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Rudolf Steiner

FAUST UND HAMLET

Das Goetheanum, I 34, 2. April 1922

Goethe hat, auf seine Seelenentwickelung im reifen Alter zurückblickend, drei Persönlichkeiten genannt, die auf ihn den größten Einfluß gehabt haben: Linné, der Naturforscher, Spinoza, der Philosoph, und Shakespeare, der Dichter. Zu Linné hat er sich in Gegensatz gestellt, und ist dadurch zu seinen Anschauungen über Pflanzen- und Tierformen gekommen; von Spinoza hat er die Ausdrucksweise genommen, um eine Gedankensprache zu haben für seine Weltanschauung, die innerlich umfassender, reicher war, als diejenige des Philosophen; in Shakespeare fand er den Geist, der seine Dichterkraft so belebte, wie das den innersten Anforderungen seines eigenen Wesens gemäß war.

Wer Goethe nachempfindet, was er innerlich durchgemacht hat, als er die Seelenkämpfe erlebte, die aus Götz und Werther sich offenbaren, der kann auch eine Vorstellung davon bekommen, was in ihm vorging, als er sich zuerst in Hamlet versenkte.

Man erhält einen tiefen Eindruck davon, wenn man Goethes Gedanken nimmt, in denen er von Shakespeare wie von einem Interpreten des Weltgeistes selber spricht. Was dieser in den Offenbarungen der Natur verschweigt, das spricht Shakespeares Genius aus. In solche Vorstellungen faßt Goethe seine Empfindung von Shakespeare.

Was man heute Intellektualismus nennt, das durchdringt das Seelenleben der Menschheit erst seit etwa fünf Jahrhunderten. Es hat sich erst allmählich in das Innere der Menschen eingewurzelt. In den Anschauungen, welche man über Welt und Leben vorher hatte, lebte eine andere Art der Seelenverfassung. Das Begreifen durch den Gedanken spielte eine untergeordnete Rolle.

In Goethes Seele ist ein Kampf sichtbar gegen das Eindringen der Gedankenherrschaft. Er möchte noch mit anderen Seelenkräften die Welt innerlich erleben. Aber das äußere Geistesleben, von dem er umgeben ist, formt den Gedanken zu dem tonangebenden Element im Seelendasein. Für ihn wird das Gefühl: kann man in Gedanken der Welt nahe kommen, zum erschütternden Innenerlebnis.

Aus dieser Erschütterung wird seine Faustgestalt geboren. Faust hat, so wie ihn Goethe darstellt, zehn Jahre als Lehrer in einem Zeitalter gewirkt, in dem der Intellektualismus erst im Entstehen war. Dieser hatte noch eine schwache Kraft über das Menschengemüt. Faust empfindet ihn noch nicht in Philosophie, Juristerei, Medizin und Theologie als Überzeugung bringende Kraft. Er kann als Mann der Wissenschaft noch zurückverfallen in die Seelenverfassung einer früheren Epoche, in der der Mensch Geistiges in der Natur unmittelbar, ohne die Vermittelung des Intellektes erlebte. Er will zur unvermittelten Geistanschauung kommen. Was in Faust vorgeht in diesem Schwanken zwischen Gedankenerleben und Geistanschauung, das war für den jungen Goethe Seelenkampf.

Hamlet, andere Gestalten Shakespeares, stellten sich vor Goethes Inneres, als er diesen Seelenkampf durchmachte. Hamlet, der seine Lebensaufgabe aus Seelenerlebnissen erhält, die sich ihm als Verkehr mit der Geistwelt darstellen, und der nicht nur in herbe Zweifel, sondern in Tatenlosigkeit geworfen wird durch die Macht seines Intellektes. In Seelenabgründe blickt man bei Hamlets Worten:

«Der angebornen Farbe der Entschließung Wird des Gedankens Blässe angekränkelt.»

Der junge Goethe hat oft in diesen Abgrund geblickt. Und diese Blicke haben seine Empfindung für Hamlets Charakter geschärft. Man wird in der Nachempfindung von Goethes Seelenleben von der Hamlet-Stimmung zu der Faust-Stimmung geführt. Man erlebt dabei ein Stück Goethe-Biographie. Es muß nicht belegt werden durch die äußeren Dokumente. Es braucht auch gar nicht im gewöhnlichen Sinne historisch zu sein. Und doch kann es mehr Geschichte spiegeln, als was man gewöhnlich so nennt.

Man kommt zu dem Bilde: Faust, wie er in Goethe lebt, der Lehrer aus einer Seelenverfassung heraus, die hin- und herschwankt zwischen Intellekt und Geistanschauung. Er lehrt in diesem Schwanken zehn Jahre seine Schüler. Man denke sich unter diesen Schülern Hamlet, nicht den der dänischen Sage, sondern den, der in Shakespeares Drama vor dem Leser steht. Goethe hat im Faust den Lehrer hingestellt, der Hamlets «angeborener Farbe der Entschließung» des «Gedankens Blässe angekränkelt» haben kann. So angesehen wird Shakespeare der Dichter, der einen Charakter aus der Dämmerzeit von Mittelalter und Neuzeit vor der Seele hat; Goethe derjenige, der in die Weltanschauungsstimmung dringen will, in der solche Charaktere erwachsen.

In vielen Gestalten Shakespeares konnte Goethe den Abglanz dieser Dämmerzeit empfinden. Das brachte ihm Shakespeare so nahe. Denn das hing zusammen mit seinem Kunstgefühle. In dieses Kunstgefühl drang der Intellektualismus Spinozas ein. In Spinoza lebte bereits der Gedanken-Geist, der dem Denken der neuern Menschheit die Seelenorientierung gibt. Für Goethe wurde dieser «Spinozismus» erst erträglich, als er vor den italienischen Kunstwerken stand, und in ihnen künstlerisch jene «Notwendigkeit» der schöpferischen Naturkräfte empfinden konnte, die ihm bei Spinoza im bloßen Gedankenkleide entgegengetreten war. Er hatte Spinozas Philosophie in Gemeinschaft mit Herder aufgenommen; doch erst in Italien konnte er im Anblicke der Kunst schreiben, was er beim Lesen des Spinoza nicht konnte: «Da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.» Goethe bedurfte, um in der Kunst sicheren Boden zu fühlen, einer Weltanschauung; aber diese Weltanschauung mußte die Kunst wie eines ihrer Wesensglieder in sich schließen; nicht es neben sich gestellt haben. Aus der Natur offenbarte sich für Goethe der schaffende Weltgeist; in Shakespeare fand er den Künstler, der diesen Weltgeist in seinem Schaffen selbst offenbarte.

Goethe hat tief gefühlt, wie der Mensch nach Wissenschaft aus dem Wesen seines Innern heraus streben muß; aber er fühlte nicht weniger, wie in diesem Streben der Gedanke sich in Weltenferne verirren kann. Bei Spinoza fühlte sich Goethe in dieser Gefahr; bei Shakespeare fühlte er die Weltennähe der unmittelbaren künstlerischen Anschauung. Und Goethe hat dieses sein Verhältnis zu Shakespeare selbst mit den Worten ausgesprochen: «Eine Notwendigkeit, die mehr oder weniger oder völlig alle Freiheit ausschließt» - wie in den Alten -, «verträgt sich nicht mehr mit unsern Gesinnungen; diesen hat jedoch Shakespeare auf seinem Wege sich genähert; denn indem er das Notwendige sittlich macht, so verknüpft er die alte und die neue Welt zu unserm freudigen Erstaunen.»

Für Goethe wurde Shakespeare der Genius, der ihm in seiner Jugend den Weg in die «neue Welt» wies, weil Shakespeare in der dramatischen Menschengestaltung die Notwendigkeit des Naturwirkens mit der Freiheit des Gedankenlebens in jenem Schweben zu halten wußte, das von dem neuzeitlichen Menschen gefühlt werden muß, wenn er im Gedanken nicht die Wirklichkeit verlieren will.

 

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