Über
das Verhältnis von Anthropologie und Anthroposophie in genügender
Form zu sprechen ist aus den im vorigen Abschnitt dieser Schrift angeführten
Gründen in Anknüpfung an Max Dessoirs Buch «Vom Jenseits der Seele»
nicht möglich. Ich glaube nun aber, daß dieses Verhältnis
anschaulich werden kann, wenn ich an diese Stelle die Ausführungen
setze, die ich in andrer Absicht niedergeschrieben habe, nämlich als
Nachruf für den im März 1917 in Zürich verstorbenen Philosophen Franz
Brentano. Der Hingang des von mir aufs höchste verehrten Mannes
hat bei mir bewirkt, daß dessen bedeutungsvolles Lebenswerk erneut
mir vor die Seele getreten ist; er hat mich bestimmt, das Folgende
auszusprechen.
*
Es
scheint mir, daß ich den Versuch machen darf, vom anthroposophischen
Gesichtspunkte aus zu einer Ansicht über Franz Brentanos
philosophisches Lebenswerk zu gelangen in diesem Augenblick, da der
Tod der verehrten Persönlichkeit die Fortsetzung dieses Werkes
unterbrochen hat. Ich glaube, daß der anthroposophische Gesichtspunkt
mich nicht in eine einseitige Schätzung der Brentanoschen
Weltanschauung verfallen lassen kann. Dies nehme ich aus zwei Gründen
an. Erstens kann die Vorstellungsart Brentanos von niemand beschuldigt
werden, daß sie selbst auch nur die geringste Hinneigung zu einer
anthroposophischen Richtung habe. Ihr Träger hätte diese, wenn er
selbst zu einem Urteile über sie Veranlassung gehabt hätte, wohl mit
aller Entschiedenheit abgelehnt. Zweitens bin ich, von meinem
anthroposophischen Gesichtspunkte aus, in der Lage, der Philosophie
Franz Brentanos rückhaltlose Verehrung entgegenzubringen.
Was
das erste betrifft, so glaube ich nicht zu irren, wenn ich sage,
Brentano hätte, wenn er über die von mir gemeinte Anthroposophie zu
einem Urteil gekommen wäre, dies so gestaltet, wie dasjenige, das er
sich über Plotins Philosophie gebildet hat. Wie dieser gegenüber würde
er wohl auch von der Anthroposophie gesagt haben: «Mystisches Dunkel
und ein freies Schweifen der Phantasie in unbekannten Regionen.»
Wie dem Neuplatonismus würde er auch gegenüber der Anthroposophie
zur Vorsicht gemahnt haben, «damit man nicht, von eitlem Scheine
verlockt, in den labyrinthischen Gängen einer Pseudophilosophie sich
verliere».
Ja, er hätte vielleicht die Denkweise der Anthroposophie für zu
dilettantisch befunden, um sie auch nur für würdig zu halten, sie
den Philosophien beizuzählen, über die er so urteilte wie über die
Fichte-Schelling-Hegelsche. In seiner Wiener Antrittsrede sagt er über
diese : «Vielleicht ist auch die jüngstvergangene Zeit eine...
Epoche des Verfalles gewesen, in der alle Begriffe trüb ineinander
schwammen, und von sachentsprechender Methode nicht eine Spur mehr zu
finden war.»
Ich glaube, daß Brentano so geurteilt hätte, wenn ich auch
selbstverständlich nicht nur dieses Urteil für völlig grundlos,
sondern auch jede Zusammenstellung der Anthroposophie mit den
Philosophien, mit denen sie dieser Philosoph wahrscheinlich
zusammengestellt hätte, für unberechtigt halte.
Was
nun den zweiten der oben angegebenen Gründe, mich mit der
Brentanoschen Philosophie auseinanderzusetzen, betrifft, so darf ich
bekennen, daß sie für mich zu den anziehendsten Leistungen der
Seelenforschung in der Gegenwart gehört. Ich konnte zwar nur wenige
der Wiener Vorlesungen Brentanos vor etwa sechsunddreißig Jahren hören;
aber von diesem Zeitraum an habe ich seine schriftstellerische Tätigkeit
mit wärmstem Anteile verfolgt. Leider erschienen seine Veröffentlichungen,
gemessen an meinem Wunsche, von ihm zu vernehmen, in viel zu großen
Zeitabständen. Und sie sind zumeist so gehalten, daß man durch sie
nur wie durch kleine Öffnungen in einen Raum mit einer Fülle von Schätzen,
so durch gelegentliche Veröffentlichungen auf ein weites Reich unveröffentlichter
Gedanken blickte, das der hervorragende Mann in sich trug. So in sich
trug, daß es in fortwährender Ausgestaltung hohen Erkenntniszielen
zustrebte. Als nach langer Pause 1911 Brentanos Buch über «Aristoteles»,
seine glänzende Schrift «Aristoteles' Lehre vom Ursprung des
menschlichen Geistes» und sein Wiederabdruck des wichtigsten Teiles
seiner Psychologie mit den so scharfsinnigen «Nachträgen»
erschienen waren, da war das Lesen dieser Schriften für mich eine
Reihe von Festesfreuden.
Ich fühle
mich Franz Brentano gegenüber von einer solchen Gesinnung
durchdrungen, von der ich glaube sagen zu dürfen, daß man sie
erwirbt, wenn die vom anthroposophischen Gesichtspunkte aus gewonnene
wissenschaftliche Überzeugung - eben die Gesinnung ergreift. Ich
bestrebe mich, seine Anschauungen in ihrem Werte zu durchschauen, wenn
ich mich auch keiner Täuschung darüber hingebe, daß er
in dem oben angedeuteten Sinne über Anthroposophie hätte denken
können, ja wohl, müssen. Dies bringe ich hier wahrlich nicht vor, um
in alberner Art über meine Gesinnung gegenüber gegnerischen oder
abweichenden Anschauungen in eine eitle Selbstkritik zu verfallen,
sondern weil ich weiß, wie viel Mißverständnisse meiner Urteile über
andere Geistesrichtungen es mir gebracht hat, daß ich mich in meinen
Veröffentlichungen oft so ausgesprochen habe, wie es eine Folge
dieser Gesinnung ist.
Die
ganze Brentanosche Seelenforschung methodisch durchdringend erscheinen
mir die Grundgedanken, welche ihn 1868 zur Aufstellung seines
Leitsatzes führten. Als er damals in Würzburg seine philosophische
Professur antrat, rückte er seine Vorstellungsart in das Licht der
These : es könne die wahre philosophische Forschungsart keine andere
sein als die in dem naturwissenschaftlichen Erkennen berechtigte. «Vera
philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est.»
Als er dann den ersten Band seiner « Psychologie vom empirischen
Standpunkte » 1874 erscheinen ließ - in der Zeit, als er seine
Wiener Professur antrat -, suchte er die Seelenerscheinungen in Gemäßheit
des angeführten Leitsatzes wissenschaftlich darzulegen.
Für mich bildet, was Brentano mit diesem Buche gewollt hat, und was
von diesem Wollen während seiner Lebenszeit durch seine Veröffentlichungen
zutage getreten ist, ein bedeutsames wissenschaftliches Problem.
Brentano hatte - das geht aus seinem Buche hervor- seine Psychologie
auf eine Reihe von Büchern berechnet. Das zweite hatte er
versprochen, kurze Zeit nach dem ersten erscheinen zu lassen. Es ist
keine Fortsetzung des nur die Anfangsvorstellungen seiner Psychologie
enthaltenden ersten Teiles erschienen. Als er 1889 seinen in der
Wiener Juristischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag «Vom Ursprung
sittlicher Erkenntnis » abdrucken ließ, schrieb er in der Vorrede :
«Man würde irren, wenn man um des zufälligen Anstoßes willen den
Vortrag für ein flüchtiges Werk der Gelegenheit hielte. Er bietet Früchte
von jahrelangem Nachdenken. Unter allem, was ich bisher veröffentlicht,
sind seine Erörterungen wohl das gereifteste Erzeugnis. - Sie gehören
zum Gedankenkreise einer «Deskriptiven Psychologie», den ich, wie
ich nunmehr zu hoffen wage, in nicht ferner Zeit seinem ganzen Umfange
nach der Öffentlichkeit erschließen kann. Man wird dann an weiten
Abständen von allem Hergebrachten, und insbesondere auch an
wesentlichen Fortbildungen eigener, in der «Psychologie vom
empirischen Standpunkt» vertretener Anschauungen genugsam erkennen,
daß ich in meiner langen literarischen Zurückgezogenheit nicht eben
müßig gewesen bin.»
Auch diese «Deskriptive Psychologie» ist nicht erschienen. Die
Verehrer der Brentanoschen Philosophie können ermessen, welchen
Gewinn sie ihnen gebracht hätte, wenn sie die ein enges Gebiet
umfassenden 1907 erschienenen «Untersuchungen zur Sinnespsychologie»
studieren.
Man
muß sich die Frage stellen: was hat Brentano dazu gebracht, in der
Fortsetzung seiner Veröffentlichungen immer wieder inne zu halten,
ja, das als in kurzer Zeit fertig Geglaubte dann doch nicht zu veröffentlichen?
Ich bekenne, daß ich mit innerlichster Erschütterung in dem Nachruf
für Franz Brentano, den Alois Höfler im Mai 1917 hat erscheinen
lassen, die Worte las : «Wie er an seinem Hauptproblem, dem
Gottesbeweis, so zuversichtlich weiterarbeitete, daß mir noch vor
wenigen Jahren ein mit Brentano innig befreundeter, ausgezeichneter
Wiener Arzt erzählte, Brentano habe ihm kürzlich versichert, nun
habe er den Gottesbeweis binnen wenigen Wochen fertig ... »
Ebenso empfand ich, als ich aus einem andern Nachruf (von Utitz)
vernahm : « Das Werk, das er am heißesten geliebt, an dem er sein
ganzes Leben lang geschaffen, ist unveröffentlicht geblieben.»
Mir
scheint, daß Brentanos Schicksale mit seinen geplanten Veröffentlichungen
ein schwerwiegendes geisteswissenschaftliches Problem darstellen. Nähern
wird man sich diesem wohl nur, wenn man dasjenige in seiner Eigenart
betrachten will, was er der Welt hat mitteilen können.
Ich
halte für wichtig, ins Auge zu fassen, daß Brentano in seiner
psychologischen Forschung in scharfsinniger Weise eine reine
Vorstellung des wirklich Seelischen zugrunde legen will. Er fragt sich
: was ist Charakteristisches in allen Vorkommnissen, die man als
seelische ansprechen muß. Und er fand, was er in den Nachträgen zur
Psychologie 1911 so ausdrückte : «Das Charakteristische für jede
psychische Tätigkeit besteht, wie ich gezeigt zu haben glaube, in der
Beziehung zu etwas als Objekt.»
Vorstellen ist eine psychische Tätigkeit. Das Charakteristische ist,
daß ich nicht nur vorstelle, sondern daß ich etwas
vorstelle, daß meine Vorstellung sich auf etwas bezieht. Mit
einem der mittelalterlichen Philosophie entlehnten Ausdruck bezeichnet
Brentano diese Eigenheit der seelischen Erscheinungen als «intentionale
Beziehung». «Der gemeinsame Charakterzug» - so führt er an einem
andern Orte aus - «alles Psychischen besteht in dem, was man häufig
mit einem leider sehr mißverständlichen Ausdruck Bewußtsein genannt
hat, das heißt in einem subj ektischen Verhalten, in einer,wie man
sie bezeichnete, intentionalen Beziehung
zu etwas, was vielleicht nicht wirklich, aber doch innerlich gegenständlich
gegeben ist. Kein Hören ohne Gehörtes, kein Glauben ohne Geglaubtes,
kein Hoffen ohne Gehofftes, kein Streben ohne Erstrebtes, keine Freude
ohne etwas, worüber man sich freut, und so im übrigen.»
Dieses intentionale Innesein ist nun in der Tat etwas, was wie ein
Leitmotiv so führt, daß man alles, dem man es beilegen kann, eben
dadurch in seiner seelischen Eigenart erkennt.
Den
psychischen Erscheinungen stellt Brentano die physischen gegenüber:
Farben, Schall, Raum und viele andere. Er findet, daß sich diese von
jenen eben dadurch unterscheiden, daß ihnen eine intentionale
Beziehung nicht eigen ist. Und er beschränkt sich darauf, diese
Beziehung den psychischen Erscheinungen zu-, den physischen
abzusprechen. Nun wird aber gerade, wenn man Brentanos Ansicht über
die intentionale Beziehung kennen lernt, die Vorstellung zu der Frage
hingeführt : macht ein solcher Gesichtspunkt nicht notwendig, auch
das Physische von ihm aus anzusehen? Wer nun in diesem Sinne wie
Brentano das Psychische so, das Physische auf ein Gemeinsames hin prüft,
der findet, daß jede Erscheinung dieses Gebietes durch
etwas anderes ist. Löst sich ein Körper in einer Flüssigkeit
auf, so tritt diese Erscheinung am gelösten Körper durch die
Beziehung der lösenden Flüssigkeit zu ihm auf. Wenn Phosphor seine
Farbe durch die Einwirkung der Sonne ändert, so weist dies in
dieselbe Richtung. Alle Eigenschaften in der physischen Welt sind
durch die Verhältnisse der Dinge zu einander. Es ist für physisches
Sein richtig, wenn Moleschott sagt : «Alles Sein ist ein Sein durch
Eigenschaften. Aber es gibt keine Eigenschaft, die nicht durch ein
Verhältnis besteht. »
Wie alles Psychische in sich etwas
enthält, wodurch es auf ein außer
ihm Befindliches weist, so ist umgekehrt ein Physisches so
geartet, daß das, was es ist, es durch die Beziehung eines Äußeren
auf es ist. Muß nicht jemand, der in so scharfsinniger Weise wie
Brentano die intentionale Beziehung alles Seelischen betont, die
Aufmerksamkeit auch auf das Charakteristische der physischen
Erscheinungen richten, das sich durch den gleichen Gedankenvorgang
ergibt? Sicher scheint zum mindesten, daß eine solche Betrachtung des
Seelischen die Beziehung desselben zur physischen Welt nur finden
kann, wenn sie dieses Charakteristische in Erwägung zieht.
Brentano
findet nun drei Arten von intentionalen Beziehungen im seelischen
Leben. Die erste ist das Vorstellen
von etwas; die zweite die Anerkennung oder Verwerfung, die sich im
Urteilen aussprechen; die
dritte die des Liebens oder Hassens, welche im Fühlen
erlebt werden. Wenn ich sage: Gott ist gerecht, so stelle ich
etwas vor; aber ich anerkenne oder verwerfe das Vorgestellte noch
nicht; wenn ich aber sage : es gibt einen Gott, so anerkenne ich das
Vorgestellte durch ein Urteil Sage
ich: die Freude ist mir lieb, so urteile ich nicht bloß, sondern ich
erlebe ein Gefühl. Brentano
unterscheidet aus solchen Voraussetzungen heraus drei Grundklassen der
psychischen Erlebnisse: Vorstellen, Urteilen, Fühlen (oder die
Erscheinungen des Liebens und Hassens). Diese drei Grundklassen setzt
er an die Stelle der von anderen anerkannten Teilung der psychischen
Erscheinungen «7. Die Sonderung des Seelischen von dem Außer-Seelischen
durch Franz Brentano.» in: Vorstellen, Fühlen und Wollen.
Während nämlich Vorstellen und Urteilen viele in eine Klasse
zusammenfassen, trennt Brentano die beiden. Er ist mit der
Zusammenfassung nicht einverstanden, weil er nicht wie andere in dem
Urteil nur eine Verbindung von Vorstellungen sieht, sondern eben eine
Anerkennung oder ein Verwerfen des Vorgestellten, was beim bloßen
Vorstellen nicht vollzogen wird. Gefühl und Wille hinwiederum, welche
andere trennen, fallen für Brentano, ihrem seelischen Gehalte nach,
in eins zusammen. Was seelisch erlebt wird, indem man sich zum
Verrichten einer Handlung hingezogen oder davon abgestoßen fühlt,
ist dasselbe, was man erlebt, wenn man zur Freude sich hingezogen oder
vom Schmerze abgestoßen fühlt.
Es
ist aus Brentanos Schriften ersichtlich, daß er einen großen Wert
darauf legt, die von ihm vorgefundene Gliederung des seelischen
Erlebens in Denken, Fühlen und Wollen durch die andere ersetzt zu
haben, in Vorstellen, Urteilen und in Lieben und Hassen. Von dieser
Gliederung aus sucht er sich einen Weg zu bahnen zum Verständnis
dessen, was die Wahrheit auf der einen Seite, die sittliche Güte auf
der anderen Seite ist. Die Wahrheit stützt sich ihm auf das richtige
Urteilen; die sittliche Güte auf das richtige Lieben. Er findet : «Wir
nennen etwas wahr, wenn die daraufbezügliche Anerkennung richtig ist.
Wir nennen etwas gut, wenn die darauf bezügliche Liebe richtig ist.»
Man
kann in Brentanos Ausführungen finden, daß er mit der richtigen
Anerkennung im Urteile bei der Wahrheit, mit dem richtigen Erleben der
Liebe bei der sittlichen Güte einen seelischen Tatbestand scharf ins
Auge faßt und umschreibt. Allein man kann innerhalb seines
Vorstellungsbereiches nichts finden, was genügen würde, um von dem
seelischen Erlebnis des Vorstellens zu dem des Urteilens den Übergang
zu finden. Wo man auch hinblickt in diesem Vorstellensbereich: man
sucht vergebens nach der Beantwortung der Frage: was liegt denn vor,
wenn sich die Seele bewußt ist, sie stelle nicht bloß vor, sondern
sie finde sich veranlaßt, den Gegenstand des Vorstellens durch ein
Urteil anzuerkennen? - Ebenso wenig kann man eine Frage vermeiden bei
dem richtigen Lieben für die sittliche Güte. Innerhalb desjenigen
Bereiches, welchen Brentano als « Seelisches » umschreibt, ist für
das sittliche Verhalten allerdings kein anderer Tatbestand vorhanden
als das richtige Lieben. Aber ist denn einer sittlichen Handlung nicht
auch eine Beziehung zu der äußeren Welt eigen? Kann dieses, was eine
solche Handlung für die Welt charakterisiert, erschöpft werden
dadurch, daß man sagt : sie ist eine Handlung, die richtig geliebt
wird?
Man
hat beim Verfolgen Brentanoscher Gedankengänge zumeist das Gefühl :
sie seien immer fruchtbringend, weil sie ein Problem nach einer
Richtung hin scharfsinnig und mit wissenschaftlicher Besonnenheit in
Angriff nehmen; aber man empfindet auch, Brentano führt mit solchen
Gedankengängen nicht zu dem Ziel,
das seine Ausgangspunkte versprechen. Solch eine Empfindung kann sich
auch aufdrängen, wenn man seine Dreiteilung des Seelenlebens in
Vorstellen, Urteilen, Lieben und Hassen vergleicht mit der andern in
Vorstellen, Fühlen und Wollen. Man folgt mit einer gewissen
Zustimmung dem, was er für seine Meinung beizubringen weiß; und man
kann zuletzt doch wohl kaum die Überzeugung gewinnen, daß er alle Gründe
hinreichend würdigt, die für die andere sprechen. Man nehme nur als
besonderes Beispiel die Folgerung, die Brentano aus seiner Gliederung
für die Kennzeichnung des Wahren, Schönen und Guten zieht. Wer das
Seelenleben nach erkennendem Vorstellen, Fühlen und Wollen gliedert,
wird kaum anders können, als das Streben nach Wahrheit mit dem
Vorstellen, das Erleben der Schönheit mit dem Fühlen, das
Vollbringen des Guten mit dem Wollen in einen näheren Zusammenhang zu
bringen. Im Lichte der Brentanoschen Gedanken erscheint die Sache
anders. Da haben die Vorstellungen als solche keine Beziehung zu
einander, durch die sich als solche schon die Wahrheit offenbaren könnte.
Strebt die Seele nach einem Vollkommenen in der Beziehung von
Vorstellungen, so kann daher ihr Ideal dabei nicht die Wahrheit sein;
es ist vielmehr die Schönheit. Die Wahrheit liegt nicht auf dem Wege
des bloßen Vorstellens, sondern des Urteilens. Und das sittlich Gute
findet sich nicht als ein dem Wollen Wesentliches, sondern ist Inhalt
eines Fühlens; denn richtig zu lieben, ist Gefühls-Erlebnis.
- Nun kann aber die Wahrheit für das gewöhnliche Bewußtsein doch
nur im vorstellenden Erkennen gesucht werden. Denn, wenn auch das
Urteil, das zur Wahrheit führt, nicht in einer bloßen Verbindung von
Vorstellungen sich erschöpft, sondern auf einer Anerkennung oder
Verwerfung von Vorstellungen beruht, so kann diese Anerkennung oder
Verwerfung von diesem Bewußtsein nur in Vorstellungen erlebt werden.
- Und wenn auch die Vorstellungen, durch die ein Schönes dem Bewußtsein
sich darstellt, in gewissen innerhalb des Vorstellungslebens gelegenen
Verhältnissen sich offenbaren: erlebt
wird die Schönheit doch durch das Gefühl. - Und obgleich ein
sittlich Gutes in der Seele ein richtiges Lieben hervorrufen soll :
sein Wesentliches ist doch die Verwirklichung
des richtig Geliebten durch das Wollen.
Man
erkennt erst, was in Brentanos Gedanken über die Dreigliederung des
Seelenlebens vorliegt, wenn man durchschaut, daß er von etwas ganz
anderem spricht als diejenigen, welche diese Gliederung nach
Vorstellen, Fühlen und Wollen vollziehen. Diese wollen einfach die
Erfahrung des gewöhnlichen Bewußtseins beschreiben. Und dieses erfährt
von sich selbst in den von einander unterschiedenen Verrichtungen des
Vorstellens, Fühlens und Wollens. Was wird da eigentlich erfahren? In
meinem Buche «Vom Menschenrätsel» habe ich versucht, diese Frage zu
beantworten. Die dort vorgebrachten Ergebnisse habe ich in der
folgenden Art zusammengefaßt. «Zunächst ist das seelische Erleben
des Menschen, wie es sich im Denken, Fühlen und Wollen offenbart, an
die leiblichen Werkzeuge gebunden. Und es gestaltet sich so, wie es
durch diese Werkzeuge bedingt ist. Wer aber meint, er sehe das wirkliche
Seelenleben, wenn er die Äußerungen der Seele durch den Leib
beobachtet, der ist in demselben Fehler befangen, wie einer, der
glaubt, seine Gestalt werde
von dem Spiegel hervorgebracht, vor dem er steht, weil der Spiegel die
notwendigen Bedingungen enthalte, durch die sein Bild
erscheint. Dieses Bild ist sogar in gewissen Grenzen als Bild von
der Form des Spiegels usw. abhängig: was
es aber darstellt, das hat mit dem Spiegel nichts zu tun. Das
menschliche Seelenleben muß, um innerhalb der Sinneswelt sein Wesen
voll zu erfüllen, ein Bild seines
Wesens haben. Dieses Bild muß es im Bewußtsein
haben; sonst würde es zwar ein Dasein haben; aber von diesem
Dasein keine Vorstellung, kein Wissen. Dieses Bild,
das im gewöhnlichen Bewußtsein der Seele lebt, ist nun völlig
bedingt durch die leiblichen Werkzeuge. Ohne diese würde es nicht da
sein, wie das Spiegelbild nicht ohne den Spiegel. Was
aber durch dieses Bild erscheint, das Seelische selbst, ist seinem
Wesen nach von den Leibeswerkzeugen nicht abhängiger als der vor dem
Spiegel stehende Beschauer von dem Spiegel. Nicht die Seele ist von
den Leibeswerkzeugen abhängig, sondern allein das gewöhnliche
Bewußtsein der Seele.»
- Schildert man diesen von der Leibesorganisation abhängigen Bewußtseinsbereich,
so gliedert man richtig nach Vorstellen, Fühlen und Wollen.
Aber Brentano schildert etwas anderes. Man fasse zunächst ins Auge,
daß er unter dem «Urteilen» ein Anerkennen oder Abweisen eines
Vorstellungsinhaltes versteht. Das Urteilen betätigt sich innerhalb
des Vorstellungslebens; aber es nimmt die Vorstellungen, die in der
Seele auftreten, nicht einfach hin, sondern es setzt sie durch
Anerkennung oder Ablehnung in Beziehung zu einer Wirklichkeit. Sieht
man genauer zu, so kann diese Beziehung der Vorstellungen auf eine
Wirklichkeit nur in einer Tätigkeit der Seele gefunden werden, welche
in dieser selbst sich vollzieht. Dem entspricht aber niemals restlos,
was die Seele bewirkt, wenn sie eine Vorstellung urteilend auf eine
Sinneswahmehmung bezieht. Denn da ist es der Zwang des äußeren
Eindruckes, der nicht rein innerlich erlebt, sondern nur nacherlebt
wird, und so als vorgestelltes Nach-Erlebnis zur Anerkennung oder
zum Verwerfen führt. Dagegen entspricht, was Brentano beschreibt, in
dieser Beziehung vollkommen demjenigen Erkennen, das im ersten
Abschnitt dieser Schrift das imaginative genannt wird. In diesem wird
das Vorstellen des gewöhnlichen Bewußtseins nicht einfach
hingenommen, sondern in innerem Seelen-Erleben weiter gebildet, so daß
aus ihm sich die Kraft auslöst, das seelisch Erfahrene auf eine geistige
Wirklichkeit so zu beziehen, daß diese anerkannt oder verworfen
wird. Brentanos Urteilsbegriff wird also nicht im gewöhnlichen Bewußtsein
vollkommen verwirklicht, sondern in der Seele, die in imaginativem
Erkenntnis sich betätigt. - Des weiteren ist klar, daß durch
Brentanos vollständige Ablösung des Vorstellungs- von dem
Urteilsbegriff, von ihm das Vorstellen als bloßes Bild
gefaßt wird. So aber lebt das gewöhnliche Vorstellen in der
imaginativen Erkenntnis. Auch diese zweite Eigenschaft, welche die
Anthroposophie dem imaginativen Erkennen beilegt, findet sich also in
Brentanos Charakteristik der psychischen Erscheinungen. - Ferner:
Brentano spricht die Erlebnisse des Fühlens als Erscheinungen der
Liebe und des Hasses an. Wer zum imaginativen Erkennen aufsteigt, der
muß in der Tat diejenige Art des seelischen Erlebens, die für das
gewöhnliche Bewußtsein als Lieben und Hassen - im Brentanoschen Sinn
-sich offenbart, für das übersinnliche Schauen so umwandeIn, daß er
sich gewissen Eigenarten der geistigen Wirklichkeit gegenübersetzen
kann, welche in meiner «Theosophle» zum Beispiel in der folgenden
Art geschildert werden : «Es gehört zu dem ersten, was man sich für
die Orientierung in der seelischen Welt aneignen muß, daß man die
verschiedenen Arten ihrer Gebilde in ähnlicher Weise unterscheidet,
wie man in der physischen Welt feste, flüssige und luft- oder gasförmige
Körper unterscheidet. Um dazu zu kommen, muß man die beiden Grundkräfte
kennen, die hier vor allem wichtig sind. Man kann sie Sympathie
und Antipathie nennen.
Wie diese Grundkräfte in einem seelischen Gebilde wirken, danach
bestimmt sich dessen Art.»
Während Lieben und Hassen für das Leben der Seele in der Sinneswelt
etwas Subjektives bleibt, erlebt das imaginative Erkennen das
objektive Verhalten in der Seelenwelt mit durch innere Erfahrungen,
die dem Lieben und Hassen gleichkommen. Brentano beschreibt auch da,
indem er von Seelenerscheinungen spricht, eine Eigenheit des
imaginativen Erkennens (durch die dasselbe aber schon in den Bereich
einer noch höheren Erkenntnisart
hlneinreicht). Und daß er von der objektieven
Art des Liebens und Hassens im Gegensatz zur subjektiven Gefühlsweise
des gewöhnlichen Bewußtseins eine Vorstellung hat, das ersieht man
daraus, daß er die sittliche Güte als ein richtiges Lieben
darstellt. - Zuletzt muß ganz besonders in Betracht gezogen werden,
daß für Brentano das Wollen aus dem Kreise der Seelenerscheinungen
herausfällt. Nun gehört das aus dem gewöhnlichen Bewußtsein erfließende
Wollen ganz der physischen Welt an. Es verwirklicht sich in der
Gestalt, wie es von diesem Bewußtsein gedacht werden kann, restlos in
der physischen Welt, obwohl es ein in der physischen Welt sich
offenbaren des rein geistig-Wesenhaftes an
sich ist. Schildert man das in der physischen Welt vorhandene gewöhnliche
Bewußtsein, so kann in dieser Schilderung das Wollen nicht fehlen.
Schildert man das schauende Bewußtsein, so kann in diese Schilderung
nichts von den Vorstellungen über das gewöhnliche Wollen übergehen.
Denn in der seelischen Welt, auf welche das imaginative Bewußtsein
sich bezieht, erfolgt das Geschehen auf einen seelischen Impuls hin
anders als durch Akte des Wollens, wie solche der physischen Welt
eigen sind. Indem also Brentano die seelischen Erscheinungen in dem
Gebiete ins Auge faßt, in dem die imaginative Erkenntnis sich betätigt,
muß ihm der Begriff des Wollens sich verflüchtigen.
Es
scheint wirklich einleuchtend zu sein, daß Brentano dazu getrieben
worden ist, indem er das Wesen der psychischen Erscheinungen
beschrieben hat, eigentlich das Wesen der schauenden Erkenntnis zu
schildern. Selbst aus Einzelheiten seiner Darstellung geht dies klar
hervor. Man nehme ein Beispiel für viele, die angeführt werden könnten.
Er sagt : «Der gemeinsame Charakterzug alles Psychischen besteht in
dem, was man häufig mit einem leider sehr mißverständlichen
Ausdruck Bewußtsein genannt hat ... ».
Aber wenn man nur diejenigen Seelenerscheinungen schildert, welche als
dem gewöhnlichen Bewußtsein angehörig von der Leibesorganisation
bedingt sind, so ist der Ausdruck gar nicht mißverständlich.
Brentano hat eine Empfindung davon, daß die wirkliche Seele aber in
diesem gewöhnlichen Bewußtsein nicht lebt, und er fühlt sich
veranlaßt, von dem Wesen dieser wirklichen Seele in Vorstellungen zu
sprechen, die allerdings mißverstanden werden müssen, wenn man auf
sie den gewöhnlichen Bewußtseinsbegriff anwenden will.
Brentano geht in seiner Forschung
so vor, daß er die Erscheinungen des anthropologischen Gebietes bis
dahin verfolgt, wo sie den Unbefangenen dazu zwingen, Vorstellungen über
die Seele zu bilden, welche zusammentreffen mit dem, was die
Anthroposophie auf ihren Wegen über die Seele findet. Und die
Ergebnisse der beiden Wege zeigen sich gerade durch Brentanos
Psychologie im vollsten Einklange. Brentano selbst wollte aber den
anthropologischen Weg nicht verlassen. Daran hinderte ihn seine
Auslegung des von ihm aufgestellten Leitsatzes: «Es kann die wahre
Forschungsart der Philosophie keine andere sein als die in der
naturwissenschaftlichen Erkennmisart anerkannte. »
Eine andere Auffassung dieses Leitsatzes hätte ihn dazu führen können,
anzuerkennen, daß man gerade dann die naturwissenschaftliche
Vorstellungsart in dem rechten Lichte sieht, wenn man sich bewußt
ist, daß diese für das geistige Gebiet sich ihrem eigenen Wesen gemäß
wandeln muß. Brentano hat die wahren Seelenerschenningen, welche er
als solche kennzeichnet, niemals zum Gegenstande eines ausgesprochenen
Bewußtseins machen wollen. Hätte er dieses getan, so wäre er von
der Anthropologie zur Anthroposophie fortgeschritten. Er fürchtete
diesen Weg, weil er ihn nur als ein Abirren in «mystisches Dunkel und
ein freies Schweifen der Phantasie in unbekannte Regionen» anzusehen
vermochte.
Er ließ sich auf eine Prüfung dessen gar nicht ein, was seine eigene
psychologische Auffassung notwendig machte. Jedesmal, wenn er vor der
Notwendigkeit stand, seinen eigenen Weg fortzusetzen in das
anthroposophische Gebiet hinein, blieb er stehen. Er wollte die
Fragen, welche sich nur anthroposophisch beantworten lassen,
anthropologisch lösen. Diese Lösung mußte scheitern. Weil sie
scheitern mußte, konnte er seine angefangenen Darstellungen nicht so
fortsetzen, daß die Fortsetzung für ihn hätte befriedigend werden können.
Hätte er die «Psychologie vom empirischen Standpunkt »fortgesetzt :
sie hätte nach dem Ergebnisse des ersten Bandes eine Anthroposophie
werden müssen. Hätte er seine «Deskriptive Psychologie»wirklich
geliefert: Anthroposophie müßte aus ihr überall herausleuchten. Hätte
er entsprechend seinem Ausgangspunkte die Ethik seiner Schrift «Vom
Ursprung sittlicher Erkenntnis» weiter geführt: er hätte auf
Anthroposophie stoßen müssen.
Vor
Brentanos Seele stand die Möglichkeit einer Psychologie, die nicht
wie die rein anthropologische gestaltet sein kann. Die letztere kann
an die Fragen gar nicht denken, welche als die bedeutungsvollsten über
das Seelenleben aufgeworfen werden müssen. Die neuere Psychologie
will nur anthropologisch sein, weil sie alles darüber Hinausgehende für
unwissenschaftlich hält. Brentano aber sagt : «Für die Hoffnungen
eines Platon und Aristoteles, über das Fortleben unseres besseren
Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden
dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der
Entwickelung von Überzeugungen und Meinungen und des Keimens und
Treibens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht ein wahre Entschädigung
sein... Und wenn wirklich der Unterschied der beiden Anschauungen die
Aufnahme oder den Ausschluß der Frage nach der Unsterblichkeit
besagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu
nennen, und ein Eingehen in die metaphysische Untersuchung über die
Substanz als Trägerin der Zustände unvermeidlich.»
Anthroposophie zeigt, wie nicht durch metaphysische Spekulationen in
das von Brentano bezeichnete Gebiet eingetreten werden kann, sondern
allein durch Betätigung solcher Seelenkräfte, welche nicht in das
gewöhnliche Bewußtsein fallen können. Indem Brentano in seiner
Philosophie das Wesen der Seele so schildert, daß in seiner
Schilderung das Wesen der schauenden Erkenntnis deutlich zum Ausdrucke
kommt, ist diese Philosophie eine vollkommene Rechtfertigung der
Anthroposophie. Und man darf in Brentano sehen den philosophischen
Forscher, der auf seinem Wege bis zur Pforte der Anthroposophie
gelangt, diese Pforte aber nicht aufschließen will,
weil das Bild von naturwissenschaftlicher Denkart, das er sich
macht, ihm den Glauben erzeugt, er gelange durch dieses Aufschließen
in den Abgrund der Unwissenschaft.
*
Die
Schwierigkeiten, vor die sich Brentano oft gestellt sieht, wenn er
seine Vorstellungen fortsetzen will, rühren davon her, daß er diese
Vorstellungen über das Wesen des Seelischen auf dasjenige bezieht,
was im gewöhnlichen Bewußtsein vorliegt. Dazu wird er veranlaßt,
weil er innerhalb der Auffassung stehen bleiben will, die ihm als die
naturwissenschaftlich berechtigte erscheint. Aber diese Auffassung
kann durch ihre Erkenntnismittel eben nur zu dem gelangen, was von dem
Seelischen als der Inhalt des gewöhnlichen Bewußtseins vorliegt.
Dieser Inhalt ist aber nicht die Wirklichkeit des Seelischen, sondern
dessen Spiegelbild. Dies durchschaut Brentano nur von der einen Seite
des begreifenden Verstehens, aber nicht von der andern, der
Beobachtung. In seinen Begriffen entwirft er ein Bild seelischer
Erscheinungen, die sich in der Wirklichkeit der Seele abspielen; wenn
er beobachtet, glaubt er in dem Spiegelbild des Seelischen eine
Wirklichkeit zu haben.
- Eine andere philosophische Richtung, der Brentano die schärfste
Abneigung entgegengebracht hat, diejenige Eduard von Hartmanns, ist
auch von einer naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ausgegangen.
Eduard von Hartmann hat den Spiegelbild-Charakter des gewöhnlichen
Bewußtseins durchschaut. Er sieht daher in diesem Bewußtsein keine
Wirklichkeit. Aber er lehnt es auch entschieden ab, die entsprechende
Wirklichkeit überhaupt in ein menschliches Bewußtsein hereinzuholen.
Er verweist diese Wirklichkeit in das Gebiet des Unbewußten. Über
dieses zu reden, gestattet er nur der hypothetischen Anwendung der
durch gewöhnliches Bewußtsein gebildeten Begriffe über dieses
Gebiet hinaus.
Die Anthroposophie behauptet, daß über dieses Gebiet hinaus geistige
Beobachtung möglich ist. Und daß dieser geistigen Beobachtung auch
Begriffe zugänglich seien, die so wenig bloß hypothetisch sein dürfen
wie die im sinnlichen Felde gewonnenen. - Eduard von Hartmanns Übersinnliches
soll kein unmittelbar Erkanntes, sondern ein aus dem unmittelbar
Erkannten Erschlossenes sein. Hartmann gehört zu denjenigen
Philosophen der neueren Zeit, die Begriffe nicht bilden wollen, wenn
sie zum Ausgangspunkte dieser Begriffsbildung nicht die Aussagen der
sinnlichen Beobachtung und des Erlebens im gewöhnlichen Bewußtsein
haben. Brentano bildet solche Begriffe. Aber er täuscht sich über
die Wirklichkeit, in der sie durch Beobachtung gebildet werden können.
Sein Geist erweist sich als merkwürdig zwiespältig. Er möchte ganz
Naturforscher in dem Sinne sein, wie sich die naturwissenschaftliche
Vorstellungsart in der neueren Zeit herausgebildet hat. Und er muß
doch Begriffe bilden, welche sich vor dieser Vorstellungsart nur dann
rechtfertigen lassen, wenn man dieselbe nicht als die einzig geltende
hinnimmt. Dieser Zwiespalt in Brentanos Forschergeist wird dem erklärlich,
der sich in die ersten Schriften Brentanos vertieft : in sein Buch :
«Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles »
(1862); in seine «Psychologie des Aristoteles» (1867) und in seinen
«Creatinismus des Aristoteles» (1882).
- In diesen Schriften geht Brentano mit mustergiltiger Gelehrsamkeit
den Gedankengängen des Aristoteles nach. Und in diesem Nachgehen
eignet er sich ein Denken an, das sich nicht in den Begriffen erschöpfen
lassen kann, die in der Anthropologie geltend sind. In diesen
Schriften hat er einen Seelenbegriff im Bereiche seiner
Aufmerksamkeit, welcher das Seelische aus dem Geistigen herleitet.
Dieses aus dem Geiste herstammende Seelische bedient sich des aus
physischen Vorgängen gebildeten Organismus, um innerhalb des
sinnlichen Daseins sich Vorstellungen zu bilden. Was in der Seele sich
Vorstellungen bildet, ist geistiger Natur, ist der «Nus» des
Aristoteles. Aber dieser «Nus» ist von zweifacher Wesenheit, als «Nus
pathetikos» ist er rein leidend; er läßt sich von den durch den
Organismus ihm gegebenen Eindrücken zu seinen Vorstellungen anregen.
Damit aber diese Vorstellungen so in die Erscheinung treten, wie sie
in der tätigen Seele sind, muß diese Tätigkeit als «Nus poietikos»wirken.
Was der «Nus pathetikos» liefert, wären bloß Erscheinungen in
einem finsteren Seelensein; sie werden beleuchtet durch den «Nus
poietikos». Brentano sagt darüber : Der Nus poietikos ist das Licht,
welches die Phantasmen erleuchtet und das Geistige im Sinnlichen für
unser Geistesauge sichtbar macht.
- Es kommt, wenn man Brentano verstehen will, nicht allein darauf an,
inwieweit er die aristotellschen Vorstellungen in seine eigene Überzeugung
aufgenommen hat, sondern vor allem darauf, daß er sich mit dem
eigenen Denken in diesen Vorstellungen hingebungsvoll bewegt hat.
Dadurch aber betätigte sich dieses Denken in einem Bereiche, in dem
der Ausgangspunkt der Sinnesanschauung, und damit die anthropologische
Grundlage für die Begriffsbildung nicht vorhanden sind. Und dieser
Grundzug des Denkens ist in Brentanos Forschung geblieben. Er will
zwar nur gelten lassen, was nach dem Muster der gegenwärtigen
naturwissenschaftlichen Vorstellungsart anerkannt werden kann; aber er
muß Gedanken bilden, die nicht in dieses Bereich gehören. Nun läßt
sich nach rein naturwissenschaftlicher Methode über die
Seelenerscheinungen nur etwas sagen, insoferne diese das durch die
Leibesorganisation bedingte Spiegelbild des wirklich Wesenhaften der
Seele sind, das heißt, insoferne sie in ihrem Spiegelbild-Charakter
mit der Leibesorganisation entstehen und vergehen. Was aber Brentano
über die Wirklichkeit des Seelischen denken muß, ist ein Geistiges,
von der Leibesorganisation Unabhängiges, das sogar durch den «Nus
poietikos» sich das Geistige im Sinnlichen durch unser Geistesauge
sichtbar macht. - Daß Brentano sich mit seinem Denken in solchen
Bereichen bewegen kann, verbietet ihm, das Seelensein durch die Leibes
organisation entstehend und mit der Leibesorganisation vergehend zu
denken. Weil er aber eine übersinnliche Beobachtung ablehnt, so kann
ihm in diesem Seelensein kein Inhalt
beobachtbar sein, der über das physische Sein hinausreicht.
Sobald er der Seele einen Inhalt zuschreiben soll, den diese ohne die
Mithilfe der Leibesorganisation entfalten könnte, fühlt sich
Brentano in einer Welt, für die er keine Vorstellungen findet. In
solcher Geistesverfassung wendet er sich an Aristoteles und findet
auch bei ihm Seelenvorstellungen, die für ein außerleibliches Dasein
keinen anderen Inhalt ergeben, als den im leiblichen Dasein
erworbenen. Charakteristisch in seiner Einseitigkeit ist, was in
dieser Beziehung Brentano in seiner «Psychologle des Aristoteles »
vorbringt : «Wie nun der Mensch, wenn ihm ein Fuß oder ein anderes
Glied entrissen wird, keine vollendete Substanz mehr ist, so ist er
natürlich noch viel weniger eine vollendete Substanz, wenn der ganze
leibliche Teil dem Tode anheimgefallen ist. Der geistige Teil besteht
zwar noch fort, allein die
irren gar sehr, die wie Plato glauben, daß die Trennung vom Leibe
für ihn eine Förderung und gleichsam eine Befreiung aus drückendem
Gefängnisse sei; muß ja doch die Seele nunmehr auf alle die
zahlreichen Dienste verzichten, welche die Kräfte des Leibes ihr
geleistet haben.»
- Über die Auffassung des Aristoteles vom Wesen der Seele war
Brentano in einen außerordentlich interessanten Streit mit dem
Philosophen Eduard Zeller gekommen. Dieser behauptete, die Meinung des
Aristoteles gehe dahin, eine Präexistenz der Seele vor ihrer
Verbindung mit der Leibesorganisation anzunehmen, während Brentano
dem Aristoteles eine solche Ansicht absprach, und ihn nur denken ließ,
die Seele werde erst in die Leibesorganisation hinein geschaffen; sie
habe also keine Präexistenz, wohl aber nach der Auflösung des Leibes
eine Postexistenz.
Brentano meinte, eine Präexistenz nehme nur Plato, nicht aber
Aristoteles an. Es ist nicht zu leugnen, daß die Gründe, welche
Brentano für seine Meinung und gegen die Zellersche vorbringt, viel
Gewicht haben. Abgesehen von der Brentanoschen geistvollen
Interpretation entsprechender aristotelischer Behauptungen bietet es
ja eine Schwierigkeit, dem Aristoteles die Ansicht von der Präexistenz
der Seele zuzuschreiben, weil eine solche einem Grundsatz der
aristotelischen Metaphysik zu widersprechen scheint. Aristoteles sagt
nämlich, daß niemals eine «Form» vor dem «Stoffe» existieren könne,
der die Form trägt. Die Kugelgestalt existiere niemals ohne das sie
erfüllende Stoffliche. Da aber Aristoteles das Seelische als die «Form»der
Leibesorganisation faßt, so scheint es, daß man ihm nicht
zuschreiben dürfe : er habe gedacht, die Seele könne vor der
Entstehung der Leibesorganisation existieren.
Brentano
hat sich nun mit seinem Seelenbegriff in der aristotelischen
Vorstellung von der Unmöglichkeit einer Präexistenz so verfangen, daß
er nicht bemerken kann, wie diese aristotelische Vorstellung selbst in
einem wichtigen Punkte versagt. Kann man denn wirklich «Form» und «Materie»
so denken, daß man nur annimmt : die Form könne nicht vor der sie
erfüllenden Materie bestehen? Die Kugelgestalt sei doch nicht
vorhanden vor der sie erfüllenden Stoffmasse? So wie sie an der
Stoffmasse erscheint, ist die Kugelform gewiß nicht vor der
Zusammenballung des Stoffes vorhanden. Allein bevor
dieser zusammen-schießt, sind die Kräfte vorhanden, welche an
diesen Stoff herankommen, und deren Ergebnis für ihn sich in seiner
Kugelgestalt offenbart. Und in diesen Kräften lebt vor dem Auftreten
der Kugelgestalt diese schon gewiß in andrer
Art.
Hätte Brentano sich nicht durch seine Auslegung der
naturwissenschaftlichen Vorstellungsart für den Inhalt des
Seelenbegriffs durch die Anschauungen über die körperliche
Organisation gebunden gefühlt, so hätte er vielleicht bemerkt, daß
der aristotelische Seelenbegriffselbst mit einem inneren Widerspruch
behaftet ist. So hat er denn an der Betrachtung der Weltanschauung des
Aristoteles nur die Möglichkeit gewonnen, über die Seele
Vorstellungen zu denken, welche diese aus dem Gebiete der
Leibesorganisation heraus heben, ihr aber nicht einen solchen Inhalt
zuweisen, der gestattet, daß man sie bei unbefangenem Denken wirklich
von der Leibesorganisation unabhängig vorstellen kann.
Neben
Aristoteles ist für Brentano auch Leibniz ein Philosoph, dem er
besondere Anerkennung zuwendet. Besonders die Art der Leibnizischen
Seelenbetrachtung scheint ihn angezogen zu haben. Man kann nun sagen,
daß Leibniz auf diesem Gebiete eine Votstellungsweise hat, welche wie
eine wesentliche Erweiterung der Meinung des Aristoteles erscheint. Während
dieser den wesenhaften Inhalt des menschlichen Denkens abhängig macht
von der Sinnesbeobachtung, löst Leibniz diesen Inhalt von der
sinnlichen Grundlage los. Dem Aristoteles folgend wird man den Satz
anerkennen : es ist nichts im Denken, was nicht vorher in den Sinnen
war (nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu); Leibniz aber
ist der Meinung, daß nichts im Denken sei, was nicht vorher in den
Sinnen war, außer das
Denken selbst (nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi
ipse intellectus). Es wäre unrichtig, dem Aristoteles die Ansicht
zuzuschreiben, daß das im Denken sich betätigende Wesenhafte ein
Ergebnis der leiblichen Wirkenskräfte sei. Aber indem er den Nus
pathetikos zum leidenden Empfänger der Sinneseindrücke, den Nus
poietikos zum Beleuchter dieser Eindrücke machte, blieb innerhalb
seiner Philosophie nichts, das Inhalt
eines von dem Sinnessein unabhängigen Seelenlebens werden könnte.
In dieser Beziehung erweist sich der Leibnizische Satz fruchtbarer.
Durch ihn wird die Aufmerksamkeit besonders hingelenkt auf das von der
Leibesorganisation unabhängige Seelenwesen. Allerdings wird diese
Aufmerksamkeit eingeschränkt auf den bloß intellektiven Teil dieses
Wesens. Und insofern ist Leibnizens Satz einseitig. Dennoch ist er
eine Richtlinie, die im gegenwärtigen naturwissenschaftlichen
Zeitalter zu etwas führen kann, zu dem Leibniz zu gelangen noch nicht
möglich war. Dazu waren in seiner Epoche die Vorstellungen über den
rein naturgemäßen Ursprung von Eigenschaften der Leibesorganisation
noch zu unvollkommen. Gegenwärtig ist dies anders. Man kann heute bis
zu einem gewissen Grade naturwissenschaftlich erkennen, wie sich die
organischen Leibeskräfte von den Vorfahren vererben, und wie
innerhalb dieser vererbten Kräfte des Organismus die Seele wirkt. Was
von vielen, die glauben, auf dem rechten «naturwissenschaftlichen
Standpunkte » zu stehen, allerdings nicht zugegeben wird, erweist
sich doch beim richtigen Erfassen der naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse als notwendige Ansicht : daß alles, wodurch die Seele im
physischen Leben wirkt, bedingt ist durch die Leibeskräfte, die in
der physischen Vererbungslinie von den Vorfahren auf die Nachkommen übergehen,
außer dem Inhalt des
Seelischen selbst. So etwa kann man gegenwärtig den Leibnizischen
Satz erweitern. Dann aber ist er die anthropologische Rechtfertigung
der anthroposophischenBetrachtungsart. Dann verweist er die Seele
darauf, ihren wesenhaften Inhalt in einer geistigen Welt zu suchen,
und zwar durch eine andere Erkenntnisart als die in der Anthropologie
übliche. Denn dieser ist nur zugänglich, was im gewöhnlichen Bewußtsein
durch die Leibesorganisation erlebt wird.
Man kann der Ansicht sein, Brentano hätte alle Vorbedingungen gehabt,
um, von Leibniz ausgehend, sich den Blick auf das im Geiste verankerte
Wesenhafte der Seele zu eröffnen, und das sich diesem Blick Ergebende
durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der neueren Zeit zu
erkräftigen. Wer seinen Ausführungen folgt, sieht den Weg, der vor
ihm gelegen war. Es hätte der Weg zu einem rein geistig erkennbaren
Seelenwesen vor ihm offenbar werden können, wenn er ausgebildet hätte,
was im Bereiche seiner Aufmerksamkeit lag, als er solche Sätze
niederschrieb wie diesen : «Aber wie ist» das «Eingreifen der
Gottheit» beim Erscheinen einer menschlichen Seele in einem Leib «zu
denken? Hat sie, nachdem sie den geistigen Teil des Menschen von
Ewigkeit schöpferisch hervorgebracht hatte, ihn nun mit einem Embryo
in der Art verbunden, daß er, der bisher als besondere geistige
Substanz für sich bestand, nun aufhörte, ein wirkliches Wesen für
sich zu sein, und Teil einer menschlichen Natur wurde, oder hat sie
ihn erst jetzt schöpferisch hervorgebracht? - Wenn Aristoteles das
erste annahm, so mußte er glauben, daß derselbe Geist wieder und
wieder mit anderen und anderen Embryonen verbunden werde; denn das
Menschengeschlecht erhält sich nach ihm fortzeugend ins Unendliche,
die Menge der von Ewigkeit bestehenden Geister kann aber nur eine
endliche sein. Alle Ausleger sind nun darin einig, daß Aristoteles in
der reiferen Zeit seines Philosophierens die Palingenese verworfen
hat. Also ist diese Möglichkeit ausgeschiossen.»
Was nicht in der Gedankenfolge des Aristoteles liegt, die
Rechtfertigung des geistigen Blickes auf die wiederholten Leben der
Menschenseele durch Palingenese : für Brentano hätte es sich ergeben
können aus der Verbindung der an Aristoteles verfeinerten Begriffe über
die Seele mit den Erkenntnissen der neueren Naturwissenschaft. - Er hätte
diesen Weg um so mehr gehen können, als er empfänglichen Sinn hatte
für die Erkenntnislehre der mittelalterlichen Philosophie. Wer diese
Erkenntnislehre wirklich erfaßt, der eignet sich eine Summe von Ideen
an, die geeignet sind, die neueren naturwissenschaftlichen Ergebnisse
zur geistigen Welt in eine Beziehung zu setzen, welche durch die Ideen
der rein naturwissenschaftlich-anthropologischen Forschung nicht zu
durchschauen ist. Was eine Vorstellungsart wie diejenige des Thomas
von Aquino für die Vertiefung der Naturwissenschaft nach der
geistigen Seite zu leisten vermag, das wird gegenwärtig in vielen
Kreisen ganz verkannt. Man glaubt in solchen Kreisen, die neueren
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse bedingten eine Abkehr von dieser
Vorstellungsart. Die Wahrheit ist, daß man zunächst das
naturwissenschaftlich erkannte Wesenhafte der Welt mit Gedanken
umspannen will, welche bei genauerem Zusehen in sich unvollendet
bleiben. Ihre Vollendung wäre, sie selbst als ein solches Wesenhaftes
in der Seele zu denken, wie sie in der Vorstellungsart des Thomas von
Aquino gedacht werden. Brentano befand sich auch auf dem Wege, ein
rechtes Verhältnis zu dieser Vorstellungsart zu gewinnen. Schreibt er
doch : «Als ich meine Abhandlung «Von der mannigfachen Bedeutung des
Seienden nach Aristoteles» und später meine «Psychologie des
Aristoteles» schrieb, wollte ich in einer zweifachen Weise das Verständnis
seiner Lehre fördern; einmal und vorzüglich direkt durch Aufhellung
einiger der wichtigsten Lehrpunkte, dann indirekt, aber in
allgemeinerer Weise, indem ich der Erklärung neue Hilfsquellen eröffnete.
Ich machte auf die scharfsinnigen Kommentare des Thomas von Aquino
aufmerksam und zeigte, wie man in ihnen manche Lehre richtiger als bei
späteren Erklärern dargestellt findet.»
- Brentano verlegte sich den Weg, der sich ihm durch solche Studien hätte
darbieten können, durch seine Hinneigung zu der Vorstellungsart von
Bacon, Locke und allem, was mit solch einer Vorstellungsart
philosophisch zusammenhängt. Er hielt diese Vorstellungsart vor allem
für die der naturwissenschaftlichen Forschungsweise gemäße.
Doch eben diese Vorstellungsart führt dazu, den Inhalt des
Seelenlebens in völliger Abhängigkeit von der Sinneswelt zu denken.
Und weil diese Denkweise nur anthropologisch vorgehen will, so kommt
nur dasjenige als psychologisches Ergebnis in ihren Bereich, was in
Wahrheit keine seelische Wirklichkeit ist, sondern nur ein Spiegelbild
dieser Wirklichkeit, nämlich der Inhalt des gewöhnlichen Bewußtseins.
- Hätte Brentano die Spiegelbild-Natur des gewöhnlichen Bewußtseins
durchschaut : er hätte im Verfolg der anthropologischen Forschung
nicht haltmachen können vor dem Tore, das in die Anthroposophie führt.
- Es wird gewiß dieser meiner Anschauung gegenüber die Meinung
geltend gemacht werden können, Brentano habe eben der Gabe des
geistigen Schauens ermangelt; deshalb habe er nicht den Übergang von
Anthropologie zur Anthroposophie gesucht, wenn er auch durch seine
besondere geistige Eigenart dazu getrieben worden ist, in
interessanter Form die Seelenerscheinungen so verstandesgemäß zu
charakterisieren, daß sich diese Form durch die Anthroposophie
rechtfertigen läßt. Ich habe aber diese Meinung nicht. Ich bin nicht
der Anschauung, daß geistiges Schauen nur als eine besondere Gabe für
Ausnahmepersönlichkeiten erreichbar ist. Ich muß dieses Schauen für
eine Fähigkeit der Menschenseele halten, die jeder sich aneignen
kann, wenn er die zu ihr führenden seelischen Erlebnisse in sich
wachruft. Und Brentanos Natur erscheint mir zu solchem Wach-Rufen ganz
besonders geeignet.
Ich halte aber dafür, daß man solches Wach-Rufen durch Theorien, die
ihm widerstreben, verhindern kann. Daß man das Schauen nicht
aufkommen läßt, wenn man sich in Ideen verstrickt, welche dessen
Berechtigung von vorneherein in Frage stellen. Und Brentano hat das
Schauen in seiner Seele dadurch nicht aufkommen lassen, daß bei ihm
die Ideen, welche es in so schöner Art rechifertigten, stets
unterlagen denen, die es verwerfen, und die befürchten lassen, daß
man durch dasselbe in « den labyrinthischen Gängen einer
Pseudophilosophie sich verliere».
*
1895
hat Brentano den Abdruck eines Vortrages erscheinen lassen, den er in
der « Literarischen Gesellschaft in Wien» mit Rücksicht auf H.Lorms
Buch «Der grundlose Optimismus» gehalten hat.
Dieser enthält seine Ansicht über « die vier Phasen der Philosophie
und ihren augenblicklichen Stand». Brentano vertritt in diesen Ausführungen
die Meinung, daß sich der Entwickelungsgang des philosophischen
Forschens in einer gewissen Beziehung vergleichen lasse mit der
Geschichte der schönen Künste. «Während andere Wissenschaften, so
lange sie überhaupt betrieben werden, einen stetigen Fortschritt
aufweisen, der nur einmal durch eine Zeit des Stillstandes
unterbrochen wird, zeigt die Philosophie, wie die schöne Kunst, neben
den Zeiten aufsteigender Entwickelung Zeiten der Decadence, die oft
nicht minder reich, ja reicher an epochemachenden Erscheinungen sind
als die Zeiten gesunder Fruchtbarkeit.»
Drei solcher Perioden, die von gesunder Fruchtbarkeit zur Decadence
fortlaufen, unterscheidet Brentano im verflossenen Entwickelungsgang
der Philosophie. Eine jede beginnt damit, daß aus dem reinen
philosophischen Staunen über die Rätsel der Welt sich wahrhaft
wissenschaftliches Interesse regt, und dieses Interesse eine
Erkenntnis aus echtem, reinem Wissenstrieb sucht. Auf diese gesunde
Epoche folgt dann eine andere, in der das erste Stadium des Verfalls
erscheint. Da tritt das reine wissenschaftliche Interesse zurück, und
man sucht nach Gedanken, durch die man das soziale und persönliche
Leben regeln und sich in denselben zurechtfinden kann. Die Philosophie
will da nicht mehr dem reinen Erkenntnisstreben, sondern den
Interessen des Lebens dienen. Ein weiterer Verfall tritt in der
dritten Epoche ein, Man wird durch die Unsicherheit der Gedanken, die
einem nicht reinen wissenschaftlichen Interesse entsprungen sind, an
der Möglichkeit wahrer Erkenntnis irre und verfällt in Skeptizismus.
Die vierte Epoche ist dann diejenige des völligen Niederganges. Der
Zweifel der dritten Epoche hat alle wissenschaftliche Grundlage der
Philosophie unterhöhlt. Man sucht aus unwissenschaftlichen Untergründen
in phantastischen, verschwimmenden Begriffen, durch mystisches Erleben
zur Wahrheit zu kommen. Den ersten Entwickelungskreis denkt sich
Brentano mit der griechischen Naturphilosophie beginnend; und mit
Aristoteles, meint er, schließe die gesunde Phase ab. Anaxagoras schätzt
er innerhalb dieser Phase besonders hoch ein. Er ist der Ansicht, daß,
trotzdem in dieser Zeit die Griechen in bezug auf viele
wissenschaftliche Fragen, ganz im Anfange standen, die Art ihres
Forschens doch einen solchen Charakter hatte, der vor einer strengen
naturwissenschaftlichen Denkungsart seine Rechtfertigung findet. Auf
diese erste Phase folgen die Stoiker, die Epikuräer. Sie bringen
schon einen Verfall. Sie wollen Ideen, die im Dienste des Lebens
stehen. In der Neueren Akademie, besonders aber durch Aenesidemus,
Agrippa, Sextus Empirikus sieht man den Skeptizismus allen Glauben an
sichergestellte wissenschaftliche Wahrheiten austilgen. Und im
Neuplatonismus, bei Ammonius Sakkas, Plotin, Porphyrius, Jamblichus,
Proklus tritt an die Stelle des wissenschaftlichen Forschens das in
den labyrinthischen Gängen einer Pseudophilosophie sich ergehende
mystische Erleben. - Im Mittelalter sieht man, wenn auch vielleicht
nicht mit solcher Deutlichkeit, diese vier Phasen sich wiederholen.
Mit Thomas von Aquino hebt eine philosophisch gesunde Vorstellungsart
an, die den Aristotelismus in einer neuen Form aufleben läßt. In der
darauf folgenden Zeit, deren Repräsentant Duns Scotus ist, herrscht
durch eine ins Ungeheuerliche getriebene Disputierkunst, eine Art
Analogon zur ersten griechischen Verfallsperiode. Auf sie folgt der
Nominalismus, der einen skeptischen Charakter trägt. Wilhelm von
Occam verwirft die Ansicht, daß sich die allgemeinen Ideen auf etwas
Wirkliches beziehen, und gibt dadurch dem Inhalte der menschlichen
Wahrheit nur den Wert einer außer der Wirklichkeit stehenden
begrifflichen Zusammenfassung; während die Wirklichkeit nur in den
individuellen Einzeldingen liegen soll. Dieses Analogon der Skepsis
wird abgelöst durch die nicht in wissenschaftlichen Bahnen strebende
Mystik der Eckhardt, Tauler, Heinrich Suso, des Verfassers der
Deutschen Theologie und anderer. Dies sind die vier Phasen der
philosophischen Entwickelung im Mittelalter. - In der Neuzeit beginnt
mit Bacon von Verulam wieder eine gesunde, auf naturwissenschaftlichem
Denken ruhende Entwickelung, in welcher dann Descartes, Locke, Leibniz
fruchtbringend weiter wirken. Auf sie folgt die französische und
englische Aufklärungsphilosophie, in denen Grundsätze, wie man sie für
das Leben sympathisch fand, die Haltung des philosophischen
Gedankenganges beherrschten. Darauf tritt mit David Hume die Skepsis
ein; und auf sie folgt die Phase des Niedergangs, die in England mit
Thomas Reid, in Deutschland mit Kant einsetzt. Brentano betrachtet an
Kants Philosophie eine Seite, die ihm gestattet, diese
zusammenzubringen mit der Plotinschen Verfallsperiode der griechischen
Philosophie. Er tadelt an Kant, daß dieser nicht wie ein
wissenschaftlicher Forscher die Wahrheit in einer Übereinstimmung der
Vorstellungen mit den wirklichen Gegenständen suche, sondern vielmehr
darin, daß sich die Gegenstände nach dem menschlichen
Vorstellungsvermögen richten sollen. Damit glaubt Brentano der
Kantschen Philosophie eine Art mystischen Grundzuges zuschreiben zu müssen,
der sich dann in der Verfallsphilosophie Fichtes, Schellings und
Hegels in völliger Unwissenschaftlichkeit offenbart. - Einen neuen
Aufschwung der Philosophie erhofft Brentano von einer
wissenschaftlichen Arbeit innerhalb ihres Gebietes nach dem Muster der
in der neueren Zeit herrschend gewordenen naturwissenschaftlichen
Denkungsart. Zur Einleitung einer solchen Philosophie hat er seine
These aufgestellt: die wahre philosophische Forschungsart sei keine
andere als die in der naturwissenschaftlichen Erkennntisart
anerkannte.
Ihr wollte er seine Lebensarbeit widmen.
Brentano
sagt in der Vorrede zu dem Abdruck des Vortrages, in dem er diese
Ansicht von den « vier Phasen der Philosophie» gegeben hat : diese
« seine Auffassung der Geschichte der Philosophie mag manchen als neu
befremden; mir selbst steht sie seit Jahren fest und wurde auch seit
mehr als zwei Dezennien, wie von mir, so von einigen Schülern den
akademischen Vorlesungen über Geschichte der Philsophie zugrunde
gelegt. Daß sie Vorurteilen begegnen, und daß diese vielleicht zu mächtig
sein werden, um beim ersten Anprall zu weichen, darüber ergebe ich
mich keiner Täuschung. Immerhin hoffe ich von den vorgeführten
Tatsachen und Erwägungen, daß sie bei dem, welcher denkend folgt,
nicht ohne Eindruck bleiben können.»
-Daß man von diesen Ausführungen Brentanos einen bedeutenden
Eindruck empfangen kann, ist durchaus meine Meinung. Insofern sie eine
Klassifikation der im Laufe der philosophischen Entwickelung
auftretenden Erscheinungen von einem gewissen Gesichtspunkte aus
darbieten, beruhen sie auf gut begründeten Einsichten in diesen
Entwikkelungsgang.
Die
vier Phasen der Philosophie bieten Unterschiede, die in der
Wirklichkeit begründet sind. - Sobald man aber in eine Betrachtung
der in den einzelnen Phasen treibenden Kräfte eintritt, kann man
nicht finden, daß Brentano diese Kräfte zutreffend charakterisiert.
Sogleich bei seiner Ansicht über die erste Phase der Philosophie des
Altertums tritt das zutage. Die Grundzüge der griechischen
Philosophie von den jonischen Anfängen bis zu Aristoteles weisen gewiß
viele Züge auf, welche Brentano das Recht geben, in ihnen eine
naturwissenschaftliche Denkart in seinem Sinne zu sehen. Aber kommt
denn diese Denkart wirklich durch dasjenige zustande, was Brentano die
naturwissenschaftliche Methode nennt? Sind die Gedanken dieser
griechischen Philosophen nicht vielmehr ein Ergebnis dessen, was sie
als das Wesen des Menschen und dessen Stellung zum Weltall in der
eigenen Seele erlebten ?
Wer sich diese Frage sachgemäß beantwortet, wird finden, daß die
inneren Impulse für den Gedankengehalt dieser Philosophie gerade im
Stoizismus, im Epikuräismus, in der ganzen praktischen
Lebensphilosophie der späteren Griechenzeit zum unmittelbaren
Ausdruck kamen. Man kann bemerken, wie in den Seelenkräften, welche
Brentano in der zweiten Phase
wirksam findet, der Ausgangspunkt liegt für die erste Phase der
Philosophie des Altertums. Diese Kräfte waren der sinnlichen und
sozialen Erscheinungsform des Weltalls zugewendet und konnten daher in
der Phase des Skeptizismus, der zum Zweifel an der unmittelbaren
Wirklichkeit dieser Erscheinungsform getrieben wird, und in der
folgenden Phase des schauenden Erkennens, das über diese Form
hinausgehen muß, nur unvollkommen auftreten. Aus diesem Grunde zeigen
sich diese Phasen innerhalb der Philosophie des Altertums als solche
des Verfalls. - Und welche Seelenkräfte wirken im philosophischen
Entwickelungsgang des Mittelalters? Daß im Thomismus die Höhe dieses
Entwickelungsganges liegt in bezug auf diejenigen Verhältnisse, die
Brentano ins Auge faßt, wird niemand bezweifeln können, der die in
Betracht kommenden Tatsachen wirklich kennt. Aber man kann doch nicht
verkennen, daß durch den christlichen Standpunkt des Thomas von
Aquino die in der griechischen Lebensphilosophie wirksamen Seelenkräfte
nicht mehr bloß aus philosophischen Impulsen heraus wirken, sondern
einen überphilosophischen Charakter angenommen haben. Welche Impulse
aber wirken bei Thomas von Aquino, insoferne er Philosoph ist? Man
braucht keine Neigung für die Schwächen der nominalistischen
Philosophen des Mittelalters zu haben; aber man wird doch finden können,
daß die im Nominalismus wirkenden Seelenimpulse die subjektive
Grundlage bilden auch für den thomistischen Realismus. Wenn Thomas
die Allgemeinbegriffe, welche die Erscheinungen der
Sinneswahrnehmungen zusammenfassen, als dasjenige erkennt, was sich
auf ein geistig Wirkliches bezieht, so gewinnt er die Kraft zu dieser
seiner realistischen Vorstellungsart aus dem Gefühl desjenigen
heraus, was diese Begriffe abgesehen davon, daß sie sich auf
Sinneserscheinungen beziehen, in dem Dasein der Seele selbst bedeuten.
Gerade weil Thomas die Allgemeinbegriffe nicht unmittelbar auf die
Vorkommnisse des Sinnesdaseins bezog, empfand er, wie in sie eine
andere Wirklichkeit hereinleuchtet, und wie sie eigentlich für die
Erscheinungen des Sinnenlebens nur Zeichen sind. Als dann im
Nominalismus dieser Unterton des Thomismus als selbständige
Philosophie auftrat, mußte er naturgemäß seine Einseitigkeit
offenbaren. Das Gefühl, daß die in der Seele erlebten Begriffe einen
ins Geistige gewandten Realismus begründen, mußte schwinden, und das
andere vorherrschend werden, daß die Allgemeinbegriffe bloße
zusammenfassende Namen sind. Wenn man die Wesenheit des Nominalismus
so auffaßt, versteht man auch die ihm vorangehende zweite Phase der
mittelalterlichen Philosophie, den Skotismus, als einen Übergang zum
Nominalismus. Man wird aber doch nicht umhin können, die ganze Kraft
der mittelalterlichen Denkarbeit, insoferne
sie Philosophie ist, aus der Grundauffassung heraus zu verstehen,
die sich in einseitiger Art im Nominalismus gezeigt hat. Dann aber
wird man zu der Ansicht kommen, daß die wirklich treibenden Kräfte
dieser Philosophie in den Seelenimpulsen liegen, welche man im Sinne
der Brentanoschen Klassifikation als der dritten
Phase angehörig bezeichnen muß. Und in derjenigen Epoche, welche
Brentano als die mystische Phase des Mittelalters kennzeichnet, tritt
dann auch klar hervor, wie die ihr angehörigen Mystiker, durch die
nominalistische Natur des begreifenden Erkennens bewogen, sich nicht
an dieses, sondern an andere Seelenkräfte wenden, um zum Kerne der
Welterscheinungen vorzudringen. - Verfolgt man nun für die
Philosophie der neueren Zeit die Wirksamkeit der treibenden Seelenkräfte
an dem Faden der Brentanoschen Klassifikation, so findet man, daß die
inneren Wesenszüge dieser Epoche ganz andere sind, als diejenigen,
welche von Brentano verzeichnet werden. Die Phase der
naturwissenschaftlichen Denkart, welche Brentano durch Bacon von
Verulam, Descartes, Locke, Leibniz verwirklicht findet, will sich
gewisser ihr eigener Charakterzüge wegen durchaus nicht als rein
naturwissenschaftlich im Brentanoschen Sinne denken lassen. Wie soll
man dem Grundgedanken Descartes' «Ich denke, also bin ich» rein
naturwissenschaftlich beikommen; wie soll man Leibnizens Monadologie,
oder dessen «vorbestimmte Harmonie» in die naturwissenschaftliche
Vorstellungsart Brentanos hineinbringen? Auch die Brentanosche
Auffassung der zweiten Phase, welcher er die französische und
englische Aufklärungsphilosophie zuteilt, macht Schwierigkeiten, wenn
man bei seinen Vorstellungen stehen bleiben will. Man wird dieser
Epoche gewiß den Charakter einer Verfallszeit der Philosophie nicht
absprechen wollen; aber man kann sie verstehen aus der Tatsache
heraus, daß in ihren Trägern die in der christlichen
Lebensanschauung energisch wirksamen außerphilosophischen
Seelenimpulse gelähmt waren, so daß ein Verhältnis zu den übersinnlichen
Weltkräften philosophisch nicht gefunden werden konnte. Zugleich
wirkte die nominalistische Skepsis des Mittelalters noch nach, wodurch
verhindert wurde, daß eine Beziehung des seelisch erlebten
Erkenntnis-Inhaltes zu einem geistig Wirklichen gesucht wurde. - Und
schreitet man dann zu dem neuzeitlichen Skeptizismus und derjenigen
Vorstellungsweise fort, die Brentano einer mystischen Phase zueignet,
dann verliert man die Möglichkeit, seiner Klassifikation noch
zuzustimmen. Gewiß muß man die skeptische Phase mit David Hume
beginnen lassen. Aber Kant, den Kritiker, als Mystiker kennzeichnen,
erweist sich denn doch als stark einseitige Charakteristik. Und die
Philosophien Fichtes, Schellings, Hegels und anderer Denker der auf
Kant folgenden Zeit lassen sich nicht als mystische fassen, besonders,
wenn man den Brentanoschen Begriff der Mystik zugrunde legt. Man wird
vielmehr gerade im Sinne der Brentanoschen Klassifikation von David
Hume über Kant, bis zu Hegel einen gemeinsamen Grundzug finden.
Dieser besteht in der Ablehnung, auf Grund derjenigen Vorstellungen,
die aus der Sinneswelt gewonnen sind, das philosophische Weltbild
einer wahren Wirklichkeit zu zeichnen. So paradox es scheint, Hegel
einen Skeptiker zu nennen : er Ist es doch in dem Sinne, daß er den
Vorstellungen, welche der Natur entnommen sind, keinen unmittelbaren
Wirklichkeitswert zuschreibt. Man weicht von dem Brentanoschen Begriff
des Skeptizismus nicht ab, wenn man die Entwickelung der Philosophie
von Hume bis Hegel als die Phase des neuzeitlichen Skeptizismus auffaßt.
Die vierte neuzeitliche Phase kann man erst nach Hegel beginnen
lassen. Was in ihr als naturwissenschaftliche Vorstellungsart
auftritt, wird aber Brentano sicherlich nicht in die Nähe des
Mystizismus bringen wollen. Doch man fasse ins Auge, in welcher Art
Brentano selbst sich mit seinem Philosophieren in diese Epoche
hineinstellen will. Mit einer kaum zu überbietenden Energie fordert
er für die Philosophie eine naturwissenschaftliche Methode. In seiner
psychologischen Forschung strebt er die Innehaltung dieser Methode an.
Und was er zutage fördert, ist eine Rechtfertigung der
Anthroposophie. Was als Fortsetzung seines anthropologischen Strebens
auftreten müßte, wenn er im Sinne des von ihm Vorgestellten weiter
schritte, wäre Anthroposophie. Allerdings eine Anthroposophie, welche
mit der naturwissenschaftlichen Denkungsart in voller Harmonie steht.
- Ist nicht Brentanos Lebensarbeit selbst der vollgültigste Beweis
dafür, daß die vierte Phase der neuzeitlichen Philosophie ihre
Impulse aus denjenigen Seelenkräften ziehen muß, welche der
Neuplatonismus ebenso wie die Mystik des Mittelalters betätigen wollten,
aber nicht konnten, weil
sie mit dem inneren Seelenwirken nicht bis zu einem solchen Erleben
der geistigen Wirklichkeit zu kommen vermochten, das in völliger bewußter
Klarheit des Denkens (oder der Begriffe) sich vollzieht? Wie die
griechische Philosophie ihre Kraft aus den Seelenimpulsen schöpfte,
welche Brentano in der zweiten philosophischen Phase sich
verwirklichen sieht, aus der praktischen Lebensphilosophie; wie die
mittelalterliche Philosophie den Impulsen der dritten Phase, dem
Skeptizismus ihre Stärke verdankt; so muß die neuzeitliche
Philosophie ihre Impulse aus den Grund-Kräften der vierten
Phase holen, aus dem erkennenden Schauen. Darf also Brentano in
dem Neuplatonismus und in der mittelalterlichen Mystik
Verfallsphilosophien in Gemäßheit seiner Vorstellungsart annehmen,
so könnte man in der die Anthropologie ergänzenden Anthroposophie
die fruchtbare Phase der neueren Philosophie anerkennen, wenn man
dieses Philosophen eigene Ideen über Philosophie-Entwickelung zu den
Konsequenzen führt, die er nicht selbst gezogen hat, die aber ganz
ungezwungen sich aus ihnen ergeben.
*
In
dem gekennzeichneten Verhältnis Brentanos zu den
Erkenntnis-Forderungen der Gegenwart ist es wohl gelegen, daß man
beim Lesen seiner Schriften Eindrücke empfängt, welche sich nicht in
dem erschöpfen, was der unmittelbare Inhalt der von ihm vorgebrachten
Begriffe enthält. Es klingen in dieses Lesen überall Untertöne
hinein. Diese kommen aus einem Seelenleben, das hinter den
ausgesprochenen Ideen weit zurückliegt. Was Brentano im Geiste des
Lesers anregt, ist oft stärker in diesem wirksam, als das von dem
Verfasser in scharf umrissenen Vorstellungen Gesagte. Man fühlt sich
auch veranlaßt, oftmals zum Lesen einer Brentanoschen Schrift zurückzukehren.
Man kann vieles von dem durchdacht haben, was gegenwärtig über das
Verhältnis der Philosophie zu andern Erkenntnisvorstellungen gesagt
wird; Brentanos Schrift «Über die Zukunft der Philosophie» wird bei
solchem Durchdenken fast immer in der Erinnerung auftauchen. Diese
Schrift gibt einen Vortrag wieder, den er in der «Philosophischen
Gesellschaft» in Wien 1892 gehalten hat, um seine Auffassung über
die Zukunft der Philosophie den hierauf bezüglichen Ansichten
entgegenzuhalten, welche der Rechtsgelehrte Adolf Exner in einer
Inaugurationsrede über «politische Bildung» (1891) vorgebracht
hatte.
Der Abdruck des Vortrages ist mit «Anmerkungen» versehen, die
weitweisende geschichtliche Ausblicke in den geistigen
Entwickelungsgang der Menschheit geben. - In dieser Schrift klingt
alles an, was sich dem Betrachter der gegenwärtigen
naturwissenschaftlichen Vorstellungsart über die Notwendigkeit
ergeben kann, von dieser Vorstellungsart aus zu einer
anthroposophischen fortzuschreiten.
Die
Träger dieser naturwissenschaftlichen Vorstellungsart leben zumeist
in dem Glauben, daß sie ihnen von dem wirklichen Sein der Dinge
selbst aufgedrängt ist. Sie sind der Meinung, daß sie ihre
Erkenntnisse so einrichten, wie die Wirklichkeit sich offenbart. Doch
dieser Glaube ist eine Täuschung. Die Wahrheit ist, daß in der
neueren Zeit die menschliche Seele aus ihrer eigenen, im Laufe der
Jahrtausende tätigen, Entwickelung heraus Bedürfnisse nach solchen
Vorstellungen entfaltet hat, welche das naturwissenschaftliche
Weltbild ausmachen. Helmholtz. Weisman, Huxley und andere sind zu
ihren Vorstellungen nicht deshalb gekommen, weil die Wirklichkeit
ihnen diese als die absolute Wahrheit gegeben hat, sondern weil sie in
sich diese Vorstellungen bilden mußten, um durch sie auf die ihnen
entgegentretende Wirklichkeit ein gewisses Licht zu werfen. Man formt
sich ein mathematisches oder mechanisches Weltbild nicht, weil eine außerseelische
Wirklichkeit dazu zwingt, sondern weil man in seiner Seele die
mathematischen und mechanischen Vorstellungen ausgebildet und sich
dadurch eine innere Beleuchtungsquelle für das eröffnet hat, was in
der Außenwelt auf mathematische und mechanische Art sich offenbart. -
Obgleich nun im allgemeinen das eben Gekennzeichnete für jede
Entwickelungsstufe der menschlichen Seele gilt : es erscheint an den
neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungen noch auf eine besondere
Weise. Diese Vorstellungen vernichten, wenn sie folgerecht von einer
Seite durchdacht werden, die Begriffe über das Seelische. An dem
durchaus nicht unerheblichen aber höchst fragwürdigen Begriffe einer
«Seelenlehre ohne Seele», der nicht von philosophischen Dilettanten
allein, sondern von sehr ernsten Denkern gebildet worden ist, zeigt
sich dieses.
Solche Vorstellungen bringen dazu, die Erscheinungen des gewöhnlichen
Bewußtseins in ihrer Abhängigkeit von der Leibesorganisation immer
mehr zu durchschauen. Wird damit nicht zugleich erkannt, daß in dem,
was in dieser Art als Seelisches auftritt, nicht
dieses selbst, sondern nur dessen Spiegelbild sich offenbart, dann
entwindet sich der Betrachtung die wirkliche Idee des Seelischen, und
die Schein-Idee tritt auf, die in dem Seelischen nur sieht, was
Ergebnis der Leibesorganisation ist. Nun läßt sich andrerseits für
das unbefangene Denken die letztere Ansicht aber doch nicht halten.
Die Ideen, welche die Naturwissenschaft über die Natur bildet,
erweisen vor diesem unbefangenen Denken ihren seelischen Zusammenhang
mit einer hinter der Natur liegenden Wirklichkeit, der in diesen Ideen
selbst sich nicht offenbart.
Keine anthropologische Betrachtungsart kann von sich aus zu erschöpfenden
Vorstellungen über diesen Zusammenhang kommen. Denn er tritt nicht in
das gewöhnliche Bewußtsein herein. - Diese Tatsache tritt bei den
gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Vorstellungen stärker zutage
als bei geschichtlich vergangenen Erkenntnisstufen. Die letzteren
bildeten bei der Beobachtung der Außenwelt noch Begriffe, welche in
ihren Inhalt etwas von der geistigen Unterlage dieser Außenwelt
hereinnahmen. Und die Seele fühlte sich in ihrer eigenen Geistigkeit
mit dem Geiste der Außenwelt als in einer Einheit. Die neuere
Naturwissenschaft muß, ihrem Wesen nach, die Natur eben rein naturgemäß
denken. Dadurch gewinnt sie die Möglichkeit, wohl den Inhalt
ihrer Ideen durch die Naturbeobachtung zu rechtfertigen, nicht
aber das Dasein dieser
Ideen, als inneres Seelisch-Wesenhaftes, selbst. - Aus diesem Grunde
ist gerade die echt natur-wissenschaftliche Vorstellungsart ohne allen
Boden, wenn sie ihr eigenes Dasein nicht rechtfertigen kann durch eine
anthroposophische Beobachtung. Mit
Anthroposophie kann man in uneingeschränkter Art sich zu der
naturwissenschaftlichen Vorstellungsweise bekennen; ohne
Anthroposophie wird man immer aufs neue den vergeblichen Versuch
machen wollen, aus naturwissenschaftlichen Beobachtungsergebnissen
heraus selbst den Geist zu entdecken. Die naturwissenschaftlichen
Ideen der neueren Zeit sind eben Erzeugnisse des Zusammenlebens der
Seele mit einer geistigen Welt; aber wissen
kann die Seele von diesem Zusammenleben nur in lebendiger
Geistbetrachtung.
Man könnte
leicht auf die Frage kommen : Warum sucht denn die Seele
naturwissenschaftliche Vorstellungen auszubilden, wenn sie sich
dadurch geradezu einen Inhalt schafft, der sie von ihrer
Geist-Grundlage abschneidet? Vom Standpunkte einer solchen Meinung,
welche die naturwissenschaftlichen Vorstellungen deshalb gebildet
glaubt, weil die Welt nun einmal ihnen gemäß sich offenbart, läßt
sich auf diese Frage keine Antwort finden. Wohl aber ergibt sich eine
solche, wenn man auf die Bedürfnisse des seelischen Lebens selbst
sieht. Mit Vorstellungen, wie sie eine vornaturwissenschaftliche Zeit
allein ausgebildet hat, könnte das seelische Erleben niemals zum
vollen Bewußtsein seiner selbst gelangen. Es würde zwar in den
Natur-Ideen, die Geistiges mitenthalten, einen unbestimmten
Zusammenhang mit dem Geiste erfühlen, nicht aber des Geistes volle,
unabhängige Eigenart erleben können. Es strebt daher das Seelische
im Entwickelungsgang der Menschheit nach der Aufstellung solcher
Ideen, welche dieses Seelische selbst nicht enthalten, um an ihnen, sich
selbst unabhängig vom Naturdasein zu wissen. Der Zusammenhang mit
dem Geiste muß aber dann nicht durch diese Natur-Ideen, sondern durch
geistiges Schauen erkennend gesucht werden. Die Ausbildung der neueren
Naturwissenschaft ist eine notwendige Stufe im
Seelen-Entwickelungsgange der Menschheit. Man erkennt ihre Grundlage,
wenn man einsieht, wie die Seele ihrer bedarf, um sich selbst zu
finden. Man erkennt auf der andern Seite ihre erkenntnistheoretische
Tragweite, wenn man durchschaut, wie gerade sie das geistige Schauen
zu einer Notwendigkeit macht.
Adolf
Exner, gegen dessen Meinung Brentanos Schrift «Die Zukunft der
Philosophie» gerichtet ist, stand einer Naturwissenschaft gegenüber,
welche zwar die Natur-Ideen rein ausbilden will, die aber nicht bereit
ist, zur Anthroposophie fortzuschreiten, wenn es sich um die Erfassung
der seelischen Wirklichkeit handelt. Er fand die «naturwissenschaftliche
Bildung» unfruchtbar für die Ausgestaltung der Ideen, die im
gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen wirken müssen. Er
fordert daher eine Denkungsart für die Lösung der dem kommenden
Zeitalter bevorstehenden Fragen des Gesellschaftslebens, die nicht auf
naturwissenschaftlicher Grundlage ruht. Er findet, daß die großen
juristischen Fragen, welchen das Römertum gegenüberstand, von diesem
gerade deshalb so fruchtbringend gelöst worden sind, weil die Römer
für naturwissenschaftliche Vorstellungsart wenig Begabung hatten. Und
er versucht, zu zeigen, daß das achtzehnte Jahrhundert trotz seiner
Neigung zu naturwissenschaftlicher Denkungsart sich der Bezwingung der
Gesellschaftsfragen wenig gewachsen gezeigt hat. Exner richtet seinen
Blick auf eine naturwissenschaftliche Vorstellungsart, die nicht um
ihre eigenen Grundlagen wissenschaftlich bemüht ist. Man kann
verstehen, daß er einer solchen gegenüber zu seinen Ansichten
gekommen ist. Denn sie muß
ihre Ideen so ausgestalten, daß diese das Naturgemäße in seiner
Reinheit vor die Seele führen. Aus ihnen
läßt sich kein Impuls für Gedanken gewinnen, die im
Gesellschaftsleben fruchtbar sind. Denn innerhalb dieses Lebens stehen
Seelen den Seelen als solchen gegenüber. Ein solcher Impuls kann sich
nur ergeben, wenn das Seelische in seiner geistigen Art durch
erkennendes Schauen erlebt wird, wenn die
naturwissenschaftlich-anthropologische Betrachtung in der
anthroposophischen ihre Ergänzung findet. - Brentano trug in seiner
Seele Ideen, die durchaus in das anthroposophische Gebiet münden,
trotzdem er nur im Anthropologischen bleiben wollte. Deshalb sind
seine Ausführungen gegen Exner von durchschlagender Kraft, auch wenn
Brentano den Übergang zur Anthroposophie nicht selbst machen will.
Sie zeigen, wie Exner gar nicht von dem spricht, was eine sich selbst
verstehende naturwissenschaftliche Vorstellungsart wirklich vermag,
sondern wie er einen Windmühlenkampf führt gegen eine sich selbst mißverstehende
Denkart. Man kann Brentanos Schrift lesen und überall durchfühlen,
wie berechtigt alles ist, was durch seine Ideen in diese oder jene
Richtung weist, ohne daß man findet, er spreche restlos aus, worauf
er verweist.
Mit
Franz Brentano ist eine Persönlichkeit hinweggegangen, welche in
ihrem Werke zu erleben einen unermeßlichen Gewinn bedeutet. Dieser
Gewinn ist völlig unabhängig von dem Grade der verstandesgemäßen
Übereinstimmung, die man diesem Werke entgegenbringen kann. Denn er
entspringt aus den Offenbarungen einer Menschenseele, die viel tiefer
in der Welt-Wirklichkeit ihren Ursprung haben, als die Sphäre ist, in
welcher im gewöhnlichen Leben sich Verstandes-Übereinstimmungen
finden. Und Brentano ist eine Persönlichkeit, bestimmt fortzuwirken
im geistigen Entwickelungsgang der Menschheit, durch Impulse, die sich
nicht in der Fortführung der von ihm entwickelten Ideen erschöpfen.
Ich kann mir gut vorstellen, wie jemand durchaus nicht mit dem
einverstanden ist, was ich über Brentanos Verhältnis zur
Anthroposophie hier ausgeführt habe; daß man aber, auf welchem
wissenschaftlichen Standpunkte man auch stehe, zu weniger verehrenden Empfindungen
dem Werte von Brentanos Persönlichkeit gegenüber kommen kann als
die sind, welche den Absichten meiner Ausführungen zugrunde liegen,
scheint mir unmöglich, wenn man den philosophischen Geist auf sich
wirken läßt, der durch die Schriften dieses Mannes weht.