Forum für Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Goetheanistische Naturwissenschaft | |||
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LUZIFER«Lucifer» Juni 1903Rudolf SteinerEine bedeutungsvolle Sage hat der ringende Menschengeist an den Beginn der Neuzeit gestellt. Wie ein Sinnbild für die Erschütterung, welche Kopernikus, Galilei, Kepler in dem Fühlen und Denken hervorgerufen haben, steht die Sagengestalt des Doktor Faust am Eingange des Zeitalters, dem auch die gegenwärtige Menschheit noch angehört. Von diesem Doktor Faust sagte man: er «hat die heilige Schrift eine Weile hinter die Tür und unter die Bank gelegt... er wollte sich hernach keinen Theologen mehr nennen lassen, ward ein Weltmensch, nannte sich einen Doktor der Medizin». Mußte die in der mittelalterlichen Vorstellungswelt aufgewachsene Menschheit nicht so bei den Namen des Kopernikus und Galilei empfinden? Schien es nicht, als ob «eine Weile die heilige Schrift hinter die Tür »legen müsse, wer an ihre neuen Lehren vom Weltgebäude glaubte? Klingen nicht wie ein Aufschrei des in seinem Glauben bedrohten Herzens die Worte, die Luther der Anschauung des Kopernikus entgegenschleuderte: «Der Narr will die ganze Astronomie umkehren, aber die heilige Schrift sagt uns, daß Josua die Sonne stillstehen hieß und nicht die Erde » ? Mit einer gewaltigen Kraft durchdrangen zwiespältige Empfindungen damals die Menschenseele. Denn Ansichten traten im Gesichtskreise des Erkennens auf, die im Widerspruche zu stehen schienen mit dem, was man jahrhundertelang über die Geheimnisse der Welt gedacht hatte. - Und sind diese zwiespältigen Empfindungen seither zur Ruhe gekommen? Steht nicht heute mehr denn vorher der Mensch, dem es mit den höchsten Erkenntnisbedürfnissen ernst ist, vor bangen Fragen, wenn er auf den Gang des wissenschaftlichen Geistes blickt ? Das Fernrohr hat uns die Räume des Himmels erschlossen, das Mikroskop erzählt uns von winzigen Wesen, die alles unserer natürlichen Sehkraft zugängliche Leben zusammensetzen. Wir versuchen zurückzublicken in längstverflossene Erdenzeiten mit Lebewesen, die noch von der unvollkommensten Art waren, und wir machen uns Gedanken über die Verhältnisse, in denen der Mensch, sich aus untergeordneten Daseinsstufen entwickelnd, sein irdisches Leben begann. - Wenn es sich aber um das handelt, was die höchste Bestimmung des Menschen genannt werden soll, dann gelangt das Denken der Gegenwart in eine schier verzweiflungsvolle Unsicherheit. Eine Mut- und Vertrauenslosigkeit hat sich seiner bemächtigt. Man möchte den Bedürfnissen des «Glaubens », den religiösen Sehnsuchten des Herzens ein eigenes Feld anweisen, in dem das wissenschaftliche Erkennen keine Stimme hat. Es soll in der Natur des Menschen begründet sein, daß er mit seinem Wissen nie dahin dringen kann, wo die Seele ihre Heimat hat. Nur so glaubt man die «religiösen Wahrheiten » gesichert vor den Anmaßungen der wissenschaftlichen Vernunft. Euer Wissen kann nie bis zu den Dingen dringen, von denen der « Glaube » spricht, so erklärt man den Naturforschern, die über des Menschen höchste Güter sich erdreisten zu sprechen. Der Theologe Adolf Harnack, der mit seinem «Wesen des Christentums» auf viele unserer Zeitgenossen einen tiefen Eindruck gemacht hat, schärft diesen ein: «Die Wissenschaft vermag nicht alle Bedürfnisse des Geistes und des Herzens zu umspannen und zu befriedigen» ... «Wie verzweifelt stünde es um die Menschheit, wenn der höhere Friede, nach dem sie verlangt, und die Klarheit, Sicherheit und Kraft, um die sie ringt, abhängig wären von dem Maße des Wissens und der Erkenntnis» ... «Die Wissenschaft vermag nicht, dem Leben einen Sinn zu geben, - auf die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu gibt sie heute so wenig eine Antwort als vor zwei- oder dreitausend Jahren. Wohl belehrt sie uns über Tatsächliches, deckt Widersprüche auf, verkettet Erscheinungen und berichtigt die Täuschungen unserer Sinne und Vorstellungen.» ... «Die Religion, nämlich die Gottes- und Menschenliebe, ist es, die dem Leben einen Sinn gibt.» - Die auf solche Worte hören, wissen nicht, die Zeichen der Zeit zu deuten. Und noch weniger vermögen sie, die Ansprüche des ringenden Menschengeistes zu verstehen. Es kommt nicht darauf an, daß es heute noch Millionen gibt, die bei solcher Rede sich befriedigt fühlen. Die da glauben, wenn so diejenigen sagen, die es wissen müssen, dann brauchen wir unser Glaubensbuch nicht «hinter die Tür » zu legen. Denn dann gehen den gläubigen Menschen die Vorstellungen nichts an, die sich die Gelehrten über Sonne, Mond und Weltnebel, über kleinste Lebewesen und den Gang der Erdentwickelung machen. Aber diese Millionen sind es nicht, welche die Gedanken der zukünftigen Menschheit formen. Die den Geistesbau weiterführen, stellen ganz andere Fragen. Mögen ihrer gegenwärtig wenige sein. Es ist doch an ihnen, der Zukunft den Boden zu bereiten. Es sind diejenigen, welche in dem, was die Wissenschaft von heute sagt, den Sinn des Lebens, das Woher, Wohin und Wozu suchen. Sie vollbringen damit dasselbe, was der ägyptische Priesterweise vor Jahrtausenden vollbrachte, der in dem Gang der Sterne, in dem Bau des Menschen diesen Sinn des Lebens suchte. Sie wollen keinen Zwiespalt zwischen Wissen und Glauben. Wenn sie es sich auch nicht klar machen, was sie zu solchem Wollen spornt; sie haben ein Gefühl für das Richtige. Sie ahnen wenigstens, daß aller sogenannte Glaube aus dem entsprungen ist, was irgendein Zeitalter als seinen Wissensschatz errungen hatte. Gehet zurück in frühere Zeiten. In dem «Tatsächlichen », das der Mensch wahrnahm, sah er auch die geistigen Weltmächte walten, die das Schicksalsbuch seiner Bestimmung führen. Seine Leiter der Erkenntnis führte ihn von dem kriechenden Wurm bis zu seinem Gotte. Sein « Glaube» war nur sein Wissen auf den höheren Stufen dieser Leiter. Und heute will man ihm sagen: Was du auch über dieses « Tatsächliche » Neues erfährst: es soll dich nicht ablenken von dem Glauben deiner Väter. Wie müßten sich diese selbst, in unsere Zeit versetzt, zu solchem Ansinnen stellen? Sagen müßten sie: Wir rangen mit aller Kraft nach einem Glauben, der in vollem Einklänge war mit allem, was wir von der Welt wußten. Wir haben euch unseren Glauben und unser Wissen überliefert. Ihr seid über unser Wissen hinausgewachsen. Euch aber fehlt die Kraft, gleich uns, Harmonie zu bringen in euren Glauben und euer Wissen. Und weil euch diese Kraft fehlt, so erklärt ihr den Glauben, den ihr von uns übernommen, als unantastbar durch euer Wissen. - Aber unser Glaube gehörte zu unserem Wissen wie der Kopf eines Menschen zu seinem Leibe. Wir suchten den gleichen Lebensquell in den beiden. Und mit derselben Gesinnung haben wir euch unser Wissen überliefert wie unseren Glauben. Ihr könnt unmöglich so wissen, wie es euch eure Augen und Instrumente lehren, und so glauben, wie uns es unser sinnender Geist lehrte. Denn dann wäre eure Wissenschaft aus eurer Seele geboren, euer Glaube aber aus der unsrigen. - Was tut ihr, wenn ihr so verfährt? Im Grunde doch nichts anderes, als euer Wissen fähighalten, Dampfmaschinen und Elektromotoren zu erbauen; das unsere aber, die Bedürfnisse eures Herzens zu befriedigen. Nein, nicht solcher Zwiespalt entspricht der Menschennatur, sondern der unbesiegliche Drang, von dem Wissen aus die Wege zu suchen, die zur Heimat der Seele führen. Deshalb können diejenigen nicht der Zukunft vorarbeiten, die den Zwiespalt für notwendig halten. Das ist vielmehr die Aufgabe derer, die ein Wissen suchen, das den Sinn des Lebens enthüllt. Ein Wissen, das aus sich selbst den Menschen aufklärt über das Woher, Wohin und Wozu, das die Kraft der Religion in sich hat. Unsere Ideale haben ja erst ihre volle Richt- und Spannkraft, wenn sie zum religiösen Empfinden verklärt sind. Und unser Wissen, unsere Erkenntnis haben erst Sinn und Bedeutung, wenn sie die Keime entwickeln für unsere Ideale, die uns unseren Wert bestimmen im Weltendasein. Welch ein dumpfes Leben wäre das in einem Wissen, aus dem keine Ideale aufleuchten ! Herb urteilte der große Philosoph Johann Gottlieb Fichte über die, welche solch dumpfes Hinleben führen. «Daß Ideale in der wirklichen Welt sich nicht darstellen lassen, wissen wir ändern vielleicht so gut, als sie, vielleicht besser. Wir behaupten nur, daß nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, modifiziert werden müsse. Gesetzt, sie könnten auch davon sich nicht überzeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind, was sie sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts dabei. Es wird dadurch bloß das klar, daß nur auf sie nicht im Plane der Veredlung der Menschheit gerechnet ist. Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fortsetzen; über jene wolle die gütige Natur walten, und ihnen zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein, zuträgliche Nahrung und ungestörten Umlauf der Säfte, und dabei — kluge Gedanken verleihen!» Diesem Urteil völlig beizupflichten, liegt nicht in der Richtung dieser Zeitschrift. Sie wird, wenn ihr ein längeres Leben beschieden ist, vielmehr zeigen, daß auf jeden Menschen im Plane der Veredelung der Menschheit gerechnet ist, und daß jeder etwas verliert, der seine Seele nicht zur Wohnung von Idealen macht. Fichtes Worte sollten hier stehen, um zu zeigen, wie eine großdenkende Persönlichkeit über Menschen spricht, deren Geist nicht die Keimkraft des Idealen besitzt; und nicht minder deshalb, um darauf hinzudeuten, daß in einer solchen Persönlichkeit volle Klarheit darüber ist, wie Ideale und Leben sich verhalten. Das Leben muß nach den Idealen geformt werden, — also muß ein Einklang möglich sein zwischen Ideal und Leben. Dasselbe Leben, das außer dem Menschen die Pflanzen und Tiere belebt, den Kristallen ihre Formen gibt, schafft in dem Menschen die Ideale, die seinem Dasein Sinn und Bedeutung geben. - Wer die Verwandtschaft dieser Ideale mit den Kräften im stummen Gestein, in der sprossenden Pflanze nicht in heller Erkenntnis durchschaut, der wird bald erlahmen, wenn er an die bestimmende Macht dieser Ideale glauben soll. Sind für unser Wissen die Naturgesetze etwas von den Gesetzen unserer Seele Getrenntes, dann verliert sich nur allzuleicht die Sicherheit gegenüber den letzteren. Daß man zu den Naturgesetzen Vertrauen hat, dazu zwingt der natürliche Beobachtungssinn, der nicht zuläßt, daß man Augen und Ohren und den Verstand verleugnet. Nur wenn in lebensvollem Zusammenklang mit diesen Vertrauen erweckenden Gesetzen die Gesetze des geistigen Daseins erscheinen, dann hat man auch ihnen gegenüber die gleiche Sicherheit. Dann weiß man, daß sie ebenso sicher im Weltall ruhen, wie die Gesetze des Lichtes, der Elektrizität und des Pflanzenwachstumes. Deshalb wies Goethe einst zurück, was ihm von befreundeter Seite als Glaube nahegebracht werden sollte. Er sagte, er halte sich lieber ans Schauen, wie das sein großer Lehrer Spinoza getan habe. Führt den Menschen sein Erkenntnis weg von der Betrachtung der Natur hinauf bis zu dem, was er als den Richtung gebenden Gott in seiner Seele erschaut, dann wird es ihm zuletzt eine selbstverständliche Überzeugung, daß seine Ideale ebenso gelebt werden müssen, wie die Sonne in ihren Bahnen kreisen muß. Eine Sonne, die aus ihrem Geleise trete, störte das ganze Weltall. Das ist leicht einzusehen. Daß es auch ein Mensch tut, der nicht seine Ideale lebt, wird nur der voll zugeben, der erkennt, wie derselbe Geist im Geleise der Sonne und in den Wegen der Seele tätig ist. Wer die Brücke nicht finden kann zwischen dem gestirnten Himmel über sich und dem moralischen Gesetz in sich, wer das Wissen vom Glauben trennt, dem wird das eine bald den ändern stören. Abweisung des einen oder des ändern, oder doch mindestens Gleichgültigkeit gegenüber einem, scheint unausbleiblich. Es leben genug der Gleichgültigen unter uns. Sie genießen das Licht und die Wärme der Sonne, sie befriedigen ihre, ihnen von den Naturkräften eingepflanzten Alltagsbedürfnisse. Und wenn sie das getan haben, dann ergötzen sie sich noch höchstens an einer oberflächlichen Literatur und Kunst, die nichts sind, als ein Abglanz und Spiegelbild dieser Alltagsbedürfnisse. Scheu vorbei gehen solche an den weltumspannenden Fragen, die Jahrtausende lang die Blütegeister der Menschheit bewegt haben. Es geht ihnen nicht sonderlich tief, wenn sie von den «ewigen» Bedürfnissen der Menschen hören, von dem, was Johann Gottlieb Fichte meinte, als er von des Menschen Bestimmung in den Worten sprach: «Ich hebe mein Haupt kühn empor zu dem drohenden Felsengebirge, und zu dem tobenden Wassersturz, und zu den krachenden, in einem Feuermeer schwimmenden Wolken, und sage: Ich bin ewig und ich trotze eurer Macht! Brecht alle herab auf mich, und du Erde, und du Himmel, vermischt euch im wilden Tumulte, und ihr Elemente alle, - schäumet und tobet, und zerreibet im wilden Kampfe das letzte Sonnenstäubchen des Körpers, den ich mein nenne: - mein Wille allein mit seinem festen Plane soll kühn und kalt über den Trümmern des Weltalls schweben; denn ich habe meine Bestimmung ergriffen, und die ist dauernder als ihr; sie ist ewig, und ich bin ewig, wie sie.» Und warum sind so viele gleichgültig gegenüber dieser Bestimmung ? Weil sie nicht dieselbe zwingende Kraft empfinden bei den Gesetzen der Seele wie bei denen des körperlichen Daseins. Im Grunde hat heute das Gefühl nur eine andere Gestalt angenommen, das vom Volke des sechzehnten Jahrhunderts wegen der Trennung von Glauben und Wissen an die Faustgestalt geknüpft worden ist. Faust wollte als Wissender den Geist erreichen. Das Volk aber wollte, daß man an den Geist nur glauben solle. Im Faustbuche heißt es deshalb, daß man an Fausts Schicksal «augenscheinlich spüren könne, wohin die Sicherheit, Vermessenheit und Fürwitz letztlich einen Menschen treibe und daß sie eine gewisse Ursache sei des Abfalls von Gott...» Daß man verdammt werde, wenn man sich dem Geiste ergibt, glauben die Gleichgültigen nicht. Sie haben dafür die Meinung, daß man von dem Geiste nichts wissen könne; oder wenn sie sich das nicht klar zum Bewußtsein bringen, so kümmern sie sich wenigstens nicht um ihn. - Die Naturerkenntnis schreitet deshalb vorwärts und mit ihr alles, was durch sie getragen und entwickelt wird. Die Geist-Erkenntnis verkümmert, und nährt sich höchstens von den ererbten Empfindungen der Väter, welche der eine gedankenlos nachempfindet, der zweite gleichgültig in sich gewähren läßt, der dritte als überwunden belächelt oder verdammt. Und es ist nicht einmal immer bloße Gleichgültigkeit oder denkende Kritik, die unsere Zeitgenossen veranlassen, sich so zu verhalten. Gar mancher brauchte in dem hastigen Getriebe des heutigen Tages nur wirklich einmal einen halben Tag mit sich zu Rate zu gehen, und er fände in seiner Seele verborgene Winkel, in denen Stimmen sprechen, die nur übertäubt sind von dem Gewirre der äußeren Welt. Ein solcher halber Tag Zurückgezogenheit und Stille könnte vernehmlich diese innere Stimme hören lassen, die da spricht: Ist es wirklich des Menschen einziges Schicksal, in der Besorgung dessen aufzugehen, was das Leben bringt, um ebenso rasch von diesem Leben auch wieder verzehrt zu werden? - Aber nennt man nicht im Grunde diese Besorgung heute «Menschheitfortschritt » ? Ist es aber ein Fortschritt im höheren Sinne, was man da im Auge hat? Der unzivilisierte Wilde befriedigt sein Nahrungsbedürfnis, indem er sich einfache Werkzeuge macht, und auf die nächsten Tiere des Waldes jagt, indem er mit primitiven Mitteln die Körner zermahlt, die ihm die Erde schenkt. Und ihm verschönt das Leben das, was er als «Liebe » empfindet, und was er in einfacher, wenig über die tierische ragender Weise genießt. Der Zivilisierte von heute gestaltet mit feinstem «wissenschaftlichen» Geiste die kompliziertesten Fabriken und Werkzeuge, um dasselbe Nahrungsbedürfnis zu befriedigen. Er umkleidet den Trieb der « Liebe » mit allem möglichen Raffinement, vielleicht auch mit dem, was er Poesie nennt, aber, wer die verschiedenen Schleier hinwegzuheben vermag - der entdeckt hinter all dem dasselbe, was im Wilden als Trieb lebt, wie er hinter dem in Fabriken verkörperten «wissenschaftlichen Geist» das gemeine Nahrungsbedürfnis entdeckt. Es erscheint fast hirnverbrannt, solches auszusprechen. Aber es erscheint nur denen so, die nicht ahnen, wie ihr ganzes Denken nichts ist, als eine von ihrem Zeitalter ihnen eingeimpfte Gewohnheit, und die da doch glauben, ganz «selbständig und unabhängig» zu urteilen. - Wir haben es ja doch, nach allgemeiner Meinung, in der «Kultur» so herrlich weit gebracht. Niemand könnte doch die Wahrheit des Ausgesprochenen leugnen, wenn er wirklich einmal erwägen wollte, wie sich eine rein materielle Zivilisation von der Wildheit und Barbarei unterscheidet, wenn er sich einmal wirklich die Stille eines halben Tages gönnen wollte. Ist es denn im höheren Sinne so viel anderes, ob man Getreidekörner mit Reibsteinen zermahlt und in den Wald geht, um Tiere zu jagen; oder ob man Telegraphen und Telephone in Betrieb setzt, um Getreide von entfernten Orten zu beziehen? Bedeutet es nicht schließlich, von einem gewissen Gesichtspunkte aus, dasselbe, ob nun die eine Base der ändern erzählt, sie habe in diesem Jahre so und so viel Linnen gewebt; oder ob täglich Hunderte von Zeitungen erzählen, der Abgeordnete X habe eine herrliche Rede gehalten, damit da oder dort eine Eisenbahn gebaut werden solle, und wenn diese Eisenbahn zuletzt auch zu nichts dienen soll, als die Gegend Y mit Getreide aus Z zu versorgen. Und endlich: steht es um so viel höher, wenn uns ein Romanschriftsteller erzählt, in wie raffinierter Weise Eugenius seine Hermine gefreit hat, als wenn der Knecht Franz in naiver Weise erzählt, wie er zu seiner Katharine gekommen ist? Leute, die es gern vermeiden, sich eine solche Sache klar zu machen, können nur ein Lächeln für diese Gedanken haben. Sie sehen diejenigen, die sie haben, für Träumer und weltfremde Schwärmer an. Sie mögen vor einem gewissen Urteil «recht» haben. Man hat immer in dieser Art «recht», wenn man das Triviale verteidigt gegenüber dem, was « nur in Gedanken » erreichbar ist. Mit jemand zu streiten, ist nicht unsere Sache. Wir stellen nur hin, was wir als Wahrheit erkannt zu haben glauben; und warten ab, bis sich der Widerhall in den Herzen anderer findet. Denn wir tragen die Überzeugung in uns, daß, sobald der Mensch nur will, sich die Stimme in ihm regt, die ihm von seiner ewigen Bestimmung spricht. - Soweit die Zeiten zurückreichen, von denen uns die Überlieferungen der Völker berichten, hat diese Stimme immer gesprochen. Welcher Feuereifer ist darauf gewendet worden, die Wahrheit der Bibel auszulegen, die dann Faust eine Weile «hinter die Tür» legen wollte. In der stillen Klosterzelle hat der einsame Mönch sein Gehirn zermartert, um den Sinn des geschriebenen Wortes zu ergründen, vor dem Altare hat er in nächtelangen Übungen sich die Knie wund gemacht, um Erleuchtung zu finden über dieses Wort. Dann ist er hinaufgestiegen auf die Kanzel, um in inbrünstiger Rede den nach ihrer ewigen Bestimmung ringenden Menschen zu künden, was ihm die Einsamkeit seines Herzens geschenkt. - Und andere, weniger schöne Bilder stellen sich vor uns hin, wenn wir auf den nach Wahrheit dürstenden Menschengeist blicken. Die Scheiterhaufen der Inquisition, die Verfolgungen der Ketzer treten vor unserer Seele auf, in denen sich der zum Fanatismus oder wohl auch zur Heuchelei und Machtgier gewordene Sinn für das « Wort» auslebte. - Wieder blicken wir auf die Gestalt des Faust. Das Volk des sechzehnten Jahrhunderts läßt ihn vom Teufel holen, weil er ein Wissender werden wollte, und nicht ein bloßer Gläubiger. Goethe spricht ihm die Erlösung zu, weil er nicht in dumpfer Gläubigkeit geblieben ist, sondern immer «strebend sich bemüht» hat. - Das bedeutsame Symbol der Weisheit, die uns durch Forschung gegeben wird, ist Luzifer, zu deutsch der Träger des Lichtes. Kinder des Luzifer sind alle, die nach Erkenntnis, nach Weisheit streben. Die chaldäischen Sternkundigen, die ägyptischen Priesterweisen, die indischen Brahmanen: sie alle waren Kinder des Luzifer. Und schon der erste Mensch wurde ein Kind des Luzifer, da er sich von der Schlange belehren ließ, was «gut und böse» sei. Und alle diese Kinder des Luzifer konnten auch Gläubige werden. Ja, sie mußten es werden, wenn sie ihre Weisheit recht verstanden. Denn ihre Weisheit ward ihnen eine «frohe Botschaft». Sie kündete ihnen den göttlichen Urgrund von Welt und Mensch. Was sie durch ihre Erkenntniskraft erforscht hatten, das war das heilige Weltgeheimnis, vor dem sie in Andacht knieten, das war das Licht, das ihren Seelen die Wege zu ihrer Bestimmung wies. Ihre Weisheit in andächtiger Verehrung geschaut, das ward Glaube, das ward Religion. Was ihnen Luzifer gebracht, das leuchtete vor den Augen ihrer Seele als Göttliches. Dem Luzifer verdankten sie, daß sie einen Gott hatten. Es heißt das Herz mit dem Kopfe entzweien, wenn man Gott zum Gegner des Luzifer macht. Und es heißt, den Enthusiasmus des Herzens lahmlegen, wenn man es macht, wie unsere Gebildeten, welche die Erkenntnis des Kopfes nicht erhebt zur religiösen Hingabe. Wie betäubt stehen viele vor den Entdeckungen der Naturwissenschaft. Das Fernrohr, das Mikroskop, der Darwinismus : sie scheinen anders zu sprechen über Welt und Leben als die heiligen Bücher der Väter. Und Kopernikus, Galilei, Darwin sprechen mit überzeugender Kraft. Kinder des Luzifer sind sie unserer Zeit. Aber sie können für sich allein keine «frohe Botschaft» sein. Sie tragen ihr Licht noch nicht hinauf zu den Höhen, zu denen die Menschheit einst geblickt hat, wenn sie die Heimat der Seele suchte. Deshalb mögen sie wohl dem Frommen noch immer als die bösen Geister erscheinen, die den Menschen gleich Faust ins geistige Verderben stürzen. Ihnen mag Luzifer noch immer als Widersacher Gottes vor Augen stehen. - Die aber, die einzig erfüllt sind von dem, was ihnen auf den Wegen « moderner » Wissenschaft Luzifer verkündet, werden durch ihn zur Gleichgültigkeit gegen ihre göttliche Sendung wahrhaft verführt. Ihnen ist Luzifer in der Tat nur der «Fürst dieser Welt». Er kündigt ihnen, wie die Planeten um die Sonnen kreisen, wie die unvollkommenen Lebewesen zum Menschen wurden; aber er spricht nicht zu ihnen von dem, was in ihnen dem «drohenden Felsengipfel, den in einem Feuermeer schwimmenden Wolken» trotzt. -Kalte, nüchterne Anziehungskräfte hat die Astronomie dahin versetzt, wo einstmals Seraphime aus Liebe zu Gott die Weltenkörper kreisen machten. Wenn noch der große Naturforscher des achtzehnten Jahrhunderts, Carl von Linne, davon sprach, daß so viele Arten von Pflanzen und Tieren seien, als göttliche Kraft ursprünglich geschaffen, so überzeugt heute die Naturwissenschaft, daß diese Arten aus sich selbst vom Unvollkommenen zum Vollkommenen sich gewandelt haben. Ein ganz öder Geselle scheint Luzifer geworden zu sein. Seine Botschaft scheint ungeeignet, die Andacht des Herzens zu entzünden. Hat er denn die Menschen nicht zu Meinungen geführt, wie sie vor nicht langer Zeit ein bei vielen beliebter «Freigeist» schrieb: «Der Gedanke ist eine Form der Kraft. Wir gehen mit derselben Kraft, mit der wir denken. Der Mensch ist ein Organismus, der verschiedene Formen der Kraft in Gedankenkraft umwandelt, ein Organismus, den wir mit dem, was wir < Nahrung > nennen, in Tätigkeit erhalten, und mit dem wir das, was wir Gedanken nennen, produzieren. Welch ein wundervoller chemischer Prozeß, der ein bloßes Quantum Nahrung in die göttliche Tragödie eines < Hamlet > verwandeln konnte!» - So zu sprechen vermag nur derjenige, der die Reden des modernen Luzifer nicht zu Ende hört. Aber nur allzu viele sprechen ihm nach, ja sind vielleicht froh darüber, daß ihr Lehrer zu früh aus Luzifers Schule gelaufen ist. Einer derjenigen, die unter dem Eindrucke der neuen Naturwissenschaft den «alten Glauben» bekämpften, David Friedrich Strauß, meinte: «Daß von dem Glauben an Dinge, von denen zum Teil gewiß ist, daß sie nicht geschehen sind, zum Teil ungewiß, ob sie geschehen sind, und nur zum geringsten Teil außer Zweifel, daß sie geschehen sind, daß von dem Glauben an dergleichen Dinge des Menschen Seligkeit abhängen sollte, ist so ungereimt, daß es heutzutage keiner Widerlegung mehr bedarf.» - Aber was allein mit solchen Worten gesagt sein kann, das hat bereits ein Bekenner des «alten Glaubens» im dreizehnten Jahrhundert viel herrlicher gesagt. Der große Mystiker Eckhart lehrt: «Ein Meister spricht: Gott ist Mensch geworden, davon ist erhöhet und gewürdigt das ganze menschliche Geschlecht. Dessen mögen wir uns freuen, daß Christus, unser Bruder, ist gefahren von eigener Kraft über alle Chöre der Engel und sitzet zur Rechten des Vaters. Dieser Meister hat wohl gesprochen; aber wahrlich, ich gebe nicht viel darum. Was hülfe es mir, hätt' ich einen Bruder, der da wäre ein reicher Mann und ich wäre dabei ein armer Mann? Was hülfe es mir, hätt' ich einen Bruder, der ein weiser Mann wäre, und ich wäre ein Tor? ...» Hätte jedoch der Meister Eckhart Straußens Worte gehört, so hätte er wohl erwidern können: Dein Spruch ist wahr, und es soll dagegen kein anderer Einwand erhoben werden, als daß er banal ist. Aber ebenso selbstverständlich ist noch etwas anderes : Daß von den Wahrheiten, die uns das Fernrohr und das Mikroskop, daß von den Vorstellungen, die Darwin sich machte über den Werdegang der Lebewesen, etwas für das Schicksal der Menschenseele folgen sollte, ist «so ungereimt, daß es in kürzester Zeit keiner Widerlegung mehr bedürfen sollte». Denn der Meister Eckhart hat zu seiner Rede hinzugefügt: «Der himmlische Vater gebiert seinen eingebornen Sohn in sich und in mir. Warum in sich und in mir? Ich bin eins mit ihm, und er vermag mich nicht auszuschließen. In demselben Werk empfängt der heilige Geist sein Wesen und wird von mir, wie von Gott. Warum? Ich bin in Gott, und nimmt der heilige Geist sein Wesen nicht von mir, nimmt er es auch nicht von Gott. Ich bin auf keine Weise ausgeschlossen.» In solchem Sinne müßte man zu den modernen «Freigeistern » sagen: Der ewige Weltengeist gebiert sein Wesen wie in den Sternen, wie in den Pflanzen und Tieren, in mir. Warum in mir? Ich bin eins mit ihm, wie Sterne, Tiere und Pflanzen eins mit ihm sind; und er vermag mich in keiner Weise auszuschließen. In demselben Sinne empfängt der Geist der Wahrheit sein Wesen, wenn ich meine Seele erforsche, wie er es empfängt, wenn ich die Außenwelt erforsche. Was hülfe es mir, wenn ich die Gesetze der Sternenbahnen erforschte und nicht erkennen könnte, wie die Kräfte, welche die Sterne bewegen, auf höherer Stufe in meiner Seele leben, und sie zu ihren Zielen führen? Wer auf den Wegen der neuen Naturforschung wandeln und dabei die Gesetze der Seele erforschen will, der sollte in erneuter Form die Worte des Mystikers Angelus Silesius aus dem siebzehnten Jahrhundert zu sich sprechen lassen: «Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren Und nicht in dir: du bleibst doch ewiglich verloren.» Heute kann man in demselben Sinne sagen: Geht dir die Herrlichkeit
des Weltenbaues tausendmal auf, und du findest nicht, wie das Gesetz
des gestirnten Himmels in deiner eigenen Seele lebt, «du bleibst doch
ewiglich verloren». Und näher als jeglicher Gegenstand der Natur liegt dem Menschen, was hier zur Sprache kommt: Der Menschengeist. Wovon zu jedem hier gesprochen wird, ist ja nichts anderes als er selbst. Er selbst, der sich scheinbar so nahe steht, und den die wenigsten doch kennen, ja, den kennen zu lernen viele so wenig Bedürfnis haben. Für diejenigen, welche das Licht des Geistes suchen, soll Luzifer ein Bote sein. Er will nicht sprechen von einem Glauben, welcher der Erkenntnis fremd ist. Er wird sich nicht in die Herzen schmeicheln, um den Torhüter der Wissenschaft zu umgehen. Er wird jegliche Achtung diesem Torhüter entgegenbringen. Er wird nicht Frömmigkeit, nicht Gottseligkeit predigen, sondern er wird die Wege zeigen, die das Wissen gehen muß, wenn es sich aus sich selbst in religiöse Empfindung, in andächtiges Versenken in den Weltengeist wandeln will. Luzifer weiß, daß die leuchtende Sonne nur im Herzen eines jeden einzelnen aufgehen kann; aber er weiß auch, daß allein die Pfade der Erkenntnis es sind, die den Berg hinaufführen, wo die Sonne fax. göttliches Strahlenkleid erscheinen läßt. Luzifer soll kein Teufel sein, der den strebenden Faust zur Hölle führt; er soll ein Erwecker derer sein, die an die Weisheit der Welt glauben und sie in das Gold der Gottesweisheit wandeln wollen. Luzifer will Kopernikus, Galilei, Darwin und Haeckel frei ins Auge schauen; aber auch den Blick nicht senken, wenn die Weisen von der Heimat der Seele sprechen. MeditationFrage: Du strebst nach Selbsterkenntnis? Wird dein sogenanntes Selbst für das Ganze der Welt morgen mehr bedeuten als heute, wenn du es erkannt hast? Erste Antwort: Nein, wenn du morgen nichts anderes bist als heute, und dein Erkennen von morgen nur dein Sein von heute wiederholt. Zweite Antwort: Ja, wenn du morgen ein anderer bist als heute, und dein neues Sein von morgen die Wirkung deines Erkennens von heute ist.
aus GA 34 (1987), S 19 ff |
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