1889
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Die
erste Reise nach Weimar
In
diese Zeit (1889) fällt meine erste Reise nach Deutschland. Sie
ist veranlaßt worden durch die Einladung zur Mitarbeiterschaft an
der Weimarer Goethe-Ausgabe, die im Auftrage der Großherzogin Sophie
von Sachsen durch das Goethe-Archiv besorgt wurde. Einige Jahre
vorher war Goethes Enkel, Walther von Goethe, gestorben; er hatte
Goethes handschriftlichen Nachlaß der Großherzogin als Erbe Übermacht.
Diese hatte damit das Goethe-Archiv begründet und im Verein mit
einer Anzahl von Goethe-Kennern, an deren Spitze Herman Grimm, Gustav
von Loeper und Wilhelm Scherer standen, beschlossen, eine Goethe-Ausgabe
zu veranstalten, in der das von Goethe Bekannte mit dem noch unveröffentlichten
Nachlaß vereinigt werden sollte.
Meine
Veröffentlichungen zur Goethe-Literatur waren die
Veranlassung, daß ich aufgefordert wurde, einen Teil der
naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für diese Ausgabe
zu bearbeiten. Um mich in dem naturwissenschaftlichen Nachlaß
zu orientieren und die ersten Schritte zu meiner Arbeit zu
machen, wurde ich nach Weimar gerufen.
Mein durch
einige Wochen dauernder Aufenthalt in der Goethe-Stadt war
für mich eine Festeszeit meines Lebens. Ich hatte jahrelang
in Goethes Gedanken gelebt; jetzt durfte ich selber an den
Stätten sein, an denen diese Gedanken entstanden sind. Unter
dem erhebenden Eindrucke dieses Gefühles verbrachte ich diese
Wochen.
Ich durfte nun
Tag für Tag die Papiere vor Augen haben, auf denen
Ergänzungen zu dem standen, was ich vorher für die
Goethe-Ausgabe der Kürschner'schen «National-Literatur»
bearbeitet hatte.
Die Arbeit an
dieser Ausgabe hat in meiner Seele ein Bild von Goethes
Weltanschauung ergeben. Jetzt handelte es sich darum, zu
erkennen, wie dieses Bild bestehen kann im Hinblick darauf,
daß sich vorher nicht Veröffentlichtes über
Naturwissenschaft im Nachlasse vorfand. Mit großer Spannung
arbeitete ich mich in diesen Teil des Goethe-Nachlasses
hinein.
Ich glaubte
bald zu erkennen, daß das noch Unveröffentlichte einen
wichtigen Beitrag lieferte, um namentlich Goethes
Erkenntnisart genauer zu durchschauen.
Ich hatte in
meinen bis dahin veröffentlichten Schriften diese
Erkenntnisart so aufgefaßt, daß Goethe in der Anschauung
lebte, der Mensch stehe zunächst mit seinem gewöhnlichen
Bewußtsein dem wahren Wesen der ihn umgebenden Welt ferne.
Und aus diesem Ferne-Stehen sproßt der Trieb auf, vor dem
Erkennen der Welt erst Erkenntniskräfte in der Seele zu
entwickeln, die im gewöhnlichen Bewußtsein nicht vorhanden
sind.
Von diesem
Gesichtspunkte aus war es bedeutungsvoll für mich, wenn aus
Goethes Papieren mir Ausführungen wie die folgenden
entgegentraten:
«Um uns in
diesen verschiedenen Arten einigermaßen zu orientieren
(Goethe meint die verschiedenen Arten des Wissens im Menschen
und seines Verhältnisses zur Außenwelt), wollen wir sie
einteilen in: Nutzende, Wissende, Anschauende und Umfassende.
1. Die
Nutzenden, Nutzensuchenden, Fordernden sind die ersten, die
das Feld der Wissenschaft gleichsam umreißen, das Praktische
ergreifen. Das Bewußtsein durch Erfahrung gibt ihnen
Sicherheit, das Bedürfnis eine gewisse Breite.
2. Die
Wißbegierigen bedürfen eines ruhigen, uneigennützigen
Blickes, einer neugierigen Unruhe, eines klaren Verstandes und
stehen immer im Verhältnis mit jenen; sie verarbeiten auch
nur im wissenschaftlichen Sinne dasjenige, was sie vorfinden.
3. Die
Anschauenden verhalten sich schon produktiv, und das Wissen,
indem es sich selbst steigert, fordert, ohne es zu bemerken,
das Anschauen und geht dahin über, und so sehr sich auch die
Wissenden vor der Imagination kreuzigen und segnen, so müssen
sie doch, ehe sie sich versehen, die produktive
Einbildungskraft zu Hilfe rufen.
4. Die
Umfassenden, die man in einem stolzen Sinne die Erschaffenden
nennen könnte, verhalten sich im höchsten Sinne produktiv,
indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die
Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermaßen
nachher die Sache der Natur, sich in diese Idee zu fügen.»
Klar wird
aus solchen Bemerkungen: Goethe ist der Ansicht, der Mensch
steht mit der gewöhnlichen Bewußtseinsform außerhalb
des Wesens der Außenwelt. Er
muß zu einer andern Bewußtseinsform übergehen, wenn er mit
diesem Wesen sich erkennend vereinigen will. Mir war während
meines Weimarer Aufenthaltes die Frage immer entschiedener
aufgetaucht: wie soll man auf den Erkenntnisgrundlagen, die
Goethe gelegt hat, weiterbauen, um von seiner Anschauungsart
aus denkend zu derjenigen hinüberzuleiten, die geistige
Erfahrung, wie sie sich mir ergeben hatte, in sich
aufnehmen kann?
Goethe ging von
dem aus, was die niederen Stufen des Erkennens, die der
«Nutzenden» und der «Wißbegierigen» erreichen. Dem ließ
er in seiner Seele entgegenleuchten das, was in den
«Anschauenden» und «Umfassenden» dem Inhalt der niedern
Erkenntnisstufe durch produktive Seelenkräfte
entgegenleuchten kann. Wenn er so mit dem niederen Wissen in
der Seele in dem Lichte des höheren Anschauens und Umfassens
stand, so fühlte er sich mit dem Wesen der Dinge vereinigt.
Das erkennende
Erleben im Geiste ist damit allerdings noch nicht gegeben;
aber der Weg dazu ist von der einen Seite her
vorgezeichnet, von derjenigen, die sich aus dem Verhältnis
des Menschen zur Außenwelt ergibt. Vor meiner Seele stand,
daß erst im Erfassen der anderen Seite, die sich aus dem
Verhältnis des Menschen zu sich selbst ergibt, Befriedigung
kommen könne.
Wenn das
Bewußtsein produktiv wird, also von sich aus zu den
nächsten Bildern der Wirklichkeit etwas hinzubringt: kann es
da noch in einer Wirklichkeit bleiben, oder entschwebt es
dieser, um in dem Unwirklichen sich zu verlieren? Was in dem
vom Bewußtsein «Produzierten» diesem gegenübersteht, das
mußte durchschaut werden. Eine Verständigung des
menschlichen Bewußtseins mit sich selbst müsse zuerst
bewirkt werden; dann könne man die Rechtfertigung des rein
geistig Erlebten finden. Solche Wege nahmen meine Gedanken,
ihre früheren Formen deutlicher wiederholend, als ich über
Goethes Papieren in Weimar saß.
Es war Sommer.
Von dem damals gegenwärtigen Kunstleben Weimars war wenig zu
bemerken. Man konnte sich in voller Ruhe dem Künstlerischen
hingeben, das wie ein Denkmal für Goethes Wirken dastand. Man
lebte nicht in der Gegenwart; man war entrückt in die
Goethe-Zeit. Gegenwärtig war ja dazumal in Weimar die
Liszt-Zeit. Aber die Vertreter dieser waren nicht da.
Die Zeiten nach
den Arbeiten wurden mit den Persönlichkeiten, die im Archiv
arbeiteten, verlebt. Dazu kamen die Mitarbeiter, die von
auswärts für kürzere oder längere Zeit das Archiv
besuchten. Ich ward mit außerordentlicher Liebenswürdigkeit
von Bernhard Suphan aufgenommen, dem Direktor des
Goethe-Archivs, und ich fand in Julius Wahle, einem ständigen
Mitarbeiter des Archivs, einen lieben Freund. Doch alles das
nahm erst bestimmtere Formen an, als ich nach einem Jahr für
längere Zeit wieder in das Archiv eintrat; und es wird dann
erzählt werden müssen, wenn diese Zeit meines Lebens
darzustellen ist.
TB 636 (IX.), S
113 ff
Kurzer Aufenthalt in
Berlin
Meine Sehnsucht
ging nun vor allem darauf, Eduard von Hartmann, mit dem ich
seit Jahren in brieflichem Verkehre über philosophische Dinge
stand, persönlich kennen zu lernen. Das sollte während eines
kurzen Aufenthaltes in Berlin, der sich an den Weimarischen
anschloß, geschehen.
Ich
durfte ein langes Gespräch mit dem Philosophen führen. Er lag mit
aufgerichtetem Oberkörper, die Beine ausgestreckt, auf einem Sofa.
In dieser Lage verbrachte er, seit sich sein Knieleiden eingestellt
hatte, den weitaus größten Teil seines Lebens. Eine Stirne, die
ein deutlicher Ausdruck eines klaren, scharfen Verstandes war, und
Augen, die in ihrer Haltung die innerlichst gefühlte Sicherheit
im Erkannten offenbarten, standen vor meinem Blicke. Ein mächtiger
Bart umrahmte das Antlitz. Er sprach mit einer vollen Bestimmtheit,
die andeutete, wie er einige grundlegende Gedanken über das ganze
Weltbild geworfen hatte, und dieses dadurch in seiner Art beleuchtete.
In diesen Gedanken wurde alles sogleich mit Kritik überzogen, was
an ihn von ändern Anschauungen herankam. So saß ich ihm denn gegenüber,
indem er mich scharf beurteilte, aber eigentlich mich innerlich
doch nicht anhörte. Für ihn lag das Wesen der Dinge im Unbewußten
und muß für das menschliche Bewußtsein immer dort verborgen bleiben;
für mich war das Unbewußte etwas, das durch die Anstrengungen des
Seelenlebens immer mehr in das Bewußtsein
heraufgehoben werden kann. Ich kam im Verlauf des Gespräches darauf,
zu sagen: man dürfe doch in der Vorstellung nicht von vorneherein
etwas sehen, das vom Wirklichen abgesondert nur ein Unwirkliches
im Bewußtsein darstelle. Es könne eine solche Ansicht doch nicht
der Ausgangspunkt einer Erkenntnistheorie sein. Denn durch dieselbe
versperre man sich den Zugang zu aller Wirklichkeit, indem man dann
doch nur glauben könne, man lebe in Vorstellungen, und könne sich
einem Wirklichen nur in Vorstellungshypothesen, das heißt auf unwirkliche
Art nähern. Man müsse vielmehr erst prüfen, ob die Ansicht von der
Vorstellung als eines Unwirklichen Geltung habe, oder ob sie nur
einem Vorurteil entspringe. Eduard von Hartmann erwiderte: darüber
ließe sich doch nicht streiten; es läge doch schon in der Wort-Erklärung
der «Vorstellung», daß in ihr nichts Reales gegeben sei. Als ich
diese Erwiderung vernahm, bekam ich ein seelisches Frösteln. «Wort-Erklärungen»
der ernsthafte Ausgangspunkt von Lebensanschauungen! Ich fühlte,
wie weit ich weg war von der zeitgenössischen Philosophie. Wenn
ich auf der Weiterreise im Eisenbahnwagen saß, meinen Gedanken und
den Erinnerungen an den mir doch so wertvollen Besuch hingegeben,
so wiederholte sich das seelische Frösteln. Es war etwas, das in
mir lange nachwirkte.
Mit Ausnahme
des Besuches bei Eduard von Hartmann waren die kurzen
Aufenthalte, die ich im Anschlusse an denjenigen in Weimar auf
meiner Reise durch Deutschland in Berlin und München nehmen
konnte, ganz dem Leben in dem Künstlerischen gewidmet, das
diese Orte bieten. Die Ausdehnung meines Anschauungskreises
nach dieser Richtung empfand ich damals als eine besondere
Bereicherung meines Seelenlebens. Und so ist diese erste
größere Reise, die ich machen konnte, auch für meine
Kunstanschauungen von einer weitgehenden Bedeutung gewesen.
Eine Fülle von Eindrücken lebte in mir, als ich zunächst
nach dieser Reise wieder für einige Wochen im Salzkammergute
bei der Familie lebte, deren Söhne ich schon seit vielen
Jahren unterrichtete. Ich war auch weiter darauf angewiesen,
eine äußere Beschäftigung im Privatunterrichte zu finden.
Und ich wurde in demselben auch innerlich gehalten, weil ich
den Knaben, dessen Erziehung mir vor Jahren anvertraut war,
und bei dem es mir gelungen war, die Seele aus einem völlig
schlummernden Zustande zum Wachen zu bringen, bis zu einem
gewissen Punkte seiner Lebensentwickelung bringen wollte.
TB 636 (IX.), S
116 ff
Wien
Der theosophische Kreis
um Marie Lang
In
der nächsten Zeit, nach der Rückkehr nach Wien, durfte ich viel
in einem Kreise von Menschen verkehren, der von einer Frau zusammengehalten
wurde, deren mystisch-theosophische Seelenverfassung auf alle Teilnehmer
des Kreises einen tiefen Eindruck machte. Mir waren die Stunden,
die ich in dem Hause dieser Frau, Marie Lang, damals verleben durfte,
in hohem Maße wertvoll. Ein ernster Zug der Lebensauffassung, und
Lebensempfindung lebte bei Marie Lang sich in einer edel-schönen
Art dar. In einer klangvoll-eindringlichen Sprache kamen ihre tiefen
Seelenerlebnisse zum Ausdrucke. Ein innerlich mit sich und der Welt
schwer ringendes Leben konnte in ihr nur im mystischen Suchen eine
wenn auch nicht völlige Befriedigung finden. So war sie zur Seele
eines Kreises von suchenden Menschen wie geschaffen. In diesen Kreis
war die Theosophie gedrungen, die von H. P. Blavatsky am Ende des
vorigen Jahrhunderts ausgegangen war. Franz Hartmann, der durch
seine zahlreichen theosophischen Werke und durch seine Beziehungen
zu H. P. Blavatsky in weiten Kreisen berühmt geworden ist, hat auch
in diesen Kreis seine Theosophie hineingebracht. Marie Lang hatte
manches von dieser Theosophie aufgenommen. Die Gedankeninhalte,
die sie da finden konnte, schienen in mancher Beziehung dem Zuge
ihrer Seele entgegenzukommen. Doch war, was sie von dieser Seite
annahm, ihr nur äußerlich angeflogen. Sie trug aber ein mystisches
Gut in sich, das auf ganz elementarische Art sich aus einem durch
das Leben geprüften Herzen in das Bewußtsein gehoben hatte.
Die
Architekten, Literaten und sonstigen Persönlichkeiten, die
ich in dem Hause von Marie Lang traf, hätten sich wohl kaum
für die Theosophie, die von Franz Hartmann vermittelt wurde,
interessiert, wenn nicht Marie Lang einigen Anteil an ihr
genommen hätte. Und am wenigsten hätte ich mich selbst
dafür interessiert. Denn die Art, sich zur geistigen Welt zu
verhalten, die sich in den Schriften Franz Hartmanns darlebte,
war meiner Geistesrichtung
völlig entgegengesetzt. Ich konnte ihr nicht zugestehen, daß
sie von wirklicher innerer Wahrheit getragen ist. Mich
beschäftigte weniger ihr Inhalt, als die Art, wie sie auf
Menschen wirkte, die doch wahrhaft Suchende waren.
Rosa Mayreder
Durch
Marie Lang wurde ich bekannt mit Frau Rosa Mayreder, die mit ihr
befreundet war. Rosa Mayreder gehört zu denjenigen Persönlichkeiten,
zu denen ich in meinem Leben die größte Verehrung gefaßt und an
deren Entwickelungsgang ich den größten Anteil genommen habe. Ich
kann mir ganz gut denken, daß, was ich hier zu sagen habe, sie selbst
wenig befriedigen werde; allein ich empfinde, was durch sie in mein
Leben getreten ist, in solcher Art. Von den Schriften Rosa Mayreders,
die nachher auf viele Menschen einen so berechtigt großen Eindruck
gemacht haben, und die sie ganz zweifellos an einen ganz hervorragenden
Platz in der Literatur stellen, war damals noch nichts erschienen.
Aber, was sich in diesen Schriften offenbart, lebte in Rosa Mayreder
in einer geistigen Ausdrucksform, zu der ich mich mit der allerstärksten
inneren Sympathie wenden mußte. Diese Frau machte auf mich den Eindruck,
als habe sie jede der einzelnen menschlichen Seelengaben in einem
solchen Maße, daß diese in ihrem harmonischen Zusammenwirken den
rechten Ausdruck des Menschlichen formten. Sie vereinigt verschiedene
Künstlergaben mit einem freien, eindringlichen Beobachtungssinn.
Ihre Malerei ist ebenso getragen von individueller Lebensentfaltung
wie von hingebender Vertiefung in die objektive Welt. Die Erzählungen,
mit denen sie ihre schriftstellerische Laufbahn begann, sind vollendete
Harmonien, die aus persönlichem Ringen und ganz objektiv Betrachtetem
zusammenklingen. Ihre folgenden Werke tragen immer mehr diesen Charakter.
Am deutlichsten tritt das in ihrem später erschienenen zweibändigen
Werke «Kritik der Weiblichkeit» zu Tage. Ich betrachte es als einen
schönen Gewinn meines Lebens, manche Stunde in der Zeit, die ich
hier schildere, mit Rosa Mayreder in den Jahren ihres Suchens und
seelischen Ringens verbracht zu haben.
Ich
muß auch da wieder auf eines meiner Verhältnisse zu Menschen blicken,
die über die Gedanken-Inhalte hinüber und in einem gewissen Sinne
ganz unabhängig von diesen entstanden sind und intensives Leben
gewannen. Denn meine Weltanschauung und noch mehr meine Empfindungsrichtung
waren nicht diejenigen Rosa Mayreders. Die Art, wie ich aus der
gegenwärtig anerkannten Wissenschaftlichkeit zum Erleben des Geistigen
aufsteige, kann ihr unmöglich sympathisch sein. Sie sucht diese
Wissenschaftlichkeit zur Begründung von Ideen zu verwenden, die
auf die volle Ausgestaltung der menschlichen Persönlichkeit zielen,
ohne daß sie in diese Persönlichkeit die Erkenntnis einer rein geistigen
Welt hereinspielen läßt. Was mir nach dieser Richtung eine Notwendigkeit
ist, kann ihr kaum etwas sagen. Sie ist ganz hingegeben an die Forderungen
der unmittelbaren menschlichen Individualität und wendet den in
dieser Individualität wirkenden geistigen Kräften nicht ihre Aufmerksamkeit
zu. Sie hat es durch diese ihre Art zu der bisher bedeutsamsten
Darstellung des Wesens der Weiblichkeit und deren Lebensforderungen
gebracht.
Ich konnte Rosa
Mayreder auch nie befriedigen durch die Anschauung, die sie
sich von meinem Verhältnis zur Kunst bildete. Sie meinte: ich
verkenne das eigentlich Künstlerische, während ich doch
gerade danach rang, dieses spezifisch Künstlerische mit der
Anschauung zu erfassen, die sich mir durch das Erleben des
Geistigen in der Seele ergab. Sie hielt dafür, daß ich in
die Offenbarungen der Sinneswelt nicht genug eindringen und
dadurch an das wirklich Künstlerische nicht herankommen
könne, während ich darnach suchte, gerade in die volle
Wahrheit der sinnengemäßen Formen einzudringen. — Das
alles hat nichts weggenommen von dem innigen
freundschaftlichen Anteil, den ich an dieser Persönlichkeit
in mir entwickelte in der Zeit, als ich ihr wertvollste
Stunden meines Lebens verdankte, und der sich bis zum heutigen
Tage wahrhaftig nicht vermindert hat.
Im Hause Rosa
Mayreders durfte ich des öfteren teilnehmen an den
Unterhaltungen, zu denen sich da geistvolle Menschen
versammelten. Still, scheinbar mehr in sich schauend als auf
die Umgebung hörend, saß da Hugo Wolf, mit dem Rosa Mayreder
eng befreundet war. Man hörte in der Seele auf ihn, auch wenn
er noch so wenig sprach. Denn, was er lebte, teilte sich auf
geheimnisvolle Art denen mit, die mit ihm zusammen sein
konnten. — In inniger Liebe war ich zugetan dem Gatten von
Frau Rosa, dem menschlich und künstlerisch so feinen Karl
Mayreder und auch dessen künstlerisch enthusiastischem Bruder
Julius Mayreder. Marie Lang und ihr Kreis, Friedrich Eckstein,
der damals ganz in theosophischer Geistesströmung und
Weltauffassung stand, waren oft da.
Es war dies die
Zeit, in der in meiner Seele sich meine «Philosophie
der Freiheit» in immer bestimmteren Formen
ausgestaltete. Rosa Mayreder ist die Persönlichkeit, mit der
ich über diese Formen am meisten in der Zeit des Entstehens
meines Buches gesprochen habe. Sie hat einen Teil der
innerlichen Einsamkeit, in der ich gelebt habe, von mir
hinweggenommen. Sie strebte nach der Anschauung der
unmittelbaren menschlichen Persönlichkeit, ich nach der
Weltoffenbarung, welche diese Persönlichkeit auf dem Grunde
der Seele durch das sich öffnende Geistesauge suchen kann.
Zwischen beiden gab es manche Brücke. Und oft hat im weiteren
Leben in dankbarster Erinnerung vor meinem Geiste das eine
oder das andere Bild der Erlebnisse gestanden von der Art wie
ein Gang durch die herrlichen Alpenwälder, auf dem Rosa
Mayreder und ich über den wahren Sinn der menschlichen
Freiheit sprachen.
TB 636 (IX.), S
118 ff
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