Bevor wir dasjenige entwickeln, was sich in Anknüpfung an das
bedeutsame Bild der Götterdämmerung ergehen wird, wird es gut sein,
wenn wir uns dafür eine Grundlage schaffen. Denn es wird sich darum
handeln, das Wesen der germanisch-nordischen Volksseele aus den
gewonnenen Resultaten heraus genauer zu schildern. Wir müssen sehen,
wie in Europa das gesamte europäische Geistesleben zusammenwirkt, wie
durch die Tätigkeit der verschiedenen Volksgeister ein Fortschritt
der Menschheit bewirkt wird - aus uralten Zeiten heraus, durch unsere
Gegenwart hindurch, in die Zukunft hinein. Jedes einzelne Volk, ja
sogar alle einzelnen, kleineren Volkssplitter haben in diesem großen
Gesamtgemälde ihre besondere Aufgabe, und aus dem, was gesagt worden
ist, können Sie erkennen, daß. in gewisser Beziehung, gerade der
vor- und nachchristlichen Kultur Europas die Aufgabe, die Mission
zugefallen ist, das Ich durch die verschiedenen Stufen der
menschlichen Wesenheit hindurch zu erziehen, es herauszubilden und
nach und nach zu entwickeln. Es wurde ja in gewisser Beziehung dieses
Ich in uralter Zeit noch aus der geistigen Welt heraus, wie wir dies
am germanisch-nordischen Volke gezeigt haben, hellseherisch dem
Menschen gezeigt. Es wurde gesagt, wie dieses Ich den Menschen
verliehen wird von einem der Engelwesen, das sogar zwischen dem
Menschen und der Volksseele mitten darinnen steht: von dem Donar oder
Thor. Wir haben gesehen, daß sich der einzelne noch vorkam wie ichlos,
wie unpersönlich. Er sah das Ich wie eine Gabe an, die ihm aus der
geistigen Welt geschenkt wurde.
In solcher Weise hat man natürlich im Orient, als das Ich
überhaupt erwachte, das Ich nicht gefunden. Da war der Mensch schon
subjektiv so weit entwickelt zu einer hohen Stufe menschlicher
Vollkommenheit, daß er das Ich nicht als fremdes, sondern als eigenes
empfand. Als der Mensch im Orient zum Ich erwachte, war die
orientalische Kultur schon so weit, daß sie fähig war, eine so fein
ausgesponnene Spekulation, Logik und Weisheit nach und nach zu
entwickeln, wie wir sie in der orientalischen Weisheit vor uns sehen.
Also den ganzen Prozeß des Empfangens des Ich wie aus einer höheren,
geistigen Welt unter der Beihilfe einer solchen göttlich-geistigen
Individualität wie der Thor es war, hat der Orientalismus nicht mehr
mitgemacht. Ihn hat mitgemacht der Europäismus, und daher empfindet
dieser Europäismus auch dieses allmähliche Hinaufsteigen zu dem
individuellen Ich wie das Herauskommen aus einer Art von Gruppenseele.
Der germanisch-nordische Mensch fühlte sich selbst noch wie mit einer
Gruppenseele behaftet, wie zu einer ganzen Gemeinschaft gehörig, wie
ein Glied in der großen Zusammengehörigkeit des Stammes. Nur so
konnte es kommen, daß noch fast hundert Jahre, nachdem der
christliche Impuls der Erde gegeben worden ist, Tacitus die
Germanen Mitteleuropas so schildern konnte, daß sie immer als zu
einzelnen Stämmen gehörig erscheinen, daß sie wie die Glieder eines
Organismus sind und zu der Einheit des Organismus gehören. So fühlte
sich der einzelne in jener Zeit noch wie ein Glied des Stammes-Ich. Er
fühlte das nach und nach Heraus-geboren-Werden des individuellen Ich
aus dem Stammes-Ich. und er fühlte in dem Gotte Thor den Geber, den
Verleiher des Ich, den Gott, der ihn eigentlich mit dem individuellen
Ich begabte. Aber er fühlte diesen Gott noch verbunden mit dem
gesamten Geiste des Stammes, mit dem, was in der Gruppenseele lebt.
Für diese Gruppenseele findet sich nun der Ausdruck «Sif». Das ist
der Name für die Gemahlin des Thor. Sif muß sprachlich verwandt sein
mit dem Worte Sippe, Stammeszusammengehörigkeit und ist es auch in
der Tat. wenn das auch maskiert und verborgen ist. Okkult bedeutet
aber Sif die Gruppenseele der einzelnen Gemeinschaft, aus der
herauswächst das einzelne Individuum. Sif ist diejenige Wesenheit,
die sich verbindet mit dem Gotte des individuellen Ich. mit dem Geber
des individuellen Ich, mit Thor. Sif und Thor empfindet der
individuelle Mensch als die Wesenheiten, die ihm das Ich gaben. Die
empfand der nordische Mensch noch so. als den Völkern in anderen
Gegenden Europas bereits andere Aufgaben in der Erziehung des Menschen
zum Ich hin zugeteilt waren.
Jedes einzelne Volk hat seine besondere Aufgabe. Da finden wir vor
allen Dingen dasjenige Volk, diejenige Völkerzusammengehörigkeit,
diejenige Volksgemeinsamkeit ausgebreitet, die wir unter dem Namen der
Kelten kennen. Der Volksgeist der Kelten, von dem wir aus den
vorangegangenen Darstellungen wissen, daß er später ganz andere
Aufgaben bekommen hat, hatte die Aufgabe, das noch junge Ich der
europäischen Bevölkerung heranzuziehen. Dazu aber mußte noch eine
Erziehung, ein Unterricht der Kelten selbst vorhanden sein, der
unmittelbar aus der höheren Welt vermittelt war. Daher ist es
durchaus richtig, daß die Kelten durch ihre Eingeweihten, die
Druiden-Priester, einen Unterricht aus höheren Welten erhielten, den
sie aus eigener Kraft nicht hätten empfangen können, und den sie an
die übrigen Völker dann weiterzugeben hatten.
Die gesamte europäische Kultur ist eine Gabe der europäischen
Mysterien. Die fortschreitenden Volksseelen sind immer die Lenker der
Gesamtkultur der Menschheit in ihrem Fortschritt. Aber in der Zeit, in
welcher diese Volksgeister Europas die Menschen dazu anleiten sollten,
aus sich selber heraus zu arbeiten, aus sich selber heraus wirksam zu
sein, war es notwendig, daß sich die Mysterien mehr zurückzogen.
Daher trat mit dem Zurückziehen des keltischen Elementes auch eine
Art Zurückziehung der Mysterien in viel geheimere Untergründe ein.
Ein viel direkterer, unmittelbarer Verkehr der Geistwesen mit dem
Volke durch die Mysterien war zur Zeit der alten Kelten vorhanden,
weil das Ich noch gebunden war an die Gruppenhaftigkeit, und doch
sollte das keltische Element der Verleiher des Ich für die übrige
Bevölkerung sein. Wir können also sagen: In der Zeit, die vor der
eigentlichen germanisch-nordischen Entwickelung liegt, konnte nur
durch die alten keltischen Mysterien der europäischen Kultur die
Mysterien-Erziehung gegeben werden. Diese Mysterien-Erziehung hat
gerade so viel an die Oberfläche kommen lassen, als notwendig war, um
eine Grundlage für die gesamte Kultur Europas zu geben. Aus dieser
alten Kultur haben sich nun durch Vermischung mit den verschiedensten
Rassensplittern, Volksbestandteilen und Rassengemeinschaften die
verschiedensten Volksseelen und Volksgeister befruchten können und
haben immer das Ich in andere Lagen gebracht, um es zu erziehen, das
Ich, das sich herauswühlte aus dem Untergrunde dessen, was unter dem
Ich des Menschen liegt.
Man kann sagen, daß, nachdem die alte griechische Kultur bis zu
einem gewissen Grade ihren Höhepunkt erreicht hatte in der Ausbildung
desjenigen, was sie eben als ihre besondere Mission hatte, eine ganz
andere Seite dieser selben Mission im alten Römertum und seinen
verschiedenen Kulturperioden zutage trat. Wir haben bereits erwähnt,
wie in einer strengen Stufenfolge aufeinanderfolgen die einzelnen
nachatlantischen Kulturen. Wenn wir uns einen Überblick verschaffen
wollen über diese Stufenfolge der nachatlantischen Kulturen, so
können wir sagen: Die alte indische Kultur arbeitete am menschlichen
Ätherleibe. Daher der hellsichtige, wunderbar weisheitsvolle
Charakter der alten indischen Kultur, weil sie - nach Ausbildung der
besonderen menschlichen Fähigkeiten - eine im menschlichen
Ätherleibe reflektierte Kultur ist, so daß wir die alte indische
Kultur etwa in der folgenden Weise fassen können.
Von der atlantischen bis zur späteren nachatlantischen Zeit hat
der indische Volksgeist die ganze Entwickelung der inneren
Seelenkräfte durchgemacht, ohne daß sein Ich erwacht war. Er hat
dann wieder den Weg zurück genommen bis zu seiner Arbeit im
menschlichen Ätherleibe. Das ist das Wesentliche der alten indischen
Kultur, daß mit fertig ausgebildeten Seelenkräften, mit
Seelenkräften, die im höchsten Grade verfeinert waren, der Inder
wiederum hineingeht in den Ätherleib, zurückgeht bis zum Ätherleib
und in demselben jene wunderbar feinen Kräfte ausbildet, deren
späteren Reflex wir in den Veden und in noch verfeinerterem Zustande
in der Vedanta-Philosophie sehen. Das war alles nur möglich dadurch,
daß sich die indische Volksseele bis zu einem hohen Grade entwickelt
hatte, bevor das Ich angeschaut, wahrgenommen worden ist, und schon
wieder zu einer Zeit, als der Mensch mit den Kräften des Ätherleibes
selber sehen konnte. Die persische Volksseele war nicht so weit
gekommen. Die war nur so weit gekommen, in dem Empfindungsleibe oder
Astralleibe wahrzunehmen. Noch anders war es in der
baby-lonisch-chaldäisch-ägyptischen Kultur. Da war es so, daß der
Teil, den wir als die Empfindungsseele bezeichnen, wahrnehmen konnte.
Wir müssen also diese ägyptisch-chaldäische Kultur als eine solche
bezeichnen, welche in der Empfindungsseele arbeitet. Beim
griechisch-lateinischen Volksgeiste war das so, daß er geleitet
worden ist bis zur Verstandes- oder Gemütsseele; in dieser
Verstandes- oder Gemütsseele arbeitete er. An der Verstandes- oder
Gemütsseele konnte er selbst nur dadurch arbeiten, daß diese
Verstandes- oder Gemütsseele wiederum im Ätherleibe eine Art
Ausprägung ihres Wesens hatte. Aber es ist dies gleichsam eine
weniger reale, weniger anschauliche und der Wirklichkeit eingeprägte
Form des Weltbildes, wie es jetzt im Griechentum herauskam. Während
ein unmittelbares Arbeiten im Ätherleibe bei der alten indischen
Kultur da war, ist jetzt ein verwischtes, ein abgeschattetes, ein
matteres Abbild der Wirklichkeit vorhanden, wie ich es charakterisiert
habe dadurch, daß ich sagte: Es ist wie eine Erinnerung an das, was
diese Völker einst erlebt hatten, wie eine Erinnerung, die
zurückstrahlt auf ihren Ätherleib.
Bei den anderen Völkern, die jetzt auf das griechische Volk
folgten, haben wir es zu tun mit dem vorzugsweisen Gebrauche des
physischen Leibes zur stufenweisen Ausbildung der Bewußtseinsseele.
Daher war die griechische Kultur eine solche, die wir nur begreifen
können, wenn wir sie aus dem Innern heraus zu begreifen vermögen;
wenn wir uns klar sind, daß bei ihr als äußere Erfahrung wichtig
ist, was aus dem Innern des Griechen heraussprudelt. Dagegen haben die
Völker, die mehr nach Westen und Norden gelegen sind, die Aufgabe,
unter Leitung ihrer Volksseelen den Blick in die Welt hinauszurichten
und das in der Welt zu sehen, was auf dem physischen Plane zu sehen
ist, auszubilden das, was auf dem physischen Plane eine Rolle spielen
soll. Die germanisch-nordischen Völker hatten noch die besondere
Aufgabe, daß sie das alles so ausbilden sollten, wie sie es ausbilden
konnten, da sie noch die Gnade, die welthistorische Gnade genossen, im
alten Hellsehen hineinzusehen in die geistige Welt und hineinzutragen
die uralten Erfahrungen, die sie wie lebendig empfanden, in das, was
auf dem physischen Plane eingerichtet werden sollte.
Ein Volk gab es, das in seiner späteren Zeit diese Gnade nicht
mehr hatte, ein Volk, das keine solche Vorentwickelung zunächst
durchgemacht hatte, das daher gleichsam wie mit einem Sprung vor die
Geburt des menschlichen Ich auf dem physischen Plane gestellt wurde
und daher nur unter Anleitung seiner Volksseele, seines Erzengels für
alles das sorgen konnte, was dieses menschliche Ich auf dem physischen
Plane förderte, was zur Wohlfahrt dieses menschlichen Ich auf dem
physischen Plane notwendig war. Dies war das römische Volk. Alles,
was das römische Volk unter Anleitung seines Volksgeistes für die
gesamte Mission Europas zu leisten hatte, war dazu bestimmt, dem Ich
des Menschen als solchem Geltung zu verschaffen. Daher konnte das
römische Volk dasjenige ausbilden, was das Ich zwischen die anderen
Iche hineinstellt. Es konnte die ganze Summe der Privatrechte
begründen. Daher wurde es der Schöpfer der Jurisprudenz, die rein
auf das Ich gebaut ist. Wie das Ich dem Ich gegenübersteht, das war
die große Frage in der Mission des römischen Volkes. Die anderen
Völker, die aus der Kultur
des römischen Volkes herausgewachsen sind, hatten schon mehr von
dem, was sozusagen aus der Empfindungsseele, aus der Verstandes- oder
Gemütsseele und aus der Bewußtseinsseele selbst heraus dieses Ich in
irgendeiner Weise befruchtet, dieses Ich in die Welt hineintreibt.
Dazu waren notwendig alle von der äußeren Geschichte aufgezählten
Rassenvermischungen, die auf der italischen und pyrenäischen
Halbinsel, im heutigen Frankreich und im heutigen Großbritannien
zustande gekommen sind, um das Ich nach den verschiedenen Nuancen,
nach der Empfindungsseele, nach der Verstandes- oder Gemütsseele und
nach der Bewußtseinsscele auszubilden auf dem physischen Plan. Das
war die große Mission der Völker, die sich nach und nach im Westen
Europas in der verschiedensten Weise ausgebildet haben. Alle einzelnen
Kulturnuancen und Missionen im Westen Europas finden zuletzt ihre
Erklärung darin, daß in der Richtung nach der italischen und
pyrenäischen Halbinsel hin dasjenige auszubilden war, was durch die
Impulse der Empfindungsseele in das Ich hinein ausgebildet werden
konnte. Studieren Sie die einzelnen Volkscharaktere nach ihren Licht-
und Schattenseiten, da werden Sie finden, daß Sie bei den Völkern
der italischen und pyrenäischen Halbinsel die eigentümliche Mischung
des Ich mit der Empfindungsseele haben. Bei den Völkern aber, die auf
Frankreichs Boden bis in die neueste Zeit herauf gelebt haben, werden
Sie ihre Eigenart begreiflich finden, wenn Sie das Werden und die
Vermischungen der Verstandes- oder Gemütsseele mit dem Ich
betrachten. Die großen, welthistorischen Erfolge aber, als deren
Repräsentant wir Großbritannien betrachten können, sind darauf
zurückzuführen, daß der Impuls der Bewußtseinsseele in das
menschliche Ich hineingedrängt worden ist. Mit dem, was als
welthistorische Mission aus den britischen Ländern hervorging, ist
auch zusammenhängend das, was aus der Begründung der äußeren,
staatsrechtlichen Form hervorging. Die Verbindung der
Bewußtseinsseele mit dem Ich war noch nicht innerlich vorhanden. Wenn
Sie aber durchschauen, wie diese Verbindung der Bewußtseinsseele mit
dem nach außen getriebenen Ich zustande kam, so werden Sie finden,
daß die großen welthistorischen Eroberungen der Bevölkerung jener
Insel von diesem Impulse herrühren. Sie finden aber auch, daß das,
was da geschieht an Begründungen der parlamentarischen
Regierungsformen, sofort verständlich wird, wenn man weiß, daß
damit ein Impuls der Bewußtseinssecle auf den Plan der Weltgeschichte
hingestellt werden sollte.
Es waren also viele Nuancen notwendig, denn durch viele Stufen des
Ich waren die einzelnen Völker zu führen. Wir würden wahre
Geschichtsbilder finden, wenn wir Zeit genug hätten, diese Dinge
weiter zu verfolgen, die uns zeigen, wie die Grundkräfte sich
verzweigen und sich in der verschiedensten Weise auswirken. So wirkte
die Seelenkonstitution bei den westlichen Völkern, die für sich
selbst nicht die unmittelbare, elementare Erinnerung hatten an die
hellseherisch erlebten Dinge der geistigen Welt von früher. Ganz
anders mußte in der späteren Zeit im germanisch-nordischen Gebiet
sich ausbilden dasjenige, was unmittelbar aus einer nach und nach
erfolgten Entwickelung des schon in die Empfindungsseele
hineingegossenen, ursprünglichen Hellsehens hervorging. Daher jener
Zug der Innerlichkeit, der ja nur die Nachwirkung innerlicher, in der
Vorzeit erfolgter hellseherischer Erfahrung ist. Die
südlich-germanischen Völker hatten zunächst ihre Aufgabe auf dem
Gebiet der Bewußtseinsseele. Die griechisch-lateinische Zeit hatte
auszubilden die Verstandes- oder Gemütsseele. Sie hatte aber nicht
bloß den Impuls zu geben mit der Verstandes- oder Gemütsseele, sie
hatte hineinzuwirken mit einer wunderbaren, mit hellseherischer
Erfahrung ausgestatteten vorzeitlichen Entwickelung. Das alles ergoß
sich in die Bewußtseinsseelen der
mitteleuropäisch-nordisch-germanischen Völker. Das wirkte bei diesen
als Seelenanlage nach, und die südlicheren Teile der germanischen
Menschheit hatten zunächst auszubilden das, was dazu gehört, um die
Bewußtseinsseele innerlich vorzubereiten, innerlich mit dem auf den
physischen Plan umgesetzten Bewußtseinsinhalt des alten Hellsehens zu
erfüllen.
Scheinbar liegen weit ab von dem mythologischen Gebiet die
Philosophien Mitteleuropas, diese Philosophien, welche Fichte,
Schelling und Hegel noch im neunzehnten Jahrhundert vertraten. Dennoch
sind sie nichts anderes, als das Resultat des sublimiertesten alten
Hellsehens, des im Innern des Menschen eroberten Zusammenarheitens mit
göttlich-geistigen Mächten. Unmöglich hätte sonst ein Hegel in
seinen Ideen Realitäten sehen können, unmöglich hätte ein Hegel
den sonderbaren Ausspruch tun können, der ihn so sehr
charakterisiert, indem er auf die Frage: «Was ist das Abstrakte?»
antwortet: «Das Abstrakte ist zum Beispiel ein einzelner Mensch, der
seine täglichen Verrichtungen tut, nehmen wir an: ein Zimmermann.»
Dasjenige also, was für den Abstraktling etwas Konkretes ist, das war
für Hegel etwas Abstraktes. Das, was für den Abstraktling nur
Gedanken sind, das waren für ihn große, gewaltige Werkmeister der
Welt. Die Ideenwelt Hegels ist der letzte sublimierteste Ausdruck der
Bewußtseinsseele und enthält in reinen Begriffen das, was der
nordische Mensch noch als sinnlich-übersinnliche, göttlich-geistige
Mächte gesehen hat in Verbindung mit dem Ich. Und als bei Fichte das
Ich zum Ausdruck kam, da war es nichts anderes als der Niederschlag
dessen, was der Gott Thor der menschlichen Seele gegeben hat, von
Fichte nur gesehen aus der Bewußtseinsseele, in dem scheinbar
ärmsten Gedanken, dem Gedanken «Ich bin», von dem die Fichtesche
Philosophie ausgeht. Eine gerade Entwickelungslinie geht von der
Begabung des alten nordischen Volkes mit dem Ich ausströmend durch
den Gott Thor oder Donar aus der Geistwelt bis in diese Philosophie.
Dieser Gott hatte das alles vorzubereiten für die Bewußtseinsseele,
damit sie einen ihr angemessenen Inhalt habe, denn sie ist darauf
angewiesen, in die äußere Welt hineinzuschauen und innerhalb dieser
Welt zu wirken. Aber diese Philosophie findet nicht bloß die
äußere, grobsinnliche, materialistische Erfahrung, sondern sie
findet den Inhalt der Bewußtseinsseele selber in der äußeren Welt
und sieht die Natur nur i an als die Idee in ihrem Anderssein. Nehmen
Sie diesen fortwirkenden Impuls, so haben Sie darin die Mission der
germanisch-nordischen Völker in Mitteleuropa.
Nun müssen wir uns fragen, da alle Entwickelung einen Fortgang zu
nehmen hat: Wie schreitet diese Evolution vorwärts? Wir können da
Merkwürdiges sehen, wenn wir in ältere Zeiten zurückschauen. Wir
haben gesagt: Im alten Indertum fand die erste Kultur im Ätherleibe
statt, nachdem die entsprechende Ausbildung der geistigen Kräfte da
war. Es gibt aber auch noch Kulturen, die sich die alte, atlantische
Kultur bewahrt und sie hineingetragen haben in die Menschen der
nachatlantischen Zeit. Während der Inder von dieser Seite aus an
seinen Ätherleib herankommt und aus diesem heraus, mit den Kräften
desselben, seine gewaltig große Kultur und sein großartiges
Geistesleben schafft, haben wir von der anderen Seite eine Kultur,
welche im Atlantiertum wurzelt und hineinarbeitet in die
nachatlantische Zeit eine Kultur, welche gleichsam zu ihrer
Begründung und Ausbildung die andere Seite des
Ätherleib-Bewußtseins herausarbeitet. Das ist die chinesische
Kultur. Die Einzelheiten der chinesischen Kultur werden Sie begreifen,
wenn Sie diesen Zusammenhang ins Auge fassen und sich erinnern, daß
die atlantische Kultur ein unmittelbares Verhältnis hatte zu dem, was
wir in unseren früheren Darstellungen den «Großen Geist» nannten,
so daß also diese Kultur ein unmittelbares Verhältnis hatte zu den
höchsten Stufen der Weltentwickelung. Aber diese Kultur wirkt noch
hinein in moderne Menschenkörper, und zwar von einer ganz anderen
Seite. Daher wird auch begreiflich erscheinen, daß gerade in diesen
beiden Kulturen einmal zusammenstoßen werden die zwei großen
Gegensätze der nachatlantischen Zeit: das Indertum, das in gewissen
Grenzen entwickelungsfähig ist, und das Chinesentum, das sich
abschließt und starr bleibt, das wiederholt, was in der arten
atlantischen Zeit da war. Man bekommt förmlich den Eindruck von einer
okkult-wissenschaftlich-poetischen Art, wenn man das Chinesenreich in
seiner Entwickelung beobachtet, wenn man an die chinesische Mauer
denkt, die nach allen Seiten hin dasjenige abschließen sollte, was
aus den uralten Zeiten stammte und in der nachatlantischen Zeit sich
entwickelt hatte. Ich sage jetzt, es beschleicht einen etwas wie eine
poetisch-okkulte Empfindung, wenn man die chinesische Mauer vergleicht
mit dem, was es einmal in früheren Zeiten gegeben hat. Ich kann diese
Dinge nur andeuten. Sie werden finden, wenn Sie dies mit den heute
schon vorhandenen wissenschaftlichen Ergebnissen vergleichen, wie
außerordentlich aufschlußgebend diese Dinge sind.
Betrachten wir hellseherisch den alten Kontinent der atlantischen
Welt, den wir zu suchen haben da, wo jetzt der Atlantische Ozean ist,
zwischen Afrika und Europa einerseits und Amerika anderseits. Dieser
Kontinent war umschlossen von einer Art von warmem Strom, von einem
Strom, bezüglich dessen das hellseherische Bewußtsein ergibt, daß
er, so sonderbar es klingen mag, von Süden heraufging, durch die
Baffins-Bai gegen das nördliche Grönland verlaufend und es
umfassend, dann herüberfloß nach Osten, sich allmählich abkühlte,
dann in der Zeit, in welcher Sibirien und Rußland noch lange nicht
zur Erdoberfläche gehoben waren, in der Gegend des Ural hinunterfloß,
sich umkehrte, die östlichen Karpathen berührte, in die Gegend
hineinfloß, wo die heutige Sahara ist, und endlich beim Meerbusen von
Biskaya dem Atlantischen Ozean zuging, so daß er ein ganz
geschlossenes Stromgebiet hatte. Sie werden begreifen, daß dieser
Strom nur noch in den allerletzten Resten vorhanden sein kann. Dieser
Strom ist der Golfstrom, der einst den atlantischen Kontinent
umflossen hat. - Und jetzt werden Sie auch begreifen, daß bei den
Griechen das Seelenleben Erinnerung ist. Es tauchte in ihnen auf das
Bild des Oke-anos, der eine Erinnerung ist an jene atlantische Zeit.
Ihr Weltbild ist nicht so unrichtig, weil es aus der alten
atlantischen Zeit geschöpft ist. - Den Strom, der über Spitzbergen
als warmer Strom herunterkam und nach und nach sich abkühlte usw.,
dieses geschlossene Stromgebiet haben sich die Chinesen förmlich
wiedererschaffen in ihrer von der Mauer umschlossenen, aus der
atlantischen Zeit herübergeretteten Kultur. Das Geschichtliche war in
der atlantischen Kultur noch nicht vorhanden. Daher hat auch die
chinesische Kultur etwas Ungeschichtliches behalten. Daher haben wir
da etwas Vorindisches, etwas aus der Atlantis Stammendes.
Wenden wir uns jetzt zu der Schilderung im Weitergange des
germanisch-nordischen Volksgeistes zu dem, was auf ihn folgt. Was wird
das nächste sein, wenn ein Volksgeist sein Volk so leitet, daß das
Geistselbst sich besonders entwickeln kann? Erinnern wir uns daran,
daß der Ätherleib in der indischen Kultur, der Empfindungsleib in
der persischen Kultur, die Empfindungsseele in der
ägyptisch-chaldäischen Kultur, die Verstandes- oder Gemütsseele in
der griechisch-lateinischen Kultur, die Bewußt-seinsseele in unserer,
noch nicht abgeschlossenen Kultur zur Entwickelung kommt. Nun folgt
aber das Ergreifen des Geistselbst durch die Bewußtseinsseele, so
daß hineinleuchtet das Geistselbst in die Bewußtseinsseele, was als
Aufgabe der sechsten Kulturstufe nach und nach vorbereitet werden muß.
Diese Kultur, die im eminentesten Sinne eine empfängliche Kultur sein
muß, denn sie muß hingebungsvoll das Hereindringen des Geistselbst
in die Bewußtseinsseele abwarten, wird vorbereitet durch die Völker
Westasiens und die vorgeschobenen slawischen Völker Osteuropas. Die
letzteren sind aus gutem Grunde mit ihren Volksseelen vorgeschoben,
aus dem Grunde, weil alles, was in Zukunft kommen wird, in einer
gewissen Weise seine Vorbereitung vorher erfahren muß, sich schon
hineinschieben muß, um die Elemente für das Spätere abzugeben. Im
höchsten Grade interessant ist es, diese vorgeschobenen Posten einer
für die späteren Epochen sich vorbereitenden Volksseele zu
studieren. Daher das Eigenartige der für uns zunächst östlich
wohnenden slawischen Völker. Ihre ganze Kultur mutet den
Westeuropäer an als sich im Vorbereitungsstadium befindend, und in
sonderbarer Weise schieben sie vor, durch die Medien ihrer
vorgeschobenen Posten, dasjenige, was dem Geiste nach etwas ganz
anderes ist, als irgendeine Mythologie. Es würde verkennen heißen
dasjenige, was von Osten herüber vorgeschoben wird als zu erwartende
Kultur, es würde diese Kultur verkennen heißen, wenn man sie
vergleichen wollte mit dem, was die westeuropäischen Völker in sich
haben, die einen geradlinig fortlaufenden Impuls, der noch im alten
Hellsehen seine Wurzel und Quelle hat, besitzen. Das Eigenartige,
wodurch sich die Seele dieser osteuropäischen Völker darlebt, das
drückt sich in dem ganzen Verhältnis aus, das diese Völker immer
offenbarten, wenn ihre Beziehungen zu den höheren Welten in Betracht
kamen. Diese Beziehung ist, wenn wir sie mit dem vergleichen, was sich
in unseren Mythologien, in Westeuropa, zeigt, mit den sonderbaren, bis
ins Individuelle ausgearbeiteten Götterfiguren, etwas ganz anderes.
Sie tritt uns so entgegen, daß wir das, was sie uns gibt als
unmittelbaren Ausfluß des Volkswesens vergleichen können mit unsern
verschiedenen Planen oder Welten, durch die wir uns vorbereiten zum
Begreifen einer geistigen, höheren Kultur. Da finden wir zum Beispiel
im Osten folgende Vorstellung: Empfangen hat der Westen
aufeinanderfolgende, nebeneinanderliegende Welten. Wir haben da
zunächst ein deutliches Bewußtsein von einer Welt des kosmischen
Vaters. Alles dasjenige, was in Luft und Feuer, was überhaupt in den
Elementen, die in und über der Erde sich finden, schöpferisch tätig
ist, das tritt uns wie in einem großen, umfassenden Gesamtbegriffe,
der zugleich Gesamtempfindung ist, entgegen als der Begriff des
Himmelsvaters. So wie wir uns etwa die Welt des Devachan unsere Erde
befruchtend denken, so tritt uns diese Himmelswelt, diese väterliche
Welt, von Osten her entgegen, und sie befruchtet dasjenige, was als
Mütterliches empfunden wird, den Geist der Erde. Wir haben keinen
anderen Ausdruck und kein anderes Mittel, als den gesamten Geist der
Erde unter dem Bilde des Befruchtetwerdens des mütterlichen
Erdenwesens uns zu denken. Da stehen sich dann zwei Welten gegenüber,
nicht einzelne, individuelle Götterfiguren. Und als eine dritte Welt
steht jenen zwei Welten dasjenige gegenüber, was man als das
Segenskind der beiden empfindet. Das ist nicht ein individuelles
Wesen, nicht eine Empfindung der Seele, sondern etwas, was das
Erzeugnis des Himmelsvaters und der Erdenmutter ist. So wird, aus der
geistigen Welt heraus, das Verhältnis von Devachan zur Erde
empfunden. Was da entsteht als der Segner, als der Frühling und als
das, was da sprießt und sproßt im materiellen Leibe, das wird
durchaus als Geistiges empfunden, und was das sproßt und sprießt in
der Seele, das wird empfunden als die Welt, die zugleich empfunden
wird als Segenskind vom Himmelsvater und der irdischen Mutter. So
universell die^e Vorstellungen auch sind, wir finden sie bei den
vorgeschobenen slawischen Völkern, die nach Westen vorgedrungen sind.
Als so universelle Empfindung finden wir das bei keiner
westeuropäischen Mythologie. Da finden wir klar ausgearbeitete
Göttergestalten, aber nicht dasjenige, was wir in unsern geistigen
Planen darstellen; diese finden wir mehr in dem Himmelsvater, in der
irdischen Mutter und dem Segenskinde des Ostens. In dem Segenskinde
ist wieder eine Welt darinnen, die eine andere durchdringt. Das ist
die Welt, welche allerdings schon individuell vorgestellt wird, weil
sie an die physische Sonne mit ihrem Licht geknüpft ist. Dieses
Wesen, das uns vielfach in der persischen Mythologie entgegengetreten
ist, hat auch - allerdings in einer anders ausgebildeten Empfindungs-
und Vorstellungsform - das slawische Element; es hat das Sonnenwesen,
das seine Segnungen hineingießt in die anderen drei Welten, so daß
das Schicksal des Menschen eingesponnen ist in die Schöpfung, in die
gegebene Erde, durch die Befruchtung der Erdenmutter mit dem
Himmelsvater und durch das, was hineinspinnt der Sonnengeist in diese
beiden Welten. Eine fünfte Welt ist das, was alles Geistige umfaßt.
Es empfindet das osteuropäische Element in allen Naturkräften und
Geschöpfen die zugrunde liegende geistige Welt. Aber die müssen wir
uns in einer ganz anderen Empfindungsnuance denken, vielleicht mehr
mit den Naturwesen, Naturtatsachen und Naturschöpfungen verknüpft.
Wir müssen uns vorstellen, daß diese östliche Seele in der Lage
ist, in einem Naturvorgange Wesen zu sehen, nicht bloß das
Äußerlich-Physisch-Sinnliche, sondern das Astral-Geistige. Daher die
Vorstellungen einer ungeheuren Anzahl von Wesenheiten in dieser
eigenartigen geistigen Welt, die sich höchstens vergleichen läßt
mit der Welt der Lichtelfen. Die geistige Welt, welche von den
geisteswissenschaftlichen Vorstellungen als die fünfte Welt angesehen
wird, ist ungefähr die Welt, die da aufdämmert dem Volksgemüte des
Ostens. Ob Sie sie mit diesem oder jenem Namen benennen, darauf kommt
es nicht an, aber darauf kommt es an, daß die Empfindungen nuanciert
und schattiert sind, daß die Vorstellungen, durch welche dieser
fünfte Plan oder diese fünfte geistige Welt charakterisiert worden
ist, sich in der Welt des Ostens findet. Mit dieser Empfindung
arbeitete diese Welt des Ostens demjenigen Geiste vor, der das
Geistselbst in die Menschen hineinbringen soll, für jene Epoche, wo
aufsteigen soll die Bewußtseinsseele zum Geistselbst im sechsten
nachatlantischen Kulturzeitraum, der unseren fünften ablösen wird.
In einer höchst eigenartigen Weise tritt uns das nicht nur in den
Schöpfungen der Volksseelen entgegen, die so sind, wie ich sie eben
charakterisiert habe, sondern auch in einer wunderbar vorbereitenden
Weise in den mancherlei anderen Äußerungen Osteuropas und seiner
Kultur.
Es ist sehr merkwürdig und im höchsten Grade interessant, wie
dieser Osteuropäer seine Anlage für Empfänglichkeit dem reinen
Geiste gegenüber dadurch ausdrückt, daß er die westeuropäische
Kultur mit großer Hingebung aufnahm, dadurch prophetisch andeutend,
daß er noch Größeres mit seinem Wesen wird vereinigen können.
Daher auch das geringe Interesse, das er den Einzelheiten dieser
westeuropäischen Kultur entgegenbringt. Er nimmt das sich Darbietende
mehr in großen Zügen und weniger in den Einzelheiten auf, weil er
sich vorbereitet, dasjenige sich anzueignen, was als Geistselbst in
die Menschheit hineintreten wird. Insbesondere interessant ist es zu
sehen, wie unter diesem Einfluß im Osten ein viel fortgeschrittenerer
Christus-Begriff hat zustande kommen können als in Westeuropa, soweit
er dort nicht durch die Geisteswissenschaft zustande gekommen ist. Von
allen ihr Fernstehenden hat den fortgeschrittensten Christus-Begriff
der russische Philosoph Solowjow. Er hat einen solchen
Christus-Begriff, daß er nur von Schülern der Geist-Erkenntnis
verstanden werden kann, weil er ihn immer weiter hinaufentwickelt und
in unendlicher Perspektive zeigt, so daß von ihm gezeigt wird, daß
das, was heute die Menschen davon erkennen, nur der Anfang ist, weil
der Christus-Impuls erst wenig der Menschheit offenbaren konnte von
dem, was er in sich enthält. Aber wenn wir in bezug auf den
Christus-Begriff hinschauen, wie er zum Beispiel bei Hegel gefaßt
ist, so werden wir finden, daß man sagen kann: Hegel faßt ihn so,
wie die feinste, die sublimierteste Bewußtseinsseele ihn fassen kann.
Ganz anders aber tritt uns der Christus-Begriff bei Solowjow entgegen.
Da wird die Zweigliedrigkeit im Christus-Begriffe klar, und es wird
alles dasjenige abgelehnt, was in den verschiedensten theologischen
Streitigkeiten zum Ausdruck gekommen ist und was im Grunde genommen
auf tiefen Mißverständnissen beruht, weil gewöhnliche Begriffe
nicht ausreichen, um den Christus-Begriff in seiner zweifachen
Wesenheit verständlich zu machen, nicht ausreichen, um zu verstehen,
daß das Menschliche und das Geistige darin genau unterschieden werden
müssen. Gerade darauf beruht der Christus-Begriff, daß genau gefaßt
wird, was geschah, als in den Menschen Jesus von Nazareth, der
ausgebildet hatte alle erforderlichen Eigenschaften, der Christus
hineinkam. Da hat man dann zwei Naturen darinnen, die zunächst
erfaßt werden müssen, obwohl sie sich auf einer höheren Stufe
wieder in eine Einheit zusammenfassen. So lange hat man den Christus
nicht in seiner vollen Gestalt erfaßt, als man diese Zweigliedrigkeit
nicht erfaßt hat. Dies kann aber nur dasjenige philosophische
Erfassen, das vorausahnt, daß der Mensch selber in eine Kultur
hineinkommen wird, wo seine Bewußtseinsseele in dem Zustand sein
wird, daß das Geistselbst ihm zukommen kann, so daß der Mensch sich
in dieser sechsten Kulturperiode als eine Zweiheit fühlen wird, bei
der die höhere Natur die niedere in Zaum und Zügel halten wird.
Diese Zweigliedrigkeit trägt Solowjow in seinen Christus-Begriff
hinein und macht ausdrücklich geltend, daß der Christus-Begriff nur
dann einen Sinn haben kann, wenn man eine göttliche und eine
menschliche Natur annimmt, die nur dadurch, daß sie real
zusammenwirken, daß sie nicht eine abstrakte, sondern eine organische
Einheit sind, begriffen werden können. Solowjow erkennt bereits, daß
in diesem Wesen zwei Willenszentren vorgestellt werden müssen. Wenn
Sie die Solowjowschen Theorien von der wahren Bedeutung der
Christus-Wesenheit nehmen, wie sie durch das Vorhandensein des nicht
bloß gedachten, sondern spirituell wirklichen indischen Einflusses
entstanden, dann haben Sie da den Christus so, daß in ihm ausgebildet
ist in den drei Leibern das Moment des Fühlens, das Moment des
Denkens und das Moment des Wollens. Sie haben da ein menschliches
Fühlen, Denken und Wollen, in das sich hineinsenkt das göttliche
Fühlen, Denken und Wollen. Das wird die europäische Menschheit erst
ganz verarbeiten, wenn sie zur sechsten Kulturstufe hinaufgestiegen
sein wird. Prophetisch ist das in wunderbarer Weise zum Ausdruck
gekommen in dem, was bei Solowjow als Christus-Begriff wie die
Morgenröte einer späteren Kultur voranleuchtet. Daher geht diese
Philosophie des östlichen Europa mit solchen Riesenschritten über
das Hegeltum und den Kantianismus hinaus, und man fühlt, wenn man in
die Atmosphäre dieser Philosophie kommt, plötzlich etwas wie einen
Keim einer späteren Entfaltung. Das geht deshalb so weit, weil dieser
Christus-Begriff als ein prophetisches Voranleuchten, als die
Morgenröte der sechsten nachatlantischen Kultur empfunden wird.
Dadurch wird das ganze Christus-Wesen und die ganze Bedeutung des
Christus-Wesens für die Philosophie in den Mittelpunkt gerückt, und
es wird dadurch zu etwas ganz anderem als dem, was die
westeuropäischen Begriffe davon zu geben vermögen. Der
Christus-Begriff, soweit er auf nicht geisteswissenschaftlichem
Gebiete ausgearbeitet ist und begriffen wird als lebendige Substanz,
die hineinarbeiten soll wie eine geistige Persönlichkeit in alles
staatliche und soziale Wesen, - der empfunden wird wie eine
Persönlichkeit, in deren Dienerschaft sich der Mensch als «Mensch
mit dem Geistselbst» befindet, diese Christus-Persönlichkeit wird in
einer wunderbar plastischen Weise ausgearbeitet in den verschiedenen
Auseinandersetzungen, die Solowjow gibt über das Johannes-Evangelium
und seine Eingangsworte. Wiederum nur auf geisteswissenschaftlichem
Felde kann sich ein Verständnis für das finden, wie bei Solowjow
tief erfaßt wird der Satz: «Im Urbeginne war das Wort oder der
Logos», wie anders das Johannes-Evangelium gerade erfaßt wird durch
eine Philosophie, bei der gefühlt werden kann, daß sie eine keimende
Philosophie ist, daß sie in einer merkwürdigen Weise in die Zukunft
hineinweist.
Wenn man auf der einen Seite sagen muß, daß Hegel auf
philosophischem Gebiete eine reifste Frucht darstellt, etwas, was als
reifste philosophische Frucht aus der Bewußtseinsseele herausgeboren
ist, so ist auf der anderen Seite diese Philosophie Solowjows der Keim
in der Bewußtseinsseele für die Philosophie des Geistselbst, das in
der sechsten Kulturperiode eingegliedert wird. Es gibt vielleicht
keinen größeren Gegensatz, als den im eminentesten Sinne
christlichen Staatsbegriff, der als hohes Ideal dem Solowjow wie ein
Traum der Zukunft vorschwebt, diesen christlichen Staats- und
Volksbegriff, der alles, was da ist, nimmt, um es darzubringen dem
herabströmenden Geistselbst, um es der Zukunft entgegenzuhalten, um
es von den Gewalten der Zukunft duichchristen zu lassen - es gibt also
keinen größeren Gegensatz, als diesen Begriff der im Solowjowschen
Sinne gehaltenen christlichen Gemeinschaft, wobei der Christus-Begriff
ein ganz zukünftiger ist, und den Begriff des Gottesstaates des
heiligen Augustinus, der den Christus-Begriff zwar aufnimmt,
aber den Staat so konstruiert, daß er der römische Staat ist, der
den Christus aufnimmt in die Vorstellung vom Staate, die ihm der
römische Staat gegeben hat. Das, worauf es ankommt, ist dasjenige,
was das Wissen abgibt für das in die Zukunft hineinwachsende
Christentum. Im Solowjowschen Staate ist der Christus das Blut, das
alles soziale Zusammenleben durchrinnt. Und das Wesentliche ist, daß
der Staat gedacht wird mit aller Konkretheit der Persönlichkeit, so
daß er zwar als geistiges Wesen wirken, aber auch mit allen
Charaktereigentümlichkeiten der Persönlichkeit seine Mission
erfüllen wird. So sehr durchdrungen von dem Christus-Begriff, der uns
vorleuchtet in der Geisteswissenschaft auf höheren Höhen, und dabei
so sehr im Keime geblieben ist keine andere Philosophie. Alles, was
wir im Osten finden, vom Volksgemüt angefangen bis hinauf zur
Philosophie, das erscheint uns als etwas, das erst den Keim einer
zukünftigen Entwickelung in sich trägt, und das deshalb auch die
besondere Erziehung jenes Zeitgeistes sich hat angedeihen lassen
müssen, den wir schon kennen, nachdem wir gesagt haben, daß der
Zeitgeist des alten griechischen Volkes, als Impuls dem Christentum
gegeben, mit der Mission versehen worden ist, der wirkende Zeitgeist
für das spätere Europa zu werden. Demjenigen Volksgemüt, das die
Keime für den sechsten Kulturzeitraum auszubilden haben wird, hat
dieser Zeitgeist nicht allein Erzieher, sondern Pfleger sein müssen
von der ersten Stufe des Daseins an. So können wir förmlich sagen -
wobei Vater- und Mutterbegriff ihren getrennten Sinn verlieren -, daß
das, was russisches Volksgemüt ist und sich allmählich zur
Volksseele entwickeln soll, nicht nur erzogen, sondern ernährt,
gesäugt worden ist von demjenigen, wovon wir gesehen haben, daß es
aus dem alten griechischen Zeitgeist heraus gebildet worden ist und
dann einen anderen Rang nach außen angenommen hat. So verteilen sich
die Missionen zwischen West-, Mittel- und Nord-Europa und dem Osten
Europas. Eine Andeutung von diesen Dingen wollte ich Ihnen geben. Wir
werden auf der Grundlage dieser Andeutungen noch einige Betrachtungen
anstellen und zeigen, wie sich die europäische Zukunft ausnehmen
wird, die gelten lassen wird, daß wir unsere Ideale aus solchen
Erkenntnissen heraus bilden müssen; wir werden zeigen, wie sich der
germanisch-nordische Volksgeist durch diesen Einfluß nach und nach zu
einem Zeitgeiste umwandelt.