dem Folgenden soll nun auch — soweit dies in
diesem Buche geschehen kann — von den Mitteln gesprochen werden, durch
welche der zu diesem Forschen notwendige Bewußtseinszustand geschaffen
wird.
Nur
nach einer Richtung hin gleicht dieser Bewußtseinszustand dem Schlafe,
nämlich dadurch, daß durch ihn alle äußeren Sinneswirkungen aufhören;
auch alle Gedanken getilgt sind, welche durch diese Sinneswirkungen
angeregt sind. Während aber im Schlafe die Seele keine Kraft hat, bewußt
etwas zu erleben, soll sie diese Kraft durch diesen Bewußtseinszustand
erhalten. Durch ihn wird in der Seele also die Fähigkeit eines Erlebens
erweckt, welche im gewöhnlichen Dasein nur durch die Sinneswirkungen
angeregt wird. Die Erweckung der Seele zu einem solchen höheren Bewußtseinszustand
kann Einweihung (Initiation)
genannt werden.
Die
Mittel der Einweihung führen den Menschen aus dem gewöhnlichen
Zustande des Tagesbewußtseins in eine solche Seelentätigkeit hinein,
durch welche er sich geistiger Beobachtungswerkzeuge bedient. Diese
Werkzeuge sind wie Keime vorher in der Seele vorhanden. Diese Keime müssen
entwickelt werden. — Nun kann der Fall eintreten, daß ein Mensch in
einem bestimmten Zeitpunkte seiner Lebenslaufbahn ohne besondere
Vorbereitung in seiner Seele die Entdeckung macht, es haben sich solche
höhere Werkzeuge in ihm entwickelt. Es ist dann eine Art von unwillkürlicher
Selbsterweckung eingetreten. Solch ein Mensch wird sich dadurch in
seinem ganzen Wesen umgewandelt finden. Eine unbegrenzte Bereicherung
seiner Seelenerlebnisse tritt ein. Und er wird finden, daß er durch
keine Erkenntnisse der Sinnenwelt eine solche Beseligung, solche
befriedigende Gemütsverfassung und innere Wärme empfinden kann, wie
durch dasjenige, was sich einer Erkenntnis erschließt, die nicht dem
physischen Auge zugänglich ist. Kraft und Lebenssicherheit wird in
seinen Willen aus einer geistigen Welt einströmen. — Solche Fälle
von Selbsteinweihung gibt es. Sie sollten aber nicht zu dem Glauben verführen,
daß es das einzig Richtige sei, eine solche Selbsteinweihung abzuwarten
und nichts zu tun, um die Einweihung durch regelrechte Schulung
herbeizuführen. Von der Selbsteinweihung braucht hier nicht gesprochen
zu werden, da sie eben ohne Beobachtung irgendwelcher Regeln eintreten
kann. Dargestellt aber soll werden, wie man durch Schulung die in der
Seele keimhaft ruhenden Wahrnehmungsorgane entwickeln kann. Menschen,
welche keinen besonderen Antrieb in sich verspüren, für ihre
Entwickelung selbst etwas zu tun, werden leicht sagen: das Menschenleben
steht in der Leitung von geistigen Mächten, in deren Führung soll man
nicht eingreifen; man soll ruhig des Augenblickes harren, in dem jene Mächte
es für richtig halten, der Seele eine andere Welt zu erschließen. Es
wird wohl auch von solchen Menschen wie eine Art von Vermessenheit
empfunden, oder als eine unberechtigte Begierde, in die Weisheit der
geistigen Führung einzugreifen. Persönlichkeiten, welche so denken,
werden erst dann zu einer anderen Meinung geführt, wenn auf sie eine
gewisse Vorstellung einen genügend starken Eindruck macht. Wenn sie
sich sagen: Jene weise Führung hat mir gewisse Fähigkeiten gegeben;
sie hat mir diese nicht verliehen, auf daß ich sie unbenützt lasse,
sondern damit ich sie gebrauche. Die Weisheit der Führung besteht
darin, daß sie in mich die Keime gelegt hat zu einem höheren Bewußtseinszustande.
Ich verstehe diese Führung nur, wenn ich es als Pflicht empfinde, daß
alles dem Menschen offenbar werde, was durch seine Geisteskräfte
offenbar werden kann. Wenn ein solcher Gedanke einen genügend starken
Eindruck auf die Seele gemacht hat, dann werden die obigen Bedenken
gegen eine Schulung in bezug auf einen höheren Bewußtseinszustand
schwinden.
Es kann
aber allerdings noch ein anderes Bedenken geben, das sich gegen eine
solche Schulung erhebt. Man kann sich sagen: «Die Entwickelung innerer
Seelenfähigkeiten greift in das verborgenste Heiligtum des Menschen
ein. Sie schließt in sich eine gewisse Umwandlung des ganzen
menschlichen Wesens. Die Mittel zu solcher Umwandlung kann man sich
naturgemäß nicht selber ersinnen. Denn wie man in eine höhere Welt
kommt, kann doch nur derjenige wissen, welcher den Weg in diese als sein
eigenes Erlebnis kennt. Wenn man sich an eine solche Persönlichkeit
wendet, so gestattet man derselben einen Einfluß auf das verborgenste
Heiligtum der Seele.» — Wer so denkt, dem könnte es selbst keine
besondere Beruhigung gewähren, wenn ihm die Mittel zur Herbeiführung
eines höheren Bewußtseinszustandes in einem Buche dargeboten würden.
Denn es kommt ja nicht darauf an, ob man etwas mündlich mitgeteilt erhält
oder ob eine Persönlichkeit, welche die Kenntnis dieser Mittel hat,
diese in einem Buche darstellt und ein anderer sie daraus erfährt. Es
gibt nun solche Persönlichkeiten, welche die Kenntnis der Regeln für
die Entwickelung der geistigen Wahrnehmungsorgane besitzen und welche
die Ansicht vertreten, daß man diese Regeln einem Buche nicht
anvertrauen dürfe. Solche Personen betrachten zumeist auch die
Mitteilung gewisser Wahrheiten, welche sich auf die geistige Welt
beziehen, als unstatthaft. Doch muß diese Anschauung gegenüber dem
gegenwärtigen Zeitalter der Menschheitsentwickelung in gewisser
Beziehung als veraltet bezeichnet werden. Richtig ist, daß man mit der
Mitteilung der entsprechenden Regeln nur bis zu einem gewissen Punkte
gehen kann. Doch führt das Mitgeteilte so weit, daß derjenige, welcher
dieses auf seine Seele anwendet, in der Erkenntnisentwickelung dazu
gelangt, daß er den weiteren Weg dann finden kann. Es führt dieser Weg
dann in einer Art weiter, über welche man eine richtige Vorstellung
auch nur durch das vorher Durchgemachte erhalten kann. Aus all diesen
Tatsachen können sich Bedenken gegen den geistigen Erkenntnisweg
ergeben. Diese Bedenken schwinden, wenn man das Wesen desjenigen
Entwickelungsganges ins Auge faßt, welchen die unserem Zeitalter
angemessene Schulung vorzeichnet. Von diesem Wege soll hier gesprochen
und auf andere Schulungen nur kurz hingewiesen werden.
Die
hier zu besprechende Schulung gibt demjenigen, welcher den Willen zu
seiner höheren Entwickelung hat, die Mittel an die Hand, die Umwandlung
seiner Seele vorzunehmen. Ein bedenklicher Eingriff in das Wesen des Schülers
wäre nur dann vorhanden, wenn der Lehrer diese Umwandlung durch Mittel
vornähme, die sich dem Bewußtsein des Schülers entziehen. Solcher
Mittel bedient sich aber keine richtige
Anweisung der Geistesentwickelung in unserem Zeitalter. Diese macht
den Schüler zu keinem blinden Werkzeuge. Sie gibt ihm die Verhaltungsmaßregeln;
und der Schüler führt sie aus. Es wird dabei, wenn es darauf ankommt,
nicht verschwiegen, warum diese oder jene Verhaltungsmaßregel gegeben
wird. Die Entgegennahme der Regeln und ihre Anwendung durch eine Persönlichkeit,
welche geistige Entwickelung sucht, braucht nicht auf blinden Glauben
hin zu geschehen. Ein solcher sollte auf diesem Gebiete ganz
ausgeschlossen sein. Wer die Natur der Menschenseele betrachtet, soweit
sie ohne Geistesschulung schon durch die gewöhnliche Selbstbeobachtung
sich ergibt, der kann sich nach Entgegennahme der von der
Geistesschulung empfohlenen Regeln fragen: wie können diese Regeln im
Seelenleben wirken? Und diese Frage kann, vor aller Schulung, bei
unbefangener Anwendung des gesunden Menschenverstandes, genügend
beantwortet werden. Man kann über die Wirkungsweise dieser Regeln
sich richtige Vorstellungen machen, bevor man sich ihnen hingibt. Erleben
kann man diese Wirkungsweise allerdings erst während der Schulung.
Allein auch da wird das Erleben stets von dem Verstehen dieses Erlebens
begleitet sein, wenn man jeden zu machenden Schritt mit dem gesunden
Urteile begleitet. Und gegenwärtig wird eine wahre Geisteswissenschaft
nur solche Regeln für die Schulung angeben, denen gegenüber solches
gesunde Urteil sich geltend machen kann. Wer willens ist, sich nur einer
solchen Schulung hinzugeben,
und wer sich durch keine Voreingenommenheit zu einem blinden
Glauben treiben läßt, dem werden alle Bedenken schwinden. Einwände
gegen eine regelrechte Schulung zu einem höheren Bewußtseinszustande
werden ihn nicht stören.
Selbst
für eine solche Persönlichkeit, welche die innere Reife hat, die sie
in kürzerer oder längerer Zeit zum Selbsterwachen der geistigen
Wahmehmungsorgane führen kann, ist eine Schulung nicht überflüssig,
sondern im Gegenteil, für sie ist sie ganz besonders geeignet. Denn es
gibt nur wenige Fälle, in denen eine solche Persönlichkeit vor der
Selbsteinweihung nicht die mannigfaltigsten krummen und vergeblichen
Seitenwege durchzumachen hat. Die Schulung erspart ihr diese Seitenwege.
Sie führt in der geraden Richtung vorwärts. Wenn eine solche
Selbsteinweihung für diese Seele eintritt, so rührt dies davon her, daß
die Seele sich in vorhergehenden Lebensläufen die entsprechende Reife
erworben hat. Es kommt nun sehr leicht vor, daß gerade eine solche
Seele ein gewisses dunkles Gefühl von ihrer Reife hat und sich aus
diesem Gefühl heraus gegen eine Schulung ablehnend verhält. Ein
solches Gefühl kann nämlich einen gewissen Hochmut erzeugen, welcher
das Vertrauen zu echter Geistesschulung hindert. Es kann nun eine
gewisse Stufe der Seelenentwickelung bis zu einem gewissen Lebensalter
verborgen bleiben und erst dann hervortreten. Aber es kann die Schulung
gerade das rechte Mittel sein, um sie zum Hervortreten zu bringen.
Verschließt sich ein Mensch dann gegen die Schulung, dann kann es sein,
daß seine Fähigkeit in dem betreffenden Lebenslauf verborgen bleibt
und erst wieder in einem der nächsten Lebensläufe hervortritt.
In
bezug auf die hier gemeinte Schulung für die übersinnliche Erkenntnis
ist es wichtig, gewisse naheliegende Mißverständnisse nicht aufkommen
zu lassen. Das eine kann dadurch entstehen, daß man meint, die Schulung
wolle den Menschen in bezug auf seine ganze Lebensführung zu einem
andern Wesen machen. Allein es handelt sich nicht darum, dem Menschen
allgemeine Lebensvorschriften zu geben, sondern ihm von
Seelenverrichtungen zu sprechen, die, wenn er sie ausführt, ihm die Möglichkeit
geben, das Übersinnliche zu beobachten. Auf denjenigen Teil seiner
Lebensverrichtungen, der außerhalb der Beobachtung des Übersinnlichen
liegt, haben diese Verrichtungen keinen unmittelbaren
Einfluß. Der Mensch erwirbt sich hinzu
zu diesen Lebensverrichtungen die Gabe der übersinnlichen
Beobachtung. Die Tätigkeit dieser Beobachtung ist von den gewöhnlichen
Verrichtungen des Lebens so getrennt wie der Zustand des Wachens von dem
des Schlafens. Das eine kann das andere nicht im geringsten stören. Wer
zum Beispiel den gewöhnlichen Ablauf des Lebens durch Eindrücke des übersinnlichen
Schauens durchsetzen wollte, gleicht einem Ungesunden, dessen Schlaf von
schädlichem Aufwachen fortwährend unterbrochen würde. Dem freien
Willen des Geschulten muß es möglich sein, den Zustand des Beobachtens
übersinnlicher Wirklichkeit herbeizuführen. Mittelbar
hängt die Schulung mit Lebensvorschriften allerdings insofern
zusammen, als ohne eine gewisse ethisch gestimmte Lebensführung ein
Einblick in das Übersinnliche unmöglich oder schädlich ist. Und
deshalb ist manches, das zur Anschauung des Übersinnlichen führt,
zugleich Mittel zur Veredlung der Lebensführung. Auf der andern Seite
erkennt man durch den Einblick in die übersinnliche Welt höhere
moralische Impulse, die auch für die sinnlich-physische Welt gelten.
Gewisse moralische Notwendigkeiten werden erst aus dieser Welt heraus
erkannt. — Ein zweites Mißverständnis wäre, wenn man glaubte,
irgendeine zum übersinnlichen Erkennen führende Seelenverrichtung habe
etwas mit Veränderung der physischen Organisation zu tun. Es haben
solche Verrichtungen vielmehr nicht das geringste zu tun mit irgend
etwas, in das Physiologie oder ein anderer Zweig der Naturerkenntnis
hineinzureden hat. Sie sind so ganz von allem Physischen abliegende rein
geistig-seelische Vorgänge wie das gesunde Denken und Wahrnehmen
selbst. Der Art nach geht in
der Seele durch eine solche Verrichtung nichts anderes vor, als was
vorgeht, wenn sie gesund vorstellt oder urteilt. So viel und so wenig
mit dem Leibe das gesunde Denken zu tun hat, so viel und so wenig haben
mit diesem die Vorgänge der echten Schulung zur übersinnlichen
Erkenntnis zu tun. Alles, was sich anders zum Menschen verhält, ist
nicht wahre Geistesschulung, sondern ein Zerrbild derselben. Im Sinne
des hier Gesagten sind die folgenden Ausführungen zu nehmen. Nur weil
übersinnliche Erkenntnis etwas ist, was von der ganzen Seele des
Menschen ausgeht, wird es so aussehen, als ob zur Schulung Dinge
verlangt würden, die aus dem Menschen etwas anderes machen. In Wahrheit
handelt es sich um Angaben über Verrichtungen, die die Seele in die Möglichkeit
versetzen, innerhalb ihres Lebens solche Augenblicke herbeizuführen, in
denen sie das Übersinnliche beobachten kann.
Die
Erhebung zu einem übersinnlichen Bewußtseinszustande kann nur von dem
gewöhnlichen wachen Tagesbewußtsein ausgehen. In diesem Bewußtsein
lebt die Seele vor ihrer Erhebung. Es werden ihr durch die Schulung
Mittel gegeben, welche sie aus diesem Bewußtsein herausführen. Die
hier zunächst in Betracht kommende Schulung gibt unter den ersten
Mitteln solche, welche sich noch als Verrichtungen des gewöhnlichen
Tagesbewußtseins kennzeichnen lassen. Gerade die bedeutsamsten Mittel
sind solche, die in stillen Verrichtungen der Seele bestehen. Es handelt
sich darum, daß sich die Seele ganz bestimmten Vorstellungen hingibt.
Diese Vorstellungen sind solche, welche durch ihr Wesen eine weckende
Kraft auf gewisse verborgene Fähigkeiten der menschlichen Seele ausüben.
Sie unterscheiden sich von solchen Vorstellungen des wachen Tageslebens,
welche die Aufgabe haben, ein äußeres Ding abzubilden. Je wahrer sie
dies tun, desto wahrer sind sie. Und es gehört zu ihrem Wesen, in
diesem Sinne wahr zu sein. Eine solche Aufgabe haben die Vorstellungen
nicht, welchen sich die Seele zum Ziele der Geistesschulung hingeben
soll. Sie sind so gestaltet, daß sie nicht ein Äußeres abbilden,
sondern in sich selbst die Eigenheit haben, auf die Seele weckend zu
wirken. Die besten Vorstellungen hierzu sind sinnbildliche
oder symbolische. Doch können auch andere Vorstellungen verwendet
werden. Denn es kommt eben gar nicht darauf an, was die Vorstellungen
enthalten, sondern lediglich darauf, daß die Seele alle ihre Kräfte
darauf richtet, nichts anderes im Bewußtsein zu haben als die
betreffende Vorstellung. Während im gewöhnlichen Seelenleben dessen Kräfte
auf vieles verteilt sind und die Vorstellungen rasch wechseln, kommt es
bei der Geistesschulung auf die Konzentration des ganzen Seelenlebens
auf eine Vorstellung an. Und diese Vorstellung muß durch freien Willen
in den Mittelpunkt des Bewußtseins gerückt sein. Sinnbildliche
Vorstellungen sind deshalb besser als solche, welche äußere Gegenstände
oder Vorgänge abbilden, weil die letzteren den Anhaltspunkt in der Außenwelt
haben und dadurch die Seele weniger sich auf sich allein zu stützen hat
als bei sinnbildlichen, die aus der eigenen Seelenenergie heraus
gebildet werden. Nicht was vorgestellt
wird, ist wesentlich, sondern darauf kommt es an, daß das Vorgestellte
durch die Art des Vorstellens das Seelische von jeder Anlehnung an ein
Physisches loslöst. Man gelangt zu einem Erfassen dieser Versenkung in
eine Vorstellung, wenn man sich erst einmal den Begriff
der Erinnerung vor die Seele ruft. Hat man das Auge zum Beispiel auf
einen Baum gerichtet und wendet man sich dann von dem Baume ab, so daß
man ihn nicht mehr sehen kann, so vermag man die Vorstellung des Baumes
aus der Erinnerung in der Seele wieder zu erwecken. Diese Vorstellung
des Baumes, die man hat, wenn derselbe nicht dem Auge gegenübersteht,
ist eine Erinnerung an den
Baum. Nun denke man sich, man behalte diese Erinnerung in der Seele; man
lasse die Seele gleichsam auf der Erinnerungsvorstellung ruhen; man bemühe
sich, alle andern Vorstellungen dabei auszuschließen. Dann ist die
Seele in die Erinnerungsvorstellung des Baumes versenkt.
Man hat es dann mit einer Versenkung der Seele in eine Vorstellung
zu tun; doch ist diese Vorstellung das Abbild eines durch die Sinne
wahrgenommenen Dinges. Wenn man aber dasselbe vornimmt mit einer durch
freien Willen in das Bewußtsein versetzten Vorstellung, so wird man
nach und nach die Wirkung erzielen können, auf welche es ankommt.
Es soll
nun ein Beispiel der inneren Versenkung mit einer sinnbildlichen
Vorstellung veranschaulicht werden. Zunächst muß eine solche
Vorstellung erst in der Seele aufgebaut werden. Das kann in folgender
Art geschehen: Man stelle sich eine Pflanze vor, wie sie im Boden
wurzelt, wie sie Blatt nach Blatt treibt, wie sie sich zur Blüte
entfaltet. Und nun denke man sich neben diese Pflanze einen Menschen
hingestellt. Man mache den Gedanken in seiner Seele lebendig, wie der
Mensch Eigenschaften und Fähigkeiten hat, welche denen der Pflanze
gegenüber vollkommener genannt werden können. Man bedenke, wie er sich
seinen Gefühlen und seinem Willen gemäß da und dorthin begeben kann,
während die Pflanze an den Boden gefesselt ist. Nun aber sage man sich
auch: ja, gewiß ist der Mensch vollkommener als die Pflanze; aber mir
treten dafür auch an ihm Eigenschaften entgegen, welche ich an der
Pflanze nicht wahrnehme, und durch deren Nichtvorhandensein sie mir in
gewisser Hinsicht vollkommener als der Mensch erscheinen kann. Der
Mensch ist erfüllt von Begierden und Leidenschaften; diesen folgt er
bei seinem Verhalten. Ich kann bei ihm von Verirrungen durch seine
Triebe und Leidenschaften sprechen. Bei der Pflanze sehe ich, wie sie
den reinen Gesetzen des Wachstums folgt von Blatt zu Blatt, wie sie die
Blüte leidenschaftslos dem keuschen Sonnenstrahl öffnet. Ich kann mir
sagen: der Mensch hat eine gewisse Vollkommenheit vor der Pflanze
voraus; aber er hat diese Vollkommenheit dadurch erkauft, daß er zu den
mir rein erscheinenden Kräften der Pflanze in seinem Wesen hat
hinzutreten lassen Triebe, Begierden und Leidenschaften. Ich stelle mir
nun vor, daß der grüne Farbensaft durch die Pflanze fließt und daß
dieser der Ausdruck ist für die reinen leidenschaftslosen
Wachstumsgesetze. Und dann stelle ich mir vor, wie das rote Blut durch
die Adern des Menschen fließt und wie dieses der Ausdruck ist für die
Triebe, Begierden und Leidenschaften. Das alles lasse ich als einen
lebhaften Gedanken in meiner Seele erstehen. Dann stelle ich mir weiter
vor, wie der Mensch entwicklungsfähig ist; wie er seine Triebe und
Leidenschaften durch seine höheren Seelenfähigkeiten läutern und
reinigen kann. Ich denke mir, wie dadurch ein Niederes in diesen Trieben
und Leidenschaften vernichtet wird, und diese auf einer höheren Stufe
wiedergeboren werden. Dann wird das Blut vorgestellt werden dürfen als
der Ausdruck der gereinigten und geläuterten Triebe und Leidenschaften.
Ich blicke nun zum Beispiel im Geiste auf die Rose und sage mir: in dem
roten Rosenblatt sehe ich die Farbe des grünen Pflanzensaftes
umgewandelt in das Rot; und die rote Rose folgt wie das grüne Blatt den
reinen, leidenschaftslosen Gesetzen des Wachstums. Das Rot der Rose möge
mir nun werden das Sinnbild eines solchen Blutes, das der Ausdruck ist
von geläuterten Trieben und Leidenschaften, welche das Niedere
abgestreift haben und in ihrer Reinheit gleichen den Kräften, welche in
der roten Rose wirken. Ich versuche nun, solche Gedanken nicht nur in
meinem Verstande zu verarbeiten, sondern in meiner Empfindung lebendig
werden zu lassen. Ich kann eine beseligende Empfindung haben, wenn ich
die Reinheit und Leidenschaftslosigkeit der wachsenden Pflanze mir
vorstelle; ich kann das Gefühl in mir erzeugen, wie gewisse höhere
Vollkommenheiten erkauft werden müssen durch die Erwerbung der Triebe
und Begierden. Das kann die Beseligung, die ich vorher empfunden habe,
in ein ernstes Gefühl verwandeln; und dann kann ein Gefühl eines
befreienden Glückes in mir sich regen, wenn ich mich hingebe dem
Gedanken an das rote Blut, das Träger werden kann von innerlich reinen
Erlebnissen, wie der rote Saft der Rose. Es kommt darauf an, daß man
nicht gefühllos sich den Gedanken gegenüberstelle, welche zum Aufbau
einer sinnbildlichen Vorstellung dienen. Nachdem man sich in solchen
Gedanken und Gefühlen ergangen hat, verwandle man sich dieselben in
folgende sinnbildliche Vorstellung. Man stelle sich ein schwarzes Kreuz
vor. Dieses sei Sinnbild für
das vernichtete Niedere der Triebe und Leidenschaften; und da, wo sich
die Balken des Kreuzes schneiden, denke man sich sieben rote, strahlende
Rosen im Kreise angeordnet. Diese Rosen seien das Sinnbild
für ein Blut, das Ausdruck ist für geläuterte, gereinigte
Leidenschaften und Triebe[12].
Eine solche sinnbildliche Vorstellung soll es nun sein, die man sich in
der Art vor die Seele ruft, wie es oben an einer Erinnerungsvorstellung
veranschaulicht ist. Eine solche Vorstellung hat eine seelenweckende
Kraft, wenn man sich in innerlicher Versenkung ihr hingibt. Jede andere
Vorstellung muß man versuchen während der Versenkung auszuschließen.
Lediglich das charakterisierte Sinnbild soll im Geiste vor der Seele
schweben, so lebhaft als dies möglich ist. — Es ist nicht
bedeutungslos, daß dieses Sinnbild nicht einfach als eine weckende
Vorstellung hier angeführt worden ist, sondern daß es erst durch
gewisse Vorstellungen über Pflanze und Mensch aufgebaut worden ist.
Denn es hängt die Wirkung eines solchen Sinnbildes davon ab, daß man
es sich in der geschilderten Art zusammengestellt hat, bevor man es zur
inneren Versenkung verwendet. Stellt man es sich vor, ohne einen solchen
Aufbau erst in der eigenen Seele durchgemacht zu haben, so bleibt es
kalt und viel unwirksamer, als wenn es durch die Vorbereitung seine
seelenbeleuchtende Kraft erhalten hat. Während der Versenkung soll man
jedoch sich alle die vorbereitenden Gedanken nicht in die Seele rufen,
sondern lediglich das Bild lebhaft vor sich im Geiste schweben haben und
dabei jene Empfindung mitschwingen
lassen, die sich als Ergebnis durch die vorbereitenden Gedanken
eingestellt hat. So wird das Sinnbild zum Zeichen neben dem
Empfindungserlebnis. Und in dem Verweilen der Seele in diesem Erlebnis
liegt das Wirksame. Je länger man verweilen kann, ohne daß eine störende
andere Vorstellung sich einmischt, desto wirksamer ist der ganze
Vorgang. Jedoch ist es gut, wenn man sich außer der Zeit, welche man
der eigentlichen Versenkung widmet, öfters durch Gedanken und Gefühle
der oben geschilderten Art den Aufbau des Bildes wiederholt, damit die
Empfindung nicht verblasse. Je mehr Geduld man zu einer solchen
Erneuerung hat, desto bedeutsamer ist das Bild für die Seele. (In den
Auseinandersetzungen meines Buches: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten?» sind noch andere Beispiele von Mitteln zur inneren Versenkung
angegeben. Besonders wirksam sind die daselbst charakterisierten
Meditationen über das Werden und Vergehen einer Pflanze, über die in
einem Pflanzen-Samenkorn schlummernden Werdekräfte, über die Formen
von Kristallen usw. Hier in diesem Buche sollte an einem Beispiele das
Wesen der Meditation gezeigt werden.)
Ein
solches Sinnbild, wie es hier geschildert ist, bildet kein äußeres
Ding oder Wesen, das durch die Natur hervorgebracht wird, ab. Aber eben
gerade dadurch hat es seine weckende Kraft für gewisse rein seelische Fähigkeiten.
Es könnte allerdings jemand einen Einwand erheben. Er könnte sagen:
Gewiß, das «Ganze», als Sinnbild, ist nicht durch die Natur
vorhanden; aber alle Einzelheiten sind doch aus dieser Natur entlehnt:
die schwarze Farbe, die Rosen und so weiter.
Das
alles werde doch durch die Sinne wahrgenommen. Wer durch solchen Einwand
gestört wird, der sollte bedenken, daß nicht die Abbildungen der
Sinneswahrnehmungen dasjenige sind, was zur Weckung der höheren Seelenfähigkeiten
führt, sondern daß diese Wirkung lediglich durch die Art
der Zusammenfügung dieser Einzelheiten hervorgerufen wird. Und
diese Zusammenfügung bildet nicht etwas ab, was in der Sinneswelt
vorhanden ist.
An
einem Sinnbild — als Beispiel — sollte der Vorgang der wirksamen
Versenkung der Seele veranschaulicht werden. In der Geistesschulung können
die mannigfaltigsten Bilder dieser Art verwendet und diese in der
verschiedensten Art aufgebaut werden. Es können auch gewisse Sätze,
Formeln, einzelne Worte gegeben werden, in welche man sich zu versenken
hat. In jedem Falle werden diese Mittel der inneren Versenkung das Ziel
haben, die Seele loszureißen von der Sinneswahrnehmung und sie zu einer
solchen Tätigkeit anzuregen, bei welcher der Eindruck auf die
physischen Sinne bedeutungslos ist und die Entfaltung innerer
schlummernder Seelenfähigkeiten das Wesentliche wird. Es kann sich auch
um Versenkungen bloß in Gefühle, Empfindungen usw. handeln. Solches
erweist sich besonders wirksam. Man nehme einmal das Gefühl der Freude.
Im normalen Lebensverlaufe mag die Seele Freude erleben, wenn eine äußere
Anregung zur Freude vorhanden ist. Wenn eine gesund empfindende Seele
wahrnimmt, wie ein Mensch eine Handlung vollbringt, welche diesem seine
Herzensgüte eingibt, so wird diese Seele Wohlgefallen, Freude an einer
solchen Handlung haben. Aber diese Seele kann nun nachdenken über eine
Handlung dieser Art. Sie kann sich sagen: Eine Handlung, welche aus
Herzensgüte vollbracht wird, ist eine solche, bei welcher der
Vollbringer nicht seinem eigenen Interesse folgt, sondern dem Interesse
seines Mitmenschen. Und eine solche Handlung kann eine sittlich gute
genannt werden. Nun aber kann die betrachtende Seele sich ganz frei
machen von der Vorstellung des einzelnen Falles in der Außenwelt,
welcher ihr die Freude oder das Wohlgefallen gemacht hat, und sie kann
sich die umfassende Idee der Herzensgüte bilden. Sie kann sich etwa
denken, wie Herzensgüte dadurch entstehe, daß die eine Seele das
Interesse der andern gleichsam aufsauge und zu dem eigenen mache. Und
die Seele kann nun die Freude empfinden über diese sittliche Idee der
Herzensgüte. Das ist die Freude nicht an diesem oder jenem Vorgange der
Sinneswelt, sondern die Freude an einer Idee
als solcher. Versucht man solche Freude durch längere Zeit in der
Seele lebendig sein zu lassen, so ist dies Versenkung in ein Gefühl, in
eine Empfindung. Nicht die Idee ist dann das Wirksame zur Weckung der
inneren Seelenfähigkeiten, sondern das durch längere Zeit andauernde
Walten des nicht durch einen bloßen einzelnen äußeren Eindruck
angeregten Gefühls innerhalb der Seele. — Da die übersinnliche
Erkenntnis tiefer einzudringen vermag in das Wesen der Dinge als das gewöhnliche
Vorstellen, so können aus deren Erfahrungen heraus Empfindungen
angegeben werden, welche noch in viel höherem Grade auf die Entfaltung
der Seelenfähigkeiten wirken, wenn sie zur inneren Versenkung verwendet
werden. So notwendig dies letztere für höhere Grade der Schulung ist,
so soll man doch dessen eingedenk sein, daß energische Versenkung in
solche Gefühle und Empfindungen, wie zum Beispiel das an der
Betrachtung der Herzensgüte charakterisierte, schon sehr weit führen
kann. — Da die Wesenheiten der Menschen verschieden sind, so sind für
die einzelnen Menschen auch verschiedene Mittel der Schulung die
wirksamen. — Was die Zeitlänge der Versenkung betrifft, so ist zu
bedenken, daß die Wirkung um so stärker ist, je gelassener und
besonnener diese Versenkung werden kann. Aber eine jegliche Übertreibung
in dieser Richtung soll vermieden werden. Es kann ein gewisser innerer
Takt, der sich durch die Übungen selbst ergibt, den Schüler lehren, an
was er in dieser Beziehung sich zu halten hat.
Man
wird solche Übungen innerer Versenkung in der Regel lange durchzuführen
haben, bevor man deren Ergebnis selber wahrnehmen kann. Was zur
Geistesschulung unbedingt gehört, ist: Geduld und Ausdauer. Wer diese
beiden nicht in sich wachruft und nicht so in aller Ruhe fortdauernd
seine Übungen macht, daß Geduld und Ausdauer dabei stets die
Grundstimmung seiner Seele ausmachen, der kann nicht viel erreichen.
Es ist
aus der vorangehenden Darstellung wohl ersichtlich, daß die innere
Versenkung (Meditation) ein Mittel ist zur Erlangung der Erkenntnis höherer
Welten, aber auch daß nicht jeder beliebige Vorstellungsinhalt dazu führt,
sondern nur ein solcher, welcher in der geschilderten Art ein gerichtet
ist.
Der
Weg, auf den hier hingewiesen ist, führt zunächst zu dem, was man die imaginative
Erkenntnis nennen kann. Sie ist die erste höhere Erkenntnisstufe.
Das Erkennen, welches auf der sinnlichen Wahrnehmung und auf der
Verarbeitung der sinnlichen Wahrnehmungen durch den an die Sinne
gebundenen Verstand beruht, kann — im Sinne der Geisteswissenschaft
— das « gegenständliche Erkennen» genannt werden. Über dieses
hinaus liegen die höheren Erkenntnisstufen, deren erste eben das
imaginative Erkennen ist. Der Ausdruck «imaginativ» könnte bei jemand
Bedenken hervorrufen, der sich unter «Imagination» nur eine «eingebildete»
Vorstellung denkt, welcher nichts Wirkliches entspricht. In der
Geisteswissenschaft soll aber die «imaginative» Erkenntnis als eine
solche aufgefaßt werden, welche durch einen übersinnlichen Bewußtseinszustand
der Seele zustande kommt. Was in diesem Bewußtseinszustande
wahrgenommen wird, sind geistige Tatsachen und Wesenheiten, zu denen die
Sinne keinen Zugang haben. Weil dieser Zustand in der Seele erweckt wird
durch die Versenkung in Sinnbilder oder «Imaginationen», so kann auch
die Welt dieses höheren Bewußtseinszustandes die «imaginative» und
die auf sie bezügliche Erkenntnis die «imaginative» genannt werden.
«Imaginativ» bedeutet also etwas, was in einem andern Sinne «wirklich»
ist als die Tatsachen und Wesenheiten der physischen Sinneswahrnehmung.
Auf den Inhalt der
Vorstellungen, welche das imaginative Erleben erfüllen, kommt nichts
an; dagegen alles auf die Seelenfähigkeit, die an diesem Erleben
herangebildet wird.
Ein
sehr naheliegender Einwurf gegen die Verwendung der charakterisierten
sinnbildlichen Vorstellungen ist, daß ihre Bildung einem träumerischen
Denken und einer willkürlichen Einbildungskraft entspringen und daß
sie daher nur von zweifelhaftem Erfolge sein könne. Denjenigen
Sinnbildern gegenüber, welche der regelrechten Geistesschulung zugrunde
liegen, ist ein damit gekennzeichnetes Bedenken unberechtigt. Denn die
Sinnbilder werden so gewählt, daß von ihrer Beziehung auf eine äußere
sinnliche Wirklichkeit ganz abgesehen werden kann und ihr Wert lediglich
in der Kraft gesucht werden kann, mit welcher sie auf die Seele dann
wirken, wenn diese alle Aufmerksamkeit von der äußeren Welt abzieht,
wenn sie alle Eindrücke der Sinne unterdrückt und auch alle Gedanken
ausschaltet, die sie, auf äußere Anregung hin, hegen kann. Am
anschaulichsten wird der Vorgang der Meditation durch Vergleich
derselben mit dem Schlafzustande. Sie ist diesem nach der einen Seite
hin ähnlich, nach der anderen völlig entgegengesetzt. Sie ist ein
Schlaf, der gegenüber dem Tagesbewußtsein ein höheres Erwachtsein
darstellt. Es kommt darauf an, daß durch die Konzentration auf die
entsprechende Vorstellung oder das Bild die Seele genötigt ist, viel stärkere
Kräfte aus ihren eigenen Tiefen hervorzuholen, als sie im gewöhnlichen
Leben oder dem gewöhnlichen Erkennen anwendet. Ihre innere Regsamkeit
wird dadurch erhöht. Sie löst sich los von der Leiblichkeit, wie sie
sich im Schlafe loslöst; aber sie geht nicht wie in diesem in die Bewußtlosigkeit
über, sondern sie erlebt eine Weit, die sie vorher nicht erlebt hat.
Ihr Zustand ist, obwohl er nach der Seite der Losgelöstheit vom Leibe
mit dem Schlafe verglichen werden kann, doch so, daß er sich zu dem gewöhnlichen
Tagesbewußtsein als ein solcher eines erhöhten
Wachseins kennzeichnen läßt. Dadurch erlebt sich die Seele in
ihrer wahren inneren, selbständigen Wesenheit, während sie sich im gewöhnlichen
Tagwachen durch die in demselben vorhandene schwächere Entfaltung ihrer
Kräfte nur mit Hilfe des Leibes zum Bewußtsein bringt, sich also nicht
selbst erlebt, sondern nur in dem Bilde gewahr wird, das — wie eine
Art Spiegelbild — der Leib (eigentlich dessen Vorgänge) vor ihr
entwirft.
Diejenigen
Sinnbilder, welche in der oben geschilderten Art aufgebaut werden,
beziehen sich naturgemäß noch nicht auf etwas Wirkliches in der
geistigen Weit. Sie dienen dazu, um die menschliche Seele loszureißen
von der Sinneswahrnehmung und von dem Gehirninstrument, an welches zunächst
der Verstand gebunden ist. Diese Losreißung kann nicht früher
geschehen, als bis der Mensch fühlt: jetzt stelle ich etwas vor durch
Kräfte, bei denen mir meine Sinne und das Gehirn nicht als Werkzeuge
dienen. Das erste, was der Mensch auf diesem Wege erlebt, ist ein
solches Freiwerden von den physischen Organen. Er kann sich dann sagen:
mein Bewußtsein erlöscht nicht, wenn ich die Sinneswahrnehmungen und
das gewöhnliche Verstandesdenken unberücksichtigt lasse; ich kann mich
aus diesem herausheben und empfinde mich dann als ein Wesen neben
dem, was ich vorher war. Das ist das erste rein geistige Erlebnis:
die Beobachtung einer seelisch-geistigen Ich-Wesenheit. Diese hat sich
als ein neues Selbst aus demjenigen Selbst herausgehoben, das nur an die
physischen Sinne und den physischen Verstand gebunden ist. Hätte man
ohne die Versenkung sich losgemacht von der Sinnes- und Verstandeswelt,
so wäre man in das «Nichts» der Bewußtlosigkeit versunken. Man hat
die seelisch-geistige Wesenheit selbstverständlich auch vor
der Versenkung schon gehabt. Sie hatte aber noch keine Werkzeuge zur
Beobachtung der geistigen Welt. Sie war etwa so wie ein physischer Leib,
der kein Auge zum Sehen oder kein Ohr zum Hören hat. Die Kraft, welche
in der Versenkung aufgewendet worden ist, hat erst die
seelisch-geistigen Organe aus der vorher unorganisierten
seelisch-geistigen Wesenheit herausgeschaffen. Das, was man sich so
anerschaffen hat, nimmt man auch zuerst wahr. Das erste Erlebnis ist
daher in gewissem Sinne Selbstwahrnehmung. Es gehört zum Wesen der
Geistesschulung, daß die Seele durch die an sich geübte
Selbsterziehung an diesem Punkte ihrer Entwickelung ein volles Bewußtsein
davon hat, daß sie zunächst sich
selbst wahrnimmt in den Bilderwelten (Imaginationen), die infolge
der geschilderten Übungen auftreten. Diese Bilder treten zwar als
lebend in einer neuen Welt auf; die Seele muß aber erkennen, daß sie
doch nichts anderes zunächst sind als die Widerspiegelung ihres eigenen
durch die Übungen verstärkten Wesens. Und sie muß dieses nicht nur im
richtigen Urteile erkennen, sondern auch zu einer solchen Ausbildung des
Willens gekommen sein, daß sie jederzeit die Bilder wieder aus dem Bewußtsein
entfernen, auslöschen kann. Die Seele muß innerhalb dieser Bilder völlig
frei und vollbesonnen walten können. Das gehört zur richtigen
Geistesschulung in diesem Punkte. Würde sie dieses nicht können, so wäre
sie im Gebiete der geistigen Erlebnisse in demselben Falle, in dem eine
Seele wäre in der physischen Welt, welche, wenn sie das Auge nach einem
Gegenstande richtete, durch diesen gefesselt wäre, so daß sie von
demselben nicht mehr wegschauen könnte. Eine Ausnahme von dieser Möglichkeit
des Auslöschens macht nur eine Gruppe von inneren Bilderlebnissen, die
auf der erlangten Stufe der Geistesschulung nicht
auszulöschen ist. Diese entspricht dem eigenen Seelen-Wesenskerne;
und der Geistesschüler erkennt in diesen Bildern dasjenige in ihm
selber, welches sich als sein Grundwesen durch die wiederholten
Erdenleben hindurchzieht. Auf diesem Punkte wird das Erfühlen von
wiederholten Erdenleben zu einem wirklichen Erlebnis. In bezug auf alles
übrige muß die erwähnte Freiheit der Erlebnisse herrschen. Und erst,
nachdem man die Fähigkeit der Auslöschung erlangt hat, tritt man an
die wirkliche geistige Außenwelt heran. An Stelle des Ausgelöschten
kommt ein anderes, in dem man die geistige Wirklichkeit erkennt. Man fühlt,
wie man seelisch aus einem Unbestimmten als ein Bestimmtes herauswächst.
Von dieser Selbstwahrnehmung aus muß es dann weiter gehen zur
Beobachtung einer seelisch-geistigen Außenwelt. Diese tritt ein, wenn
man sein inneres Erleben in dem Sinne einrichtet, wie es hier weiter
angedeutet werden wird.
Zunächst
ist die Seele des Geistesschülers schwach in bezug auf alles das, was
in der seelisch-geistigen Welt wahrzunehmen ist. Er wird schon eine große
innere Energie aufwenden müssen, um die Sinnbilder oder anderen
Vorstellungen, welche er sich aus den Anregungen der Sinneswelt heraus
aufgebaut hat, in innerer Versenkung festzuhalten. Will er aber außerdem
noch zur wirklichen Beobachtung in einer höheren Welt gelangen, so muß
er nicht nur an diesen
Vorstellungen festhalten können. Er muß auch, nachdem er dies getan
hat, in einem Zustande verweilen können, in dem keine Anregungen der
sinnlichen Außenwelt auf die Seele wirken, aber in dem auch die
charakterisierten imaginierten Vorstellungen selbst aus dem Bewußtsein
heraus getilgt werden. Nun kann erst das im Bewußtsein hervortreten,
was durch die Versenkung sich gebildet hat. Es handelt sich darum, daß
nunmehr innere Seelenkraft genug vorhanden ist, damit das also Gebildete
wirklich geistig geschaut wird, damit es nicht der Aufmerksamkeit
entgehe. Dies ist aber bei noch schwach entwickelter innerer Energie
durchaus der Fall. Was sich als seelisch-geistiger Organismus da zunächst
herausbildet und was man in Selbstwahrnehmung erfassen soll, ist zart
und flüchtig. Und die Störungen der sinnlichen Außenwelt und deren
Erinnerungs-Nachwirkungen sind, auch wenn man sich noch so sehr bemüht
sie abzuhalten, groß. Es kommen da ja nicht nur diejenigen Störungen
in Betracht, welche man beachtet, sondern viel
mehr sogar diejenigen, welche man im gewöhnlichen Leben gar nicht
beachtet. — Es ist aber gerade durch das Wesen des Menschen ein Übergangszustand
in dieser Beziehung möglich. Was die Seele zunächst wegen der Störungen
der physischen Welt im Wachzustand nicht leisten kann, das vermag sie im
Schlafzustand. Wer sich der inneren Versenkung ergibt, der wird bei gehöriger
Aufmerksamkeit an seinem Schlaf etwas gewahr werden. Er wird fühlen, daß
er während des Schlafes «nicht ganz schläft», sondern daß seine
Seele Zeiten hat, in denen sie schlafend doch in einer gewissen Art tätig
ist. In solchen Zuständen halten die natürlichen Vorgänge die Einflüsse
der Außenwelt ab, welche die Seele wachend noch nicht aus eigener Kraft
abhalten kann. Wenn aber nun die Übungen der Versenkung schon gewirkt
haben, so löst sich die Seele während des Schlafes aus der Bewußtlosigkeit
heraus und fühlt die geistig-seelische Welt. In einer zweifachen Art
kann das eintreten. Es kann dem Menschen während des Schlafens klar
sein: ich bin nun in einer andern Welt, oder aber er kann in sich nach
dem Erwachen die Erinnerung haben: ich war in einer andern Welt. Zu dem
ersteren gehört allerdings eine größere innere Energie als zu dem
zweiten. Daher wird das letztere bei dem Anfänger in der
Geistesschulung das häufigere sein. Nach und nach kann das so weit
gehen, daß dem Schüler nach dem Erwachen vorkommt: ich war die ganze
Schlafenszeit hindurch in einer andern Welt, aus der ich aufgetaucht bin
mit dem Erwachen. Und seine Erinnerung an die Wesenheiten und Tatsachen
dieser andern Welt wird eine immer bestimmtere werden. Es ist bei dem
Geistesschüler dann in der einen oder der andern Form das eingetreten,
was man die Kontinuität des Bewußtseins nennen kann. (Die Fortdauer
des Bewußtseins während des Schlafens.) Damit ist aber durchaus nicht
gemeint, daß etwa der Mensch immer
während des Schlafes sein Bewußtsein hat. Es ist schon viel
errungen in der Kontinuität des Bewußtseins, wenn der Mensch, der
sonst schläft wie ein anderer, gewisse Zeiten hat während des
Schlafens, in denen er auf eine geistig-seelische Welt wie bewußt
hinschauen kann, oder wenn er im Wachen auf solche kurz dauernde Bewußtseinszustände
wieder wie hinschauen kann. Nicht außer acht möge aber gelassen
werden, daß das hier Geschilderte doch nur als ein Übergangszustand
aufzufassen ist. Es ist gut, durch diesen Übergangszustand behufs
Schulung hindurchzugehen; aber man soll durchaus nicht glauben, daß
eine abschließende Anschauung in bezug auf die geistig-seelische Welt
aus diesem Übergangszustande geschöpft werden soll. Die Seele ist in
diesem Zustande unsicher und kann sich darinnen noch nicht auf dasjenige
verlassen, was sie wahrnimmt. Aber sie sammelt durch solche Erlebnisse
immer mehr Kraft, um dann auch während des Wachens dazu zu gelangen,
die störenden Einflüsse der physischen Außen- und Innenwelt von sich
abzuhalten und so zu geistig-seelischer Beobachtung zu gelangen, wenn
keine Eindrücke durch die Sinne kommen, wenn der an das physische
Gehirn gebundene Verstand schweigt und wenn auch die Vorstellungen der
Versenkung aus dem Bewußtsein entfernt sind, durch welche man sich auf
das geistige Schauen ja nur vorbereitet hat. — Was durch die
Geisteswissenschaft in dieser oder jener Form veröffentlicht wird,
sollte niemals aus einer andern geistig-seelischen Beobachtung stammen
als aus einer solchen, welche bei vollem Wachzustande gemacht worden
ist.
Zwei
Seelenerlebnisse sind wichtig im Fortgange der Geistesschulung. Das eine
ist dasjenige, durch welches sich der Mensch sagen kann: wenn ich
nunmehr auch alles außer acht lasse, was mir die physische Außenwelt
an Eindrücken geben kann, so blicke ich in mein Inneres doch nicht wie
auf ein Wesen, dem alle Tätigkeit erlöscht, sondern ich schaue auf ein
Wesen, das sich seiner selbst bewußt ist in einer Welt, von der ich
nichts weiß, so lange ich mich nur von jenen sinnlichen und gewöhnlichen
Verstandeseindrücken anregen lasse. Die Seele hat in diesem Augenblicke
die Empfindung, daß sie in sich selbst ein neues Wesen als ihren
Seelen-Wesenskern in der oben beschriebenen Weise geboren habe. Und
dieses Wesen ist ein solches von ganz anderen Eigenschaften, als
diejenigen sind, welche vorher in der Seele waren. — Das andere
Erlebnis besteht darin, daß man sein bisheriges Wesen nunmehr wie ein
zweites neben sich haben kann. Dasjenige, worin man bisher sich
eingeschlossen wußte, wird zu etwas, dem man sich in gewisser Beziehung
gegenübergestellt findet. Man fühlt sich zeitweilig außerhalb dessen,
was man sonst als die eigene Wesenheit, als sein
« Ich» angesprochen hat. Es ist so, wie wenn man nun in voller
Besonnenheit in zwei «Ichen» lebte. Das eine ist dasjenige, welches
man bisher gekannt hat. Das andere steht wie eine neugeborene Wesenheit
über diesem. Und man fühlt, wie das erstere eine gewisse Selbständigkeit
erlangt gegenüber dem zweiten; etwa so wie der Leib des Menschen eine
gewisse Selbständigkeit hat gegenüber dem ersten Ich. — Dieses
Erlebnis ist von großer Bedeutung. Denn durch dasselbe weiß der
Mensch, was es heißt, in jener Welt leben, welche er durch die Schulung
zu erreichen strebt.
Das
zweite — das neugeborene — Ich kann nun zum Wahrnehmen in der
geistigen Welt geführt werden. In ihm kann sich entwickeln, was für
diese geistige Welt die Bedeutung hat, welche den Sinnesorganen für die
sinnlich-physische Welt zukommt. Ist diese Entwickelung bis zu dem
notwendigen Grade fortgeschritten, so wird der Mensch nicht nur sich
selbst als ein neugeborenes Ich empfinden, sondern er wird nunmehr um
sich herum geistige Tatsachen und geistige Wesenheiten wahrnehmen, wie
er durch die physischen Sinne die physische Welt wahrnimmt. Und dies ist
ein drittes bedeutsames
Erlebnis. Um völlig auf dieser Stufe der Geistesschulung
zurechtzukommen, muß der Mensch damit rechnen, daß mit der Verstärkung
der Seelenkräfte die Selbstliebe, der Selbstsinn in einem solchen Grade
auftreten, den das gewöhnliche Seelenleben gar nicht kennt. Es wäre
ein Mißverständnis, wenn jemand glauben könnte, daß man auf diesem
Punkte nur von der gewöhnlichen Selbstliebe zu sprechen hat. Diese
verstärkt sich auf dieser Stufe der Entwickelung so, daß sie das
Aussehen einer Naturkraft innerhalb der eigenen Seele annimmt, und es
gehört eine starke Willensschulung dazu, um diesen starken Selbstsinn
zu besiegen. Dieser Selbstsinn wird durch die Geistesschulung nicht etwa
erzeugt; er ist immer vorhanden; er gelangt durch das Geist-Erleben nur
zum Bewußtsein. Die Willensschulung muß der andern Geistesschulung
durchaus zur Seite gehen. Es ist ein starker Trieb da, sich in der Welt
beseligt zu fühlen, welche man sich erst selbst herangeschaffen hat.
Und man muß gewissermaßen das in der oben erwähnten Art auslöschen können,
um das man sich erst mit aller Anstrengung bemüht hat. In der
erreichten imaginativen Welt muß man sich
auslöschen. Dagegen aber kämpfen die stärksten Triebe des
Selbstsinnes an. — Es kann leicht der Glaube entstehen, daß die Übungen
der Geistesschulung etwas Äußerliches seien, das von der moralischen
Entwickelung der Seele absieht. Demgegenüber muß gesagt werden, daß
die moralische Kraft, die zu der gekennzeichneten Besiegung des
Selbstsinnes notwendig ist, nicht erlangt werden kann, ohne daß die
moralische Verfassung der Seele auf eine entsprechende Stufe gebracht
wird. Fortschritt in der Geistesschulung ist nicht denkbar, ohne daß
zugleich ein moralischer Fortschritt sich notwendig ergibt. Ohne
moralische Kraft ist die erwähnte Besiegung des Selbstsinnes nicht möglich.
Alles Reden darüber, daß die wahre Geistesschulung nicht zugleich eine
moralische Schulung sei, ist doch unsachgemäß. Nur demjenigen, welcher
ein solches Erlebnis nicht kennt, kann sich der Einwand ergeben: wie
kann man wissen, daß man es dann, wenn man glaubt,
geistige Wahrnehmungen zu haben, mit Wirklichkeiten und nicht mit
bloßen Einbildungen (Visionen, Halluzinationen usw.) zu tun habe? —
Die Sache ist ebenso, daß derjenige, welcher in regelrechter Schulung
die charakterisierte Stufe erreicht hat, seine eigene
Vorstellung von einer geistigen Wirklichkeit ebenso unterscheiden
kann, wie ein Mensch mit gesundem Verstande unterscheiden kann die
Vorstellung eines heißen Eisenstückes von dem wirklichen Vorhandensein
eines solchen, das er mit der Hand berührt. Den Unterschied gibt eben
das gesunde Erleben und nichts anderes. Und auch in der geistigen Welt
gibt den Prüfstein das Leben selbst. Wie man weiß, daß in der
Sinnenwelt ein vorgestelltes Eisenstück, wenn es noch so heiß gedacht
wird, nicht die Finger verbrennt, so weiß der geschulte Geistesschüler,
ob er nur in seiner Einbildung eine geistige Tatsache erlebt oder ob auf
seine erweckten geistigen Wahmehmungsorgane wirkliche
Tatsachen oder Wesenheiten einen Eindruck machen. Die Maßregeln,
welche man während der Geistesschulung zu beobachten hat, damit man in
dieser Beziehung nicht Täuschungen zum Opfer fällt, werden in der
folgenden Darstellung noch besprochen werden.
Es ist
nun von der größten Bedeutung, daß der Geistesschüler eine ganz
bestimmte Seelenverfassung erlangt hat, wenn das Bewußtsein von einem
neugeborenen Ich bei ihm eintritt. Denn es ist der Mensch durch sein Ich
der Führer seiner Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, seiner Triebe,
Begehrungen und Leidenschaften. Wahrnehmungen und Vorstellungen können
in der Seele sich nicht selbst überlassen sein. Sie müssen durch die
denkende Besonnenheit geregelt werden. Und es ist das Ich, welches diese
Denkgesetze handhabt und welches durch sie Ordnung in das Vorstellungs-
und Gedankenleben bringt. Ähnlich ist es mit den Begehrungen, den
Trieben, den Neigungen, den Leidenschaften. Die ethischen Grundsätze
werden zu Führern dieser Seelenkräfte. Und durch das sittliche Urteil
wird das Ich der Führer der Seele auf diesem Gebiete. Wenn nun der
Mensch aus seinem gewöhnlichen Ich ein höheres herauszieht, so wird
das erstere in einer gewissen Beziehung selbständig. Es wird diesem so
viel an lebendiger Kraft weggenommen, als dem höheren Ich zugewendet
wird. Man setze aber einmal den Fall, der Mensch habe in sich noch nicht
eine gewisse Fähigkeit und Festigung in den Denkgesetzen und in der
Urteilskraft ausgebildet und er wollte auf solcher Stufe sein höheres
Ich gebären. Er wird nur so viel seinem gewöhnlichen Ich an Denkfähigkeit
zurücklassen können, als er vorher ausgebildet hat. Ist das Maß des
geordneten Denkens zu gering, dann wird in dem selbständig gewordenen
gewöhnlichen Ich ein ungeordnetes, verworrenes, phantastisches Denken
und Urteilen auftreten. Und weil bei einer solchen Persönlichkeit das
neugeborene Ich auch nur schwach sein kann, wird für das übersinnliche
Schauen das verworrene niedere Ich die Oberherrschaft erlangen und der
Mensch das Gleichgewicht seiner Urteilskraft für die Beobachtung des Übersinnlichen
nicht zeigen. Hätte er genügend Fähigkeit des logischen Denkens
ausgebildet, so könnte er sein gewöhnliches Ich ruhig seiner Selbständigkeit
überlassen. — Und auf dem ethischen Gebiete ist es ebenso. Wenn der
Mensch nicht Festigkeit im moralischen Urteil erlangt hat, wenn er nicht
genügend Herr geworden ist über Neigungen, Triebe und Leidenschaften,
dann wird er sein gewöhnliches Ich verselbständigen in einem Zustand,
in dem die genannten Seelenkräfte wirken. Es kann der Fall eintreten,
daß der Mensch in dem Feststellen der erlebten übersinnlichen
Erkenntnisse nicht einen gleich hohen Wahrheitssinn walten läßt wie in
dem, was er sich durch die physische Außenwelt zum Bewußtsein bringt.
Er könnte bei so gelockertem Wahrheitssinn alles mögliche für
geistige Wirklichkeit halten, was nur seine Phantasterei ist. In diesen
Wahrheitssinn hinein müssen Festigkeit des ethischen Urteiles,
Sicherheit des Charakters, Gründlichkeit des Gewissens wirken, die in
dem zurückgelassenen Ich ausgebildet sind, bevor das höhere Ich zum
Zwecke der übersinnlichen Erkenntnis tätig wird. — Es darf dies
durchaus nicht zu einem Abschreckungsmittel gegenüber der Schulung
werden; es muß aber ganz ernst genommen werden.
Wer den
starken Willen hat, alles zu tun, was das erste Ich zur inneren
Sicherheit in der Ausübung seiner Verrichtungen bringt, der braucht vor
der zur übersinnlichen Erkenntnis bewirkten Loslösung eines zweiten
Ich durch die geistige Schulung durchaus nicht zurückzuschrecken. Nur
muß er sich vorbehalten, daß Selbsttäuschung dann eine große Macht
über den Menschen hat, wenn es sich darum handelt, daß dieser sich für
etwas «reif» befinden soll. In derjenigen Geistesschulung, welche hier
beschrieben ist, erlangt der Mensch eine solche Ausbildung seines
Gedankenlebens, daß er in Gefahren, zu irren, wie sie oft vermutet
werden, nicht kommen kann. Diese Gedankenausbildung bewirkt, daß alle
inneren Erlebnisse, welche notwendig sind, auftreten, daß sie aber so
sich abspielen, wie sie von der Seele durchgemacht werden müssen, ohne
von schädlichen Phantasieverirrungen begleitet zu sein. Ohne
entsprechende Gedankenausbildung können die Erlebnisse eine starke
Unsicherheit in der Seele hervorrufen. Die hier betonte Art bewirkt, daß
die Erlebnisse so auftreten, daß man sie vollkommen kennenlernt, wie
man die Wahrnehmungen der physischen Welt bei gesunder Seelenverfassung
kennenlernt. Man wird durch die Ausbildung des Denklebens mehr ein Beobachter
dessen, was man an sich erlebt, während man ohne das Denkleben
unbesonnen in dem Erlebnis drinnen steht.
Von
einer sachgemäßen Schulung werden gewisse Eigenschaften genannt,
welche sich durch Übung derjenige erwerben soll, welcher den Weg in die
höheren Welten finden will. Es sind dies vor allem: Herrschaft der
Seele über ihre Gedankenführung, über ihren Willen und ihre Gefühle.
Die Art, wie diese Herrschaft durch Übung herbeigeführt werden soll,
hat ein zweifaches Ziel. Einerseits soll der Seele dadurch Festigkeit,
Sicherheit und Gleichgewicht so weit eingeprägt werden, daß sie sich
diese Eigenschaften bewahrt, auch wenn ein zweites Ich aus ihr geboren
wird. Andrerseits soll diesem zweiten Ich Stärke und innerer Halt mit
auf den Weg gegeben werden.
Was dem
Denken des Menschen für die Geistesschulung vor allem notwendig ist,
das ist Sachlichkeit. In der physisch-sinnlichen Welt ist das Leben der
große Lehrmeister für das menschliche Ich zur Sachlichkeit. Wollte die
Seele in beliebiger Weise die Gedanken hin und her schweifen lassen: sie
müßte alsbald sich von dem Leben korrigieren lassen, wenn sie mit ihm
nicht in Konflikt kommen wollte. Die Seele muß entsprechend dem Verlauf
der Tatsachen des Lebens denken. Wenn nun der Mensch die Aufmerksamkeit
von der physisch-sinnlichen Welt ablenkt, so fehlt ihm die
Zwangskorrektur der letzteren. Ist dann sein Denken nicht imstande, sein
eigener Korrektor zu sein, so muß es ins Irrlichtelieren kommen.
Deshalb muß das Denken des Geistesschülers sich so üben, daß es sich
selber Richtung und Ziel geben kann. Innere Festigkeit und die Fähigkeit,
streng bei einem Gegenstande zu bleiben, das ist, was das Denken in sich
selbst heranziehen muß. Deshalb sollen entsprechende «Denkübungen»
nicht an fernliegenden und komplizierten Gegenständen vorgenommen
werden, sondern an einfachen und naheliegenden. Wer sich überwindet,
durch Monate hindurch täglich wenigstens fünf Minuten seine Gedanken
an einen alltäglichen Gegenstand (zum Beispiel eine Stecknadel, einen
Bleistift usw.) zu wenden und während dieser Zeit alle Gedanken
auszuschließen, welche nicht mit diesem Gegenstande zusammenhängen,
der hat nach dieser Richtung hin viel getan. (Man kann täglich einen
neuen Gegenstand bedenken oder mehrere Tage einen festhalten.) Auch
derjenige, welcher sich als «Denker» durch wissenschaftliche Schulung
fühlt, sollte es nicht verschmähen, sich in solcher Art für die
Geistesschulung «reif» zu machen. Denn wenn man eine Zeitlang die
Gedanken heftet an etwas, was einem ganz bekannt ist, so kann man sicher
sein, daß man sachgemäß denkt. Wer sich frägt: Welche Bestandteile
setzen einen Bleistift zusammen? Wie werden die Materialien zu dem
Bleistift vorgearbeitet? Wie werden sie nachher zusammengefügt? Wann
wurden die Bleistifte erfunden? und so weiter, und so weiter: ein
solcher paßt seine Vorstellungen sicher mehr der Wirklichkeit an als
derjenige, der darüber nachdenkt, wie die Abstammung des Menschen ist
oder was das Leben ist. Man lernt durch einfache
Denkübungen für ein sachgemäßes Vorstellen gegenüber der Welt
der Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung mehr als durch komplizierte
und gelehrte Ideen. Denn zunächst handelt es sich gar nicht darum, über
dieses oder jenes zu denken, sondern sachgemäß
durch innere Kraft zu denken. Hat man sich die Sachgemäßheit
anerzogen an einem leicht überschaubaren sinnlich-physischen Vorgang,
dann gewöhnt sich das Denken daran, auch sachgemäß sein zu wollen,
wenn es sich nicht durch die physisch-sinnliche Welt und ihre Gesetze
beherrscht fühlt. Und man gewöhnt es sich ab, unsachgemäß die
Gedanken schwärmen zu lassen.
Wie
Herrscher in der Gedankenwelt, so soll ein solcher die Seele auch im
Gebiete des Willens werden. In der physisch-sinnlichen Welt ist es auch
hier das Leben, das als Beherrscher auftritt. Es macht diese oder jene
Bedürfnisse für den Menschen geltend; und der Wille fühlt sich
angeregt, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Für die höhere Schulung
muß sich der Mensch daran gewöhnen, seinen eigenen Befehlen streng zu
gehorchen. Wer sich an solches gewöhnt, dem wird es immer weniger und
weniger beifallen, Wesenloses zu begehren. Das Unbefriedigende, Haltlose
im Willensleben rührt aber von dem Begehren solcher Dinge her, von
deren Verwirklichung man sich keinen deutlichen Begriff macht. Solche
Unbefriedigung kann das ganze Gemütsleben in Unordnung bringen, wenn
ein höheres Ich aus der Seele hervorgehen will. Eine gute Übung ist
es, durch Monate hindurch sich zu einer bestimmten Tageszeit den Befehl
zu geben: Heute «um diese bestimmte Zeit» wirst du «dieses» ausführen.
Man gelangt dann allmählich dazu, sich die Zeit der Ausführung und die
Art des auszuführenden Dinges so zu befehlen, daß die Ausführung ganz
genau möglich ist. So erhebt man sich über das verderbliche: «ich möchte
dies; ich will jenes», wobei man gar nicht an die Ausführbarkeit
denkt. Eine große Persönlichkeit läßt eine Seherin sagen: «Den
lieb' ich, der Unmögliches begehrt». (Goethe,
Faust II.) Und diese Persönlichkeit (Goethe)
selbst sagt: «In der Idee leben heißt, das Unmögliche behandeln, als
wenn es möglich wäre». (Goethe, Sprüche in Prosa.) Solche Aussprüche
dürfen aber nicht als Einwände gegen das hier Dargestellte gebraucht
werden. Denn die Forderung, die Goethe und seine Seherin (Manto)
stellen, kann nur derjenige erfüllen, welcher sich an dem Begehren
dessen, was möglich ist, erst herangebildet hat, um dann durch sein
starkes Wollen eben das «Unmögliche» so behandeln zu können, daß es
sich durch sein Wollen in ein Mögliches verwandelt.
In
bezug auf die Gefühlswelt soll es die Seele für die Geistesschulung zu
einer gewissen Gelassenheit bringen. Dazu ist nötig, daß diese Seele
Beherrscherin werde über den Ausdruck von Lust und Leid, Freude und
Schmerz. Gerade gegenüber der Erwerbung dieser Eigenschaft kann sich
manches Vorurteil ergeben. Man könnte meinen, man werde stumpf und
teilnahmslos gegenüber seiner Mitwelt, wenn man über das «Erfreuliche
sich nicht erfreuen, über das Schmerzhafte nicht Schmerz empfinden soll».
Doch darum handelt es sich nicht. Ein Erfreuliches soll
die Seele erfreuen, ein Trauriges soll
sie schmerzen. Sie soll nur dazu gelangen, den Ausdruck
von Freude und Schmerz, von Lust und Unlust zu beherrschen. Strebt
man dieses an, so wird man
alsbald bemerken, daß man nicht stumpfer, sondern im Gegenteil empfänglicher
wird für alles Erfreuliche und Schmerzhafte der Umgebung, als man früher
war. Es erfordert allerdings ein genaues Achtgeben auf sich selbst durch
längere Zeit, wenn man sich die Eigenschaft aneignen will, um die es
sich hier handelt. Man muß darauf sehen, daß man Lust und Leid voll
miterleben kann, ohne sich dabei so zu verlieren, daß man dem, was man
empfindet, einen unwillkürlichen Ausdruck gibt. Nicht den berechtigten
Schmerz soll man unterdrücken, sondern das unwillkürlicheWeinen; nicht
den Abscheu vor einer schlechten Handlung, sondern das blinde Wüten des
Zorns; nicht das Achten auf eine Gefahr, sondern das fruchtlose «sich fürchten»
und so weiter. — Nur durch eine solche Übung gelangt der Geistesschüler
dazu, jene Ruhe in seinem Gemüt zu haben, welche notwendig ist, damit
nicht beim Geborenwerden und namentlich bei der Betätigung des höheren
Ich die Seele wie eine Art Doppelgänger neben diesem höheren Ich ein
zweites ungesundes Leben führt. Gerade diesen Dingen gegenüber sollte
man sich keiner Selbsttäuschung hingeben. Es kann manchem scheinen, daß
er einen gewissen Gleichmut im gewöhnlichen Leben schon habe und daß
er deshalb diese Übung nicht nötig habe. Gerade ein solcher hat sie
zweifach nötig. Man kann nämlich ganz gut gelassen sein, wenn man den
Dingen des gewöhnlichen Lebens gegenübersteht; und dann beim
Aufsteigen in eine höhere Welt kann sich um so mehr die
Gleichgewichtslosigkeit, die nur zurückgedrängt war, geltend machen.
Es muß durchaus erkannt werden, daß zur Geistesschulung es weniger
darauf ankommt, was man vorher zu haben scheint,
als vielmehr darauf, daß man ganz gesetzmäßig übt,
was man braucht. So widerspruchsvoll dieser Satz auch aussieht: er
ist richtig. Hat einem auch das Leben dies oder jenes anerzogen: zur
Geistesschulung dienen die Eigenschaften, welche
man sich selbst anerzogen hat. Hat einem das Leben Erregtheit
beigebracht, so sollte man sich die Erregtheit aberziehen; hat einem
aber das Leben Gleichmut beigebracht, so sollte man sich durch
Selbsterziehung so aufrütteln, daß der Ausdruck der Seele dem
empfangenen Eindruck entspricht. Wer über nichts lachen kann,
beherrscht sein Leben ebensowenig wie derjenige, welcher, ohne sich zu
beherrschen, fortwährend zum Lachen gereizt wird.
Für
das Denken und Fühlen ist ein weiteres Bildungsmittel die Erwerbung der
Eigenschaft, welche man Positivität nennen kann. Es gibt eine schöne
Legende, die besagt von dem Christus Jesus, daß er mit einigen andern
Personen an einem toten Hund vorübergeht. Die andern wenden sich ab von
dem häßlichen Anblick. Der Christus Jesus spricht bewundernd von den
schönen Zähnen des Tieres. Man kann sich darin üben, gegenüber der
Welt eine solche Seelenverfassung zu erhalten, wie sie im Sinne dieser
Legende ist. Das Irrtümliche, Schlechte, Häßliche soll die Seele
nicht abhalten, das Wahre, Gute und Schöne überall zu finden, wo es
vorhanden ist. Nicht verwechseln soll man diese Positivität mit
Kritiklosigkeit, mit dem willkürlichen Verschließen der Augen gegenüber
dem Schlechten, Falschen und Minderwertigen. Wer die «schönen Zähne»
eines toten Tieres bewundert, der sieht auch
den verwesenden Leichnam. Aber dieser Leichnam hält ihn nicht davon
ab, die schönen Zähne zu sehen. Man kann das Schlechte nicht gut, den
Irrtum nicht wahr finden; aber man kann es dahin bringen, daß man durch
das Schlechte nicht abgehalten werde, das Gute, durch den Irrtum nicht,
das Wahre zu sehen.
Das
Denken in Verbindung mit dem Willen erfährt eine gewisse Reifung, wenn
man versucht, sich niemals durch etwas, was man erlebt oder erfahren
hat, die unbefangene Empfänglichkeit für neue Erlebnisse rauben zu
lassen. Für den Geistesschüler soll der Gedanke seine Bedeutung ganz
verlieren: «Das habe ich noch nie gehört, das glaube ich nicht.» Er
soll während einer gewissen Zeit geradezu überall darauf ausgehen,
sich bei jeder Gelegenheit von einem jeglichen Dinge und Wesen Neues
sagen zu lassen. Von jedem Luftzug, von jedem Baumblatt, von jeglichem
Lallen eines Kindes kann man lernen, wenn man bereit ist, einen
Gesichtspunkt in Anwendung zu bringen, den man bisher nicht in Anwendung
gebracht hat. Es wird allerdings leicht möglich sein, in bezug auf eine
solche Fähigkeit zu weit zu gehen. Man soll ja nicht etwa in einem
gewissen Lebensalter die Erfahrungen, die man über die Dinge gemacht
hat, außer acht lassen. Man soll, was man in der Gegenwart erlebt, nach
den Erfahrungen der Vergangenheit beurteilen. Das kommt auf die eine
Waagschale; auf die andere aber muß für den Geistesschüler die
Geneigtheit kommen, immer Neues zu erfahren. Und vor allem der Glaube an
die Möglichkeit, daß neue Erlebnisse den alten widersprechen können.
Damit sind fünf Eigenschaften der Seele genannt, welche sich in
regelrechter Schulung der Geistesschüler anzueignen hat: die Herrschaft
über die Gedankenführung, die Herrschaft über die Willensimpulse, die
Gelassenheit gegenüber Lust und Leid, die Positivität im Beurteilen
der Welt, die ~ Unbefangenheit in der Auffassung des Lebens. Wer gewisse
Zeiten aufeinanderfolgend dazu verwendet hat, um sich in der Erwerbung
dieser Eigenschaften zu üben, der wird dann noch nötig haben, in der
Seele diese Eigenschaften zum harmonischen Zusammenstimmen zu bringen.
Er wird sie gewissermaßen je zwei und zwei, drei und eine und so weiter
gleichzeitig üben müssen, um Harmonie zu bewirken.
Die
charakterisierten Übungen sind durch die Methoden der Geistesschulung
angegeben, weil sie bei gründlicher
Ausführung in dem Geistesschüler nicht nur das bewirken, was oben
als unmittelbares Ergebnis genannt worden ist, sondern mittelbar noch
vieles andere im Gefolge haben, was auf dem Wege zu den geistigen Welten
gebraucht wird. Wer diese Übungen in genügendem Maße macht, wird während
derselben auf manche Mängel und Fehler seines Seelenlebens stoßen; und
er wird die gerade ihm notwendigen Mittel finden zur Kräftigung und
Sicherung seines intellektuellen, gefühlsmäßigen und Charakterlebens.
Er wird gewiß noch manche andere Übungen nötig haben, je nach seinen
Fähigkeiten, seinem Temperament und Charakter; solche ergeben sich
aber, wenn die genannten ausgiebig durchgemacht werden. Ja, man wird
bemerken, daß die dargestellten Übungen mittelbar
auch dasjenige nach und nach geben, was zunächst nicht in ihnen zu
liegen scheint. Wenn zum Beispiel jemand zu wenig Selbstvertrauen hat,
so wird er nach entsprechender Zeit bemerken können, daß sich durch
die Übungen das notwendige Selbstvertrauen einstellt. Und so ist es in
bezug auf andere Seeleneigenschaften. (Besondere, mehr ins einzelne
gehende Übungen findet man in meinem Buche: «Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten?») — Bedeutungsvoll ist, daß der
Geistesschüler. die angegebenen Fähigkeiten in immer höheren Graden
zu steigern vermag. Die Beherrschung der Gedanken und Empfindungen muß
er so weit bringen, daß die Seele die Macht erhält, Zeiten
vollkommener innerer Ruhe herzustellen, in denen der Mensch seinem
Geiste und seinem Herzen alles fernhält, was das alltägliche, äußere
Leben an Glück und Leid, an Befriedigungen und Kümmernissen, ja an
Aufgaben und Forderungen bringt. Eingelassen werden soll in solchen
Zeiten nur dasjenige in die Seele, was diese selbst im Zustande der
Versenkung einlassen will. Leicht kann sich demgegenüber ein Vorurteil
geltend machen. Es könnte die Meinung entstehen, man werde dem Leben
und seinen Aufgaben entfremdet, wenn man sich mit Herz und Geist für
gewisse Zeiten des Tages aus demselben zurückzieht. Das ist aber in
Wirklichkeit durchaus nicht der Fall. Wer sich in der geschilderten Art
Perioden der inneren Stille und des Friedens hingibt, dem wachsen aus
denselben für die Aufgaben auch des äußeren Lebens so viele und so
starke Kräfte zu, daß er die Lebenspflichten dadurch nicht nur nicht
schlechter, sondern ganz gewiß besser erfüllt. — Von großem Werte
ist es, wenn der Mensch in solchen Perioden ganz loskommt von den
Gedanken an seine persönlichen Angelegenheiten, wenn er sich zu erheben
vermag zu dem, was nicht nur ihn,
sondern was den Menschen im allgemeinen überhaupt angeht. Ist er
imstande, seine Seele zu erfüllen mit den Mitteilungen aus der höheren
geistigen Welt, vermögen diese sein Interesse in einem so hohen Grade
zu fesseln, wie eine persönliche Sorge oder Angelegenheit, dann wird
seine Seele davon besondere Früchte haben. — Wer in dieser Weise
regelnd in sein Seelenleben einzugreifen sich bemüht, der wird auch zu
der Möglichkeit einer Selbstbeobachtung kommen, welche die eigenen
Angelegenheiten mit der Ruhe ansieht, als wenn sie fremde wären. Die
eigenen Erlebnisse, die eigenen Freuden und Leiden wie die eines andern
ansehen können, ist eine gute Vorbereitung für die Geistesschulung.
Man bringt es allmählich zu dem in dieser Beziehung notwendigen Grad,
wenn man sich täglich nach vollbrachtem Tagewerk die Bilder der täglichen
Erlebnisse vor dem Geiste vorbeiziehen läßt. Man soll sich innerhalb
seiner Erlebnisse selbst im Bilde erblicken; also sich in seinem
Tagesleben wie von außen betrachten. Man gelangt zu einer gewissen
Praxis in solcher Selbstbeobachtung, wenn man mit der Vorstellung
einzelner kleiner Teile dieses Tageslebens den Anfang macht. Man wird
dann immer geschickter und gewandter in solcher Rückschau, so daß man
sie nach längerer Übung in einer kurzen Spanne Zeit vollständig wird
gestalten können. Dieses Rückwärts-Anschauen der Erlebnisse hat für
die Geistesschulung deshalb seinen besonderen Wert, weil es die Seele
dazu bringt, sich im Vorstellen loszumachen von der sonst innegehaltenen
Gewohnheit, nur dem Verlauf
des sinnenfälligen Geschehens mit dem Denken zu folgen. Im Rückwärts-Denken
stellt man richtig vor, aber nicht gehalten durch den sinnenfälligen
Verlauf. Das braucht man zum Einleben in die übersinnliche Welt. Daran
erkraftet sich das Vorstellen in gesunder Art. Daher ist es auch gut, außer
seinem Tagesleben anderes rückwärts vorzustellen, zum Beispiel den
Verlauf eines Dramas, einer Erzählung, einer Tonfolge usw. — Das Ideal
für den Geistesschüler wird immer mehr werden, sich den an ihn
herantretenden Lebensereignissen gegenüber so zu verhalten, daß er sie
mit innerer Sicherheit und Seelenruhe an sich herankommen läßt und sie
nicht nach seiner Seelenverfassung
beurteilt, sondern nach ihrer inneren Bedeutung und ihrem inneren Wert.
Er wird gerade durch den Hinblick auf dieses Ideal sich die seelische
Grundlage schaffen, um sich den oben geschilderten Versenkungen in
symbolische und andere Gedanken und Empfindungen hingeben zu können.
Die
hier geschilderten Bedingungen müssen erfüllt sein, weil sich das übersinnliche
Erleben auf dem Boden auferbaut, auf dem man im gewöhnlichen
Seelenleben steht, bevor man in die übersinnliche Welt eintritt. In
zweifacher Art ist alles übersinnliche Erleben abhängig von dem
Seelen-Ausgangspunkt, auf dem man vor dem Eintritte steht. Wer nicht
darauf bedacht ist, von vornherein eine gesunde Urteilskraft zur
Grundlage seiner Geistesschulung zu machen, der wird in sich solche übersinnliche
Fähigkeiten entwickeln, welche ungenau und unrichtig die geistige Welt
wahrnehmen. Es werden gewissermaßen seine geistigen Wahmehmungsorgane
unrichtig sich entfalten. Und wie man mit einem fehlerhaften oder
kranken Auge nicht richtig in der Sinnenwelt sehen kann, so kann man mit
Geistorganen nicht richtig wahrnehmen, die nicht auf der Grundlage einer
gesunden Urteilsfähigkeit herangebildet sind. — Wer von einer
unmoralischen Seelenverfassung den Ausgangspunkt nimmt, der erhebt sich
so in die geistigen Welten, daß sein geistiges Schauen wie betäubt,
wie umnebelt ist. Er ist gegenüber den übersinnlichen Welten, wie
jemand gegenüber der sinnlichen Welt ist, der in Betäubung beobachtet.
Nur wird dieser zu keinen erheblichen Aussagen kommen, während der
geistige Beobachter in seiner Betäubung doch immerhin wacher ist als
ein Mensch im gewöhnlichen Bewußtsein. Seine Aussagen werden deshalb
zu Irrtümern gegenüber der geistigen Welt.
Die
innere Gediegenheit der imaginativen Erkenntnisstufe wird dadurch
erreicht, daß die dargestellten seelischen Versenkungen (Meditationen)
unterstützt werden von dem, was man die Gewöhnung an «sinnlichkeitsfreies
Denken» nennen kann. Wenn man sich einen Gedanken auf Grund der
Beobachtung in der physisch-sinnlichen Welt macht, so ist dieser Gedanke
nicht sinnlichkeitsfrei. Aber es ist nicht etwa so, daß der Mensch nur
solche Gedanken bilden könne. Das menschliche Denken braucht nicht
leer und inhaltlos zu werden, wenn es sich nicht von sinnlichen
Beobachtungen erfüllen läßt. Der sicherste und nächstliegende Weg für
den Geistesschüler, zu solchem sinnlichkeitsfreien Denken zu kommen,
kann der sein, die ihm von der Geisteswissenschaft mitgeteilten
Tatsachen der höheren Welt zum Eigentum seines Denkens zu machen. Diese
Tatsachen können von den physischen Sinnen nicht beobachtet werden.
Dennoch wird der Mensch bemerken, daß er sie begreifen
kann, wenn er nur Geduld und Ausdauer genug hat. Man kann ohne
Schulung nicht in der höheren Welt forschen, man kann darin nicht
selbst Beobachtungen machen; aber man kann ohne die höhere Schulung
alles verstehen, was die Forscher aus derselben mitteilen. Und wenn
jemand sagt: Wie kann ich dasjenige auf Treu und Glauben hinnehmen, was
die Geistesforscher sagen, da ich es doch nicht selbst sehen kann?, so
ist dies völlig unbegründet. Denn es ist durchaus möglich, aus dem bloßen
Nachdenken heraus die sichere Überzeugung zu erhalten: das
Mitgeteilte ist wahr. Und wenn diese Überzeugung sich jemand durch
Nachdenken nicht bilden kann, so rührt das nicht davon her, weil man
unmöglich an etwas «glauben» könne, was man nicht sieht, sondern
lediglich davon, daß man sein Nachdenken noch nicht vorurteilslos,
umfassend, gründlich genug angewendet hat. Um in diesem Punkte Klarheit
zu haben, muß man bedenken, daß das menschliche Denken, wenn es sich
energisch innerlich aufrafft, mehr begreifen kann, als es in der Regel wähnt.
In dem Gedanken selbst liegt nämlich schon eine innere Wesenheit,
welche im Zusammenhang steht mit der übersinnlichen Welt. Die Seele ist
sich gewöhnlich dieses Zusammenhanges nicht bewußt, weil sie gewöhnt
ist, die Gedankenfähigkeit nur an der Sinnenwelt heranzuziehen. Sie
hält deshalb für unbegreiflich, was ihr aus der übersinnlichen Welt
mitgeteilt wird. Dies ist aber nicht
nur begreiflich für ein durch Geistesschulung erzogenes Denken,
sondern für jedes Denken,
das sich seiner vollen Kraft bewußt ist und sich derselben bedienen
will. — Dadurch, daß man sich unablässig zum Eigentum macht, was die
Geistesforschung sagt, gewöhnt man sich an ein Denken, das nicht aus
den sinnlichen Beobachtungen schöpft. Man lernt erkennen, wie im Innern
der Seele Gedanke sich an Gedanke webt, wie Gedanke den Gedanken sucht,
auch wenn die Gedankenverbindungen nicht durch die Macht der
Sinnenbeobachtung bewirkt werden. Das Wesentliche dabei ist, daß man so
gewahr wird, wie die Gedankenwelt inneres Leben hat, wie man sich, indem
man wirklich denkt, im Bereiche einer übersinnlichen lebendigen Welt
schon befindet.
Man
sagt sich: Es ist etwas in mir, was einen Gedanken-Organismus ausbildet;
aber ich bin doch eines mit diesem «Etwas». Man erlebt so in der
Hingabe an sinnlichkeitsfreies Denken, daß etwas Wesenhaftes besteht,
was einfließt in unser Innenleben, wie die Eigenschaften der
Sinnendinge durch unsere physischen Organe in uns einfließen, wenn wir
sinnlich beobachten. Da draußen im Raume — so sagt sich der
Beobachter der Sinnenwelt — ist eine Rose; sie ist mir nicht fremd,
denn sie kündigt sich mir durch ihre Farbe und ihren Geruch an. Man
braucht nun nur genug vorurteilslos zu sein, um sich dann, wenn das
sinnlichkeitsfreie Denken in einem arbeitet, ganz entsprechend zu sagen:
es kündigt sich mir ein Wesenhaftes an, welches in mir Gedanken an
danken
bindet, welches einen Gedankenorganismus formt. Es besteht aber ein
Unterschied in den Empfindungen gegenüber dem, was der Beobachter der
äußeren Sinnenwelt im Auge hat, und dem, was sich wesenhaft in dem
sinnlichkeitsfreien Denken ankündigt. Der erste Beobachter fühlt sich
der Rose gegenüber außenstehend, derjenige, welcher dem
sinnlichkeitsfreien Denken hingegeben ist, fühlt das in ihm sich ankündigende
Wesenhafte wie in sich, er fühlt
sich mit ihm eins. Wer mehr oder weniger bewußt nur das als wesenhaft
gelten lassen will, was ihm wie ein äußerer Gegenstand gegenübertritt,
der wird allerdings nicht das Gefühl erhalten können: was ein
Wesenhaftes für sich ist, das kann sich mir auch dadurch ankündigen,
daß ich mit ihm wie in eins vereinigt bin. Um in dieser Beziehung
richtig zu sehen, muß man folgendes innere Erlebnis haben können. Man
muß unterscheiden lernen zwischen den Gedankenverbindungen, die man
durch eigene Willkür schafft, und denjenigen, welche man in sich
erlebt, wenn man solche eigene Willkür in sich schweigen läßt. In dem
letzteren Falle kann man dann sagen: Ich bleibe in mir ganz still; ich führe
keine Gedankenverbindungen herbei; ich gebe mich dem hin, was «in mir
denkt». Dann ist es vollberechtigt, zu sagen: in mir wirkt ein für
sich Wesenhaftes, wie es berechtigt ist zu sagen: auf mich wirkt die
Rose, wenn ich ein bestimmtes Rot sehe, einen bestimmten Geruch
wahrnehme. — Es ist dabei kein Widerspruch, daß man doch den Inhalt
seiner Gedanken aus den Mitteilungen der Geistesforscher schöpft. Die
Gedanken sind dann zwar bereits da, wenn man sich ihnen hingibt; aber
man kann sie nicht denken, wenn man sie nicht in jedem Falle in der
Seele wieder neu nachschafft. Darauf eben kommt es an, daß der
Geistesforscher solche Gedanken in seinem Zuhörer und Leser wachruft,
welche diese aus sich erst
holen müssen, während derjenige, welcher Sinnlich-Wirkliches
beschreibt, auf etwas hindeutet, was von Zuhörer und Leser in der
Sinnenwelt beobachtet werden kann.
(Es ist
der Weg, welcher durch die Mitteilungen der Geisteswissenschaft in das
sinnlichkeitsfreie Denken führt, ein durchaus sicherer. Es gibt aber
noch einen andern, welcher sicherer und vor allem genauer, dafür aber
auch für viele Menschen schwieriger ist. Er ist in meinen Büchern «Erkenntnistheorie
der Goetheschen Weltanschauung» und «Philosophie der Freiheit»
dargestellt. Diese Schriften geben wieder, was der menschliche Gedanke
sich erarbeiten kann, wenn das Denken sich nicht den Eindrücken der
physisch-sinnlichen Außenwelt hingibt, sondern nur
sich selbst. Es arbeitet dann das reine Denken, nicht das bloß in
Erinnerungen an Sinnliches sich ergehende in dem Menschen, wie eine in
sich lebendige Wesenheit. Dabei ist in den genannten Schriften nichts
aufgenommen aus den Mitteilungen der Geisteswissenschaft selbst. Und
doch ist gezeigt, daß das reine, nur in sich arbeitende Denken Aufschlüsse
gewinnen kann über die Welt, das Leben und den Menschen. Es stehen
diese Schriften auf einer sehr wichtigen Zwischenstufe zwischen dem
Erkennen der Sinnenwelt und dem der geistigen Welt. Sie bieten
dasjenige, was das Denken gewinnen kann, wenn es sich erhebt über die
sinnliche Beobachtung, aber noch den Eingang vermeidet in die
Geistesforschung. Wer diese Schriften auf seine ganze Seele wirken läßt,
der steht schon in der geistigen Welt; nur daß sich diese ihm als
Gedankenwelt gibt. Wer sich in der Lage fühlt, solch eine Zwischenstufe
auf sich wirken zu lassen, der geht einen sicheren Weg; und er kann sich
dadurch ein Gefühl gegenüber der höheren Welt erringen, das für alle
Folgezeit ihm die schönsten Früchte tragen wird.)
Das
Ziel der Versenkung (Meditation) in die oben charakterisierten
symbolischen Vorstellungen und Empfindungen ist, genau gesprochen, die
Heranbildung der höheren Wahrnehmungsorgane innerhalb des astralischen
Leibes des Menschen. Sie werden aus der Substanz dieses astralischen
Leibes heraus zunächst geschaffen. Diese neuen Beobachtungsorgane
vermitteln eine neue Welt, und in dieser neuen Welt lernt sich der
Mensch als ein neues Ich kennen. Von den Beobachtungsorganen der
sinnlich-physischen Welt unterscheiden sich jene neuen schon dadurch, daß
sie tätige Organe sind. Während
Auge und Ohr sich passiv verhalten und Licht und Ton auf sich wirken
lassen, kann von den geistig-seelischen Wahrnehmungsorganen gesagt
werden, daß sie in fortwährender Tätigkeit sind, während sie
wahrnehmen, und daß sie ihre Gegenstände und Tatsachen gewissermaßen
in vollem Bewußtsein ergreifen. Dadurch
ergibt sich das Gefühl, daß geistig-seelisches Erkennen ein Vereinigen
mit den entsprechenden Tatsachen ist, ein «in ihnen leben». — Man
kann die einzelnen sich bildenden geistig-seelischen Organe
vergleichsweise «Lotusblumen» nennen, entsprechend der Form, die sich
das übersinnliche Bewußtsein von ihnen (imaginativ) machen muß.
(Selbstverständlich muß man sich klar sein darüber, daß solche
Bezeichnung mit der Sache nicht mehr zu tun hat als der Ausdruck «Flügel»,
wenn man von «Lungenflügeln» spricht.) Durch ganz bestimmte Arten von
innerer Versenkung wird auf den Astralleib so gewirkt, daß sich das
eine oder andere geistig-seelische Organ, die eine oder die andere «Lotusblume»
bildet. Es sollte, nach allem in diesem Buche Ausgeführten, überflüssig
sein, zu betonen, daß man sich diese «Beobachtungsorgane» nicht wie
etwas vorzustellen hat, das in der Vorstellung seines sinnlichen Bildes
ein Abdruck seiner Wirklichkeit ist. Diese «Organe» sind eben übersinnlich
und bestehen in einer bestimmt geformten Seelenbetätigung; und sie
bestehen nur insofern und so lange, als diese Seelenbetätigung geübt
wird. Etwas, was sich als Sinnenfälliges anschauen läßt, ist mit
diesen Organen so wenig am Menschen, als irgendein «Dunst» um ihn ist,
wenn er denkt. Wer sich das Übersinnliche durchaus sinnlich vorstellen
will, gerät eben in Mißverständnisse. Trotz des Überflüssigen
dieser Bemerkung mag sie hier stehen, weil es immer wieder Bekenner des
Übersinnlichen gibt, die in ihren Vorstellungen nur ein Sinnliches
haben wollen; und weil es immer wieder Gegner der übersinnlichen
Erkenntnis gibt, die glauben, der Geistesforscher spreche von «Lotusblumen»
wie von feineren sinnfälligen Gebilden. Jede regelrechte Meditation,
die im Hinblick auf die imaginative Erkenntnis gemacht wird, hat ihre
Wirkung auf das eine oder das andere Organ. (In meinem Buche «Wie
erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» sind einzelne von den
Methoden der Meditation und des Übens angegeben, welche auf das eine
oder andere Organ wirken.) Eine regelrechte Schulung richtet die
einzelnen Übungen des Geistesschülers so ein und läßt sie so
aufeinander folgen, daß die Organe sich einzeln mit- oder nacheinander
entsprechend ausbilden können. Zu dieser Ausbildung gehört bei dem
Geistesschüler viel Geduld und Ausdauer. Wer nur ein solches Maß von
Geduld hat, wie es die gewöhnlichen Lebensverhältnisse dem Menschen in
der Regel geben, der wird damit nicht ausreichen. Denn es dauert lange,
oft sehr, sehr lange, bis die Organe so weit sind, daß der Geistesschüler
sie zu Wahrnehmungen in der höheren Welt gebrauchen kann. In diesem
Momente tritt für ihn das ein, was man Erleuchtung
nennt, im Gegensatz zur Vorbereitung
oder Reinigung, die in den Übungen für die Ausbildung der Organe
besteht. (Von «Reinigung» wird gesprochen, weil durch die
entsprechenden Übungen sich der Schüler von all dem für ein gewisses
Gebiet inneren Lebens reinigt, was nur aus der sinnlichen
Beobachtungswelt kommt.) Es kann durchaus so kommen, daß dem Menschen
auch vor der eigentlichen Erleuchtung wiederholt «Lichtblitze» kommen
aus einer höheren Welt. Solche soll er dankbar hinnehmen. Sie
schon können ihn zu einem Zeugen von der geistigen Welt machen.
Aber er sollte auch nicht wanken, wenn dies während seiner
Vorbereitungszeit gar nicht der Fall ist, die ihm vielleicht allzulang
erscheint. Wer überhaupt in Ungeduld verfallen kann, «weil er noch
nichts sieht», der hat noch nicht das rechte Verhältnis zu einer höheren
Welt gewonnen. Das letztere hat nur derjenige erfaßt, dem die Übungen,
die er durch die Schulung macht, etwas wie Selbstzweck sein können.
Dieses Üben ist ja in Wahrheit das Arbeiten an einem
Geistig-Seelischen, nämlich an dem eigenen Astralleibe. Und man kann «fühlen»,
auch wenn «man nichts sieht»: «Ich arbeite geistig-seelisch». Nur
wenn man sich von vornherein eine bestimmte Meinung macht, was man
eigentlich «sehen» will, dann wird man dieses Gefühl nicht haben.
Dann wird man für nichts halten, was in Wahrheit etwas unermeßlich
Bedeutungsvolles ist. Man sollte aber subtil achten auf alles, was man während
des Übens erlebt und was so grundverschieden ist von allen Erlebnissen
in der sinnlichen Welt. Man wird dann schon bemerken, daß man in seinen
Astralleib hinein nicht wie in eine gleichgültige Substanz arbeitet,
sondern daß in demselben lebt eine ganz andere Welt, von der man durch
das Sinnenleben nichts weiß. Höhere Wesenheiten wirken auf den
Astralleib, wie die physisch-sinnliche Außenwelt auf den physischen
Leib wirkt. Und man «stößt» auf das höhere Leben in dem eigenen
Astralleib, wenn man sich davor nur nicht verschließt. Wenn sich jemand
immer wieder und wieder sagt: «ich nehme nichts wahr», dann ist es
zumeist so, daß er sich eingebildet hat, diese Wahrnehmung müsse so
oder so aussehen; und weil er das dann nicht sieht, wovon er sich
einbildet, er müsse es sehen, so sagt er: «ich sehe nichts.»
Wer
sich aber die rechte Gesinnung aneignet gegenüber dem Üben der
Schulung, der wird in diesem Üben immer mehr etwas haben, was er um
seiner selbst willen liebt. Dann aber weiß er, daß er durch das Üben
selbst in einer geistig-seelischen Welt steht, und er wartet in Geduld
und Ergebung, was sich weiter
ergibt. Es kann diese Gesinnung in dem Geistesschüler in folgenden
Worten am besten zum Bewußtsein kommen: «Ich
will alles tun, was mir als Übungen angemessen ist, und ich weiß,
daß mir in der entsprechenden Zeit so viel zukommen wird, als mir
wichtig ist. Ich verlange dies nicht ungeduldig; mache mich aber immer
bereit, es zu empfangen. » Dagegen läßt sich auch nicht einwenden: «Der
Geistesschüler soll also im Dunkeln tappen, durch eine vielleicht
unermeßlich lange Zeit; denn daß er mit seinem Üben auf dem richtigen
Wege ist, kann sich ihm doch erst zeigen, wenn der Erfolg da ist.» Es
ist jedoch nicht so, daß erst der Erfolg die Erkenntnis von der
Richtigkeit des Übens bringen kann. Wenn der Schüler richtig sich zu
den Übungen stellt, dann gibt ihm die Befriedigung, die er durch das Üben
selbst hat, die Klarheit, daß er etwas Richtiges tut, nicht
erst der Erfolg. Richtig üben auf dem Gebiete der Geistesschulung
verbindet sich eben mit einer Befriedigung, die nicht bloße
Befriedigung, sondern Erkenntnis ist. Nämlich die Erkenntnis: ich tue
etwas, wovon ich sehe, daß es mich in der richtigen Linie vorwärts
bringt. Jeder Geistesschüler kann diese Erkenntnis in jedem Augenblick
haben, wenn er nur auf seine Erlebnisse subtil aufmerksam ist. Wenn er
diese Aufmerksamkeit nicht anwendet, dann geht er eben an den
Erlebnissen vorbei, wie ein in Gedanken versunkener Fußgänger, der die
Bäume zu beiden Seiten des Weges nicht sieht, obgleich er sie sehen würde,
wenn er den Blick aufmerksam auf sie richtete. — Es ist durchaus nicht
wünschenswert, daß das Eintreten eines anderen Erfolges, als derjenige
ist, der im Üben sich immer ergibt, beschleunigt werde. Denn es könnte
das leicht nur der geringste Teil dessen sein, was eigentlich eintreten
sollte. In bezug auf die geistige Entwickelung ist oft ein teilweiser
Erfolg der Grund einer starken Verzögerung des vollen Erfolges. Die
Bewegung unter solchen Formen des geistigen Lebens, wie sie dem
teilweisen Erfolg entsprechen, stumpft ab gegen die Einflüsse der Kräfte,
welche zu höheren Punkten der Entwickelung führen. Und der Gewinn, den
man dadurch erzielt, daß man doch in die geistige Welt «hineingesehen
hat», ist nur ein scheinbarer; denn dieses
Hineinschauen kann nicht die Wahrheit, sondern nur Trugbilder
liefern.
Die
geistig-seelischen Organe, die Lotusblumen, bilden sich so, daß sie dem
übersinnlichen Bewußtsein an dem in Schulung befindlichen Menschen wie
in der Nähe bestimmter physischer Körperorgane erscheinen. Aus der
Reihe dieser Seelenorgane sollen hier genannt werden: dasjenige, das wie
in der Nähe der Augenbrauenmitte erfühlt wird (die sogenannte zweiblättrige
Lotusblume), dasjenige in der Gegend des Kehlkopfes (die sechzehnblättrige
Lotusblume), das dritte in der Herzgegend (die zwölfblättrige
Lotusblume), das vierte in der Gegend der Magengrube. Andere solche
Organe erscheinen in der Nähe anderer physischer Körperteile. (Die
Namen «zwei-» oder «sechzehnblättrig» können gebraucht werden,
weil die betreffenden Organe sich mit Blumen mit entsprechender Blätterzahl
vergleichen lassen.)
Die
Lotusblumen werden an dem astralischen Leibe bewußt. In dem Zeitpunkte,
in dem man die eine oder die andere entwickelt hat, weiß man auch, daß
man sie hat. Man fühlt, daß man sich ihrer bedienen kann und daß man
durch ihren Gebrauch in eine höhere Welt wirklich eintritt. Die Eindrücke,
welche man von dieser Welt erhält, gleichen in mancher Beziehung noch
denen der physisch-sinnlichen. Wer imaginativ erkennt, wird von der
neuen höheren Welt so sprechen können, daß er die Eindrücke als Wärme-
oder Kälteempfindungen, Ton- oder Wortwahrnehmungen, Licht- oder
Farbenwirkungen bezeichnet. Denn wie solche erlebt er sie. Er ist sich
aber bewußt, daß diese Wahrnehmungen in der imaginativen Welt etwas
anderes ausdrücken als in der sinnlich-wirklichen. Er erkennt, daß
hinter ihnen nicht physisch-stoffliche Ursachen, sondern
seelisch-geistige stehen. Wenn er etwas wie einen Wärmeeindruck hat, so
schreibt er diesen nicht zum Beispiel einem heißen Stück Eisens zu,
sondern er betrachtet ihn als Ausfluß eines seelischen Vorganges, wie
er ihn bisher nur in seinem seelischen Innenleben gekannt hat. Er weiß,
daß hinter den imaginativen Wahrnehmungen seelische und geistige Dinge
und Vorgänge stehen, wie hinter den physischen Wahrnehmungen
stofflich-physische Wesen und Tatsachen. — Zu dieser Ähnlichkeit der
imaginativen mit der physischen Welt kommt aber ein bedeutsamer
Unterschied hinzu. Es ist etwas in der physischen Welt vorhanden, was in
der imaginativen ganz anders auftritt. In jener kann beobachtet werden
ein fortwährendes Entstehen und Vergehen der Dinge, ein Wechsel von
Geburt und Tod. In der imaginativen Welt tritt an Stelle dieser
Erscheinung eine fortdauernde Verwandlung
des einen in das andere. Man sieht zum Beispiel in der physischen
Welt eine Pflanze vergehen. In
der imaginativen zeigt sich in demselben Maße, in dem die Pflanze
dahinwelkt, das Entstehen eines andern Gebildes, das physisch nicht
wahrnehmbar ist und in welches sich die vergehende pflanze allmählich
verwandelt. Wenn nun die Pflanze dahingeschwunden ist, so ist dieses
Gebilde an ihrer Stelle voll entwickelt da. Geburt und Tod sind
Vorstellungen, welche in der imaginativen Welt ihre Bedeutung verlieren.
An ihre Stelle tritt der Begriff von Verwandlung
des einen in das andere. — Weil dies so ist, deshalb werden für
das imaginative Erkennen jene Wahrheiten über die Wesenheit des
Menschen zugänglich, welche in diesem Buche in dem Kapitel «Wesen der
Menschheit» mitgeteilt worden sind. Für das physisch-sinnliche
Wahrnehmen sind nur die Vorgänge des physischen Leibes wahrnehmbar. Sie
spielen sich im «Gebiete von Geburt und Tod» ab. Die andern Glieder
der Menschennatur: Lebensleib, Empfindungsleib und Ich stehen unter dem
Gesetze der Verwandlung, und ihre Wahrnehmung erschließt sich der
imaginativen Erkenntnis. Wer bis zu dieser vorgeschritten ist, nimmt
wahr, wie sich aus dem physischen Leibe gleichsam herauslöst dasjenige,
was mit dem Hinsterben in anderer Daseinsart weiterlebt.
Die
Entwickelung bleibt nun aber innerhalb der imaginativen Welt nicht
stehen. Der Mensch, der in ihr stehenbleiben wollte, würde zwar die in
Verwandlung begriffenen Wesenheiten wahrnehmen; aber er würde die
Verwandlungsvorgänge nicht deuten können, er würde sich nicht
orientieren können in der neugewonnenen Welt. Die imaginative Welt ist
ein unruhiges Gebiet. Es ist überall nur Beweglichkeit, Verwandlung in
ihr; nirgends sind Ruhepunkte. — Zu solchen Ruhepunkten gelangt der
Mensch erst, wenn er sich über die imaginative Erkenntnisstufe hinaus
zu dem entwickelt, was die «Erkenntnis durch Inspiration» genannt
werden kann. — Es ist nicht notwendig, daß derjenige, welcher die
Erkenntnis der übersinnlichen Welt sucht, sich etwa so entwickele, daß
er zuerst in vollem Maße das imaginative Erkennen sich aneigne und dann
erst zur «Inspiration» vorschreite. Seine Übungen können so
eingerichtet werden, daß nebeneinander das geht, was zur Imagination,
und das, was zur Inspiration führt. Er wird dann, nach entsprechender
Zeit, in eine höhere Welt eintreten, in welcher er nicht bloß
wahrnimmt, sondern in der er sich auch orientieren kann, die er zu
deuten versteht. Der Fortschritt wird in der Regel allerdings so gemacht
werden, daß sich zuerst dem Geistesschüler einige Erscheinungen der
imaginativen Welt darbieten und nach einiger Zeit er in sich die
Empfindung erhält: Jetzt fange ich auch an, mich zu orientieren. —
Dennoch ist die Welt der Inspiration etwas ganz Neues gegenüber
derjenigen der bloßen Imagination. Durch diese nimmt man die
Verwandlung eines Vorganges in den andern wahr, durch jene lernt man
innere Eigenschaften von Wesen kennen,
welche sich verwandeln. Durch Imagination erkennt man die seelische Äußerung
der Wesen; durch Inspiration dringt man in deren geistiges Innere. Man
erkennt vor allem eine Vielheit von geistigen Wesenheiten und von
Beziehungen des einen auf das andere. Mit einer Vielheit verschiedener
Wesen hat man es ja auch in der physisch-sinnlichen Welt zu tun; in der
Welt der Inspiration ist diese Vielheit doch von einem anderen
Charakter. Es ist da ein jedes Wesen in ganz bestimmten Beziehungen zu
andern, nicht wie in der physischen durch äußere Einwirkung auf
dasselbe, sondern durch seine innere Beschaffenheit. Wenn man ein Wesen
in der inspirierten Welt wahrnimmt, so zeigt sich nicht eine äußere
Einwirkung auf ein anderes, die sich mit der Wirkung eines physischen
Wesens auf ein anderes vergleichen ließe, sondern es besteht ein Verhältnis
des einen zum andern durch die innere Beschaffenheit der beiden Wesen.
Vergleichen läßt sich dieses Verhältnis mit einem solchen in der
physischen Welt, wenn man dazu das Verhältnis der einzelnen Laute oder
Buchstaben eines Wortes zueinander wählt. Wenn man das Wort «Mensch»
vor sich hat, so wird es bewirkt durch den Zusammenklang der Laute:
Mensch. Es geht nicht ein Anstoß oder sonst eine äußere Einwirkung
zum Beispiel von dem M zu dem E hinüber, sondern beide Laute wirken
zusammen, und zwar innerhalb eines Ganzen durch ihre innere
Beschaffenheit. Deshalb läßt sich das Beobachten in der Welt der
Inspiration nur vergleichen mit einem Lesen;
und die Wesen in dieser Welt wirken auf den Betrachter wie
Schriftzeichen, die er kennenlernen muß und deren Verhältnisse sich für
ihn enthüllen müssen wie eine übersinnliche Schrift. Die
Geisteswissenschaft kann daher die Erkenntnis durch Inspiration
vergleichsweise auch das «Lesen der verborgenen Schrift» nennen.
Wie
durch diese «verborgene Schrift» gelesen wird und wie man das Gelesene
mitteilen kann, soll nun an den vorangegangenen Kapiteln dieses Buches
selbst klargemacht werden. Es wurde zunächst die Wesenheit des Menschen
b~ schrieben, wie sie sich aufbaut aus verschiedenen Gliedern. Dann
wurde gezeigt, wie das Weltwesen, auf dem sich der Mensch entwickelt,
durch die verschiedenen Zustände, den Saturn-, Sonnen-, Monden- und
Erdenzustand hindurchgeht. Die Wahrnehmungen, durch welche man die
Glieder des Menschen einerseits, die aufeinanderfolgenden Zustände der
Erde und ihrer vorhergehenden Verwandlungen andererseits erkennen kann,
erschließen sich der imaginativen Erkenntnis. Nun ist aber weiter
notwendig, daß erkannt werde, welche Beziehungen zwischen dem
Saturnzustande und dem physischen Menschenleib, dem Sonnenzustande und
dem Ätherleib usw. bestehen. Es muß gezeigt werden, daß der Keim zum
physischen Menschenleib schon während des Saturnzustandes entstanden
ist, daß er sich dann weiterentwickelt hat bis zu seiner gegenwärtigen
Gestalt während des Sonnen-, Monden- und Erdenzustandes. Es mußte zum
Beispiel auch darauf hingewiesen werden, welche Veränderungen sich mit
dem Menschenwesen vollzogen haben dadurch, daß einmal die Sonne sich
von der Erde trennte, daß ein Ähnliches bezüglich des Mondes geschah.
Es mußte ferner mitgeteilt werden, was zusammenwirkte, damit solche Veränderungen
mit der Menschheit sich vollziehen konnten, wie sie in den Umwandlungen
während der atlantischen Zeit, wie sie in den aufeinanderfolgenden
Perioden, der indischen, der urpersischen, der ägyptischen usw., sich
ausdrücken. Die Schilderung dieser Zusammenhänge ergibt sich nicht aus
der imaginativen Wahrnehmung, sondern aus der Erkenntnis durch
Inspiration, aus dem Lesen der verborgenen Schrift. Für dieses «Lesen»
sind die imaginativen Wahrnehmungen wie Buchstaben oder Laute. Dieses «Lesen»
ist aber nicht nur für Aufklärungen notwendig, wie die eben
gekennzeichneten. Schon den Lebensgang des ganzen Menschen könnte man
nicht verstehen, wenn man ihn nur durch die imaginative Erkenntnis
betrachten würde. Man würde da zwar wahrnehmen, wie sich mit dem
Hinsterben die seelisch-geistigen Glieder aus dem in der physischen Welt
Verbleibenden loslösen; aber man würde die Beziehungen dessen, was
nach dem Tode mit dem Menschen geschieht, zu den vorhergehenden und
nachfolgenden Zuständen nicht verstehen, wenn man sich innerhalb des
imaginativ Wahrgenommenen nicht orientieren könnte. Ohne die Erkenntnis
durch Inspiration verbliebe die imaginative Welt wie eine Schrift, die
man anstarrt, die man aber nicht zu lesen vermag.
Wenn
der Geistesschüler fortschreitet von der Imagination zur Inspiration,
so zeigt sich ihm sehr bald, wie unrichtig es wäre, auf das Verständnis
der großen Welterscheinungen zu verzichten und sich nur auf die
Tatsachen beschränken zu wollen, welche gewissermaßen das nächste
menschliche Interesse berühren. Wer in diese Dinge nicht eingeweiht
ist, der könnte wohl das Folgende sagen: «Mir erscheint es doch nur
wichtig, das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tode zu erfahren;
wenn mir jemand darüber Mitteilungen macht, so ist mir das genug: wozu
führt mir die Geisteswissenschaftlich entlegene Dinge vor, wie Saturn-,
Sonnenzustand, Sonnen-, Mondentrennung und so weiter.» Wer aber in
diese Dinge richtig eingeführt ist, der lernt erkennen, daß ein
wirkliches Wissen über das, was er erfahren will, nie zu erlangen ist
ohne eine Erkenntnis dessen, was ihm so unnötig scheint. Eine
Schilderung der Menschenzustände nach dem Tode bleibt völlig unverständlich
und wertlos, wenn der Mensch sie nicht mit Begriffen verbinden kann,
welche von jenen entlegenen Dingen hergenommen sind. Schon die
einfachste Beobachtung des übersinnlich Erkennenden macht seine
Bekanntschaft mit solchen Dingen notwendig. Wenn zum Beispiel eine
Pflanze von dem Blütenzustand in den Fruchtzustand übergeht, so sieht
der übersinnlich beobachtende Mensch eine Verwandlung in einer
astralischen Wesenheit vor sich gehen, welche während des Blühens die
Pflanze wie eine Wolke von oben bedeckt und umhüllt hat. Wäre die
Befruchtung nicht eingetreten, so wäre diese astralische Wesenheit in
eine ganz andere Gestalt übergegangen, als die ist, welche sie infolge
der Befruchtung angenommen hat. Nun versteht man den ganzen durch die übersinnliche
Beobachtung wahrgenommenen Vorgang, wenn man sein Wesen verstehen
gelernt hat an jenem großen Weltvorgange, welcher sich mit der Erde und
allen ihren Bewohnern vollzogen hat zur Zeit der Sonnentrennung. Vor der
Befruchtung ist die Pflanze in einer solchen Lage, wie die ganze Erde
vor der Sonnentrennung. Nach der Befruchtung zeigt sich die Blüte der
Pflanze so, wie die Erde war, als sich die Sonne abgetrennt hatte und
die Mondenkräfte noch in ihr waren. Hat man sich die Vorstellungen zu
eigen gemacht, welche an der Sonnentrennung gewonnen werden können, so
wird man die Deutung des Pflanzen-Befruchtungsvorganges sachgemäß so
wahrnehmen, daß man sagt: Die Pflanze ist vor der Befruchtung in einem
Sonnenzustand, nach derselben in einem Mondenzustand. Es ist eben
durchaus so, daß auch der kleinste Vorgang in der Welt nur dann
begriffen werden kann, wenn in ihm ein Abbild großer Weltvorgänge
erkannt wird. Sonst bleibt er seinem Wesen nach so unverständlich, wie
die Raffaelsche Madonna für denjenigen bleibt, der nur ein kleines
blaues Fleckchen sehen kann, während alles andere zugedeckt ist. —
Alles, was nun am Menschen vorgeht, ist ein Abbild all der großen
Weltvorgänge, die mit seinem Dasein zu tun haben. Will man die
Beobachtungen des übersinnlichen Bewußtseins über die Erscheinungen
zwischen Geburt und Tod und wieder vom Tode bis zu einer neuen Geburt
verstehen, so kann man dies, wenn man sich die Fähigkeit erworben hat,
die imaginativen Beobachtungen durch dasjenige zu entziffern, was man
sich an Vorstellungen angeeignet hat durch die Betrachtung der großen
Weltvorgänge. — Diese Betrachtung liefert eben den Schlüssel
zum Verständnisse des menschlichen Lebens. Daher ist im Sinne der
Geisteswissenschaft Saturn-, Sonnen-, Mondbeobachtung usw. zugleich
Beobachtung des Menschen.
Durch
Inspiration gelangt man dazu, die Beziehungen zwischen den Wesenheiten
der höheren Welt zu erkennen. Durch eine weitere Erkenntnisstufe wird
es möglich, diese Wesenheiten in ihrem Innern selbst zu erkennen. Diese
Erkenntnisstufe kann die intuitive Erkenntnis genannt werden. (Intuition
ist ein Wort, das im gewöhnlichen Leben mißbraucht wird für eine
unklare, unbestimmte Einsicht in eine Sache, für eine Art Einfall, der
zuweilen mit der Wahrheit stimmt, dessen Berechtigung aber zunächst
nicht nachweisbar ist. Mit dieser Art « Intuition» hat das hier.
Gemeinte natürlich nichts zu tun. Intuition bezeichnet hier eine
Erkenntnis von höchster, lichtvollster Klarheit, deren Berechtigung man
sich, wenn man sie hat, in vollstem Sinne bewußt ist.) — Ein
Sinneswesen erkennen, heißt außerhalb
desselben stehen und es nach dem äußeren Eindruck beurteilen. Ein
Geisteswesen durch Intuition erkennen, heißt völlig eins mit ihm
geworden sein, sich mit seinem Innern vereinigt haben. Stufenweise
steigt der Geistesschüler zu solcher Erkenntnis hinauf. Die Imagination
führt ihn dazu, die Wahrnehmungen nicht mehr als äußere Eigenschaften
von Wesen zu empfinden, sondern in ihnen Ausflüsse von
Seelisch-Geistigem zu erkennen; die Inspiration führt ihn weiter in das
Innere der Wesen: Er lernt durch sie verstehen, was diese Wesenheiten für
einander sind; in der Intuition dringt er in die Wesen selbst ein. —
Wieder kann an den Ausführungen dieses Buches selbst gezeigt werden,
was für eine Bedeutung die Intuition hat. Es wurde in den
vorhergehenden Kapiteln nicht nur davon gesprochen, wie der Fortgang der
Saturn-, Sonnen-, Mondenentwickelung usw. geschieht, sondern es wurde
mitgeteilt, daß Wesen sich an diesem Fortgange in der verschiedensten
Art beteiligen. Es wurden Throne oder Geister des Willens, Geister der
Weisheit, der Bewegung usw. angeführt. Es wurde bei der
Erdenentwickelung von den Geistern des Luzifer, des Ahriman gesprochen.
Der Weltenbau wurde auf die Wesenheiten zurückgeführt, welche sich an
ihm beteiligen. Was über diese Wesenheiten erfahren werden kann, wird
durch die intuitive Erkenntnis gewonnen. Diese ist auch schon notwendig,
wenn man den Lebenslauf des Menschen erkennen will. Was sich nach dem
Tode aus der physischen Leiblichkeit des Menschen herauslöst, das macht
nun in der Folgezeit verschiedene Zustände durch. Die nächsten Zustände
nach dem Tode wären noch einigermaßen durch die imaginative Erkenntnis
zu beschreiben. Was aber dann vorgeht, wenn der Mensch weiter kommt in
der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, das müßte der
Imagination ganz unverständlich bleiben, wenn nicht die Inspiration
hinzukäme. Nur die Inspiration kann erforschen, was von dem Leben des
Menschen nach der Läuterung im «Geisterland» gesagt werden kann. Dann
aber kommt ein Etwas, für welches die Inspiration nicht mehr ausreicht,
wo sie gewissermaßen den Faden des Verständnisses verliert. Es gibt
eine Zeit der menschlichen Entwickelung zwischen dem Tode und einer
neuen Geburt, wo das menschliche Wesen nur der Intuition zugänglich
ist. — Dieser Teil der menschlichen Wesenheit ist aber immer
in dem Menschen; und will man ihn, seiner wahren Innerlichkeit nach,
verstehen, so muß man ihn auch in der Zeit zwischen der Geburt und dem
Tode durch die Intuition aufsuchen. Wer den Menschen nur mit den Mitteln
der Imagination und Inspiration erkennen wollte, dem entzögen sich
gerade die Vorgänge des innersten Wesens desselben, die von Verkörperung
zu Verkörperung sich abspielen. Nur die intuitive Erkenntnis macht
daher eine sachgemäße Erforschung von den wiederholten Erdenleben und
vom Karma möglich. Alles, was als Wahrheit über diese Vorgänge
mitgeteilt werden soll, muß der Forschung durch intuitive Erkenntnis
entstammen. — Und will der Mensch sich selbst seiner inneren Wesenheit
nach erkennen, so kann er dies nur durch Intuition. Durch sie nimmt er
wahr, was sich in ihm von Erdenleben zu Erdenleben fortbewegt.
Erlangen
kann der Mensch die Erkenntnis durch Inspiration und Intuition auch nur
durch seelisch-geistige Übungen. Sie sind denen ähnlich, welche als «innere
Versenkung» (Meditation) zur Erreichung der Imagination geschildert
worden sind. Während aber bei jenen Übungen, welche zur Imagination führen,
eine Anknüpfung stattfindet an die Eindrücke der sinnlich-physischen
Welt, muß bei denen für die Inspiration diese Anknüpfung immer mehr
wegfallen. Um sich zu verdeutlichen, was da zu geschehen hat, denke man
nochmals an das Sinnbild des Rosenkreuzes. Wenn man sich in dasselbe
versenkt, so hat man ein Bild vor sich, dessen Teile von Eindrücken der
sinnlichen Welt genommen sind: die schwarze Farbe des Kreuzes, die Rosen
usw. Die Zusammenstellung dieser Teile zum Rosenkreuz ist aber nicht aus
der sinnlich-physischen Welt genommen. Wenn nun der Geistesschüler
versucht, aus seinem Bewußtsein das schwarze Kreuz und auch die roten
Rosen als Bilder von sinnlich-wirklichen Dingen ganz verschwinden zu
lassen und nur in der Seele jene geistige Tätigkeit zu behalten, welche
diese Teile zusammengesetzt hat, dann hat er ein Mittel zu einer solchen
Meditation, welche ihn nach und nach zur Inspiration führt. Man frage
sich in seiner Seele etwa in folgender Art: Was habe ich innerlich
getan, um Kreuz und Rose zu dem Sinnbild zusammenzufügen? Was ich getan
habe (meinen eigenen Seelenvorgang) will ich festhalten; das Bild selber
aber aus dem Bewußtsein verschwinden lassen. Dann will ich alles in mir
fühlen, was meine Seele
getan hat, um das Bild zustande zu bringen, das Bild selbst aber will
ich mir nicht vorstellen. Ich will nunmehr ganz innerlich leben in
meiner eigenen Tätigkeit, welche das Bild geschaffen hat. Ich will mich
also in kein Bild, sondern in meine eigene bilderzeugende Seelentätigkeit
versenken. Solche Versenkung muß in bezug auf viele Sinnbilder
vorgenommen werden. Das führt dann zur Erkenntnis durch Inspiration.
Ein anderes Beispiel wäre dies: Man versenkt sich in die Vorstellung
einer entstehenden und vergehenden Pflanze. Man läßt in der Seele das
Bild einer nach und nach werdenden Pflanze entstehen, wie sie aus dem
Keime aufspießt, wie sie Blatt nach Blatt entfaltet, bis zur Blüte und
zur Frucht. Dann wieder, wie das Hinwelken beginnt, bis zur völligen
Auflösung. Man gelangt allmählich durch die Versenkung in solch ein
Bild zu einem Gefühl des Entstehens und Vergehens, für welches die
Pflanze nur noch Bild ist. Aus diesem Gefühl kann dann, wenn die Übung
ausdauernd fortgesetzt wird, sich die Imagination von jener Verwandlung
herausbilden, welche dem physischen Entstehen und Vergehen zum Grunde
liegt. Will man aber zur entsprechenden Inspiration kommen, dann muß
man die Übung noch anders machen. Man muß sich auf die eigene Seelentätigkeit
besinnen, welche aus dem Bilde der Pflanze die Vorstellung von Entstehen
und Vergehen gewonnen hat. Man muß die Pflanze nun ganz aus dem Bewußtsein
verschwinden lassen und sich nur in das hineinversenken, was man selbst
innerlich getan hat. Durch solche Übungen nur ist ein Aufsteigen zur
Inspiration möglich. Zunächst wird es dem Geistesschüler nicht ganz
leicht sein, in vollem Umfange zu begreifen, wie er sich zu einer
solchen Übung anzuschicken hat. Es rührt dies davon her, daß der
Mensch, welcher gewohnt ist, sich sein Innenleben von den äußeren
Eindrücken bestimmen zu lassen, sofort ins Unsichere und völlig
Schwankende gerät, wenn er noch ein Seelenleben entfalten soll, das
alle Anknüpfung an äußere Eindrücke abgeworfen hat. In einem noch höheren
Maße als bezüglich der Erwerbung von Imaginationen muß der Geistesschüler
sich gegenüber diesen Übungen zur Inspiration klar sein, daß er sie
nur vornehmen sollte, wenn er nebenher gehen läßt alle Vorkehrungen,
welche zur Sicherung und Festigung der Urteilsfähigkeit, des Gefühlslebens
und des Charakters führen können. Trifft er diese Vorkehrungen, so
wird er ein Zweifaches davon als Erfolg haben. Erstens wird er durch die
Übungen nicht das Gleichgewicht seiner Persönlichkeit beim übersinnlichen
Schauen verlieren können; zweitens wird er sich zugleich die Fähigkeit
aneignen, das wirklich ausführen zu können, was in diesen Übungen
verlangt wird. Man wird diesen Übungen gegenüber nur so lange sagen,
sie seien schwierig, als man sich eine ganz gewisse Seelenverfassung,
ganz gewisse Gefühle und Empfindungen noch nicht angeeignet hat.
Derjenige wird alsbald Verständnis und auch Fähigkeit für die Übungen
gewinnen, der in Geduld und Ausdauer in seiner Seele solche innere
Eigenschaften pflegt, welche dem Aufkeimen übersinnlicher Erkenntnisse
günstig sind. Wer sich daran gewöhnt, öfters Einkehr in sein Inneres
so zu halten, daß es ihm dabei weniger zu tun ist, über sich selbst
nachzugrübeln, als vielmehr still in sich die im Leben gemachten
Erfahrungen zu ordnen und zu verarbeiten, der wird viel gewinnen. Er
wird sehen, daß man seine Vorstellungen und Gefühle bereichert, wenn
man die eine Lebenserfahrung mit der anderen in ein Verhältnis bringt.
Er wird gewahr werden, in wie hohem Grade man nicht nur dadurch Neues
erfährt, daß man neue Eindrücke und neue Erlebnisse hat, sondern auch
dadurch, daß man die alten in sich arbeiten läßt. Und wer dabei so zu
Werke geht, daß er seine Erlebnisse, ja sogar seine gewonnenen
Meinungen so gegeneinander spielen läßt, als ob er selbst mit seinen
Sympathien und Antipathien, mit seinen persönlichen Interessen und Gefühlen
gar nicht dabei wäre, der wird für die übersinnlichen Erkenntniskräfte
einen besonders guten Boden zubereiten. Er wird in Wahrheit das
ausbilden, was man ein reiches
Innenleben nennen kann. Worauf es aber vor allem ankommt, das ist
Gleichmaß und Gleichgewicht der Seeleneigenschaften. Der Mensch ist nur
zu leicht geneigt, wenn er sich einer gewissen Seelentätigkeit hingibt,
in Einseitigkeit zu verfallen. So kann er, wenn er den Vorteil des
inneren Nachsinnens und des Verweilens in der eigenen Vorstellungswelt
gewahr wird, dafür eine solche Neigung erhalten, daß er sich gegen die
Eindrücke der Außenwelt immer mehr verschließt. Das aber führt zur
Vertrocknung und Verödung des Innenlebens. Am weitesten kommt
derjenige, welcher sich neben der Fähigkeit, sich in sein Inneres zurückzuziehen,
auch die offene Empfänglichkeit bewahrt für alle Eindrücke der Außenwelt.
Und man braucht dabei nicht etwa bloß an die sogenannten bedeutsamen
Eindrücke des Lebens zu denken, sondern es kann jeder
Mensch in jeder Lage auch
in noch so ärmlichen vier Wänden — genug erleben, wenn er nur den
Sinn dafür empfänglich hält. Man braucht die Erlebnisse nicht erst zu
suchen; sie sind überall da. — Von besonderer Wichtigkeit ist auch, wie
Erlebnisse in des Menschen Seele verarbeitet werden. Es kann zum
Beispiel jemand die Erfahrung machen, daß eine von ihm oder andern
verehrte Persönlichkeit diese oder jene Eigenschaft habe, die er als
Charakterfehler bezeichnen muß. Durch eine solche Erfahrung kann der
Mensch in einer zweifachen Richtung zum Nachdenken veranlaßt werden. Er
kann sich einfach sagen: Jetzt, nachdem ich dies erkannt habe, kann ich
jene Persönlichkeit nicht mehr in derselben Art verehren wie früher.
Oder aber er kann sich die Frage vorlegen: Wie ist es möglich, daß die
verehrte Persönlichkeit mit jenem Fehler behaftet ist? Wie muß ich mir
vorstellen, daß der Fehler nicht nur
Fehler, sondern etwas durch das Leben der Persönlichkeit,
vielleicht gerade durch ihre großen Eigenschaften Verursachtes ist? Ein
Mensch, welcher sich diese Fragen vorlegt, wird vielleicht zu dem
Ergebnis kommen, daß seine Verehrung nicht im geringsten durch das
Bemerken des Fehlers zu verringern ist. Man wird durch ein solches
Ergebnis jedesmal etwas gelernt haben, man wird seinem Lebensverständnis
etwas beigefügt haben. Nun wäre es gewiß schlimm für denjenigen, der
sich durch das Gute einer solchen Lebensbetrachtung verleiten ließe,
bei Personen oder Dingen, welche seine Neigung haben, alles Mögliche zu
entschuldigen oder etwa gar zu der Gewohnheit überzugehen, alles
Tadelnswerte unberücksichtigt zu lassen, weil ihm das Vorteil bringt für
seine innere Entwickelung. Dies letztere ist nämlich dann nicht
der Fall, wenn man durch sich selbst den Antrieb erhält, Fehler
nicht bloß zu tadeln, sondern zu verstehen; sondern nur, wenn ein
solches Verhalten durch den betreffenden Fall selbst gefordert wird,
gleichgültig, was der Beurteiler dabei gewinnt oder verliert. Es ist
durchaus richtig: Lernen kann
man nicht durch die
Verurteilung eines Fehlers, sondern nur
durch dessen Verstehen. Wer aber wegen des Verständnisses durchaus
das Mißfallen ausschließen wollte, der käme auch nicht weit. Auch
hier kommt es nicht auf Einseitigkeit in der einen oder andern Richtung
an, sondern auf Gleichmaß und Gleichgewicht der Seelenkräfte. — Und
so ist es ganz besonders mit einer Seeleneigenschaft, die für des
Menschen Entwickelung ganz hervorragend bedeutsam ist; mit dem, was man
Gefühl der Verehrung (Devotion)
nennt. Wer dieses Gefühl in sich heranbildet oder es durch eine glückliche
Naturgabe von vornherein besitzt, der hat einen guten Boden für die übersinnlichen
Erkenntniskräfte. Wer in seiner Kindheits und Jugendzeit mit
hingebungsvoller Bewunderung zu Personen wie zu hohen Idealen
hinaufschauen konnte, in dessen Seelengrund ist etwas, worinnen übersinnliche
Erkenntnisse besonders gut gedeihen. Und wer bei reifem Urteile im späteren
Leben zum Sternenhimmel blickt und in restloser Hingabe die Offenbarung
hoher Mächte bewundernd empfindet, der macht sich eben dadurch reif zum
Erkennen der übersinnlichen Welten. Ein gleiches ist bei demjenigen der
Fall, welcher die im Menschenleben waltenden Kräfte zu bewundern
vermag. Und von nicht geringer Bedeutung ist es, wenn man auch noch als
gereifter Mensch Verehrung bis zu den höchsten Graden für andere
Menschen haben kann, deren Wert man ahnt oder zu erkennen glaubt. Nur wo
solche Verehrung vorhanden ist, kann sich die Aussicht in die höheren
Welten eröffnen. Wer nicht verehren kann, wird keinesfalls in seiner
Erkenntnis besonders weit kommen. Wer nichts in der Welt anerkennen
will, dem verschließt sich das Wesen der Dinge. — Wer sich jedoch
durch das Gefühl der Verehrung und Hingabe dazu verführen läßt, das gesunde
Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen in sich ganz zu ertöten, der
versündigt sich gegen das Gesetz des Gleichmaßes und Gleichgewichtes.
Der Geistesschüler wird fortdauernd an sich arbeiten, um sich immer
reifer und reifer zu machen; aber dann darf
er auch das Vertrauen zu der eigenen Persönlichkeit haben und
glauben, daß deren Kräfte immer mehr wachsen. Wer in sich zu richtigen
Empfindungen nach dieser Richtung kommt, der sagt sich: In mir liegen Kräfte
verborgen, und ich kann sie aus meinem Innern hervorholen. Ich brauche
daher dort, wo ich etwas sehe, das ich verehren muß, weil es über mir
steht, nicht bloß zu verehren, sondern ich darf mir zutrauen, alles das
in mir zu entwickeln, was mich diesem oder jenem Verehrten gleich macht.
Je größer
in einem Menschen die Fähigkeit ist, Aufmerksamkeit
auf gewisse Vorgänge des Lebens zu richten, welche nicht von
vornherein dem persönlichen Urteil vertraut sind, desto größer ist für
ihn die Möglichkeit, sich Unterlagen zu schaffen für eine Entwickelung
in geistige Welten hinauf. Ein Beispiel mag dies anschaulich machen. Ein
Mensch komme in eine Lebenslage, wo er eine gewisse Handlung tun oder
unterlassen kann. Sein Urteil sage ihm: Tue dies. Aber es sei doch ein
gewisses unerklärliches Etwas in seinen Empfindungen, das ihn von der
Tat abhält. Es kann nun so sein, daß der Mensch auf dieses unerklärliche
Etwas keine Aufmerksamkeit verwendet, sondern einfach die Handlung so
vollbringt, wie es seiner Urteilsfähigkeit angemessen ist. Es kann aber
auch so sein, daß der Mensch dem Drange jenes unerklärlichen Etwas
nachgibt und die Handlung unterläßt. Verfolgt er dann die Sache
weiter, so kann sich herausstellen, daß Unheil gefolgt wäre, wenn er
seinem Urteil gefolgt wäre; daß jedoch Segen entstanden ist durch das
Unterlassen. Solch eine Erfahrung kann das Denken des Menschen in eine
ganz bestimmte Richtung bringen. Er kann sich sagen: In mir lebt etwas,
was mich richtiger leitet als der Grad von Urteilsfähigkeit, welchen
ich in der Gegenwart habe. Ich muß mir den Sinn offen halten für
dieses «Etwas in mir», zu dem ich mit meiner Urteilsfähigkeit noch
gar nicht herangereift bin. Es wirkt nun in hohem Grade günstig auf die
Seele, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf solche Fälle im Leben richtet.
Es zeigt sich ihr dann wie in einer gesunden
Ahnung, daß im Menschen mehr
ist, als was er jeweilig mit seiner Urteilskraft übersehen kann.
Solche Aufmerksamkeit arbeitet auf eine Erweiterung
des Seelenlebens hin. Aber auch hier können sich wieder
Einseitigkeiten ergeben, welche bedenklich sind. Wer sich gewöhnen
wollte, stets deshalb sein Urteil auszuschalten, weil ihn «Ahnungen»
zu dem oder jenem treiben, der könnte ein Spielball von allen möglichen
unbestimmten Trieben werden. Und von einer solchen Gewohnheit zur
Urteilslosigkeit und zum Aberglauben ist es nicht weit. — Verhängnisvoll
für den Geistesschüler ist eine jegliche Art von Aberglauben. Man
erwirbt sich nur dadurch die Möglichkeit, in einer wahrhaften Art in
die Gebiete des Geisteslebens einzudringen, daß man sich sorgfältig hütet
vor Aberglauben, Phantastik und Träumerei. Nicht derjenige kommt in
einer richtigen Weise in die geistige Welt hinein, welcher froh ist,
wenn er irgendwo einen Vorgang erleben kann, der «von dem menschlichen
Vorstellen nicht begriffen werden kann». Die Vorliebe für das «Unerklärliche»
macht gewiß niemanden zum Geistesschüler. Ganz abgewöhnen muß sich
dieser das Vorurteil, daß ein «Mystiker der sei, welcher in der Welt
ein Unerklärliches, Unerforschliches» überall da voraussetzt, wo es
ihm angemessen erscheint. Das rechte Gefühl für den Geistesschüler
ist, überall verborgene Kräfte und Wesenheiten anzuerkennen; aber auch
vorauszusetzen, daß das Unerforschte erforscht werden kann, wenn die Kräfte
dazu vorhanden sind.
Es gibt
eine gewisse Seelenverfassung, welche dem Geistesschüler auf jeder
Stufe seiner Entwickelung wichtig ist. Sie besteht darin, seinen
Erkenntnistrieb nicht einseitig so zu stellen, daß dieser immer darauf
ausgeht: Wie kann man auf diese oder jene Frage antworten? Sondern
darauf:
Wie
entwickele ich diese oder jene Fähigkeit in mir? Ist dann durch innere
geduldige Arbeit an sich diese oder jene Fähigkeit entwickelt, so fällt
dem Menschen die Antwort auf gewisse Fragen zu. Geistesschüler werden
immer diese Seelenverfassung in sich pflegen. Dadurch werden sie dazu
geführt, an sich zu arbeiten, sich immer reifer und reifer zu machen
und sich zu versagen, Antworten auf gewisse Fragen herbeizwingen zu
wollen. Sie werden warten, bis
ihnen solche Antworten zufallen. — Wer aber auch darin wieder an
Einseitigkeit sich gewöhnt, auch der kommt nicht richtig vorwärts. Der
Geistesschüler kann auch das Gefühl haben, in einem bestimmten
Zeitpunkte sich mit dem Maße seiner Kräfte selbst die höchsten Fragen
zu beantworten. Also auch hier spielen Gleichmaß und Gleichgewicht in
der Seelenverfassung eine gewichtige Rolle. Noch viele
Seeleneigenschaften könnten besprochen werden, deren Pflege und
Entwickelung förderlich ist, wenn der Geistesschüler die Inspiration
durch Übungen anstreben will. Bei allem würde zu betonen sein, daß
Gleichmaß und Gleichgewicht diejenigen Seeleneigenschaften sind, auf
die es ankommt. Sie bereiten das Verständnis und die Fähigkeit für
die charakterisierten Übungen vor, die behufs der Erlangung der
Inspiration zu machen sind.
Die Übungen
zur Intuition erfordern, daß der Geistesschüler aus seinem Bewußtsein
nicht nur die Bilder verschwinden läßt, welchen er sich zur Erlangung
der Imagination hingegeben hat, sondern auch das Leben in der eigenen
Seelentätigkeit, in welche er sich für die Erwerbung der Inspiration
versenkt hat. Er soll also dann buchstäblich nichts
von vorher gekanntem äußeren oder inneren Erleben in seiner Seele
haben. Würde nun aber nach diesem Abwerfen der äußeren und der
inneren Erlebnisse nichts in
seinem Bewußtsein sein, das heißt, würde ihm das Bewußtsein überhaupt
dahinschwinden und er in Bewußtlosigkeit versinken, so könnte er daran
erkennen, daß er sich noch nicht reif gemacht hat, Übungen für die
Intuition vorzunehmen; und er müßte dann die Übungen für die
Imagination und Inspiration fortsetzen. Es kommt schon einmal die Zeit,
in welcher das Bewußtsein nicht leer ist, wenn die Seele die inneren
und äußeren Erlebnisse abgeworfen hat, sondern wo nach diesem Abwerfen
als Wirkung etwas im Bewußtsein zurückbleibt, dem man sich dann in
Versenkung ebenso hingeben kann, wie man sich vorher dem hingegeben hat,
was äußerlichen oder inneren Eindrücken sein Dasein verdankt. Es ist
dieses «Etwas» aber von ganz besonderer Art. Es ist gegenüber allen
vorhergehenden Erfahrungen etwas wirklich Neues. Man weiß, wenn man es
erlebt: Dies habe ich vorher nicht gekannt. Dies ist eine Wahrnehmung,
wie der wirkliche Ton eine Wahrnehmung ist, welchen das Ohr hört; aber
es kann dieses Etwas nur in mein Bewußtsein treten durch die Intuition,
wie der Ton nur ins Bewußtsein treten kann durch das Ohr. Durch die
Intuition ist der letzte Rest des Sinnlich-Physischen von des Menschen
Eindrücken abgestreift; die geistige Welt beginnt für die Erkenntnis
offen zu liegen in einer Form, die nichts mehr gemein hat mit den
Eigenschaften der physisch-sinnlichen Welt.
Die
imaginative Erkenntnis wird erreicht durch die Ausgestaltung der
Lotusblumen aus dem astralischen Leibe heraus. Durch diejenigen Übungen,
welche zur Erlangung von Inspiration und Intuition unternommen werden,
treten im menschlichen Äther- oder Lebensleib besondere Bewegungen,
Gestaltungen und Strömungen auf, welche vorher nicht da waren. Sie sind
eben die Organe, durch welche der Mensch das «Lesen der verborgenen
Schrift» und das, was darüber hinausliegt, in den Bereich seiner Fähigkeiten
aufnimmt. Für das übersinnliche Erkennen stellen sich die Veränderungen
im Ätherleibe eines Menschen, der zur Inspiration und Intuition gelangt
ist, in der folgenden Art dar. Es wird, ungefähr wie in der Gegend nahe
dem physischen Herzen, ein neuer Mittelpunkt im Ätherleibe bewußt, der
sich zu einem ätherischen Organe ausgestaltet. Von diesem laufen
Bewegungen und Strömungen nach den verschiedenen Gliedern des
menschlichen Leibes in der mannigfaltigsten Weise. Die wichtigsten
dieser Strömungen gehen zu den Lotusblumen, durchziehen dieselben und
ihre einzelnen Blätter und gehen dann nach außen, wo sie wie Strahlen
sich in den äußeren Raum ergießen. Je entwickelter der Mensch ist,
desto größer ist der Umkreis um ihn herum, in dem diese Strömungen
wahrnehmbar sind. Der Mittelpunkt in der Gegend des Herzens bildet sich
aber bei regelrechter Schulung nicht gleich im Anfang aus. Er wird erst
vorbereitet. Zuerst entsteht als ein vorläufiger Mittelpunkt ein
solcher im Kopfe; der rückt dann hinunter in die Kehlkopfgegend und
verlegt sich zuletzt in die Nähe des physischen Herzens. Würde die
Entwickelung unregelmäßig sein, so könnte sogleich in der Herzgegend
das in Rede stehende Organ gebildet werden. Dann läge die Gefahr vor,
daß der Mensch, statt zur ruhigen, sachgemäßen übersinnlichen
Schalung zu kommen, zum Schwärmer und Phantasten' würde. In seiner
weiteren Entwickelung gelangt der Geistesschüler dazu, die
ausgebildeten Strömungen und Gliederungen seines Ätherleibes unabhängig
zu machen von dem physischen Leibe und sie selbständig zu gebrauchen.
Es dienen ihm die Lotusblumen dabei als Werkzeuge, durch welche er den
Ätherleib bewegt. Bevor dieses geschieht, müssen sich aber in dem
ganzen Umkreis des Ätherleibes besondere Strömungen und Strahlungen
gebildet haben, welche ihn wie durch ein feines Netzwerk in sich
abschließen und zu einer in sich geschlossenen Wesenheit machen. Wenn
das geschehen ist, können ungehindert die im Ätherleibe sich
vollziehenden Bewegungen und Strömungen sich mit der äußeren
seelisch-geistigen Welt berühren und mit ihnen sich verbinden, so daß
äußeres geistig-seelisches Geschehen und inneres (dasjenige im
menschlichen Ätherleibe) ineinanderfließen. Wenn das geschieht, ist
eben der Zeitpunkt eingetreten, in dem der Mensch die Welt der
Inspiration bewußt wahrnimmt. Dieses Erkennen tritt in einer anderen
Art auf als das Erkennen in bezug auf die sinnlich-physische Welt. In
dieser bekommt man durch die Sinne Wahrnehmungen und macht sich dann über
diese Wahrnehmungen Vorstellungen und Begriffe. Beim Wissen durch die
Inspiration ist es nicht so. Was man erkennt, ist unmittelbar, in einem
Akte da; es gibt nicht ein Nachdenken nach
der Wahrnehmung. Was für das sinnlich-physische Erkennen erst
hinterher im Begriffe gewonnen wird, ist bei der Inspiration zugleich
mit der Wahrnehmung gegeben. Man würde deshalb mit der
seelisch-geistigen Umwelt in eins zusammenfließen, sich von ihr gar
nicht unterscheiden können, wenn man das oben charakterisierte Netzwerk
im Ätherleibe nicht ausgebildet hätte.
Wenn
die Übungen für die Intuition gemacht werden, so wirken sie nicht
allein auf den Ätherleib, sondern bis in die übersinnlichen Kräfte
des physischen Leibes hinein. Man sollte sich allerdings nicht
vorstellen, daß auf diese Art Wirkungen im physischen Leibe vor sich
gehen, welche der gewöhnlichen Sinnenbeobachtung zugänglich sind. Es
sind Wirkungen, welche nur das übersinnliche Erkennen beurteilen kann.
Sie haben mit aller äußeren Erkenntnis
nichts zu tun. Sie stellen sich ein als Erfolg der Reife des Bewußtseins,
wenn dieses in der Intuition Erlebnisse haben kann, trotzdem es alle
vorher gekannten äußeren und inneren Erlebnisse aus sich
herausgesondert hat. — Nun sind aber die Erfahrungen der Intuition
zart, intim und fein; und der physische Menschenleib ist auf der gegenwärtigen
Stufe seiner Entwickelung im Verhältnisse zu ihnen grob. Er bietet
deshalb ein stark wirkendes Hindernis für den Erfolg der Intuitionsübungen.
Werden diese mit Energie und Ausdauer und in der notwendigen inneren
Ruhe fortgesetzt, so überwinden sie zuletzt die gewaltigen Hindernisse
des physischen Leibes. Der Geistesschüler bemerkt das daran, daß er
allmählich gewisse Äußerungen des physischen Leibes, die vorher ganz
ohne sein Bewußtsein erfolgten, in seine Gewalt bekommt. Er bemerkt es
auch daran, daß er für kurze Zeit das Bedürfnis empfindet, zum
Beispiel das Atmen (oder dergleichen) so einzurichten, daß es in eine
Art Einklang oder Harmonie mit dem kommt, was in den Übungen oder sonst
in der inneren Versenkung die Seele verrichtet. Das Ideal der
Entwickelung ist, daß durch den physischen Leib selbst gar keine Übungen,
auch nicht solche Atemübungen gemacht würden, sondern daß alles, was
mit ihm zu geschehen hat, sich nur
als eine Folge der reinen Intuitionsübungen einstellte.
Wenn
der Geistesschüler auf dem Wege in die höheren Erkenntniswelten
aufsteigt, so bemerkt er auf einer gewissen Stufe, daß das
Zusammenhalten der Kräfte seiner Persönlichkeit eine andere Form
annimmt, als es in der physisch-sinnlichen Welt hat. In dieser bewirkt
das Ich ein einheitliches Zusammenwirken der Seelenkräfte, zunächst
des Denkens, Fühlens und Wollens. Diese drei Seelenkräfte stehen ja in
den gewöhnlichen menschlichen Lebenslagen jeweilig immer in gewissen
Beziehungen. Man sieht zum Beispiel ein gewisses Ding in der Außenwelt.
Es gefällt oder mißfällt der Seele. Das heißt, es schließt sich mit
einer gewissen Notwendigkeit an die Vorstellung des Dinges ein Gefühl
der Lust oder Unlust. Man begehrt auch wohl das Ding oder erhält den
Impuls, es in dieser oder jener Richtung zu ändern. Das heißt:
Begehrungsvermögen und Wille gesellen sich zu einer Vorstellung und
einem Gefühle hinzu. Daß dieses Zusammengesellen stattfindet, wird
bewirkt dadurch, daß das Ich Vorstellen (Denken), Fühlen und Wollen
einheitlich zusammenschließt und auf diese Art Ordnung in die Kräfte
der Persönlichkeit bringt. Diese gesunde
Ordnung würde unterbrochen, wenn sich das Ich nach dieser Richtung
machtlos erwiese, wenn zum Beispiel die Begierde einen andern Weg gehen
wollte als das Gefühl oder die Vorstellung. Ein Mensch wäre nicht in
einer gesunden Seelenverfassung, welcher zwar dächte, daß dies oder
jenes richtig sei, aber nun etwas wollte, wovon er nicht die Ansicht
hat, daß es richtig ist. Ebenso wäre es, wenn jemand nicht das wollte,
was ihm gefällt, sondern das, was ihm mißfällt. Nun bemerkt der
Mensch, daß auf dem Wege zur höheren Erkenntnis Denken, Fühlen und
Wollen in der Tat sich sondern und jedes eine gewisse Selbständigkeit
annimmt, daß zum Beispiel ein bestimmtes Denken nicht mehr wie durch
sich selbst zu einem bestimmten Fühlen und Wollen drängt. Es stellt
sich die Sache so, daß man im Denken etwas richtig wahrnehmen kann, daß
man aber, um überhaupt zu einem Gefühle oder zu einem Willensentschluß
zu kommen, wieder aus sich heraus einen selbständigen Antrieb braucht.
Denken, Fühlen und Wollen bleiben eben während der übersinnlichen
Betrachtung nicht drei Kräfte, welche
aus dem gemeinsamen Ich-Mittelpunkte der Persönlichkeit ausstrahlen,
sondern sie werden wie zu selbständigen Wesenheiten, gleichsam zu drei
Persönlichkeiten; und man muß jetzt das eigene Ich um so stärker
machen, denn es soll nicht bloß in drei Kräfte Ordnung bringen,
sondern drei Wesenheiten lenken und führen. Aber diese Teilung darf
eben nur während der übersinnlichen
Betrachtung bestehen. Und wieder tritt es hier deutlich zutage, wie
wichtig es ist, neben den Übungen zu höherer Schulung diejenigen
einhergehen zu lassen, welche der Urteilsfähigkeit, dem Gefühls- und
Willensleben Sicherheit und Festigkeit geben. Denn bringt man diese
nicht mit in die höhere Welt, so wird man alsbald sehen, wie sich das
Ich schwach erweist und kein ordentlicher Lenker sein kann des Denkens,
Fühlens und Wollens. Die Seele würde, wenn diese Schwäche vorhanden wäre,
wie von drei Persönlichkeiten in die verschiedenen Richtungen gezerrt,
und ihre innere Geschlossenheit müßte aufhören. Wenn die Entwickelung
des Geistesschülers aber in der rechten Art verläuft, so bedeutet die
gekennzeichnete Kräftewandlung einen wahren Fortschritt; das Ich bleibt
über die selbständigen Wesenheiten, welche nun seine Seele bilden, der
Herrscher. — Im weiteren Verlaufe der Entwickelung schreitet die
angedeutete Entwickelung dann fort. Das Denken, das selbständig
geworden ist, regt das Auftreten einer besonderen vierten
seelisch-geistigen Wesenheit an, welche man bezeichnen kann wie ein
unmittelbares Einfließen von Strömungen in den Menschen, die den
Gedanken ähnlich sind. Die ganze Welt erscheint da als Gedankengebäude,
das vor einem steht, wie die Pflanzen- oder Tierwelt im
physisch-sinnlichen Gebiete. Ebenso regen das selbständig gewordene Fühlen
und Wollen zwei Kräfte in der Seele an, welche in derselben wie selbständige
Wesen wirken. Und noch eine siebente Kraft und Wesenheit kommt dazu,
welche ähnlich dem eigenen Ich selber ist.
Dieses
ganze Erlebnis verbindet sich noch mit einem andern. Vor dem Betreten
der übersinnlichen Welt kannte der Mensch Denken, Fühlen und Wollen
nur als innere Seelenerlebnisse. Sobald er die übersinnliche Welt
betritt, nimmt er Dinge wahr, welche nicht Sinnlich-Physisches ausdrücken,
sondern Seelisch-Geistiges. Hinter den von ihm wahrgenommenen
Eigenschaften der neuen Welt stehen jetzt seelisch-geistige Wesenheiten.
Und diese bieten sich ihm jetzt so dar als eine Außenwelt, wie sich ihm
im physisch-sinnlichen Gebiet Steine, Pflanzen und Tiere vor die Sinne
gestellt haben. Es kann nun der Geistesschüler einen bedeutsamen
Unterschied wahrnehmen zwischen der sich ihm erschließenden
seelisch-geistigen Welt und derjenigen, welche er gewohnt war, durch
seine physischen Sinne wahrzunehmen. Eine Pflanze der sinnlichen Welt
bleibt, wie sie ist, was auch des Menschen Seele über sie fühlt oder
denkt. Das ist bei den Bildern der seelisch-geistigen Welt zunächst
nicht der Fall. Sie ändern sich, je nachdem der Mensch dieses oder
jenes empfindet oder denkt. Dadurch gibt ihnen der Mensch ein Gepräge,
das von seinem eigenen Wesen abhängt. Man stelle sich vor, ein gewisses
Bild trete in der imaginativen Welt vor dem Menschen auf. Verhält er
sich zunächst in seinem Gemüte gleichgültig dagegen, so zeigt es sich
in einer gewissen Gestalt. In dem Augenblicke aber, wo er Lust oder
Unlust gegenüber dem Bilde empfindet, ändert es seine Gestalt. Die
Bilder drücken somit zunächst nicht nur etwas aus, was selbständig außerhalb
des Menschen ist, sondern sie spiegeln auch dasjenige, was der Mensch
selbst ist. Sie sind ganz und gar durchsetzt von des Menschen eigener
Wesenheit. Diese legt sich wie ein Schleier über die Wesenheiten hin.
Der Mensch sieht dann, wenn auch eine wirkliche Wesenheit ihm gegenübersteht,
nicht diese, sondern sein eigenes Erzeugnis. So kann er zwar durchaus
Wahres vor sich haben und doch Falsches sehen. Ja, das ist nicht nur der
Fall mit Bezug auf das, was der Mensch als seine Wesenheit selbst an
sich bemerkt; sondern alles, was an ihm ist, wirkt auf diese Welt ein.
Es kann zum Beispiel der Mensch verborgene Neigungen haben, die im Leben
durch Erziehung und Charakter nicht zum Vorschein kommen; auf die
geistig-seelische Welt wirken sie; und diese bekommt die eigenartige Färbung
durch das ganze Wesen des Menschen, gleichgültig, wieviel er von diesem
Wesen selbst weiß oder nicht weiß. — Um weiter fortschreiten zu können
von dieser Stufe der Entwickelung aus, ist es notwendig, daß der Mensch
unterscheiden lerne zwischen sich und der geistigen Außenwelt. Es wird
nötig, daß er alle Wirkungen des eigenen Selbstes auf die um ihn
befindliche seelisch-geistige Welt ausschalten lerne. Man kann das nicht
anders, als wenn man sich eine Erkenntnis erwirbt von dem, was man
selbst in die neue Welt hineinträgt. Es handelt sich also darum, daß
man zuerst wahre, durchgreifende Selbsterkenntnis habe, um dann die
umliegende geistig-seelische Welt rein wahrnehmen zu können. Nun
bringen es gewisse Tatsachen der menschlichen Entwickelung mit sich, daß
solche Selbsterkenntnis beim Eintritte in die höhere Welt wie naturgemäß
stattfinden muß. Der Mensch
entwickelt ja in der gewöhnlichen physisch-sinnlichen Welt sein Ich,
sein Selbstbewußtsein. Dieses Ich wirkt nun wie ein
Anziehungs-Mittelpunkt auf alles, was zum Menschen gehört. Alle seine
Neigungen, Sympathien, Antipathien, Leidenschaften, Meinungen usw.
gruppieren sich gleichsam um dieses Ich herum. Und es ist dieses Ich
auch der Anziehungspunkt für das, was man das Karma des Menschen nennt.
Würde man dieses Ich unverhüllt sehen, so würde man an ihm auch
bemerken, daß bestimmt geartete Schicksale es noch in dieser und den
folgenden Verkörperungen treffen müssen, je nachdem es in den vorigen
Verkörperungen so oder so gelebt, sich dieses oder jenes angeeignet
hat. Mit alle dem, was so am Ich haftet, muß
es nun als erstes Bild vor die Menschenseele treten, wenn diese in
die seelisch-geistige Welt aufsteigt. Dieser Doppelgänger des Menschen
muß, nach einem Gesetz der geistigen Welt, vor allem andern als dessen
erster Eindruck in jener Welt auftreten. Man kann das Gesetz, welches da
zugrunde liegt, sich leicht verständlich machen, wenn man das Folgende
bedenkt. Im physisch-sinnlichen Leben nimmt sich der Mensch nur insofern
selbst wahr, als er sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen innerlich
erlebt. Diese Wahrnehmung ist aber eine innerliche; sie stellt sich
nicht vor den Menschen hin, wie sich Steine, Pflanzen und Tiere vor ihn
hinstellen. Auch lernt sich durch innerliche Wahrnehmung der Mensch nur
zum Teil kennen. Er hat nämlich etwas in sich, was ihn an einer
tiefergehenden Selbsterkenntnis hindert. Es ist dies ein Trieb,
sogleich, wenn er durch Selbsterkenntnis sich eine Eigenschaft gestehen
muß und sich keiner Täuschung
über sich hingeben will, diese Eigenschaft umzuarbeiten.
Gibt er
diesem Triebe nicht nach, lenkt er einfach die Aufmerksamkeit von dem
eigenen Selbst ab und bleibt er, wie er ist, so benimmt er sich
selbstverständlich auch die Möglichkeit, sich in dem betreffenden
Punkte selbst zu erkennen. Dringt der Mensch aber in sich selbst und hält
er sich ohne Täuschung diese oder jene seiner Eigenschaften vor, so
wird er entweder in der Lage sein, sie an sich zu verbessern oder aber
er wird dies in der gegenwärtigen Lage seines Lebens nicht können. In
dem letzteren Falle wird seine Seele ein Gefühl beschleichen, das man
als Gefühl des Schämens bezeichnen muß. So wirkt in der Tat des
Menschen gesunde Natur: Sie empfindet durch die Selbsterkenntnis
mancherlei Arten des Schämens. Nun hat dieses Gefühl schon im gewöhnlichen
Leben eine ganz bestimmte Wirkung. Der gesund denkende Mensch wird dafür
sorgen, daß dasjenige, was ihn an sich selbst mit diesem Gefühl erfüllt,
nicht in Wirkungen nach außen sich geltend mache, daß es nicht in äußeren
Taten sich auslebe. Das Schämen ist also eine Kraft, welche den
Menschen antreibt, etwas in sein Inneres zu verschließen und dies nicht
äußerlich wahrnehmbar werden zu lassen. Wenn man dies gehörig
bedenkt, so wird man begreiflich finden, daß die Geistesforschung einem
inneren Seelenerlebnis, das mit dem Gefühl des Schämens ganz nahe
verwandt ist, noch viel weitergehende Wirkungen zuschreibt. Sie findet,
daß es in den verborgenen Tiefen der Seele eine Art verborgenes
Schämen gibt, dessen sich der Mensch im physisch-sinnlichen Leben
nicht bewußt wird. Dieses verborgene Gefühl wirkt aber in einer ähnlichen
Art wie das gekennzeichnete offenbare des gewöhnlichen Lebens:
es
verhindert, daß des Menschen innerste Wesenheit in einem wahrnehmbaren
Bilde vor den Menschen hintritt. Wäre dieses Gefühl nicht da, so würde
der Mensch vor sich selbst wahrnehmen, was er in Wahrheit ist; er würde
seine Vorstellungen, Gefühle und seinen Willen nicht nur innerlich
erleben, sondern sie wahrnehmen, wie er Steine, Tiere und Pflanzen
wahrnimmt. So ist dieses Gefühl der Verhüller des Menschen vor sich
selbst. Und damit ist es zugleich der Verhüller der ganzen
geistig-seelischen Welt. Denn indem sich des Menschen eigene innere
Wesenheit vor ihm verhüllt, kann er auch das nicht wahrnehmen, an dem
er die Werkzeuge entwickeln sollte, um die seelisch-geistige Welt zu
erkennen; er kann seine Wesenheit nicht umgestalten, so daß sie
geistige Wahmehmungsorgane erhielte. — Wenn nun aber der Mensch durch
regelrechte Schulung dahin arbeitet, diese Wahmehmungsorgane zu
erhalten, so tritt dasjenige als erster Eindruck vor ihn hin, was er
selbst ist. Er nimmt seinen Doppelgänger wahr. Diese Selbstwahrnehmung
ist gar nicht zu trennen von der Wahrnehmung der übrigen
geistig-seelischen Welt. Im gewöhnlichen Leben der physisch-sinnlichen
Welt wirkt das charakterisierte Gefühl so, daß es fortwährend das Tor
zur geistig-seelischen Welt vor dem Menschen zuschließt. Wollte der
Mensch nur einen Schritt machen, um in diese Welt einzudringen, so
verbirgt das sogleich auftretende, aber nicht zum Bewußtsein kommende
Gefühl des Schämens das Stück der geistig-seelischen Welt, das zum
Vorschein kommen will. Die charakterisierten Übungen aber schließen
diese Welt auf. Nun ist die Sache so, daß jenes verborgene Gefühl wie
ein großer Wohltäter des Menschen wirkt. Denn durch alles das, was man
sich ohne geisteswissenschaftliche Schulung an Urteilskraft, Gefühlsleben
und Charakter erwirbt, ist man nicht imstande, die Wahrnehmung der
eigenen Wesenheit in ihrer wahren Gestalt ohne weiteres zu ertragen. Man
würde durch diese Wahrnehmung alles Selbstgefühl, Selbstvertrauen und
Selbstbewußtsein verlieren. Daß dies nicht geschehe, dafür müssen
wieder die Vorkehrungen sorgen, welche man neben den Übungen für die höhere
Erkenntnis zur Pflege seiner gesunden Urteilskraft, seines Gefühls- und
Charakterwesens unternimmt. Durch seine regelrechte Schulung lernt der
Mensch wie absichtslos so viel aus der Geisteswissenschaft kennen und es
werden ihm außerdem so viele Mittel zur Selbsterkenntnis und
Selbstbeobachtung klar, als notwendig sind, um kraftvoll seinem Doppelgänger
zu begegnen. Es ist dann für den Geistesschüler so, daß er nur als
Bild der imaginativen Welt in anderer Form das sieht, womit er sich in
der physischen Welt schon bekanntgemacht hat. Wer in richtiger Art
zuerst in der physischen Welt durch seinen Verstand das Karmagesetz
begriffen hat, der wird nicht besonders erbeben können, wenn er nun die
Keime seines Schicksales eingezeichnet sieht in dem Bilde seines Doppelgängers.
Wer durch seine Urteilskraft sich bekanntgemacht hat mit der Welten- und
Menschheitsentwickelung und weiß, wie in einem bestimmten Zeitpunkte
dieser Entwickelung die Kräfte des Luzifer in die menschliche Seele
eingedrungen sind, der wird es unschwer ertragen, wenn er gewahr wird,
daß in dem Bilde seiner eigenen Wesenheit diese luziferischen
Wesenheiten mit allen ihren Wirkungen enthalten sind. — Man sieht aber
hieraus, wie notwendig es ist, daß der Mensch nicht den eigenen
Eintritt in die geistige Welt verlange, bevor er durch seine gewöhnliche
in der physisch-sinnlichen Welt entwickelte Urteilskraft gewisse
Wahrheiten über die geistige Welt verstanden hat. Was in diesem Buche
vor der Auseinandersetzung über die «Erkenntnis der höheren Welten»
mitgeteilt ist, das sollte der Geistesschüler im regelrechten
Entwickelungsgange durch seine gewöhnliche Urteilskraft sich angeeignet
haben, bevor er das Verlangen hat, sich selbst in die übersinnlichen
Welten zu begeben.
Bei
einer Schulung, in welcher nicht auf Sicherheit und Festigkeit der
Urteilskraft, des Gefühls- und Charakterlebens gesehen wird, kann es
geschehen, daß dem Schüler die höhere Welt entgegentritt, bevor er
dazu die nötigen inneren Fähigkeiten hat. Dann würde ihn die
Begegnung mit seinem Doppelgänger bedrücken und zu Irrtümern führen.
Würde aber — was allerdings auch möglich wäre — die Begegnung
ganz vermieden und der Mensch doch in die übersinnliche Welt eingeführt,
dann wäre er ebensowenig imstande, diese Welt in ihrer wahren Gestalt
zu erkennen. Denn es wäre ihm ganz unmöglich, zu unterscheiden
zwischen dem, was er in die Dinge hineinsieht, und dem, was sie wirklich
sind. Diese Unterscheidung ist nur möglich, wenn man die eigene
Wesenheit als ein Bild für sich wahrnimmt und dadurch sich alles das
von der Umgebung loslöst, was aus dem eigenen Innern fließt. — Der
Doppelgänger wirkt für das Leben des Menschen in der
physisch-sinnlichen Welt so, daß er sich durch das gekennzeichnete Gefühl
des Schämens sofort unsichtbar macht, wenn sich der Mensch der
seelisch-geistigen Welt naht. Damit verbirgt er aber auch diese ganze
Welt selbst. Wie ein «Hüter» steht er da vor dieser Welt, um den
Eintritt jenen zu verwehren, welche zu diesem Eintritte noch nicht
geeignet sind. Er kann daher der «Hüter der Schwelle, welche vor der
geistig-seelischen Welt ist», genannt werden. — Außer durch das
geschilderte Betreten der übersinnlichen Welt begegnet der Mensch noch
beim Durchgang durch den physischen Tod diesem «Hüter der Schwelle».
Und er enthüllt sich nach und nach im Verlaufe des Lebens in der
seelisch-geistigen Entwickelung zwischen dem Tode und einer neuen
Geburt. Da kann aber die Begegnung den Menschen nicht bedrücken, weil
er davon andern Welten weiß als in dem Leben zwischen Geburt und Tod.
Wenn
der Mensch, ohne die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle» zu haben,
die geistig-seelische Welt betreten würde, so könnte er Täuschung
nach Täuschung verfallen. Denn er könnte nie unterscheiden, was er
selbst in diese Welt hineinträgt und was ihr wirklich angehört. Eine
regelrechte Schulung darf aber den Geistesschüler nur in das Gebiet der
Wahrheit, nicht in dasjenige der Illusion führen.
Eine
solche Schulung wird durch sich selbst so sein, daß die Begegnung
notwendig einmal erfolgen muß. Denn sie ist die eine der für die
Beobachtung übersinnlicher Welten unentbehrlichen Vorsichtsmaßregeln
gegen die Möglichkeit Von Täuschung und Phantastik. — Es gehört zu
den unerläßlichsten Vorkehrungen, welche jeder Geistesschüler treffen
muß, sorgfältig an sich zu arbeiten, um nicht zum Phantasten zu
werden, zu einem Menschen, der einer möglichen Täuschung, Selbsttäuschung
(Suggestion und Selbstsuggestion) verfallen kann. Wo die Anweisungen zur
Geistesschulung recht befolgt werden, da werden zugleich die Quellen
vernichtet, welche die Täuschung bringen können. Hier kann natürlich
nicht ausführlich von all den zahlreichen Einzelheiten gesprochen
werden, die bei solchen Vorkehrungen in Betracht kommen. Es kann nur
angedeutet werden, worauf es ankommt. Täuschungen, welche hier in
Betracht kommen, entspringen aus zwei Quellen. Sie rühren zum Teil
davon her, daß man durch die eigene seelische Wesenheit die
Wirklichkeit färbt. Im gewöhnlichen Leben der physisch-sinnlichen Welt
ist diese Quelle der Täuschung von verhältnismäßig geringer Gefahr;
denn hier wird sich die Außenwelt immer scharf in ihrer eigenen Gestalt
der Beobachtung aufdrängen, wie sie auch der Beobachter nach seinen Wünschen
und Interessen wird färben wollen. Sobald man jedoch die imaginative
Weit betritt, verändern sich deren Bilder durch solche Wünsche und
Interessen, und man hat wie eine Wirklichkeit
vor sich, was man erst selbst gebildet oder wenigstens mitgebildet
hat. Dadurch nun, daß durch die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle»
der Geistesschüler alles kennenlernt, was in ihm ist, was er also in
die seelisch-geistige Welt hineintragen kann, ist diese Quelle der Täuschung
beseitigt. Und die Vorbereitung, welche der Geistesschüler vor dem
Betreten der seelisch-geistigen Welt sich angedeihen läßt, wirkt ja
dahin, daß er sich gewöhnt, schon bei der Beobachtung der
sinnlich-physischen Welt sich selbst auszuschalten und die Dinge und
Vorgänge rein durch ihre eigene Wesenheit auf sich einsprechen zu
lassen. Wer diese Vorbereitung genügend durchgemacht hat, kann ruhig
die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle» erwarten. Durch sie wird
er sich endgültig prüfen, ob er sich nun wirklich in der Lage fühlt,
seine eigene Wesenheit auch dann auszuschalten, wenn er der
seelisch-geistigen Welt gegenübersteht.
Außer
dieser Quelle von Täuschungen gibt es nun noch eine andere. Sie tritt
dann zutage, wenn man einen Eindruck, den man empfängt, unrichtig
deutet. Im physisch-sinnlichen Leben ist ein einfaches Beispiel für
solche Täuschung diejenige, welche entsteht, wenn man in einem
Eisenbahnzuge sitzt und glaubt, die
Bäume bewegen sich in der entgegengesetzten Richtung des Zuges, während
man sich doch selbst mit dem Zuge bewegt. Obwohl es zahlreiche Fälle
gibt, wo solche Täuschungen in der sinnlich-physischen Welt schwieriger
richtigzustellen sind als in dem angeführten einfachen, so ist doch
leicht einzusehen, daß innerhalb dieser Welt der Mensch auch die Mittel
findet, solche Täuschungen hinwegzuschaffen, wenn er mit gesundem
Urteil alles das in Betracht zieht, was der entsprechenden Aufklärung
dienen kann. Anders steht die Sache allerdings, sobald man in die übersinnlichen
Gebiete eindringt. In der sinnlichen Welt werden die Tatsachen durch die
menschliche Täuschung nicht geändert; deshalb ist es möglich, durch
eine unbefangene Beobachtung die Täuschung an den Tatsachen zu
berichtigen. In der übersinnlichen Welt aber ist das nicht ohne
weiteres möglich. Wenn man einen übersinnlichen Vorgang beobachten
will und mit einem unrichtigen Urteile an ihn herantritt, so trägt man
dieses unrichtige Urteil in ihn hinein; und es wird dieses mit der
Tatsache so verwoben, daß es von ihr nicht sogleich zu unterscheiden
ist. Der Irrtum ist dann nicht in dem Menschen und die richtige Tatsache
außer demselben, sondern der Irrtum ist selbst zum Bestandteil der äußeren
Tatsache gemacht. Er kann deshalb auch nicht einfach durch eine
unbefangene Beobachtung der Tatsache berichtigt werden. Es ist damit auf
dasjenige hingewiesen, was eine überreich fließende Quelle von Täuschung
und Phantastik für denjenigen sein kann, welcher ohne die richtige
Vorbereitung an die übersinnliche Welt herantritt. — Wie nun der
Geistesschüler sich die Fähigkeit erwirbt, diejenigen Täuschungen
auszuschließen, welche durch die Färbung der übersinnlichen
Welterscheinungen mit der eigenen Wesenheit entstehen, so muß er auch
die andere Gabe erlangen: die zweite charakterisierte Quelle der Täuschung
unwirksam zu machen. Er kann ausschalten, was von ihm selbst kommt, wenn
er erst das Bild des eigenen Doppelgängers erkannt hat; und er wird
ausschalten können, was in der angegebenen Richtung eine zweite Täuschungsquelle
ist, wenn er sich die Fähigkeit erwirbt, an der Beschaffenheit
einer Tatsache der übersinnlichen Welt zu erkennen, ob sie
Wirklichkeit oder Täuschung ist. Wenn die Täuschungen genau so
aussehen würden wie die Wirklichkeiten, dann wäre eine Unterscheidung
nicht möglich. So ist es aber nicht. Täuschungen der übersinnlichen
Welten haben an sich selbst Eigenschaften,
durch welche sie sich von den Wirklichkeiten unterscheiden. Und es kommt
darauf an, daß der Geistesschüler weiß, an welchen Eigenschaften er
die Wirklichkeiten erkennen kann. Nichts erscheint selbstverständlicher,
als daß der Nichtkenner geistiger Schulung sagt: Wo gibt es denn überhaupt
eine Möglichkeit, sich gegen Täuschung zu schützen, da die Quellen für
dieselbe so zahlreich sind? Und wenn er weiter sagt: Ist denn überhaupt
irgendein Geistesschüler davor sicher, daß nicht alle seine
vermeintlichen höheren Erkenntnisse nur auf Täuschung und Selbsttäuschung
(Suggestion und Autosuggestion) beruhen? Wer so spricht, berücksichtigt
nicht, daß in jeder wahren Geistesschulung durch die ganze Art, wie
diese verläuft, die Quellen der Täuschung verstopft werden. Erstens
wird sich der wahre Geistesschüler durch seine Vorbereitung genügend
viele Kenntnisse erwerben über alles das, was Täuschung und Selbsttäuschung
herbeiführen kann, und sich dadurch in die Lage versetzen, sich vor
ihnen zu hüten. Er hat in dieser Beziehung wirklich wie kein anderer
Mensch Gelegenheit, sich nüchtern und urteilsfähig zu machen für den
Gang des Lebens. Er wird durch alles, was er erfährt, veranlaßt,
nichts von unbestimmten Ahnungen, Eingebungen usw. zu halten. Die
Schulung macht ihn so vorsichtig wie möglich. Dazu kommt, daß jede
wahre Schulung zunächst zu Begriffen über die großen Weltereignisse,
also zu Dingen führt, welche ein Anspannen der Urteilskraft notwendig
machen, wodurch diese aber zugleich verfeinert und geschärft wird. Nur
wer es ablehnen wollte, in solche entlegene Gebiete sich zu begeben, und
sich nur an näherliegende «Offenbarungen» halten. wollte, dem könnte
verlorengehen die Schärfung jener gesunden Urteilskraft, welche ihm
Sicherheit gibt in der Unterscheidung zwischen Täuschung und
Wirklichkeit. Doch alles dieses ist noch nicht das Wichtigste. Das
Wichtigste liegt in den Übungen selbst, welche bei einer regelrechten
Geistesschulung verwendet werden. Diese müssen nämlich so eingerichtet
sein, daß das Bewußtsein des Geistesschülers während der inneren
Versenkung genau alles überschaut, was in der Seele vorgeht. Zuerst
wird für die Herbeiführung der Imagination ein Sinnbild geformt. In
diesem sind noch Vorstellungen von äußeren Wahrnehmungen. Der Mensch
ist nicht allein an ihrem Inhalte beteiligt; er macht ihn nicht selbst.
Also kann er sich einer Täuschung darüber hingeben, wie er zustande
kommt; er kann seinen Ursprung falsch deuten. Aber der Geistesschüler
entfernt diesen Inhalt aus seinem Bewußtsein, wenn er zu den Übungen für
die Inspiration aufsteigt. Da versenkt er sich nur noch in seine eigene
Seelentätigkeit, welche das Sinnbild gestaltet hat. Auch da ist noch
Irrtum möglich. Der Mensch hat sich durch Erziehung, Lernen usw. die
Art seiner Seelentätigkeit angeeignet. Er kann nicht alles über ihren
Ursprung wissen. Nun aber entfernt der Geistesschüler auch noch diese
eigene Seelentätigkeit aus dem Bewußtsein. Wenn nun etwas bleibt, so
haftet an diesem nichts, was
nicht zu überschauen ist. In dieses kann sich nichts einmischen, was
nicht in bezug auf seinen ganzen Inhalt zu beurteilen ist. In seiner
Intuition hat also der Geistesschüler etwas, was ihm zeigt, wie eine
ganz klare Wirklichkeit der geistig-seelischen Welt beschaffen ist. Wenn
er nun die also erkannten Kennzeichen der geistig-seelischen
Wirklichkeit auf alles anwendet, was an seine Beobachtung herantritt,
dann kann er Schein von Wirklichkeit unterscheiden. Und er kann sicher
sein, daß er bei Anwendung dieses Gesetzes vor der Täuschung in der übersinnlichen
Welt ebenso bewahrt bleiben wird, wie es ihm in der physisch-sinnlichen
Welt nicht geschehen kann, ein vorgestelltes
heißes Eisenstück für ein solches zu halten, das wirklich brennt.
Es ist selbstverständlich, daß man sich so nur zu denjenigen
Erkenntnissen verhalten wird, welche man als seine eigenen Erlebnisse in
den übersinnlichen Welten ansieht, und nicht zu denen, die man als
Mitteilungen von anderen empfängt und welche man mit seinem physischen
Verstande und seinem gesunden Wahrheitsgefühle begreift. Der Geistesschüler
wird sich bemühen, eine genaue Grenzscheide zu ziehen zwischen dem, was
er sich auf die eine, was auf die andere Art erworben hat. Er wird
willig auf der einen Seite die Mitteilungen über die höheren Welten
aufnehmen und sie durch seine Urteilsfähigkeit zu begreifen suchen.
Wenn er aber etwas als Selbsterfahrung, als eine von ihm selbst gemachte
Beobachtung bezeichnet, so wird er geprüft haben, ob ihm diese genau
mit den Eigenschaften entgegengetreten ist, welche er an der untrügerischen
Intuition wahrnehmen gelernt hat.
Wenn
der Geistesschüler die Begegnung mit dem gekennzeichneten «Hüter der
Schwelle» hinter sich hat, dann stehen ihm beim Aufstieg in übersinnliche
Welten weitere Erlebnisse bevor. Zunächst wird er bemerken, daß eine
innere Verwandtschaft besteht zwischen diesem «Hüter der Schwelle»
und jener Seelenkraft, die sich in der oben gegebenen Schilderung als
die siebente ergeben und wie zu einer selbständigen Wesenheit gestaltet
hat. Ja, diese siebente Wesenheit ist in gewisser Beziehung nichts
anderes als der Doppelgänger, der «Hüter der Schwelle» selbst. Und
sie stellt dem Geistesschüler eine besondere Aufgabe. Er hat das, was
er in seinem gewöhnlichen Selbst ist und was ihm im Bilde erscheint,
durch das neugeborene Selbst zu leiten und zu führen. Es wird sich eine
Art von Kampf ergeben gegen den Doppelgänger. Derselbe wird fortwährend
die Überhand anstreben. Sich in das rechte Verhältnis zu ihm setzen,
ihn nichts tun lassen, was nicht unter dem Einflusse des neugeborenen «Ich»
geschieht, das stärkt und festigt aber auch des Menschen Kräfte. —
Nun ist es in der höheren Welt mit der Selbsterkenntnis nach einer
gewissen Richtung hin anders als in der physisch-sinnlichen Welt. Während
in der letzteren die Selbsterkenntnis nur als inneres Erlebnis auftritt,
stellt sich das neugeborene Selbst sogleich als seelisch-äußere
Erscheinung dar. Man sieht sein neugeborenes Selbst wie ein anderes
Wesen vor sich. Aber man kann es nicht ganz wahrnehmen. Denn welche
Stufe man auch erstiegen haben mag auf dem Wege in die übersinnlichen
Welten hinauf: es gibt immer noch höhere Stufen. Auf solchen wird man
immer noch mehr wahrnehmen von seinem «höheren Selbst». Es kann also
dieses dem Geistesschüler auf irgendeiner Stufe nur teilweise sich enthüllen.
Nun ist aber die Versuchung ungeheuer groß, welche den Menschen befällt,
wenn er zuerst irgend etwas von seinem «höheren Selbst» gewahr wird,
dieses «höhere Selbst» gleichsam von dem Standpunkte aus zu
betrachten, welchen man in der physisch-sinnlichen Welt gewonnen hat.
Diese Versuchung ist sogar gut, und sie muß
eintreten, wenn die Entwickelung richtig vor sich gehen soll. Man muß
das betrachten, was als der Doppelgänger, der «Hüter der Schwelle»,
auftritt, und es vor das «höhere Selbst» stellen, damit man den
Abstand bemerken kann zwischen dem, was man ist, und dem, was man werden
soll. Bei dieser Betrachtung beginnt der «Hüter der Schwelle» aber
eine ganz andere Gestalt anzunehmen. Er stellt sich dar als ein Bild
aller der Hindernisse, welche
sich der Entwickelung des «höheren Selbst» entgegenstellen. Man wird
wahrnehmen, welche Last man an dem gewöhnlichen Selbst schleppt. Und
ist man dann durch seine Vorbereitungen nicht stark genug, sich zu
sagen: Ich werde hier nicht stehenbleiben, sondern unablässig mich zu
dem «höheren Selbst» hinaufentwickeln, so wird man erlahmen und zurückschrecken
vor dem, was bevorsteht. Man ist dann in die seelisch-geistige Welt
hineingetaucht, gibt es aber auf, sich weiterzuarbeiten. Man wird ein
Gefangener der Gestalt, die jetzt durch den «Hüter der Schwelle» vor
der Seele steht. Das Bedeutsame ist, daß man bei diesem Erlebnis nicht
die Empfindung hat, ein Gefangener zu sein. Man wird vielmehr etwas ganz
anderes zu erleben glauben. Die Gestalt, welche der «Hüter der
Schwelle» hervorruft, kann so sein, daß sie in der Seele des
Beobachters den Eindruck hervorbringt, dieser habe nun in den Bildern,
welche auf dieser Entwickelungsstufe auftreten, schon den ganzen Umfang
aller nur möglichen Welten vor sich; man sei auf dem Gipfel der
Erkenntnis angekommen und brauche nicht weiter zu streben. Statt als
Gefangener wird man sich so als der unermeßlich reiche Besitzer aller
Weltengeheimnisse fühlen können. Darüber, daß man ein solches
Erlebnis haben kann, welches das Gegenteil des wahren Tatbestandes
darstellt, wird sich derjenige nicht verwundern, welcher bedenkt, daß
man ja dann, wenn man dies erlebt, bereits in der seelisch-geistigen
Welt steht, und daß es Eigentümlichkeit dieser Welt ist, daß in ihr
sich die Ereignisse umgekehrt darstellen können. In diesem Buche ist
auf diese Tatsache bei der Betrachtung des Lebens nach dem Tode
hingewiesen worden.
Die
Gestalt, welche man auf dieser Stufe der Entwickelung wahrnimmt, zeigt
dem Geistesschüler noch etwas anderes als diejenige, in der sich ihm
zuerst der «Hüter der Schwelle» dargestellt hat. In diesem Doppelgänger
waren wahrzunehmen alle diejenigen Eigenschaften, welche das gewöhnliche
Selbst des Menschen hat infolge des Einflusses der Kräfte des Luzifer.
Nun ist aber im Laufe der menschlichen Entwickelung durch den Einfluß
Luzifers eine andere Macht in die Menschenseele eingezogen. Es ist
diejenige, welche als die Kraft Ahrimans in früheren Abschnitten dieses
Buches bezeichnet ist. Es ist dies die Kraft, welche den Menschen im
physisch-sinnlichen Dasein verhindert, die hinter der Oberfläche des
Sinnlichen liegenden geistig-seelischen Wesenheiten der Außenwelt
wahrzunehmen. Was unter dem Einflusse dieser Kraft aus der Menschenseele
geworden ist, das zeigt im Bilde die Gestalt, welche bei dem
charakterisierten Erlebnisse auftritt. — Wer entsprechend vorbereitet
an dieses Erlebnis herantritt, der wird ihm seine wahre Deutung geben;
und dann wird sich bald eine andere Gestalt zeigen, diejenige, welche
man den «großen Hüter der Schwelle» im Gegensatz zu dem
gekennzeichneten «kleinen Hüter» nennen kann.. Dieser teilt dem
Geistesschüler mit, daß er nicht stehenzubleiben hat auf dieser Stufe,
sondern energisch weiterzuarbeiten. Er ruft in dem Beobachter das Bewußtsein
hervor, daß die Welt, die erobert ist, nur eine Wahrheit wird und sich
in keine Illusion verwandelt, wenn die Arbeit in entsprechender Art
fortgesetzt wird. — Wer aber durch eine unrichtige Geistesschulung
unvorbereitet an dieses Erlebnis herantreten würde, dem würde sich
dann, wenn er an den «großen Hüter der Schwelle» kommt, etwas in die
Seele gießen, was nur mit dem «Gefühle eines unermeßlichen
Schreckens», einer «grenzenlosen Furcht» verglichen werden kann.
Wie die
Begegnung mit dem «kleinen Hüter der Schwelle» dem Geistesschüler
die Möglichkeit gibt, sich zu prüfen, ob er gegen Täuschungen geschützt
ist, welche durch Hineintragen seiner Wesenheit in die übersinnliche
Welt entstehen können, so kann er sich an den Erlebnissen, die zuletzt
zu dem «großen Hüter der Schwelle» führen, prüfen, ob er jenen Täuschungen
gewachsen ist, welche oben auf die zweite gekennzeichnete Quelle zurückgeführt
wurden. Vermag er jener gewaltigen Illusion Widerstand zu bieten, welche
ihm die errungene Bilderwelt als einen reichen Besitz vorgaukelt, während
er doch nur ein Gefangener ist, so ist er im weiteren Verlauf seiner
Entwickelung auch davor bewahrt, Schein für Wirklichkeit zu nehmen.
Der «Hüter
der Schwelle» wird für jeden einzelnen Menschen eine individuelle
Gestalt bis zu einem gewissen Grade annehmen. Die Begegnung mit ihm
entspricht ja gerade demjenigen Erlebnis, durch welches der persönliche
Charakter der übersinnlichen Beobachtungen überwunden und die Möglichkeit
gegeben wird, in eine Region des Erlebens einzutreten, die von persönlicher
Färbung frei und für jede Menschenwesenheit gültig ist.
Wenn
der Geistesschüler die beschriebenen Erlebnisse gehabt hat, dann ist er
fähig, in der seelisch-geistigen Umwelt dasjenige, was er selbst ist,
von dem, was außer ihm ist, zu unterscheiden. Er wird dann erkennen,
wie das Verständnis des in diesem Buche geschilderten Weltprozesses
notwendig ist, um den Menschen und dessen Leben selbst zu verstehen. Man
versteht ja den physischen Leib nur, wenn man erkennt, wie er sich
aufgebaut hat durch die Saturn-, Sonnen-, Monden- und Erdenentwickelung.
Man versteht den Ätherleib; wenn man seine Bildung durch Sonnen-,
Monden- und Erdenentwickelung verfolgt usw. Man versteht aber auch
dasjenige, was gegenwärtig mit der Erdenentwickelung zusammenhängt,
wenn man erkennt, wie sich alles nach und nach entfaltet hat. Man wird
durch die Geistesschulung in den Stand gesetzt, das Verhältnis von
allem, was am Menschen ist, zu entsprechenden Tatsachen und Wesenheiten
der außer dem Menschen befindlichen Welt zu erkennen. Denn so ist es:
jedes Glied am Menschen steht in einem Verhältnis zu der ganzen übrigen
Welt. In diesem Buche konnten darüber ja nur die Andeutungen im
skizzenhaften Umriß gemacht werden. Man muß aber bedenken, daß zum
Beispiel der physische Menschenleib während der Saturnentwickelung nur
in der ersten Anlage vorhanden war. Seine Organe: das Herz, die Lunge,
das Gehirn haben sich später, während der Sonnen-, Monden- und
Erdenzeit, aus den ersten Anlagen herausgebildet. So also stehen Herz,
Lunge, usw. in Beziehungen zu Sonnen-, Mondenentwickelung,
Erdenentwickelung. Ganz entsprechend ist es mit den Gliedern des Ätherleibes,
des Empfindungsleibes, der Empfindungsseele usw. Es ist der Mensch aus
der ganzen, ihm zunächst liegenden Welt herausgestaltet; und jede
Einzelheit, die an ihm ist, entspricht einem Vorgange, einem Wesen der
Außenwelt. Der Geistesschüler kommt auf der entsprechenden Stufe
seiner Entwickelung dazu, dieses Verhältnis seines eigenen Wesens zur
großen Welt zu erkennen. Und man kann diese Erkenntnisstufe das
Gewahrwerden nennen des Entsprechens der «kleinen Welt», des
Mikrokosmos, das ist des Menschen selbst, und der «großen Welt», des
Makrokosmos. Wenn der Geistesschüler bis zu solcher Erkenntnis sich
durchgerungen hat, dann kann für ihn ein neues Erlebnis eintreten. Er fängt
an, sich wie mit dem ganzen Weltenbau verwachsen zu fühlen, trotzdem er
sich in seiner vollen Selbständigkeit empfindet. Es ist diese
Empfindung ein Aufgehen in die ganze Welt, ein Einswerden mit derselben,
aber ohne die eigene
Wesenheit zu verlieren. Man kann diese Entwickelungsstufe als «Einswerden
mit dem Makrokosmos» bezeichnen. Es ist bedeutsam, daß man dieses
Einswerden nicht so zu denken hat, als wenn durch dasselbe das
Sonderbewußtsein aufhören und die menschliche Wesenheit in das All
ausfließen würde. Es wäre ein solcher Gedanke nur der Ausdruck einer
aus ungeschulter Urteilskraft fließenden Meinung. Die einzelnen Stufen
der höheren Erkenntnis im Sinne jenes Einweihungsvorganges, der hier
beschrieben worden ist, können nun in der folgenden Art bezeichnet
werden:
1. Das
Studium der Geisteswissenschaft, wobei man sich zunächst der
Urteilskraft bedient, welche man in der physisch-sinnlichen Welt
gewonnen hat.
2. Die
Erwerbung der imaginativen Erkenntnis.
3. Das
Lesen der verborgenen Schrift (entsprechend der Inspiration).
4. Das
Sicheinleben in die geistige Umgebung (entsprechend der Intuition).
5. Die
Erkenntnis der Verhältnisse von Mikrokosmos und Makrokosmos.
6. Das
Einswerden mit dem Makrokosmos.
7. Das
Gesamterleben der vorherigen Erfahrungen als eine Grund-Seelenstimmung.
Diese
Stufen brauchen aber nicht etwa so gedacht zu werden, daß sie
nacheinander durchgemacht werden. Die Schulung kann vielmehr so
verlaufen, daß je nach der Individualität des Geistesschülers eine
vorhergehende Stufe nur bis zu einem gewissen Grade durchschritten ist,
wenn er beginnt, Übungen zu machen, welche der folgenden Stufe
entsprechen. Es kann zum Beispiel ganz gut sein, daß man erst einige
Imaginationen in sicherer Art gewonnen hat und doch schon Übungen
macht, welche die Inspiration, die Intuition oder die Erkenntnis vom
Zusammenhange des Mikrokosmos und Makrokosmos in den Bereich des eigenen
Erlebens ziehen.
Wenn
der Geistesschüler sich ein Erlebnis von der Intuition verschafft hat,
so kennt er nicht nur die Bilder der seelisch-geistigen Welt, er kann
nicht nur ihre Beziehungen in der «verborgenen Schrift» lesen: er
kommt zu der Erkenntnis der Wesen selbst, durch deren Zusammenwirken die
Welt zustande kommt, welcher der Mensch angehört. Und er lernt dadurch
sich selbst in derjenigen Gestalt kennen, die er als geistiges Wesen in
der seelisch-geistigen Welt hat. Er hat sich zu einer Wahrnehmung seines
höheren Ich durchgerungen, und er hat bemerkt, wie er weiter zu
arbeiten hat, um seinen Doppelgänger, den «Hüter der Schwelle», zu
beherrschen. Er hat aber auch die Begegnung gehabt mit dem «großen Hüter
der Schwelle», der vor ihm steht wie ein stetiger Aufforderer,
weiterzuarbeiten. Dieser «große Hüter der Schwelle» wird nun sein
Vorbild, dem er nachstreben will. Wenn diese Empfindung in dem
Geistesschüler auftritt, dann hat er die Möglichkeit erlangt zu
erkennen, wer da eigentlich als der «große Hüter der Schwelle» vor
ihm steht. Es verwandelt sich nämlich nunmehr dieser Hüter in der
Wahrnehmung des Geistesschülers in die Christusgestalt, deren Wesenheit
und Eingreifen in die Erdenentwickelung aus den vorhergehenden Kapiteln
dieses Buches ersichtlich ist. Der Geistesschüler wird dadurch in das
erhabene Geheimnis selbst eingeweiht, das mit dem Christus-Namen verknüpft
ist. Der Christus zeigt sich ihm als das «große menschliche
Erdenvorbild». — Ist auf solche Art durch Intuition der Christus in
der geistigen Welt erkannt, dann wird auch verständlich, was sich auf
der Erde geschichtlich abgespielt hat in der vierten nachatlantischen
Entwickelungsperiode der Erde (in der griechisch-lateinischen Zeit). Wie
zu dieser Zeit das hohe Sonnenwesen, das Christus-Wesen, in die
Erdenentwickelung eingegriffen hat, und wie es nun weiter wirkt
innerhalb dieser Erdenentwickelung, das wird für den Geistesschüler
eine selbsterlebte Erkenntnis. Es ist also ein Aufschluß über den Sinn
und die Bedeutung der Erdenentwickelung, welchen der Geistesschüler erhält
durch die Intuition.
Der
hiermit geschilderte Weg zur Erkenntnis der übersinnlichen Welten ist
ein solcher, welchen ein jeder Mensch gehen kann, in welcher Lage er
sich auch innerhalb der gegenwärtigen Lebensbedingungen befindet. Wenn
von einem solchen Wege die Rede ist, so muß man bedenken, daß das Ziel
der Erkenntnis und Wahrheit zu allen Zeiten der Erdenentwickelung
dasselbe ist, daß aber die Ausgangspunkte des Menschen zu verschiedenen
Zeiten verschiedene waren. Der Mensch kann gegenwärtig nicht von
demselben Ausgangspunkte ausgehen, wenn er den Weg in die übersinnlichen
Gebiete betreten will, wie zum Beispiel der alte ägyptische
Einzuweihende. Daher lassen sich die Übungen, welche dem Geistesschüler
im alten Ägypten auferlegt wurden, nicht ohne weiteres von dem gegenwärtigen
Menschen ausführen. Seit jener Zeit sind die menschlichen Seelen durch
verschiedene Verkörperungen hindurchgegangen; und dieses
Weiterschreiten von Verkörperung zu Verkörperung ist nicht ohne Sinn
und Bedeutung. Die Fähigkeiten und Eigenschaften der Seelen ändern
sich von Verkörperung zu Verkörperung. Wer das menschliche,
geschichtliche Leben auch nur oberflächlich betrachtet, kann bemerken,
daß seit dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert nach Christus sich
gegen früher alle Lebensbedingungen geändert haben, daß Meinungen,
Gefühle, aber auch Fähigkeiten der Menschen anders geworden sind, als
sie vorher waren. Der hier beschriebene Weg zur höheren Erkenntnis ist
nun ein solcher, welcher für Seelen tauglich ist, welche in der
unmittelbaren Gegenwart sich verkörpern. Er ist so, daß er den
Ausgangspunkt der geistigen Entwickelung da ansetzt, wo der Mensch in
der Gegenwart steht, wenn er in irgendwelchen durch diese Gegenwart ihm
gegebenen Lebensverhältnissen sich befindet. — Die fortschreitende
Entwickelung führt die Menschheit in bezug auf die Wege zu höherer
Erkenntnis ebenso von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt zu immer anderen
Formen, wie auch das äußere Leben seine Gestaltungen ändert. Und es
muß ja auch jederzeit ein vollkommener Einklang herrschen zwischen dem
äußeren Leben und der Einweihung.
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Es kommt nicht darauf an, inwiefern diese oder jene
naturwissenschaftliche Vorstellung die obigen Gedanken berechtigt
findet oder nicht. Denn es handelt sich um die Entwickelung solcher
Gedanken an Pflanze und Mensch, welche, ohne alle Theorie, durch
eine einfache, unmittelbare Anschauung gewonnen werden können.
Solche Gedanken haben ja doch auch ihre Bedeutung neben den in
anderer Beziehung nicht minder bedeutsamen theoretischen
Vorstellungen über die Dinge der Außenwelt. Und hier sind die
Gedanken nicht dazu da, um einen Tatbestand wissenschaftlich
darzustellen, sondern um ein Sinnbild
aufzubauen, das sich als seelisch wirksam erweist, gleichgültig,
welche Einwände dieser oder jener Persönlichkeit einfallen bei dem
Aufbau dieses Sinnbildes.