DIE ERZIEHUNG DES KINDES
VOM GESICHTSPUNKTE DER GEISTESWISSENSCHAFT
«Lucifer-Gnosis» 1907 (Nr. 33)
Rudolf Steiner
Das gegenwärtige Leben stellt mancherlei in Frage,
was der Mensch von seinen Vorfahren ererbt hat. Deshalb zeitigt es so
viele «Zeitfragen» und «Zeitforderungen». Was für «Fragen»
durchschwirren doch heute die Welt: die soziale Frage, die
Frauenfrage, die Erziehungs- und Schulfragen, die Rechtsfragen, die
Gesundheitsfragen usw. usw. Mit den mannigfaltigsten Mitteln sucht man
diesen Fragen beizukommen. Die Zahl derer, welche mit diesem oder
jenem Rezepte auftauchen, um diese oder jene Frage zu «lösen», oder
wenigstens etwas zu ihrer Lösung beizutragen, ist eine unermeßlich
große. Und alle möglichen Schattierungen in der menschlichen
Stimmung machen sich dabei geltend: der Radikalismus, der sich
revolutionär gebärdet, die gemäßigte Stimmung, welche, mit Achtung
des Bestehenden, ein Neues daraus entwickeln möchte, und der
Konservativismus, der sogleich in Aufregung gerät, wenn irgend etwas
von alten Einrichtungen und Traditionen angetastet wird. Und neben
diesen Hauptstimmungen treten alle möglichen Zwischenstufen auf.
Wer einen tieferen Blick ins Leben zu werfen
vermag, der wird sich allen diesen Erscheinungen gegenüber Eines
Gefühls nicht erwehren können. Es besteht darinnen, daß unsere Zeit
den Anforderungen, welche an die Menschen gestellt werden, vielfach
mit unzulänglichen Mitteln gegenübertritt. Viele möchten das Leben
reformieren, ohne es in seinen Grundlagen wirklich zu kennen. Wer
Vorschläge machen will, wie es in der Zukunft geschehen soll, der
darf sich nicht damit begnügen, das Leben nur an seiner Oberfläche
kennenzulernen. Er muß es in seinen Tiefen erforschen.
Das ganze Leben ist wie eine Pflanze, welche nicht
nur das enthält, was sie dem Auge darbietet, sondern auch noch einen
Zukunftszustand in ihren verborgenen Tiefen birgt. Wer eine Pflanze
vor sich hat, die erst Blätter trägt, der weiß ganz gut, daß nach
einiger Zeit an dem blättertragenden Stamm auch Blüten und Früchte
sein werden. Und im Verborgenen enthält schon jetzt diese Pflanze die
Anlagen zu diesen Blüten und Früchten. Wie aber soll jemand sagen
können, wie diese Organe aussehen werden, der nur das an der Pflanze
erforschen wollte, was sie gegenwärtig dem Auge darbietet. Nur der
kann es, der sich mit dem Wesen der Pflanze bekannt gemacht
hat.
Auch das ganze menschliche Leben enthält die
Anlagen seiner Zukunft in sich. Um aber über diese Zukunft etwas
sagen zu können, muß man in die verborgene Natur des Menschen
eindringen. Unsere Zeit hat aber dazu keine rechte Neigung. Sie
beschäftigt sich mit dem, was an der Oberfläche erscheint und glaubt
ins Unsichere zu kommen, wenn sie zu demjenigen vordringen soll, das
sich der äußeren Beobachtung entzieht. Bei der Pflanze ist die Sache
allerdings wesentlich einfacher. Der Mensch weiß, daß ihresgleichen
so und so oft Blüten und Früchte getragen haben. Das Menschenleben
ist nur einmal vorhanden; und die Blüten, welche es in der Zukunft
tragen soll, waren noch nicht da. Dessenungeachtet sind sie im
Menschen ebenso als Anlagen vorhanden wie die Blüten in einer
gegenwärtig erst blättertragenden Pflanze.
Und es gibt eine Möglichkeit, über diese Zukunft
etwas zu sagen, wenn man unter die Oberfläche der Menschennatur bis
zu ihrem Wesen vordringt. Die verschiedenen Reformideen der Gegenwart
können erst wirklich fruchtbar und praktisch werden, wenn sie aus
einer solchen tieferen Erforschung des Menschenlebens heraus gemacht
werden.
Die Aufgabe, eine das Wesen des Menschenlebens
umfassende praktische Weltauffassung zu geben, muß ihrer ganzen
Anlage nach die Geisteswissenschaft haben. Ob das, was heute vielfach
so genannt wird, berechtigt ist, einen solchen Anspruch zu erheben,
darauf kommt es nicht an. Es handelt sich vielmehr um das Wesen der
Geistes Wissenschaft, und darum, was sie diesem Wesen nach sein kann.
Nicht eine graue Theorie soll sie sein, welche der bloßen
Erkenntnisneugierde entgegenkommt, und auch nicht ein Mittel für
einige Menschen, welche
aus Selbstsucht für sich eine höhere Stufe
der Entwickelung haben möchten. Sie kann sein ein Mitarbeiter
an den wichtigsten Aufgaben der gegenwärtigen Menschheit, an der
Entwickelung zu deren Wohlfahrt1.
Sie wird allerdings damit rechnen müssen,
mancherlei Anfechtungen und Zweifel zu erfahren, wenn sie sich gerade
eine solche Mission zuerkennt. Radikale und Gemäßigte, sowie
Konservative auf allen Gebieten des Lebens werden ihr solche Zweifel
entgegenbringen müssen. Denn sie wird es zunächst keiner Partei
recht machen können, weil ihre Voraussetzungen weit jenseits alles
Parteigetriebes liegen.
Diese Voraussetzungen wurzeln nämlich einzig und
allein in der wahren Lebenserkenntnis. Wer das Leben erkennt, der wird
nur aus dem Leben selbst heraus sich seine Aufgaben stellen können.
Er wird keine Willkürprogramme aufstellen; denn erweiß, daß
in der Zukunft keine anderen Grundgesetze des Lebens herrschen werden
als in der Gegenwart. Der Geistesforschung wird daher notwendigerweise
die Achtung vor dem Bestehenden zukommen. Mag sie in demselben noch so
viel Verbesserungsbedürftiges finden: sie wird nicht ermangeln, in
diesem Bestehenden selbst die Keime zur Zukunft zu sehen. Aber sie
weiß auch, daß in allem Werden ein Wachsen und eine Entwickelung
ist. Deshalb werden ihr in dem Gegenwärtigen die Keime zu einer
Umwandlung, zu einem Wachstum erscheinen. Sie erfindet keine
Programme, sie liest sie ab aus dem, was ist. Aber, was sie so liest,
wird in gewissem Sinne selbst Programm, denn es trägt eben die Natur
der Entwickelung in sich.
Gerade deshalb muß die geisteswissenschaftliche
Vertiefung in das Wesen des Menschen die fruchtbarsten und am meisten
praktischen Mittel liefern bei der Lösung der wichtigsten
Lebensfragen der Gegenwart.
Hier soll dies für eine solche Frage
gezeigt werden, für die Erziehungsfrage. Nicht Forderungen und
Programme sollen aufgestellt, sondern die Kindesnatur soll
einfach beschrieben Werden. Aus dem Wesen des werdenden Menschen
heraus werden sich wie von selbst die Gesichtspunkte für die
Erziehung ergeben.
Will man dieses Wesen des werdenden Menschen
erkennen, so muß man ausgehen von einer Betrachtung der verborgenen
Natur des Menschen überhaupt.
Das, was die Sinnesbeobachtung am Menschen
kennenlernt, und was die materialistische Lebensauffassung als das
Einzige im Wesen des Menschen gelten lassen will, ist für die
geistige Erforschung nur ein Teil, ein Glied der Menschennatur,
nämlich sein physischer Leib. Dieser physische Leib unterliegt
denselben Gesetzen des physischen Lebens, er setzt sich aus denselben
Stoffen und Kräften zusammen wie die ganze übrige sogenannte leblose
Welt. Die Geisteswissenschaft sagt daher: der Mensch habe diesen
physischen Leib mit dem ganzen Mineralreich gemeinsam. Und sie
bezeichnet am Menschen nur als physischen Leib, was dieselben Stoffe
nach denselben Gesetzen zur Mischung, Verbindung, Gestaltung und
Auflösung bringt, die auch in der mineralischen Welt als Stoffe nach
eben diesen Gesetzen wirken.
Über diesen physischen Leib hinaus erkennt nun die
Theosophie noch eine zweite Wesenheit im Menschen an: den Lebensleib
oder Ätherleib. Der Physiker möge sich an der Bezeichnung
«Ätherleib» nicht stoßen. «Äther» bezeichnet hier etwas
anderes, als den hypothetischen Äther der Physik. Man nehme die Sache
einfach als Bezeichnung für das hin, was in dem Folgenden beschrieben
wird.
Es ist vor einiger Zeit als ein im höchsten Sinne
unwissenschaftliches Beginnen aufgefaßt worden, von einem solchen
«Ätherleib » zu sprechen. Am Ende des achtzehnten und in der ersten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war es allerdings nicht
«unwissenschaftlich». Da sagte man sich, die Stoffe und Kräfte, die
in einem Mineral wirken, können aus sich selbst heraus nicht sich zum
Lebewesen gestalten. Diesem muß noch eine besondere «Kraft»
innewohnen, die man als «Lebenskraft» bezeichnete. Man stellte sich
etwa vor, daß in einer Pflanze, in dem Tier, im Menschenleibe eine
solche Kraft wirke und die Lebenserscheinungen hervorbringe, wie die
magnetische Kraft in dem Magneten die Anziehung bewirkt. In der
nachfolgenden Zeit des Materialismus ist eine solche Vorstellung
beseitigt worden. Man sagte da, ein lebendiges Wesen baue sich in
derselben Art auf wie ein sogenanntes lebloses; es herrschen im
Organismus keine anderen Kräfte als im Mineral; sie wirken nur
komplizierter; sie bauen ein zusammengesetzteres Gebilde auf.
Gegenwärtig halten nur noch die starrsten Materialisten an dieser
Ableugnung der «Lebenskraft» fest. Einer Reihe von Naturdenkern
haben die Tatsachen gelehrt, daß man doch so etwas annehmen müsse
wie Lebenskraft oder Lebensprinzip.
So kommt auf diese Art die neuere Wissenschaft in
einem gewissen Sinne dem nahe, was die Geisteswissenschaft in bezug
auf den Lebensleib sagt. Doch ist ein erheblicher Unterschied zwischen
beiden. Die gegenwärtige Wissenschaft kommt aus den Tatsachen der
sinnlichen Wahrnehmung durch Verstandeserwägungen zu der Annahme
einer Art Lebenskraft. Dies ist aber nicht der Weg einer wirklichen
Erforschung, von welcher die Geisteswissenschaft ausgeht, und aus
deren Ergebnissen die letztere ihre Mitteilungen macht. - Es kann
nicht oft genug darauf hingewiesen werden, wie sich in diesem Punkte
die Geisteswissenschaft unterscheidet von der landläufigen
Wissenschaft der Gegenwart. Diese betrachtet die Sinneserfahrung als
die Grundlage allen Wissens, und was nicht auf dieser Grundlage
aufgebaut werden kann, hält sie nicht für wißbar. Sie zieht aus den
Eindrücken der Sinne Schlüsse und Folgerungen. Was aber darüber
hinausgeht, das lehnt sie ab und sagt davon, es liege jenseits der
Grenzen des menschlichen Erkennens. Für die Geisteswissenschaft
gleicht eine solche Ansicht derjenigen eines Blinden, der nur
dasjenige gelten lassen : will, was man tasten kann, und was aus dem
Getasteten durch Schlußfolgerung sich ergibt, und der die Aussagen
der Sehenden als jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens
ablehnt. Denn die Geisteswissenschaft zeigt, daß der Mensch
entwickelungsfähig ist, daß er sich neue Welten durch Entfaltung
neuer Organe erobern kann. Wie Farben und Licht um den Blinden sind,
und dieser sie nur nicht wahrnehmen kann, weil er keine Organe dazu
hat, so erklärt die Geisteswissenschaft; es gibt viele Welten um den
Menschen herum, und dieser kann sie wahrnehmen, wenn er nur die
notwendigen Organe dazu ausbildet. Wie der Blinde in eine neue Welt
blickt, sobald er operiert ist, so kann der Mensch durch Entfaltung
höherer Organe noch ganz andere Welten erkennen als diejenigen sind,
die ihm zunächst die gewöhnlichen Sinne wahrnehmen lassen. Ob nun
ein leiblich Blinder operierbar ist oder nicht, das hängt von der
Beschaffenheit der Organe ab; jene höheren Organe aber, durch welche
der Mensch in übergeordnete Welten eindringen kann, sind im Keime bei
jedem Menschen vorhanden. Jeder kann sie entwickeln, der Geduld,
Ausdauer und Energie dazu hat, jene Methoden auf sich anzuwenden,
welche in den Aufsätzen: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten? » beschrieben worden sind
2.
So spricht die Geisteswissenschaft überhaupt nicht: der Mensch habe
durch seine Organisation Grenzen der Erkenntnis; sondern sie sagt: es
gibt für den Menschen diejenigen Welten, für die er
Wahrnehmungsorgane hat. Sie spricht nur von den Mitteln, die
jeweiligen Grenzen zu erweitern. - So stellt sie sich auch zu der
Erforschung des Lebens- oder Ätherleibes und alles dessen, was in dem
folgenden noch als die höheren Glieder der Menschennatur angegeben
wird. Sie gibt zu, daß der Erforschung der leiblichen Sinne nur der
physische Leib zugänglich sein kann, und daß man von ihrem
Gesichtspunkte aus höchstens durch Schlußfolgerungen auf einen
höheren verfallen kann. Aber sie teilt mit, wie man sich eine Welt
erschließen kann, in welcher diese höheren Glieder der menschlichen
Natur vor dem Beobachter in ähnlicher Art auftauchen, wie vor dem
operierten Blindgeborenen die Farben und das Licht der Gegenstände.
Für diejenigen, welche ihre höheren Wahrnehmungsorgane entwickelt
haben, ist der Äther- oder Lebensleib ein Gegenstand der Beobachtung,
nicht der Verstandestätigkeit und Schlußfolgerung.
Diesen Äther- oder Lebensleib hat der Mensch mit
Pflanzen und Tieren gemeinsam. Er bewirkt, daß die Stoffe und Kräfte
des physischen Leibes sich zu den Erscheinungen des Wachstums, der
Fortpflanzung, der inneren Bewegung der Säfte usw. gestalten. Er ist
also der Erbauer und Bildner des physischen Leibes, dessen Bewohner
und Architekt. Man kann daher auch den physischen Leib ein Abbild oder
einen Ausdruck dieses Lebensleibes nennen. In bezug auf Form und
Größe sind beide beim Menschen annähernd, doch keineswegs ganz
gleich. Bei den Tieren und noch mehr bei den Pflanzen unterscheidet
sich aber der Ätherleib in bezug auf die Gestalt und Ausdehnung
erheblich von dem physischen Leibe.
Das dritte Glied der menschlichen Wesenheit ist der
sogenannte Empfindungs- oder Astralleib. Er ist der Träger von
Schmerz und Lust, von Trieb, Begierde und Leidenschaft usw. Alles dies
hat ein Wesen nicht, welches bloß aus physischem Leib und Ätherleib
besteht. Man kann alles das Genannte zusammenfassen unter dem
Ausdrucke: Empfindung. Die Pflanze ; hat nicht Empfindung. Wenn in
unserer Zeit mancher Gelehrte aus der Tatsache, daß manche Pflanzen
auf Reize mit Bewegungen oder in anderer Art antworten, schließt: die
Pflanzen haben ein gewisses Empfindungsvermögen, so zeigt er damit
bloß, daß er das Wesen der Empfindung nicht kennt. Es kommt dabei
nämlich nicht darauf an, daß das betreffende Wesen eine Antwort gibt
auf einen äußeren Reiz, sondern vielmehr darauf, daß der Reiz sich
durch einen inneren Vorgang, wie Lust, oder Schmerz, Trieb,
Begierde usw. abspiegelt. Hielte man dies nicht fest, so wäre man
auch berechtigt, zu sagen, daß blaues Lakmuspapier eine Empfindung
habe von gewissen Substanzen, weil es sich beim Berühren mit
denselben rötet
Den Empfindungsleib hat der Mensch nur noch mit der
Tierwelt gemeinsam. Er ist also der Träger des Empfindungslebens.
Man darf nicht in den Fehler gewisser
theosophischer Kreise verfallen, und sich den Äther- und
Empfindungsleib einfach aus feineren Stoffen bestehend denken, als sie
im physischen Leib vorhanden sind. Das hieße diese höheren Glieder
der menschlichen Natur vermaterialisieren. Der Ätherleib ist eine
Kraftgestalt; er besteht aus wirkenden Kräften, nicht aber aus Stoff;
und der Astral- oder Empfindungsleib ist eine Gestalt aus in sich
beweglichen, farbigen, leuchtenden Bildern
Der Empfindungsleib ist in Form und Größe von dem
physischen Leibe abweichend. Er zeigt beim Menschen die Gestalt eines
länglichen Eies, in dem der physische und der Ätherleib eingebettet
sind. Er ragt an allen Seiten über die beiden als eine
Lichtbildgestalt hervor.
Nun hat der Mensch ein viertes Glied seiner
Wesenheit, das er nicht mit anderen Erdenwesen teilt. Dieses ist der
Träger des menschlichen «Ich». Das Wörtchen «Ich», wie es zum
Beispiel in der deutschen Sprache angewendet wird, ist ein Name, der
sich von allen anderen Namen unterscheidet. Wer über die Natur dieses
Namens in zutreffender Weise nachdenkt, der eröffnet sich damit
zugleich den Zugang zur Erkenntnis der menschlichen Natur. Jeden
anderen Namen können alle Menschen in der gleichen Art auf das ihm
entsprechende Ding anwenden. Den Tisch kann jeder «Tisch», den Stuhl
ein jeder «Stuhl» nennen. Bei dem Namen «Ich» ist dies nicht der
Fall. Es kann ihn keiner anwenden zur Bezeichnung eines anderen; jeder
kann nur sich selbst «Ich» nennen. Niemals kann der Name «Ich» an
mein Ohr klingen als Bezeichnung für mich. Indem der Mensch
sich als «Ich» bezeichnet, muß er in sich selbst sich benennen. Ein
Wesen, das zu sich «Ich » sagen kann, ist eine Welt für sich.
Diejenigen Religionen, welche auf Geisteswissenschaft gebaut sind,
haben das immer empfunden. Sie haben daher gesagt: Mit dem «Ich»
beginne der «Gott», der sich bei niedrigeren Wesen nur von außen in
den Erscheinungen der Umgebung offenbart, im Innern zu
sprechen. Der Träger der hier geschilderten Fähigkeit ist nun der
«Ich-Leib», das vierte Glied der menschlichen Wesenheit
Dieser «Ich-Leib» ist der Träger der höheren
Menschenseele. Durch ihn ist der Mensch die Krone der Erdenschöpfung.Das «Ich» ist aber in dem gegenwärtigen Menschen keineswegs
eine einfache Wesenheit. Man kann seine Natur erkennen, wenn man die
Menschen verschiedener Entwickelungsstufen miteinander vergleicht. Man
blicke auf den ungebildeten Wilden und den europäischen
Durchschnittsmenschen, und vergleiche diesen wieder mit einem hohen
Idealisten. Sie haben alle die Fähigkeit, zu sich «Ich» zu sagen;
der «Ich-Leib» ist bei allen vorhanden. Der ungebildete Wilde folgt
aber seinen Leidenschaften, Trieben und Begierden mit diesem «Ich»
fast wie das Tier. Der höher Entwickelte sagt sich gegenüber
gewissen Neigungen und Lüsten: diesen darfst du folgen, andere
zügelt er und unterdrückt sie. Der Idealist hat zu den
ursprünglichen Neigungen und Leidenschaften höhere hinzugebildet.
Dies ist alles dadurch geschehen, daß das «Ich » an den ändern
Gliedern der menschlichen Wesenheit gearbeitet hat. Ja darinnen liegt
gerade die Aufgabe des «Ich», daß es die anderen Glieder von sich
aus veredelt und läutert.
So sind bei demjenigen Menschen, der hinausgelangt
ist über den Zustand, in den ihn die äußere Welt versetzt hat, die
niederen Glieder unter dem Einfluß des Ich mehr oder weniger verändert worden. In dem Zustande, in dem sich der Mensch über das
Tier eben erhebt, indem sein «Ich» aufblitzt, gleicht er in bezug
auf die niederen Glieder noch dem Tiere. Sein Äther- oder Lebensleib
ist lediglich der Träger der lebendigen Bildungskräfte, des
Wachstums und der Fortpflanzung. Sein Empfindungsleib drückt nur
solche Triebe, Begierden und Leidenschaften aus, welche durch die
äußere Natur angeregt Werden. Indem der Mensch von dieser
Bildungsstufe aus durch die aufeinanderfolgenden Leben oder
Verkörperungen zu immer höherer Entwickelung sich hindurchringt,
arbeitet sein Ich die anderen Glieder um. So wird der Empfindungsleib
der Träger geläuterter Lust- und Unlustgefühle, verfeinerter
Wünsche und Begierden. Und auch der Äther- oder Lebensleib gestaltet
sich um. Er wird der Träger der Gewohnheiten, der bleibenden
Neigungen, des Temperamentes und des Gedächtnisses. Ein Mensch,
dessen Ich noch nicht gearbeitet hat an seinem Lebensleib, hat keine
Erinnerung an die Erlebnisse, die er macht. Er lebt sich so aus, wie
es die Natur ihm eingepflanzt hat.
Die ganze Kulturentwickelung drückt sich für den
Menschen in solcher Arbeit des Ich an seinen untergeordneten Gliedern
aus. Diese Arbeit geht bis in den physischen Leib hinunter. Unter dem
Einflüsse des Ich ändert sich die Physiognomie, ändern sich die
Gesten und Bewegungen, das ganze Aussehen des physischen Leibes.
Man kann auch unterscheiden, wie die verschiedenen
Kultur- und Bildungsmittel auf die einzelnen Glieder der menschlichen
Wesenheit verschieden wirken. Die gewöhnlichen Kulturfaktoren wirken
auf den Empfindungsleib; sie bringen diesem andere Arten von Lust und
Unlust, von Trieben usw. bei, als er vom Ursprünge aus hatte. Die
Versenkung in die Werke der Kunst wirkt auf den Ätherleib. Indem der
Mensch durch das Kunstwerk die Ahnung eines Höheren, Edleren erhält
als das ist, was die Sinnesumgebung darbietet, gestaltet er seinen
Lebensleib um. Ein mächtiges Mittel zur Läuterung und Veredelung des
Ätherleibes ist die Religion. Die religiösen Impulse haben dadurch
ihre großartige Mission in der Menschheitsentwickelung.
Das, was man Gewissen nennt, ist nichts anderes als
das Ergebnis der Arbeit des Ich an dem Lebensleib durch eine Reihe von
Verkörperungen hindurch. Wenn der Mensch einsieht, daß er dies oder
jenes nicht tun soll, und wenn durch diese Einsicht ein so starker
Eindruck auf ihn gemacht wird, daß sich dieser bis in seinen
Ätherleib fortpflanzt, so entsteht eben das Gewissen.
Nun kann diese Arbeit des «Ich» an den
untergeordneten Gliedern entweder eine solche sein, die mehr dem
ganzen Menschengeschlechte eigen ist, oder sie kann ganz individuell
eine Leistung des einzelnen Ich an sich selbst sein. An der ersteren
Umwandlung des Menschen arbeitet gewissermaßen die ganze menschliche
Gattung mit; die letztere muß auf der eigensten Tätigkeit des Ich
beruhen. Wenn nun das «Ich» so stark wird, daß es nur durch die
eigenste Kraft den Empfindungsleib umarbeitet, so nennt man dasjenige,
was das Ich auf diese Art aus diesem Empfindungs- oder Astralleibe
macht: das Geistselbst (oder mit einem morgenländischen Ausdrucke:
Manas). Diese Umgestaltung beruht im wesentlichen auf einem Lernen,
auf einem Bereichern des Innern mit höheren Ideen und Anschauungen. -
Es kann aber das Ich noch zu einer höheren ureigensten Arbeit an der
eigenen Wesenheit des Menschen kommen. Dies geschieht, wenn nicht
bloß der Astralleib bereichert, sondern der Äther- oder Lebensleib
umgestaltet wird. Der Mensch lernt so manches im Leben; und wenn er
von irgendeinem Punkte aus auf dieses Leben zurückblickt, so kann er
sich sagen: ich habe vieles gelernt; aber er wird in einem viel
geringeren Maße von einer Umwandlung von Temperament, Charakter, von
einem Besser- oder Schlechterwerden des Gedächtnisses während des
Lebens sprechen können. Das Lernen betrifft den Astralleib; die
letzteren Umwandlungen dagegen betreffen den Äther- oder Lebensleib.
Es ist daher kein unzutreffendes Bild, wenn man die Veränderung des
Astralleibes im Leben mit dem Gang des Minutenzeigers der Uhr, die
Umwandlung des Lebensleibes mit demjenigen des Stundenzeigers
vergleicht.
Wenn der Mensch in die höhere oder sogenannte
Geheimschulung eintritt, so kommt es vor allem darauf an, daß er
diese letztere Umwandlung aus der ureigensten Macht des Ich heraus
vornimmt. Er muß ganz bewußt und individuell an der Verwandlung von
Gewohnheiten, Temperament, Charakter, Gedächtnis usw. arbeiten.
Soviel er auf diese Art in den Lebensleib hineinarbeitet, so viel
verwandelt er diesen, im Sinne der geisteswissenschaftlichen
Ausdrucksweise, in Lebensgeist (oder, wie der morgenländische
Ausdruck lautet, in Budhi).
Auf einer noch höheren Stufe gelangt der Mensch
dazu, Kräfte zu erlangen, durch die er auf seinen physischen Leib
umgestaltend wirken kann (zum Beispiel Blutkreislauf, Puls
Verwandeln). Soviel auf diese Art vom physischen Leib umgestaltet ist,
wird Geistmensch (morgenländisch Atma) genannt. Die Umwandlungen,
welche der Mensch an seinen niederen Gliedern mehr im Sinne der ganzen
menschlichen Gattung oder eines Teiles derselben, zum Beispiel eines
Volkes, Stammes, einer Familie, vollführt, führen folgende Namen in
der Geisteswissenschaft. Es heißt der vom Ich aus umgewandelte
Astral- oder Empfindungsleib die Empfindungsseele, der umgewandelte
Ätherleib wird Verstandesseele, und der umgewandelte physische Leib
Bewußtseinsseele genannt. Man darf sich aber nicht etwa vorstellen,
daß die Umwandlung dieser drei Glieder nacheinander erfolge. Sie
geschieht an allen drei Leibern vom Aufblitzen des Ich an
gleichzeitig. Ja, die Arbeit des Ich wird dem Menschen überhaupt
nicht früher deutlich wahrnehmbar, bis ein Teil der Bewußtseinsseele
ausgestaltet ist.
Man sieht aus dem Vorhergehenden, daß man beim
Menschen von vier Gliedern seiner Wesenheit sprechen kann: dem
physischen Leib, dem Äther- oder Lebensleib, dem Astral oder
Empfindungsleib und dem Ichleib. - Empfindungsseele, Verstandesseele,
Bewußtseinsseele, ja auch die noch höheren Glieder der menschlichen
Natur: Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch treten als
Umwandlungsprodukte an diesen vier Gliedern auf. Wenn von den Trägern
der Eigenschaften des Menschen die Rede ist, so kommen in der Tat nur
jene vier Glieder in Betracht.
Als Erzieher arbeitet man an diesen vier Gliedern
der menschlichen Wesenheit. Will man in der rechten Art arbeiten, so
muß man die Natur dieser Teile des Menschen erforschen. Nun darf man
sich keineswegs vorstellen, daß diese Teile sich so am Menschen
entwickeln, daß sie in irgendeinem Zeitpunkte seines Lebens, etwa bei
seiner Geburt, alle gleichmäßig weit wären. Ihre Entwickelung
geschieht vielmehr in den verschiedenen Lebensaltern in einer
verschiedenen Art. Und auf der Kenntnis dieser Entwickelungsgesetze
der menschlichen Natur beruht die rechte Grundlage der Erziehung und
auch des Unterrichtes.
Vor der physischen Geburt ist der werdende Mensch
allseitig von einem fremden physischen Leib umschlossen. Er tritt
nicht selbständig mit der physischen Außenwelt in Berührung. Der
physische Leib der Mutter ist seine Umgebung. Nur dieser Leib kann auf
den reifenden Menschen wirken. Die physische Geburt besteht eben
darinnen, daß die physische Mutterhülle den Menschen entläßt, und
daß dadurch die Umgebung der physischen Welt unmittelbar auf ihn
wirken kann. Die Sinne öffnen sich der Außenwelt. Diese erhält
damit den Einfluß auf den Menschen, den vorher die physische
Mutterhülle gehabt hat.
Für eine geistige Weltauffassung, wie sie von der
Geistesforschung vertreten wird, ist damit wohl der physische Leib
geboren, noch nicht aber der Äther- oder Lebensleib. Wie der Mensch
bis zu seinem Geburtszeitpunkte von einer physischen Mutterhülle, so
ist er bis zur Zeit des Zahnwechsels, also etwa bis zum siebenten
Jahre von einer Ätherhülle und einer Astralhülle umgeben. Erst
während des Zahnwechsels entläßt die Ätherhülle den Ätherleib.
Dann bleibt noch eine Astralhülle bis zum Eintritt der
Geschlechtsreife
6.
In diesem Zeitpunkt wird auch der Astral- oder Empfindungsleib nach
allen Seiten frei, wie es der physische Leib bei der physischen
Geburt, der Ätherleib beim Zahnwechsel geworden sind.
So muß die Geisteswissenschaft von drei
Geburten des Menschen reden. Bis zum Zahnwechsel können
Eindrücke, die an den Ätherleib kommen sollen, diesen ebenso wenig
erreichen, wie das Licht und die Luft der physischen Welt den
physischen Leib erreichen können, solange dieser im Schöße der
Mutter ruht.
Bevor der Zahnwechsel eintritt, arbeitet am
Menschen nicht der freie Lebensleib. Wie im Leibe der Mutter der
physische Leib die Kräfte empfängt, die nicht seine eigenen sind,
und innerhalb der schützenden Hülle allmählich die eigenen
entwickelt, so ist es mit den Kräften des Wachstums der Fall bis zum
Zahnwechsel. Der Ätherleib arbeitet da erst die eigenen Kräfte aus
im Verein mit den ererbten fremden. Während dieser Zeit des
Freiwerdens des Ätherleibes ist der physische Leib aber schon
selbständig. Es arbeitet der sich befreiende Ätherleib das aus, was
er dem physischen Leib zu geben hat. Und der Schlußpunkt dieser
Arbeit sind die eigenen Zähne des Menschen, die an die Stelle der
vererbten treten. Sie sind die dichtesten Einlagerungen in dem
physischen Leib, und treten daher in dieser Zeitperiode zuletzt auf.
Nach diesem Zeitpunkt besorgt das Wachstum der
eigene Lebensleib allein. Allein, dieser steht jetzt noch unter dem
Einflusse eines umhüllten Astralleibes. In dem Augenblicke, wo auch
der Astralleib frei wird, schließt der Ätherleib eine Periode ab.
Dieser Abschluß drückt sich in der Geschlechtsreife aus. Die
Fortpflanzungsorgane werden selbständig, weil nunmehr der freie
Astralleib nicht mehr nach innen wirkt, sondern hüllenlos der
Außenwelt unmittelbar entgegentritt.
Wie man nun auf das noch ungeborene Kind nicht die
Einflüsse der Außenwelt, als physische, wirken lassen kann, so
sollte man auch auf den Ätherleib vor dem Zahnwechsel nicht
diejenigen Kräfte wirken lassen, welche ihm dasselbe sind, wie dem
physischen Leibe die Eindrücke der physischen Umgebung. Und auf den
Astralleib sollte man die entsprechenden Einflüsse erst vom
Augenblicke der Geschlechtsreife an spielen lassen.
Nicht allgemeine Redensarten, wie etwa
«harmonische Ausbildung aller Kräfte und Anlagen » und dergleichen,
können die Grundlage einer echten Erziehungskunst sein, sondern nur
auf einer wirklichen Erkenntnis der menschlichen Wesenheit kann eine
solche aufgebaut werden. Es soll nicht etwa behauptet werden, daß die
angedeuteten Redensarten unrichtig wären, sondern nur, daß sich mit
ihnen ebensowenig anfangen läßt, wie wenn man etwa einer Maschine
gegenüber behaupten wollte, man müsse alle ihre Teile harmonisch in
Wirksamkeit bringen. Nur wer nicht mit allgemeinen Redensarten,
sondern mit wirklicher Kenntnis der Maschine im einzelnen an sie
herantritt, kann sie handhaben. So handelt es sich auch für die
Erziehungskunst um eine Kenntnis der Glieder der menschlichen
Wesenheit und deren Entwickelung im einzelnen. Man muß wissen,
aufweichen Teil der menschlichen Wesenheit man in einem bestimmten
Lebensalter einzuwirken hat, und wie solche Einwirkung sachgemäß
geschieht. Es ist ja kein Zweifel, daß sich eine wirklich
realistische Erziehungskunst, wie sie hier angedeutet wird, nur
langsam Bahn brechen kann. Das liegt in der Anschauungsweise unserer
Zeit, die noch lange die Tatsachen der geistigen Welt als den Ausfluß
einer tollen Phantastik ansehen wird, während ihr allgemeine, völlig
unwirkliche Redensarten als das Ergebnis einer realistischen :
Denkungsart erscheinen werden. Hier soll rückhaltlos gezeichnet
werden, was gegenwärtig von vielen als Phantasiegemälde genommen
werden wird, was aber einmal als selbstverständlich gelten wird.
Mit der physischen Geburt wird der physische
Menschenleib der physischen Umgebung der äußeren Welt ausgesetzt,
während er vorher von der schützenden Mutterhülle umgeben war. Was
vorher die Kräfte und Säfte der Mutterhülle an ihm getan haben, das
müssen jetzt die Kräfte und Elemente der äußeren physischen Welt
an ihm tun. Bis zum Zahnwechsel im siebenten Jahre hat der
Menschenleib eine Aufgabe an sich zu verrichten, die wesentlich
verschieden von den Aufgaben aller anderen Lebensepochen ist. Die
physischen Organe müssen in dieser Zeit sich in gewisse Formen
bringen; ihre Strukturverhältnisse müssen bestimmte Richtungen und
Tendenzen erhalten. Später findet Wachstum statt, aber dieses
Wachstum . geschieht in aller Folgezeit auf Grund der Formen, die sich
bis Zu der angegebenen Zeit herausgebildet haben. Haben sich richtige
Formen herausgebildet, so wachsen richtige Formen, haben sich
Mißformen herausgebildet, so wachsen Mißformen. Man kann in aller
Folgezeit nicht wieder gutmachen, was man in der Zeit bis zum
siebenten Jahre als Erzieher versäumt hat. Wie die Natur vor der
Geburt die richtige Umgebung für den physischen Menschenleib
herstellt, so hat der Erzieher nach der Geburt für die richtige
physische Umgebung zu sorgen. Nur diese richtige physische Umgebung
wirkt auf das Kind so, daß seine physischen Organe sich in die
richtigen Formen prägen.
Es gibt zwei Zauberworte, welche angeben, wie das
Kind in ein Verhältnis zu seiner Umgebung tritt. Diese sind: Nachahmung
und Vorbild. Der griechische Philosoph Aristoteles hat den
Menschen das nachahmendste der Tiere genannt; für kein Lebensalter
gilt dieser Ausspruch mehr als für das kindliche bis zum Zahnwechsel.
Was in der physischen Umgebung vorgeht, das ahmt das Kind nach, und im
Nachahmen gießen sich seine physischen Organe in die Formen, die
ihnen dann bleiben. Man muß die physische Umgebung nur in dem denkbar
weitesten Sinne nehmen. Zu ihr gehört nicht etwa nur, was materiell
um das Kind herum vorgeht, sondern alles, was sich in des Kindes
Umgebung abspielt, was von seinen Sinnen wahrgenommen werden kann, was
vom physischen Raum aus auf seine Geisteskräfte wirken kann. Dazu
gehören auch alle moralischen oder unmoralischen, alle gescheiten und
törichten Handlungen, die es sehen kann.
Nicht moralische Redensarten, nicht vernünftige
Belehrungen wirken auf das Kind in der angegebenen Richtung, sondern
dasjenige, was die Erwachsenen in seiner Umgebung sichtbar vor seinen
Augen tun. Belehrungen wirken nicht formenbildend auf den physischen
Leib, sondern auf den Ätherleib, und der ist ja bis zum siebenten
Jahre ebenso von einer schützenden Äthermutterhülle umgeben, wie
der physische Leib bis zur physischen Geburt von der physischen
Mutterhülle umgeben ist. Was sich in diesem Ätherleibe vor dem
siebenten Jahre an Vorstellungen, Gewohnheiten, an Gedächtnis usw.
entwickeln soll, das muß sich in ähnlicher Art «von selbst»
entwickeln, wie sich die Augen und die Ohren im Mutterleibe ohne die
Einwirkung des äußeren Lichtes entwickeln Es ist ohne Zweifel
richtig, was man in einem ausgezeichneten pädagogischen Buche lesen
kann, in Jean Pauls «Levana» oder «Erziehlehre», daß ein
Weltreisender mehr von seiner Amme in den ersten Jahren lernt, als auf
allen seinen Weltreisen zusammen. Aber das Kind lernt eben nicht durch
Belehrung, sondern durch Nachahmung. Und seine physischen Organe
bilden sich ihre Formen durch die Einwirkung der physischen Umgebung.
Es bildet sich ein gesundes Sehen aus, wenn man die richtigen Farben-
und Lichtverhältnisse in des Kindes Umgebung bringt, und es bilden
sich in Gehirn und Blutumlauf die physischen Anlagen für einen
gesunden moralischen Sinn, wenn das Kind Moralisches in seiner
Umgebung sieht. Wenn vor dem siebenten Jahre das Kind nur törichte
Handlungen in seiner Umgebung sieht, so nimmt das Gehirn solche Formen
an, die es im späteren Leben auch nur zu Torheiten geeignet machen.
Wie die Muskeln der Hand stark und kräftig werden,
wenn sie die ihnen gemäße Arbeit verrichten, so wird das Gehirn und
werden die anderen Organe des physischen Menschenleibes in die
richtigen Bahnen gelenkt, wenn sie die richtigen Eindrücke von ihrer
Umgebung erhalten. Ein Beispiel wird am besten anschaulich machen, um
was es sich handelt. Man kann einem Kinde eine Puppe machen, indem man
eine alte Serviette zusammenwindet, aus zwei Zipfeln Beine, aus zwei
anderen Zipfeln Arme fabriziert, aus einem Knoten den Kopf, und dann
mit Tintenklecksen Augen und Nase und Mund malt. Oder man kann eine
sogenannte «schöne» Puppe mit echten Haaren und bemalten Wangen
kaufen und sie dem Kinde geben. Es braucht hier gar nicht einmal davon
gesprochen zu werden, daß diese Puppe natürlich doch scheußlich ist
und den gesunden ästhetischen Sinn für Lebenszeit zu verderben
geeignet ist. Die Haupterziehungsfrage dabei ist eine andere. Wenn das
Kind die zusammengewickelte Serviette vor sich hat, so muß es sich
aus seiner Phantasie heraus das ergänzen, was das Ding erst als
Mensch erscheinen läßt. Diese Arbeit der Phantasie wirkt bildend auf
die Formen des Gehirns. Dieses schließt sich auf, wie sich die
Muskeln der Hand aufschließen durch die ihnen angemessene Arbeit.
Erhält das Kind die sogenannte «schöne Puppe», so hat das Gehirn
nichts mehr zu tun. Es verkümmert und verdorrt, statt sich
aufzuschließen. Könnten die Menschen wie der Geisteswissenschafter
hineinschauen in das sich in seinen Formen aufbauende Gehirn, sie
würden sicher ihren Kindern nur solche Spielzeuge geben, welche
geeignet sind, die Bildungstätigkeit des Gehirns lebendig anzuregen.
Alle Spielzeuge, welche nur aus toten mathematischen Formen bestehen,
wirken verödend und ertötend auf die Bildungskräfte des Kindes,
dagegen wirkt in der richtigen Art alles, was die Vorstellung des
Lebendigen erregt. Unsere materialistische Zeit bringt nur wenig gute
Spielzeuge hervor. Was für ein gesundes Spielzeug ist zum Beispiel
das, welches durch zwei verschiebbare Hölzer zwei Schmiede zeigt, die
einander zugekehrt einen Gegenstand behämmern. Man kann dergleichen
noch auf dem Lande einkaufen. Sehr gut sind auch jene Bilderbücher,
deren Figuren durch Fäden von unten gezogen werden können, so daß
sich das Kind selbst das tote Bild in die Abbildung von Handlungen
umsetzen kann. Das alles schafft innere Regsamkeit der Organe, und aus
dieser Regsamkeit baut sich die richtige Form der Organe auf.
Diese Dinge können ja natürlich hier nur
angedeutet werden, aber die Geisteswissenschaft wird künftig berufen
sein, im einzelnen das Nötige anzugeben, und das vermag sie. Denn sie
ist nicht eine leere Abstraktion, sondern eine Summe lebensvoller
Tatsachen, welche Leitlinien für die Wirklichkeit abzugeben
vermögen.
Nur ein paar Beispiele mögen noch angeführt
werden. Anders muß im Sinne der Geisteswissenschaft ein sogenanntes
nervöses, ein aufgeregtes, anders ein lethargisches, unregsames Kind
in bezug auf seine Umgebung behandelt werden. Alles kommt da in
Betracht, von den Farben des Zimmers und der anderen Gegenstände,
welche das Kind gewöhnlich umgeben, bis zu den Farben der Kleider,
die man ihm anzieht. Man wird da oft das Verkehrte tun, wenn man sich
nicht von der Geisteswissenschaft leiten läßt, denn der
materialistische Sinn wird in vielen Fällen gerade zum Gegenteile vom
richtigen greifen. Ein aufgeregtes Kind muß man mit roten oder
rotgelben Farben umgeben und ihm Kleider in solchen Farben machen
lassen, dagegen ist bei einem unregsamen Kinde zu den blauen oder
blaugrünen Farben zu greifen. Es kommt nämlich auf die Farbe an, die
als Gegenfarbe im Inneren erzeugt wird. Das ist zum Beispiel bei Rot
die grüne, bei Blau die orangegelbe Farbe, wie man sich leicht
überzeugen kann, wenn man eine Weile auf eine entsprechend gefärbte
Fläche blickt, und dann rasch das Auge auf eine weiße Fläche
richtet. Diese Gegenfarbe wird von den physischen Organen des Kindes
erzeugt und bewirkt die entsprechenden dem Kinde notwendigen
Organstrukturen. Hat das aufgeregte Kind eine rote Farbe in seiner
Umgebung, so erzeugt es in seinem Inneren das grüne Gegenbild. Und
die Tätigkeit des Grünerzeugens wirkt beruhigend, die Organe nehmen
die Tendenz der Beruhigung in sich auf.
Durchgreifend ist für dieses Lebensalter eines zu
berücksichtigen: nämlich, daß der physische Leib sich den
Gradmesser schafft für das, was ihm zuträglich ist. Er tut das durch
die entsprechende Ausgestaltung der Begierde. Man kann im allgemeinen
sagen, daß der gesunde physische Leib nach dem Verlangen trägt, was
ihm frommt. Und solange es auf den physischen Leib bei dem
heranwachsenden Menschen ankommt, soll man intim hinsehen auf das, was
das gesunde Verlangen, die Begierde, die Freude haben wollen. Freude
und Lust sind die Kräfte, welche die physischen Formen der Organe in
der richtigsten Art herauslocken. Man kann in dieser Richtung
allerdings schwer sündigen, indem man das Kind nicht in die
entsprechenden physischen Verhältnisse zur Umgebung setzt. Das kann
insbesondere in bezug auf die Nahrungsinstinkte geschehen. Man kann
das Kind mit solchen Dingen überfüttern, daß es seine gesunden
Nahrungsinstinkte vollständig verliert, während man sie ihm durch
die richtige Ernährung so erhalten kann, daß es genau bis auf das
Glas Wasser alles verlangt, was ihm unter gewissen Verhältnissen
zuträglich ist und alles zurückweist, was ihm schaden kann. Die
Geisteswissenschaft wird bis auf die einzelnen Nahrungs- und
Genußmittel alles anzugeben wissen, was hier in Betracht kommt, wenn
sie zum Aufbau einer Erziehungskunst aufgerufen wird. Denn sie ist
eine realistische Sache für das Leben, nicht eine graue Theorie, als
was sie allerdings heute noch nach den Verirrungen mancher Theosophen
erscheinen könnte.
Zu den Kräften, welche bildsam auf die physischen
Organe wirken, gehört also Freude an und mit der Umgebung. Heitere
Mienen der Erzieher, und vor allem redliche, keine erzwungene Liebe.
Solche Liebe, welche die physische Umgebung gleichsam warm
durchströmt, brütet im wahren Sinn des Wortes die Formen der
physischen Organe aus.
Wenn die Nachahmung gesunder Vorbilder in solcher
Atmosphäre der Liebe möglich ist, dann ist das Kind in seinem
richtigen Elemente. Strenge sollte daher darauf gesehen werden, daß
in der Umgebung des Kindes nichts geschieht, was das Kind nicht
nachahmen dürfte. Man sollte nichts tun, wovon man dem Kinde sagen
müßte, das darfst du nicht tun. Wie das Kind auf die Nachahmung aus
ist, davon kann man sich überzeugen, wenn man beobachtet, daß es
Schriftzeichen nachmalt, lange bevor es sie versteht. Es ist sogar
ganz gut, wenn das Kind zuerst die Schriftzeichen nachmalt, und dann
erst später ihren Sinn verstehen lernt. Denn die Nachahmung gehört
der Entwickelungsepoche des physischen Leibes an, während der Sinn zu
dem Ätherleib spricht, und auf diesen sollte man erst nach dem
Zahnwechsel einwirken, wenn seine äußere Ätherhülle von ihm
gefallen ist. Besonders sollte alles Sprechenlernen im Sinne der
Nachahmung in diesen Jahren geschehen. Hörend lernt das Kind am
besten sprechen. Alle Regeln und alle künstliche Belehrung können
nichts Gutes wirken.
Im frühen Kindesalter ist insbesondere wichtig,
daß solche Erziehungsmittel wie zum Beispiel Kinderlieder möglichst
einen schönen rhythmischen Eindruck auf die Sinne machen. Weniger auf
den Sinn als vielmehr auf den schönen Klang ist der
Wert zu legen. Je erfrischender etwas auf Auge und Ohr wirkt, desto
besser ist es. Man sollte nicht unterschätzen, was zum Beispiel
tanzende Bewegungen nach musikalischem Rhythmus für eine
organbildende Kraft haben.
Mit dem Zahnwechsel streift der Ätherleib die
äußere Ätherhülle ab, und damit beginnt die Zeit, in der von
außen erziehend auf den Ätherleib eingewirkt werden kann. Man muß
sich klarmachen, was von außen auf den Ätherleib wirken kann. Die
Umbildung und das Wachstum des Ätherleibes bedeutet Umbildung
beziehungsweise Entwickelung der Neigungen, Gewohnheiten, des
Gewissens, des Charakters, des Gedächtnisses, der Temperamente. Auf
den Ätherleib wirkt man durch Bilder, durch Beispiele, durch
geregeltes Lenken der Phantasie. Wie man dem Kinde bis zum siebenten
Jahre das physische Vorbild geben muß, das es nachahmen kann, so muß
in die Umgebung des werdenden Menschen zwischen dem Zahnwechsel und
der Geschlechtsreife alles das gebracht werden, nach dessen innerem
Sinn und Wert es sich richten kann. Das Sinnvolle, das durch das Bild
und Gleichnis wirkt, ist jetzt am Platze. Der Ätherleib entwickelt
seine Kraft, wenn eine geregelte Phantasie sich richten kann nach dem,
was sie sich an den lebenden oder dem Geiste vermittelten Bildern und
Gleichnissen enträtseln und zu seiner Richtschnur nehmen kann. Nicht
abstrakte Begriffe wirken in der richtigen Weise auf den wachsenden
Ätherleib, sondern das Anschauliche, nicht das Sinnlich-, sondern das
Geistig-Anschauliche. Die geistige Anschauung ist das richtige
Erziehungsmittel in diesen Jahren. Daher kommt es vor allen Dingen
darauf an, daß der junge Mensch in diesen Jahren in seinen Erziehern
selbst Persönlichkeiten um sich hat, durch deren Anschauung in ihm
die wünschenswerten intellektuellen und moralischen Kräfte erweckt
werden können. Wie für die ersten Kindesjahre Nachahmung und
Vorbild die Zauberworte der Erziehung sind, so sind es für die
jetzt in Rede stehenden Jahre: Nachfolge und Autorität. Die
selbstverständliche, nicht erzwungene Autorität muß die
unmittelbare geistige Anschauung darstellen, an der sich der junge
Mensch Gewissen, Gewohnheiten, Neigungen herausbildet, an der sich
sein Temperament in geregelte Bahnen bringt, mit deren Augen er die
Dinge der Welt betrachtet. Das schöne Dichterwort, «ein jeglicher
muß seinen Helden wählen, dem er die Wege zum Olymp hinauf sich
nacharbeitet», es gilt insbesondere von diesem Lebensalter. Verehrung
und Ehrfurcht sind Kräfte, durch welche der Ätherleib in der
richtigen Weise wächst. Und wem es unmöglich war, in der in Rede
stehenden Zeit zu jemand in unbegrenzter Verehrung hinaufzuschauen,
der wird dieses in seinem ganzen späteren Leben zu büßen haben. Wo
diese Verehrung fehlt, da verkümmern die lebendigen Kräfte des
Ätherleibes. Man male sich das Folgende in seiner Wirkung auf das
jugendliche Gemüt aus: Einem achtjährigen Knaben wird von einer ganz
besonders ehrenwerten Persönlichkeit gesprochen. Alles, was er von
ihr hört, flößt ihm eine heilige Scheu ein. Es naht der Tag, wo er
zum ersten Male die verehrte Persönlichkeit sehen kann. Ein Zittern
der Ehrfurcht befällt ihn, da er die Klinke der Türe drückt, hinter
welcher der Verehrte sichtbar werden wird. Die schönen Gefühle, die
ein solches Erlebnis hervorbringt, gehören zu bleibenden
Errungenschaften des Lebens. Und glücklich ist derjenige Mensch zu
preisen, der nicht nur in Feieraugenblicken des Lebens, sondern
fortwährend zu seinen Lehrern und Erziehern als zu seinen
selbstverständlichen Autoritäten aufzuschauen vermag.
Zu diesen lebendigen Autoritäten, zu diesen
Verkörperungen der sittlichen und intellektuellen Kraft müssen die
geistig aufzunehmenden Autoritäten treten. Die großen Vorbilder der
Geschichte, die Erzählung von vorbildlichen Männern und Frauen
müssen das Gewissen, müssen die Geistesrichtung bestimmen, nicht so
sehr abstrakte sittliche Grundsätze, die erst dann ihre richtige
Wirkung tun können, wenn sich mit der Geschlechtsreife der astrale
Leib seiner astralen Mutterhülle entledigt. Man muß insbesondere den
Geschichtsunterricht in eine Richtung lenken, welche durch solche
Gesichtspunkte bestimmt ist. Vor dem Zahnwechsel werden die
Erzählungen, Märchen usw., die man an das Kind heranbringt, Freude,
Erfrischung, Heiterkeit allein zum Ziele haben können. Nach dieser
Zeit wird man bei dem zu erzählenden Stoff außer diesem darauf
Bedacht zu nehmen haben, daß Bilder des Lebens zur Nacheiferung vor
die Seele des jungen Menschen treten. Nicht außer acht wird zu lassen
sein, daß schlechte Gewohnheiten durch entsprechende abstoßende
Bilder aus dem Felde geschlagen werden können. Wenig helfen zumeist
Ermahnungen gegenüber solchen schlechten Gewohnheiten und Neigungen;
läßt man aber das lebensvolle Bild eines entsprechend schlechten
Menschen auf die jugendliche Phantasie wirken, und zeigt man, wozu
eine in Frage kommende Neigung in der Wirklichkeit führt, so kann man
viel zur Ausrottung wirken. Immer ist eben festzuhalten, daß nicht
abstrakte Vorstellungen auf den sich entwickelnden Ätherleib wirken,
sondern lebensvolle Bilder in ihrer geistigen Anschaulichkeit.
Allerdings muß das zuletzt Erwähnte mit dem größten Takte
ausgeführt werden, damit die Sache nicht in das Gegenteil umschlage.
Bei Erzählungen kommt alles auf die Art des Erzählens an. Es kann
daher nicht ohne weiteres die mündliche Erzählung etwa durch
Lektüre ersetzt werden.
Das Geistig-Bildhafte, oder wie man auch sagen
könnte, das sinnbildliche Vorstellen kommt auch noch in einer anderen
Weise für die Zeit zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife
in Betracht. Es ist notwendig, daß der junge Mensch die Geheimnisse
der Natur, die Gesetze des Lebens möglichst nicht in
verstandesmäßig nüchternen Begriffen, sondern in Symbolen in sich
aufnehme. Gleichnisse für geistige Zusammenhänge müssen so an die
Seele herantreten, daß die Gesetzmäßigkeit des Daseins hinter den
Gleichnissen mehr geahnt und empfunden wird, als in
verstandesmäßigen Begriffen erfaßt wird. «Alles Vergängliche ist
nur ein Gleichnis», das muß geradezu ein durchgreifender Leitspruch
für die Erziehung in dieser Zeit sein. Es ist unendlich wichtig für
den Menschen, daß er die Geheimnisse des Daseins in Gleichnissen
empfängt, bevor sie in Form von Naturgesetzen usw. ihm vor die Seele
treten. Ein Beispiel möge dies veranschaulichen. Man nehme an, man
wolle einem jungen Menschen von der Unsterblichkeit der Seele, von
ihrem Hervorgehen aus dem Leibe sprechen. Man soll es so tun, daß man
zum Beispiel den Vergleich heranzieht von dem Hervorgehen des
Schmetterlings aus der Puppe. Wie sich der Falter aus der Puppe
erhebt, so nach dem Tode die Seele aus dem Gehäuse des Leibes. Kein
Mensch wird den richtigen Tatbestand in Verstandesbegriffen
entsprechend erfassen, der nicht vorher ihn in einem solchen Bilde
empfangen hat. Durch ein solches Gleichnis spricht man nämlich nicht
bloß zum Verstande, sondern zu Gefühl, Empfindung, zur ganzen Seele.
Ein junger Mensch, der durch alles das hindurchgegangen ist, tritt
dann in ganz anderer Stimmung an die Sache heran, wenn sie ihm in
Verstandesbegriffen später vermittelt wird. Es ist sogar recht
schlimm für den Menschen, wenn er nicht zuerst mit dem Gefühle an
die Rätsel des Daseins herantreten kann. Es ist eben notwendig, daß
für alle Naturgesetze und Weltgeheimnisse dem Erzieher Gleichnisse
zur Verfügung stehen.
Außerordentlich gut kann man an dieser Sache
sehen, wie befruchtend die Geisteswissenschaft auf das praktische
Leben wirken muß. Wenn jemand, der aus einer materialistisch
verstandesmäßigen Vorstellungsart heraus sich Gleichnisse bildet,
mit diesen Gleichnissen an junge Leute herantritt, so wird er in der
Regel recht wenig Eindruck auf sie machen. Ein solcher muß sich
nämlich die Gleichnisse selbst erst mit aller Verstandesmäßigkeit
ausklügeln. Solche Gleichnisse, zu denen man sich selbst erst
herabgebändigt hat, wirken nicht überzeugend auf den, dem man sie
mitteilt. Wenn man nämlich in Bildern zu jemand spricht, dann wirkt
auf diesen nicht bloß, was man sagt oder zeigt, sondern es geht von
dem, der mitteilt, ein feiner geistiger Strom hinüber zu dem, dem die
Mitteilung gemacht wird. Wenn der Mitteilende selbst nicht das warme
gläubige Gefühl zu seinem Gleichnisse hat, so wird er keinen
Eindruck auf den machen, an den er sich richtet. Man muß, um recht zu
wirken, eben selbst an seine Gleichnisse als an Wirklichkeiten
glauben. Das kann man nur, wenn man die geisteswissenschaftliche
Gesinnung hat und die Gleichnisse selbst aus der Geisteswissenschaft
heraus geboren sind. Der echte Geisteswissenschafter braucht sich das
obige Gleichnis der aus dem Leibe hervorgehenden Seele nicht
abzuquälen, denn für ihn ist es Wahrheit. Für ihn ist in dem
Hervorgehen des Schmetterlings aus der Puppe wirklich auf einer
niedrigeren Stufe des Naturdaseins derselbe Vorgang gegeben, der auf
einer höheren Stufe in höherer Ausbildung sich wiederholt in dem
Hervorgehen der Seele aus dem Leibe. Er glaubt mit voller Kraft selbst
daran. Und dieser Glaube strömt wie in geheimnisvollen Strömungen
vom Sprechenden zu dem Hörenden hinüber und bewirkt Überzeugung.
Unmittelbares Leben gießt sich dann hinüber und herüber vom
Erzieher zum Zögling. Aber zu diesem Leben ist eben notwendig, daß
der Erzieher aus dem vollen Quell der Geisteswissenschaft heraus
schöpft und daß sein Wort und alles was von ihm ausgeht, Empfindung,
Wärme und Gefühlsfarbe erhält durch die echte
geisteswissenschaftliche Gesinnung. Eine herrliche Perspektive
eröffnet sich damit auf das ganze Erziehungswesen. Wird es sich
einmal befruchten lassen von dem Lebensquell der Geisteswissenschaft,
dann wird es selbst voll verständnisvollen Lebens sein. Es wird
aufhören das Tasten, das auf diesem Gebiete gang und gäbe ist. Alle
Erziehungskunst, alle Pädagogik ist dürr und tot, die nicht aus
solcher Wurzel immer frische Säfte zugeführt erhält. Die
Geisteswissenschaft hat für alle Weltgeheimnisse die zutreffenden
Gleichnisse, die aus dem Wesen der Dinge genommenen Bilder, die nicht
erst der Mensch schafft, sondern die von den Kräften der Welt selbst
beim Schaffen zugrunde gelegt werden. Deshalb muß die
Geisteswissenschaft die lebensvolle Grundlage aller Erziehungskunst
sein.
Eine Seelenkraft, aufweiche in dieser Zeit der
menschlichen Entwickelung besonderer Wert gelegt werden muß, ist das
Gedächtnis. Die Entwickelung des Gedächtnisses ist eben an die
Umbildung des Ätherleibes gebunden. Da dessen Ausbildung so erfolgt,
daß er gerade zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife frei wird, so
ist diese Zeit auch diejenige, in der von außen bewußt auf die
Fortentwickelung des Gedächtnisses gesehen werden muß. Das
Gedächtnis wird bleibend einen geringeren Wert haben, als es hätte
für den betreffenden Menschen haben können, wenn in dieser Zeit das
Entsprechende versäumt wird. Das Vernachlässigte kann später nicht
mehr nachgeholt werden.
Eine verstandesmäßig-materialistische Denkweise
kann in dieser Richtung viele Fehler machen. Eine aus ihr entsprungene
Erziehungskunst kommt leicht zu Vorurteilen gegen das bloß
gedächtnismäßig Angeeignete. Sie wird zuweilen nicht müde, sich
mit aller Schärfe gegen das bloße Trainieren des Gedächtnisses zu
wenden, und wendet die spitzfindigsten Methoden an, damit der junge
Mensch nur ja nichts gedächtnismäßig aufnehme, was er nicht
begreift. Ja, was es überhaupt mit diesem Begreifen auf sich hat!
Ein materialistisch-verstandesmäßiges Denken gibt sich so leicht dem
Glauben hin, daß es kein Eindringen in die Dinge gibt außer dem in
abgezogenen Begriffen; es wird sich nur schwer zu der Erkenntnis
durchringen, daß die anderen Seelenkräfte zum Erfassen der Dinge zum
mindesten ebenso notwendig sind wie der Verstand. Nicht etwa nur
bildlich ist es gesprochen, wenn man sagt, man kann ebenso mit dem
Gefühle, mit der Empfindung, mit dem Gemüte verstehen wie mit dem
Verstande. Begriffe sind nur eines der Mittel, um die Dinge
dieser Welt zu verstehen. Und nur der materialistischen Gesinnung
erscheinen sie als das einzige. Es gibt natürlich viele Menschen, die
nicht glauben werden, Materialisten zu sein, und die dennoch ein
verstandesmäßiges Begreifen für die einzige Art des Verstehens
halten. Solche Menschen bekennen sich vielleicht zu einer
idealistischen, vielleicht sogar zu einer spirituellen Weltauffassung.
Aber sie verhalten sich zu derselben in ihrer Seele auf
materialistische Art. Denn der Verstand ist nun einmal das
Seeleninstrument für das Begreifen des Materiellen.
Bezüglich der tieferen Grundlagen des Verstehens
soll hier eine Stelle aus dem schon erwähnten ausgezeichneten
Erziehungsbuche von Jean Paul angeführt werden. Überhaupt birgt
dieses Werk goldene Anschauungen über die Erziehung und verdiente
viel mehr berücksichtigt zu werden, als es geschieht. Es ist für den
Erzieher viel wichtiger als manche der angesehensten Schriften auf
diesem Gebiete. Die hier in Betracht kommende Stelle lautet:
«Fürchtet keine Unverständlichkeit, sogar ganzer Sätze; eure Miene
und euer Akzent und der ahnende Drang, zu verstehen, hellet die eine
Hälfte, und mit dieser und der Zeit die andere auf. Der Akzent ist
bei Kindern, wie bei den Chinesen und den Weltleuten, die halbe
Sprache. - Bedenkt, daß sie ihre Sprache so gut, wie wir die
griechische oder irgendeine fremde früher verstehen als reden lernen.
- Vertrauet auf die Entzifferkanzlei der Zeit und des Zusammenhanges.
Ein Kind von fünf Jahren versteht die Wörter <doch, zwar nun,
hingegen, freilich>; versucht aber einmal von ihnen eine Erklärung
zu geben, nicht dem Kinde, sondern dem Vater! - Im einzigen
<zwar> steckt ein kleiner Philosoph. Wenn das achtjährige Kind
mit seiner ausgebildeten Sprache vom dreijährigen verstanden wird,
warum wollt ihr eure zu seinem Lallen einengen? Sprecht immer einige
Jahre voraus (sprechen doch Genies in Büchern mit uns Jahrhunderte
voraus); mit dem Einjährigen sprecht als sei es ein Zweijähriges,
mit diesem als sei es ein Sechsjähriges, da die Unterschiede des
Wachstums im umgekehrten Verhältnis der Jahre abnehmen. Bedenke doch
der Erzieher, welcher überhaupt zu sehr alles Lernen den Lehren
zuschreibt, daß das Kind seine halbe Welt, nämlich die geistige (zum
Beispiel die sittlichen und metaphysischen Anschaugegenstände) ja
schon fertig und bekehrt in sich trage, und daß eben daher die nur
mit körperlichen Ebenbildern gerüstete Sprache die geistigen nicht
geben, bloß erleuchten könne. Freude wie Bestimmtheit bei Sprachen
mit Kindern sollte uns schon von ihrer eignen Freude und Bestimmtheit
gegeben werden. Man kann von ihnen Sprache lernen, sowie durch Sprache
sie lehren; kühne und doch richtige Wortbildungen, zum Beispiel
solche, wie ich von drei- und vierjährigen Kindern gehört: der
Bierfässer, Saiter, Fläscher (der Verfertiger von Fässern, Saiten,
Flaschen) - die Luftmaus (gewiß besser als unser Fledermaus) - die
Musik geigt - das Licht ausscheren (wegen der Lichtschere) -
dreschflegeln, drescheln - ich bin der Durchsehmann (hinter dem
Fernrohr stehend) - ich wollte, ich wäre als Pfeffernüßchenesser
angestellt, oder als Pfeffernüßler - am Ende werd' ich gar zu
klüger - er hat mich von dem Stuhle heruntergespaßt - sieh, wie eins
(auf der Uhr) es schon ist - und so weiter.»
Zwar spricht diese Stelle von dem Verstehen vor dem
verstandesmäßigen Begreifen auf einem anderen Gebiet als auf dem,
wovon hier gerade die Rede ist, allein für das eben Besprochene gilt
genau das, was Jean Paul von der Sprache sagt. Wie das Kind das
Gefüge der Sprache in seinen Seelenorganismus aufnimmt, ohne die
Gesetze des Sprachbaues dazu in verstandesmäßigen Begriffen zu
brauchen, so muß der junge Mensch zur Pflege des
Gedächtnisses Dinge lernen, von denen er sich erst später das
begriffliche Verstehen aneignen soll. Man lernt sogar das am besten
hinterher in Begriffen fassen, was man in diesem Lebensalter erst rein
gedächtnismäßig sich angeeignet hat, wie man die Regeln der Sprache
am besten an der Sprache lernt, die man bereits spricht. Die Rede vom
unverstandenen Gedächtnisstoff ist weiter nichts als ein
materialistisches Vorurteil. Der junge Mensch braucht zum Beispiel nur
die notwendigsten Gesetze des Multiplizierens an einigen Beispielen zu
lernen, zu denen man keine Rechenmaschine braucht, sondern wozu die
Finger viel besser sind, dann soll er das Einmaleins sich ordentlich
gedächtnismäßig aneignen. Wenn man so vorgeht, berücksichtigt man
die Natur des werdenden Menschen. Man versündigt sich aber gegen
diese, wenn man in der Zeit, in der es auf die Bildung des
Gedächtnisses ankommt, den Verstand zu sehr in Anspruch nimmt. Der
Verstand ist eine Seelenkraft, die erst mit der Geschlechtsreife
geboren wird, auf die man daher vor diesem Lebensalter gar nicht von
außen wirken sollte. Bis zur Geschlechtsreife soll sich der junge
Mensch durch das Gedächtnis die Schätze aneignen, über welche die
Menschheit gedacht hat, nachher ist die Zeit, mit Begriffen zu
durchdringen, was er vorher gut dem Gedächtnis eingeprägt hat. Der
Mensch soll sich also nicht etwa bloß merken, was er begriffen hat,
sondern er soll begreifen die Dinge, die er weiß, das heißt wovon er
gedächtnismäßig so Besitz genommen hat, wie das Kind von der
Sprache. In einem weiten Umfange gilt das. Zuerst rein
gedächtnismäßiges Aneignen geschichtlicher Ereignisse, dann
Erfassen derselben in Begriffen. Zuerst gutes gedächtnismäßiges
Einprägen geographischer Dinge, dann Begreifen des Zusammenhanges
derselben usw. In gewisser Beziehung sollte alles Erfassen in
Begriffen aus dem aufgespeicherten Gedächtnisschatze genommen werden.
Je mehr der junge Mensch schon gedächtnismäßig weiß, bevor es ans
begriffliche Erfassen geht, desto besser. Es braucht wohl nicht
ausdrücklich ausgeführt zu werden, daß dieses alles eigentlich nur
gilt für das Lebensalter, von dem hier die Rede ist, nicht für
später. Lernt man nachholend, oder sonstwie in einem späteren
Lebensalter etwas, so kann natürlich der umgekehrte Weg der richtige
und wünschenswerte sein, obwohl auch da noch manches von der
Geisteskonstitution des Betreffenden - abhängig gemacht werden muß.
In dem besprochenen Lebensalter aber darf man den Geist nicht
ausdörren durch die Überfüllung mit verstandesmäßigen Begriffen.
Auch ein zu weitgehender rein sinnlicher
Anschauungsunterricht entspringt einer materialistischen
Vorstellungsart. Alle Anschauung muß für dieses Lebensalter
vergeistigt werden. Man soll sich zum Beispiel nicht damit begnügen,
eine Pflanze, , ein Samenkorn, eine Blüte bloß in sinnlicher
Anschauung vorzuführen. Alles soll zum Gleichnis des Geistigen
werden. Ein Samenkorn ist eben nicht bloß dasjenige, als was es den
Augen erscheint. Es steckt unsichtbar die ganze neue Pflanze darinnen.
Daß ein solches Ding mehr ist, als was die Sinne sehen, das muß mit
der Empfindung, mit der Phantasie, mit dem Gemüte lebendig erfaßt
werden. Die Ahnung der Geheimnisse des Daseins muß gefühlt werden.
Man kann nicht einwenden, daß durch ein solches Vorgehen die reine
sinnliche Anschauung getrübt werde: im Gegenteil, durch das
Stehenbleiben bei der bloßen Sinnesanschauung kommt die Wahrheit zu
kurz. Denn die ganze Wirklichkeit eines Dinges besteht aus Geist
und Stoff, und die treue Beobachtung braucht nicht weniger
sorgfältig betrieben zu werden, wenn man die sämtlichen
Seelenkräfte, nicht bloß die physischen Sinne in Wirksamkeit bringt.
Könnten doch die Menschen sehen, was alles an Seele und Leib verödet
durch einen bloß sinnlichen Anschauungsunterricht, wie der
Geisteswissenschafter das kann, sie würden weniger auf einem solchen
bestehen. Was nützt es im höchsten Sinne, wenn jungen Menschen alle
möglichen Mineralien, Pflanzen, Tiere, physikalischen Versuche
gezeigt werden, wenn das nicht damit verbunden wird, die sinnlichen
Gleichnisse zum Ahnenlassen der geistigen Geheimnisse zu verwenden.
Sicherlich wird mit dem hier Gesagten ein materialistischer Sinn nicht
viel anzufangen wissen; und das ist dem Geisteswissenschafter nur zu
verständlich. Aber ihm ist auch klar, daß eine wirklich praktische
Erziehungskunst nie aus dem materialistischen Sinn erwachsen kann. So
praktisch sich dieser Sinn dünkt, so unpraktisch ist er in
Wirklichkeit, wenn es darauf ankommt, das Leben lebensvoll zu
erfassen. Der wahren Wirklichkeit gegenüber ist die materialistische
Gesinnung phantastisch, während dieser allerdings die
sachgemäßen Auseinandersetzungen der Geisteswissenschaft notwendig
phantastisch erscheinen müssen. Zweifellos wird auch noch
manches Hindernis zu überwinden sein, bis die durchaus aus dem Leben
geborenen Grundsätze der Geisteswissenschaft in die Erziehungskunst
eindringen. Aber das ist ja natürlich. Deren Wahrheiten müssen gegenwärtig
noch für viele ungewohnt sein. Sie werden sich aber der Kultur
einverleiben, wenn sie wirklich die Wahrheit sind.
Nur durch ein deutliches Bewußtsein davon, wie die
einzelnen Erziehungsmaßnahmen auf den jungen Menschen wirken, kann
der Erzieher immer den richtigen Takt finden, um im einzelnen Falle
das Richtige zu treffen. So muß man wissen, wie die einzelnen
Seelenkräfte, nämlich: Denken, Fühlen und Wollen, zu behandeln
sind, damit deren Entwickelung wieder auf den Ätherleib zurückwirkt,
während dieser sich zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife durch
die Einflüsse von außen immer vollkommener gestalten kann.
Zu der Entwickelung eines gesunden kraftvollen
Willens wird der Grund gelegt durch die richtige Handhabung der
betrachteten Erziehungsgrundsätze während der ersten sieben
Lebensjahre. Denn ein solcher Wille muß seine Stütze in den
vollentwickelten Formen des physischen Leibes haben. Vom Zahnwechsel
angefangen handelt es sich darum, daß der nun sich entwickelnde
Ätherleib dem physischen Leib diejenigen Kräfte zuführt, durch
welche dieser seine Formen gediegen und in sich fest machen kann. Das,
was die stärksten Eindrücke auf den Ätherleib macht, das wirkt auch
am kräftigsten auf die Festigung des physischen Leibes zurück. Die
allerstärksten lmpulse werden aber auf den Ätherleib durch
diejenigen Empfindungen und Vorstellungen hervorgerufen, durch die der
Mensch seine Stellung zu den ewigen Urgründen des Weltalls fühlt und
erlebt, das heißt durch die religiösen Erlebnisse. Niemals wird sich
der Wille eines Menschen und damit sein Charakter gesund entwickeln,
wenn er nicht tiefeindringende religiöse Impulse in der in Rede
stehenden Lebensepoche durchmachen kann. In der einheitlichen
Willensorganisation kommt es zum Ausdruck, wie der Mensch sich
eingegliedert fühlt in das Weltganze. Fühlt sich der Mensch nicht
mit sicheren Fäden angegliedert an ein Göttlich-Geistiges, so
müssen Wille und Charakter unsicher, uneinheitlich und ungesund
bleiben.
Die Gefühlswelt entwickelt sich in der rechten Art
durch die beschriebenen Gleichnisse und Sinnbilder, insbesondere durch
alles das, was aus der Geschichte und sonstigen Quellen an Bildern
charakteristischer Menschen vorgeführt wird. Auch die entsprechende
Vertiefung in die Geheimnisse und Schönheiten der Natur ist für die
Heranbildung der Gefühlswelt wichtig. Und hier kommt insbesondere in
Betracht die Pflege des Schönheitssinnes und das Wachrufen des
Gefühls für das Künstlerische. Das Musikalische muß dem Ätherleib
jenen Rhythmus zuführen, der ihn dann befähigt, den in allen Dingen
auch sonst verborgenen Rhythmus zu empfinden. Einem jungen Menschen
wird viel für das ganze spätere Leben entzogen, dem in dieser Zeit
nicht die Wohltat einer Pflege des musikalischen Sinnes zuteil wird.
Ihm müßten, wenn ihm dieser Sinn ganz mangelte, geradezu gewisse
Seiten des Weltendaseins ganz verborgen bleiben. Dabei sollen
aber ja die ändern Künste nicht vernachlässigt werden. Die
Erweckung des Sinnes für architektonische Stilformen, desjenigen für
plastische Gestalten, für Linie und Zeichnerisches, für die Harmonie
der Farben, nichts davon sollte im Erziehungsplan fehlen. So einfach
vielleicht das alles unter gewissen Verhältnissen gestaltet werden
muß, der Einwand kann nie gelten, daß die Verhältnisse gar nichts
nach dieser Richtung hin gestatteten. Mit den einfachsten Mitteln kann
man viel leisten, wenn in dieser Richtung bei dem Erzieher selbst der
richtige Sinn herrscht. Freude am Leben, Liebe zum Dasein, Kraft zur
Arbeit, alles das erwächst für das ganze Dasein aus der Pflege des
Schönheits- und Kunstsinnes. Und das Verhältnis von Mensch zu
Mensch, wie wird es veredelt, verschönt durch diesen Sinn. Das
moralische Gefühl, das ja auch in diesen Jahren herangebildet wird
durch die Bilder des Lebens, durch die vorbildlichen Autoritäten, es
erhält seine Sicherheit, wenn durch den Schönheitssinn das Gute
zugleich als schön, das Schlechte als häßlich empfunden wird.
Das Denken in seiner eigenen Gestalt als inneres
Leben in abgezogenen Begriffen muß in der in Frage kommenden
Lebensperiode noch zurücktreten. Es muß sich wie unbeeinflußt,
gleichsam von selbst entwickeln, während die Seele die Gleichnisse
und Bilder des Lebens und der Naturgeheimnisse vermittelt erhält. So
muß inmitten der anderen Seelenerlebnisse zwischen dem siebenten
Jahre und der Geschlechtsreife das Denken heranwachsen, die
Urteilskraft muß so reifen, damit dann, nach erfolgter
Geschlechtsreife, der Mensch fähig werde, den Dingen des Lebens und
Wissens gegenüber sich in voller Selbständigkeit seine Meinungen zu
bilden. Je weniger man vorher unmittelbar auf die Entwickelung der
Urteilskraft einwirkt und je besser man es mittelbar durch die
Entwickelung der ändern Seelenkräfte tut, um so besser ist es für
das ganze spätere Leben des betreffenden Menschen.
Nicht nur für den geistigen Teil der Erziehung,
sondern auch für den physischen liefert die Geisteswissenschaft die
rechte Grundlage. Um auch hier ein charakteristisches Beispiel
anzuführen, sei auf das Turnen und die Jugendspiele hingewiesen. Wie
Liebe und Freude die Umgebung der ersten Kinderjahre durchdringen muß,
so muß der heranwachsende Ätherleib in sich durch die körperlichen
Übungen das Gefühl seines Wachstums, der stets sich steigernden
Kraft in sich wirklich erleben. Die Turnübungen zum Beispiel müssen
so ausgebildet werden, daß bei jeder Bewegung, bei jedem Schritte
sich im Innern des jungen Menschen das Gefühl einstellt: «Ich fühle
wachsende Kraft in mir.» Und dieses Gefühl muß sich des Innern als
eine gesunde Lust, als Wohlbehagen bemächtigen. Um Turnübungen in
diesem Sinne auszudenken, dazu gehört freilich mehr als eine
verstandesmäßige anatomische und physiologische Kenntnis des
menschlichen Leibes. Es gehört dazu eine intime, intuitive, ganz
gefühlsmäßige Erkenntnis von dem Zusammenwirken von Lust und
Behagen mit den Stellungen und Bewegungen des menschlichen Leibes. Der
Ausgestalter solcher Übungen muß in sich erleben können, wie eine
Bewegung, eine Stellung der Glieder ein lustvolles behagliches
Kraftgefühl erzeugt, etwas anderes eine Art Kraftverlust usw. Daß
Turnen und Leibesübungen in dieser Richtung gepflegt werden können,
dazu gehört dasjenige bei dem Erzieher, was ihm nur die
Geisteswissenschaft und vor allem eine geisteswissenschaftliche
Gesinnung geben kann. Man braucht dazu nicht etwa gleich das
Hineinschauen in die geistigen Welten, sondern nur den Sinn dafür, im
Leben das anzuwenden, was sich aus der Geisteswissenschaft ergibt.
Wenn insbesondere in solchen praktischen Gebieten, wie bei der
Erziehung, die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse angewendet
würden, dann würde bald auch das völlig unnütze Reden darüber
aufhören, daß diese Erkenntnisse doch erst bewiesen werden müssen.
Wer sie richtig anwendet, dem werden sie sich im Leben dadurch
beweisen, daß sie dieses gesund und stark machen. Er wird gerade
dadurch, daß sie sich in der Praxis bewähren, ersehen, daß sie wahr
sind, und dadurch muß er sie besser bewiesen finden, als durch alle
«logischen» und sogenannten «wisenschaftlichen Gründe». Die
geistigen Wahrheiten erkennt man am besten an ihren Früchten, nicht
durch einen angeblich noch so wissenschaftlichen Beweis, der doch kaum
viel anderes sein kann, als ein logisches Geplänkel.
Mit der Geschlechtsreife wird erst der Astralleib
geboren. Mit seiner nach außen freien Entwickelung wird auch erst von
außen an den Menschen alles das herantreten können, was die
abgezogene Vorstellungswelt, die Urteilskraft, den freien Verstand
entfaltet. Es ist schon erwähnt worden, daß diese Seelenfähigkeiten
vorher unbeeinflußt innerhalb der richtigen Handhabung der ändern
Erziehungsmaßnahmen sich entwickeln sollen, wie sich unbeeinflußt im
mütterlichen Organismus Augen und Ohren entwickeln. Mit der
Geschlechtsreife ist die Zeit gekommen, in der der Mensch auch dazu
reif ist, sich über die Dinge, die er vorher gelernt hat, ein eigenes
Urteil zu bilden. Man kann einem Menschen nichts Schlimmeres zufügen,
als wenn man zu früh sein eigenes Urteil wachruft. Erst dann kann man
urteilen, wenn man in sich erst Stoff zum Urteilen, zum Vergleichen
aufgespeichert hat. Bildet man sich vorher selbständige Urteile, so
muß diesen die Grundlage fehlen. Alle Einseitigkeit im Leben, alle
öden «Glaubensbekenntnisse», die sich auf ein paar Wissensbrocken
gründen, und von diesen aus richten möchten über oft durch lange
Zeiträume bewährte Vorstellungserlebnisse der Menschheit, rühren
von Fehlern der Erziehung in dieser Richtung her. Bevor man reif zum
Denken ist, muß man sich die Achtung vor dem angeeignet haben, was
andere gedacht haben. Es gibt kein gesundes Denken, dem nicht ein auf
selbstverständlichen Autoritätsglauben gestütztes gesundes
Empfinden für die Wahrheit vorangegangen wäre. Würde dieser
Erziehungsgrundsatz befolgt, man müßte es nicht erleben, daß
Menschen zu jung sich reif dünken zum Urteilen und sich dadurch die
Möglichkeit nehmen, allseitig und unbefangen das Leben auf sich
wirken zu lassen. Denn ein jedes Urteil, das nicht auf der gehörigen
Grundlage von Seelenschätzen aufgebaut ist, wirft dem Urteiler Steine
in seinen Lebensweg. Denn hat man einmal über eine Sache ein Urteil
gefällt, so wird man durch dieses immer beeinflußt, man nimmt ein
Erlebnis dann nicht mehr so auf, wie man es aufgenommen hätte, wenn
man sich nicht ein Urteil gebildet hätte, das mit dieser Sache
zusammenhängt. In dem jungen Menschen muß der Sinn leben,
zuerst zu lernen und dann zu urteilen. Das, was der Verstand über
eine Sache zu sagen hat, sollte erst gesagt werden, wenn alle andren
Seelenkräfte gesprochen haben; vorher sollte der Verstand nur eine
vermittelnde Rolle spielen. Er sollte nur dazu dienen, das Gesehene
und Gefühlte zu erfassen, es so in sich aufzunehmen, wie es sich
gibt, ohne daß das unreife Urteil sich gleich der Sache bemächtigt.
Deshalb sollte der junge Mensch vor dem angedeuteten Lebensalter mit
allen Theorien über die Dinge verschont werden, und der Hauptwert
daraufgelegt werden, daß er sich den Erlebnissen des Daseins
gegenüberstellt, um sie in seine Seele aufzunehmen. Man kann gewiß
den heranwachsenden Menschen auch mit dem bekannt machen, was Menschen
über dies und jenes gedacht haben, aber man soll vermeiden, daß er
sich für eine Ansicht durch ein verfrühtes Urteil engagiere. Er soll
auch die Meinungen mit dem Gefühle aufnehmen, er soll, ohne gleich
für das eine oder das andere sich zu entscheiden und Partei zu
ergreifen, hören können: der hat das gesagt, der andere jenes. Es
wird zur Pflege eines solchen Sinnes von Lehrern und Erziehern
allerdings ein großer Takt verlangt, aber geisteswissenschaftliche
Gesinnung ist gerade imstande, diesen Takt zu geben.
Es konnten hier nur einige Gesichtspunkte
entwickelt werden für die Erziehung im geisteswissenschaftlichen
Sinne. Es sollte aber auch nur der Hinweis darauf gegeben werden,
welche Kulturaufgabe diese Vorstellungsart in dieser Richtung zu
erfüllen hat. Daß sie solches vermag, wird davon abhängen, daß
sich in immer weiteren Kreisen der Sinn verbreitet für diese
Vorstellungsart. Daß dies geschehen könne, dazu ist allerdings
zweierlei notwendig: erstens, daß man die Vorurteile gegenüber der
Geisteswissenschaft aufgibt. Wer sich wirklich auf sie einläßt, der
wird schon sehen, daß sie nicht das phantastische Zeug ist, als was
sie viele heute noch ansehen. Solchen wird hier kein Vorwurf gemacht,
denn alles, was an Bildungsmitteln unsere Zeit bietet, muß die
Meinung zunächst erzeugen, als ob die Geisteswissenschafter
Phantasten und Träumer wären. Bei oberflächlicher Betrachtung kann
man sich ein anderes Urteil gar nicht bilden, denn es scheint sich da
der vollkommenste Widerspruch zu ergeben zwischen der als
Geisteswissenschaft auftretenden Anthroposophie und allem, was die
Bildung der heutigen Zeit dem Menschen als Grundlage zu einer gesunden
Lebensauffassung an die Hand gibt. Erst einer tieferen Betrachtung
enthüllt sich, wie tief widerspruchsvoll die Ansichten der Gegenwart
ohne diese Grundlage der Geisteswissenschaft bleiben müssen, ja, wie
sie diese Grundlage durch sich selbst geradezu herausfordern und auf
die Dauer ohne sie gar nicht bleiben können. Das zweite, was
notwendig ist, hängt mit einer gesunden Entwickelung der
Geisteswissenschaft selbst zusammen. Erst dann, wenn in
anthroposophischen Kreisen überall die Erkenntnis durchgedrungen sein
wird, daß es darauf ankommt, die Lehren in der weitgehendsten Art
für alle Verhältnisse des Lebens fruchtbar zu machen, nicht bloß
über sie zu theoretisieren, dann wird sich auch das Leben
verständnisvoll der Geisteswissenschaft erschließen. Sonst aber wird
man fortfahren, die Anthroposophie für eine Art religiösen
Sektierertums einzelner sonderbarer Schwärmer zu halten. Wenn sie
aber positive nützliche Geistesarbeit leistet, dann kann der
geisteswissenschaftlichen Bewegung die verständnisvolle Zustimmung
auf die Dauer nicht versagt werden.
Einige Bemerkungen zur Ergänzung der Ausführungen
Diese Betrachtung wurde von mir an verschiedenen
Orten Deutschlands als Vortrag gehalten. Da von vielen Seiten der
Wunsch geäußert worden ist, die Sache auch im Druck zu haben,
erscheint sie hier zur Abhandlung umgearbeitet. Man berücksichtige
die beigefügten Anmerkungen, auf welche durch entsprechende Zahlen in
den Ausführungen verwiesen ist.
1
Dieser Satz sollte nicht so gedacht werden, als ob die
Geisteswissenschaft nur mit den umfassenden Fragen des Lebens zu tun
haben wollte. So wahr es ist, daß sie im Sinne des oben Ausgeführten
berufen ist, die Grundlagen zu liefern für Lösungsversuche dieser
Fragen, so wahr ist es auch, daß sie für jeden einzelnen, an
welcher Stelle im Leben er stehen mag, die Quelle sein kann, aus der
er Antwort auf die alltäglichsten Lebensfragen, Trost, Kraft,
Zuversicht im Dasein und Arbeiten zu schöpfen vermag. Sie kann sein
die Stütze für die großen Lebensrätsel, aber ebenso für die
unmittelbarsten Bedürfnisse des Augenblicks, auch in den - scheinbar
- untergeordnetsten Lagen des Tageslebens.
2Man findet diese Aufsätze in
dem Buche: «Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?»
3
Man muß auf das hier Gesagte mit besonderer Deutlichkeit hinweisen,
weil gerade in unserer Zeit eine große Unklarheit in dieser Richtung
besteht. Viele verwischen gegenwärtig den Unterschied zwischen
Pflanze und Empfindungswesen, weil sie sich nicht klar sind über den
eigentlichen Charakter der Empfindung. Wenn ein Wesen (oder
Ding) auf einen Eindruck, der auf dasselbe von außen gemacht wird, in
irgendeiner Weise eine Wirkung äußert, so ist man noch nicht
berechtigt, zu sagen, es empfindet diesen Eindruck. Das kann
man nur sagen, wenn es in sich den Eindruck erlebt, wenn
also eine Art innerer Spiegelung des äußeren Reizes vorhanden ist.
Die großen Fortschritte unserer Naturwissenschaft, die der
Geistesforscher gewiß aufs höchste bewundert, haben eine Unklarheit
in bezug auf höhere Begriffe gebracht. Gewisse Biologen wissen nicht,
was Empfindung ist; deshalb schreiben sie eine solche auch
empfindungslosen Wesen zu. Was sie - diese Biologen - unter Empfindung
verstehen, das dürfen sie auch den empfindungslosen Wesen
zuschreiben. Aber etwas ganz anderes ist, was die Geisteswissenschaft
unter Empfindung verstehen muß.
4
Man muß unterscheiden zwischen dem Erleben des
Empfindungsleibes in sich und dem Wahrnehmen desselben
durch den geschulten Hellseher. Das, was dem erschlossenen geistigen
Auge des letzteren vorliegt, ist mit obigem gemeint.
5
Man stoße sich nicht an dem Ausdruck «Ich-Leib». Es ist dabei
natürlich nichts Grobmaterielles gemeint. Es ist aber nur möglich,
in der Geisteswissenschaft die Worte der gewöhnlichen Sprache zu
verwenden. Und da diese für Materielles angewendet werden, so muß
man bei Anwendung in der Geisteswissenschaft sie selbst erst ins
Geistige übersetzen.
6
Man würde das Obige nicht in seiner vollen Deutlichkeit verstehen,
wenn man den Einwand machen wollte, daß doch das Kind auch vor dem
Zahnwechsel Gedächtnis usw. habe und vor der Geschlechtsreife die
Fähigkeiten, die an den Astralleib gebunden sind. Man muß sich da
doch klarmachen, daß sowohl der Ätherleib wie der Astralleib vom
Anfange an vorhanden sind, nur eben unter der obenbesprochenen
schützenden Hülle. Gerade diese schützende Hülle befähigt zum
Beispiel den Ätherleib, bis zum Zahnwechsel die Eigenschaften des
Gedächtnisses ganz besonders zum Vorschein zu bringen. Aber es sind
ja doch auch die physischen Augen am Kindeskeime schon vorhanden unter
dessen schützender physischer Mutterhülle. Genau in dem Sinne, wie
auf diese geschützten Augen nicht das äußere physische Sonnenlicht
entwickelnd wirken soll, so nicht die äußere Erziehung auf die -
Ausbildung des Gedächtnisses vor dem Zahnwechsel. Man wird
vielmehr bemerken, wie sich in dieser Zeit das Gedächtnis durch
sich selbst frei entfaltet, wenn man ihm Nahrung gibt und noch
nicht auf seine Entwickelung durch Äußeres sieht. So ist es auch mit
den Eigenschaften, deren Träger der Astralleib ist, vor der
Geschlechtsreife. Man muß ihnen Nahrung geben, aber immer im
Bewußtsein der obigen Ausführungen, daß der Astralleib unter einer
schützenden Hülle liegt. Es ist eben etwas anderes, die im
Astralleib schon liegenden Entwickelungskeime vor der
Geschlechtsreife zu pflegen und den selbständig gewordenen Astralleib
nach der Geschlechtsreife demjenigen in der Außenwelt
auszusetzen, was er ohne Hülle verarbeiten kann. Dieser
Unterschied ist sicherlich ein subtiler; aber ohne auf ihn einzugehen,
kann man das Wesen der Erziehung nicht verstehen.
Notiz
In bezug auf die in dem Aufsatze über «Erziehung
des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» entwickelten
Tatsachen mag es nicht uninteressant erscheinen, die tastenden
Versuche eines Mannes kennenzulernen, der sich vor mehr als hundert
Jahren ohne das Hilfsmittel der Geisteswissenschaft eine
Vorstellung zu bilden bestrebte über die verschiedenen Lebensalter
des heranwachsenden Menschen. Es ist gemeint der im Zeitalter Goethes
berühmte Philologe Friedrich August Wolf. Etwas grotesk nimmt sich
sein Versuch aus, die «Entwickelungsstufen des männlichen
Individuums» zu beschreiben. Doch zeigte er zugleich, daß ein nach
dem Wesen der Erziehung forschender Geist die Notwendigkeit empfinden
muß, nicht mit allgemeinen Redensarten, wie sie so häufig in der
Erziehungskunde zu finden sind, die betreffenden Fragen zu lösen,
sondern, wie er darauf ausgehen muß, das Wesen der
verschiedenen Lebensstufen im einzelnen zu überblicken. Wie
nötig die Geisteswissenschaft ist, um an die Stelle willkürlicher
Einteilungen und phantastischer Vorstellungen auf diesem Gebiete
solche Erkenntnisse zu setzen, die in der Wirklichkeit begründet
sind: das zeigt wohl anschaulich dieser doch gewiß gut gemeinte, aber
ohne alle wirkliche Grundlage unternommene Versuch Friedrich August
Wolfs. Er lautet:
1. Goldenes mildharmonisches Zeitalter. Indianer
und Südseeinsulaner vom ersten bis zum dritten Jahre; unentzweite
Kindheit.
2. Asiatischer Kampf. Zustand der
nordamerikanischen und anderer Wilden. Heroenzeit der Griechen. -
Erste Kraftübungen, Begriffsbildung. Knabenalter bis zum sechsten
Jahre.
3. Griechenzeit von Homer bis Alexander. Noch
nicht reflektierend, doch erfinderisch und dichterisch. - Jugendzeit
bis etwa zum neunten Jahre.
4. Römerzeit. Übergang in die sogenannten
Flegeljahre (aber diese adle man durch Römerzeit). - Etwa bis zum
zwölften Jahre.
5. Mittelalter. Ritterzeitgeist, Kraftwuchs.
Bis zum fünfzehnten Jahre. Zu adeln durch Religion, geistige Liebe,
Chevalerie, Achtung gegen das weibliche Geschlecht, kühne,
schwärmerische Unternehmungen.
6. Wiedererwachen der Künste und Wissenschaften
mit reflektierendem, kritischem Geiste. Am Gymnasium. Geistige
Ringerschule, geadelt durch Studium der Alten, aber mit später Übung
des Erfindungs- und Entdeckungsgeistes, der Interpretation, Kritik -
von der niedern bis zur höhern - im Herzen durch feinere Ritterzeit
der Minnesänger und petrarchischen Liebe. Weitere Entdeckungsperiode.
- Bis zum achtzehnten Jahre.
7. Reformations- und systematische Wißzeit, geadelt
durch edlere Freiheit, wärmste Erweckung bis zur Aufopferung für
Wahrheit und Recht. Universitätszeit. - Bis zum einundzwanzigsten
Jahre.
8. Bildung für gegenwärtige Zeit. Zeitraum
für praktische Versuche für Geschäfte des Lebens. Verteidigung des
Edlen. Streben zur Erhebung über die Zeit. - Bis zum
vierundzwanzigsten Jahre.
9. Erhebung über die Zeit. Bis zum
dreißigsten Jahre.
10. Nun tritt der vollendete Mensch auf und
wirkt, groß wie ein Gott.
Es wird dabei ausgegangen von dem Gedanken, daß
der einzelne Mensch in Kürze noch einmal die Stufen durchlebt, welche
die Gesamtmenschheit bis in sein Zeitalter durchgemacht hat. Abgesehen
davon, daß Friedrich August Wolf weniger den «Menschen» als
solchen, sondern nur den «Philologen» im Auge zu haben scheint, ist
sein Versuch voll von Beobachtungsfehlern in bezug auf die menschliche
Entwickelung. Das Rüstzeug zu wirklicher Beobachtung auf diesem
Gebiete kann eben nur die Geisteswissenschaft geben.