Gedächtnis
und kindliche Entwicklung Was das Kind in den ersten sieben
Lebensjahren lernt, das eignet es sich durch Nachahmung
an und bildet es zu mehr oder weniger dauernden
Gewohnheiten um. Das beginnt schon damit, daß es immer
mehr seinen anfangs noch diffus umherschweifenden Blick
zu beherrschen beginnt und dadurch über den bloßen
Lichtsinn hinaus die Formen der gegenständlichen Welt
zunehmend erfaßt. Es ahmt dadurch, wie es seinen Blick
bewegt, gleichsam die Formen nach, die sich vor seinen
Augen ausbreiten. Die tastenden Bewegungen der Hände
treten alsbald hinzu. Je reicher und harmonischer
strukturiert die Umgebung ist, in der das Kind
aufwächst, desto mehr gewinnt es dadurch für sein
ganzes späteres Leben. Was das Kind mit dem Blick
erfaßt, was es mit seinen Händen ergreift, das wirkt
gestaltend bis in sein Gehirn, namentlich bis in die
sensorische Hirnrinde, hinein, das so der innerste
Ausläufer des Sinnessystems ist. Das Gehirn wird gerade
in diesen ersten Lebensjahren von außen nach innen
gebildet. Ansätze für eine derartige Prägung des
Gehirns durch die der Sinneswelt innewohnenden
Gesetzmäßigkeiten finden sich auch im Tierreich. Jede
Reizüberflutung ist dabei aber schädlich, das Kind muß
allmählich in eine immer reichere Umwelt hineinwachsen.
Hohe undifferenzierte Reizintensitäten erschlagen die
aufkeimenden kindlichen Fähigkeiten, alles kommt darauf
an, daß es in einer fein und harmonisch gestalteten
Umgebung aufwächst. Was das Kind aber vorallem lernt,
indem es seine menschliche Mitwelt nachahmt, das ist der
aufrechte Gang. Kinder, die nicht im Umgang mit Menschen
heranwachsen (sog. Wolfskinder) erwerben sich nicht die
Fähigkeit, aufrecht zu gehen, so wie sie
selbstverständlich auch nicht zu sprechen lernen. Was
dem Kind in den ersten drei Lebensjahren entzogen wird,
das bleibt ihm für sein ganzes weiteres Leben verloren.
Je mehr das Kind seinen Formensinn entfaltet, desto mehr
tritt ihm die Welt als eine räumlich gegenständliche
entgegen. Das volle räumliche Erleben ist nicht
möglich, ohne daß der Mensch gelernt hat, aufrecht zu
gehen. Tiere entwickeln daher, wie wir gesehen haben,
niemals ein volles räumliches Bewußtsein. Und je mehr
sich das Kind der Welt räumlich gegenübergestellt
sieht, desto mehr erwacht auch sein Ich. Der Formensinn
wiederum ist grundlegend für die Entwicklung der
Sprache. Die Konsonanten sind ein Klangbild der an der
Umwelt erfahrenen Formkräfte, die die Sprachorgane
tätig nachahmen, und in den Vokalen leben die inneren
Empfindungen, die sich daran knüpfen. Einmal war die
Menschheit so empfänglich, daß sie derart die Sprache
unmittelbar der Natur abgelauscht hat, heute lernen wir
unsere Muttersprache, indem wir die Menschensprache
nachahmen. In früheren Zeiten war eben die
Nachahmungsfähigkeit der ganzen Menschheit noch viel
ausgeprägter als heute, dafür aber war das
Selbstbewußtsein noch wenig entwickelt. Dieses leuchtet
nämlich um so stärker auf, je mehr die
Nachahmungsfähigkeit erstirbt; geschieht dies aber beim
Kind zu früh, so wird sein Ich für den Rest seines
Lebens auf wackligen Beinen stehen. Gerade, was den
Formensinn betrifft, hat sich die moderne
Lernpsychologie
erhebliche Schnitzer erlaubt. Wenn man das Kind
beständig mit künstlichen, simpel geformten und noch
dazu mit knalligen reinen Farben lackierten Gegenständen
umgibt, dann wird sein Formempfinden, das sich im
späteren Leben zum ästhetischen Empfinden und zu
wirklichem Naturverständnis steigern soll, immer
rudimentär bleiben. Zwar wird das Kind von derartigen
Gegenständen, die sich durch ihre einfache Gestalt und
ihre intensive Farbe brutal hervor drängen, wie magisch
angezogen, zwar wird dadurch für das spätere Leben eine
hohe Abstraktionsfähigkeit, die in unserem modernen
Leben so geschätzt wird, begründet, aber das Kind wird
dadurch, zu einem Zeitpunkt, wo es seiner Umwelt noch
hilflos ausgeliefert ist, in eine ganz einseitige
Weltauffassung hinein gedrängt, die später die
unterschwellige Basis für eine primitiv materialistische
Lebensanschauung wird, die alles geistige Erleben im Keim
erstickt. Und weil der Formensinn in der Sprache
weiterwirkt, so wird auch diese beeinträchtigt werden.
Das Kind muß in sanften Farbübergängen und lebendig
beweglichen Formen aufwachsen, wenn man ihm nicht für
später die reiche Fülle des Lebens rauben will! Das
wirkt bis in das Denken, und damit auch bis in die
Wissenschaft nach, denn wie wir denken lernen, das
gründet wiederum auf dem gut oder schlecht ausgebildeten
Formensinn und auf der Sprache. Was das Kind nicht an
klarer, deutlicher und wohlklingender Sprache nachahmend
erübt, das wird ihm später in der Denkkraft mangeln.
Und auch das Denken selbst wird zuerst nachahmend
erfahren. Man sieht, welch ungeheure Verantwortung dem
Erziehenden aufgetragen ist. Pädagogische Maximen
nützen hier wenig; wie man sich stündlich vor dem Kind
darlebt, das ist entscheidend! Und wer möchte
bestreiten, daß es sich die Eltern angelegen sein lassen
müßten, sich selbst so zu erziehen, daß ihr Leben dem
Kind zum rechten Vorbild werden kann, dem es unbeschadet
nacheifern darf. Völlig irrig wäre es, zu glauben, daß
man sich vor dem Kind alles erlauben könne, weil es
bewußt ohnehin noch nichts mitbekommt. Das Bewußtsein
des Kindes ist dabei eben gar nicht entscheidend; gerade
das, was nicht bewußt aufgenommen wird, prägt sich um
so tiefer dem ganzen Menschenwesen ein. Was den Menschen
vom Tier zuallererst unterscheidet, ist seine aufrechte
Haltung. Wenn man das Kind durch sein eigenes schlechtes
Beispiel zu einer schlaffen schlampigen Haltung erzieht,
dann drängt man es ganz leise auf das tierische Niveau
herab. Im Tier kann sich der Geist nicht selbstbewußt
entfalten, sondern nur im Menschen, der der
"Anthropos", der Aufgerichtete ist; und der
Geist ist die ursprüngliche Heimat des Menschen, mit der
er sich in seinem Erdenleben wieder verbinden muß. Alle
Religion, die ja die erste elementare Wiederverbindung
des Menschen mit dem Geist darstellt, hat hier ihre
Wurzel. Und ebenso alle Moral, durch die der Mensch sein
Tun, das bei den Tieren noch weisheitsvoll durch den
Instinkt geleitet wird, selbst bestimmen muß. Die
aufrichtige Haltung ist geradezu praktisch geübte
Religion, abseits jeglichen irgendwie gearteten
sentimentalen scheinheiligen Klerikalismus. Was das Kind
nicht körperlich in seiner Haltung erwirbt, das wird im
später an Aufrichtigkeit, an Charakterfestigkeit, die
sich im Lebenssturm bewährt, mangeln. Vieles kann der
Mensch zwar später aus seinem voll erwachten Ich heraus
ausgleichen, so daß man nicht alle späteren
Verfehlungen auf die Erziehung schieben und sie dadurch
entschuldigen darf, aber durch all das, was man in der
Kindheit versäumt, legt man dem Menschen für sein
späteres Leben oft beträchtliche Hindernisse in den
Weg. Viele Hürden kann man meistern, und man wächst
daran; aber an Hürden mangelt es im Leben ohnehin nicht.
Wer schon auf einem höheren Niveau und mit in guten
Gewohnheiten gefestigten Fähigkeiten antritt, der wird
auch leichter weiter hinaufschreiten können und den
individuellen Geist, der in ihm lebt, besser und
fruchtbarer für die ganze Menschheit entfalten können.
Die feste Haltung ist ein erstes, die schöne
ästhetische Sprache ein zweites, durch das ein gesundes
Natur- und Kunstempfinden vorbereitet wird. Ein drittes
ist Klarheit und Wahrheit im Denken, die allein zu
sicheren lebenstauglichen Erkenntnissen führen können.
Gute Gewohnheiten dem Kind vorzuleben, muß geradezu die
Erziehungsmaxime für das erste Lebensjahrsiebent des
Kindes sein!
Erinnerung und Gedächtnis
im eigentlichen Sinn erwirbt sich das Kind in der Zeit
bis hin zum Zahnwechsel noch nicht, es lebt vorwiegend
unter den unmittelbaren Eindrücken der Sinne. Was es
sinnlich erlebt, das ahmt es nach und bildet sich dabei
tief in seinem Wesen verankerte Gewohnheiten. Einen
Vorglanz der späteren Erinnerungsfähigkeit erlebt es
aber, wenn es sich die Sprache aneignet. Indem das Kind
immer getreuer das Gehörte nachahmend übt, fällt ein
erstes schwaches inneres Erlebnis davon in sein
Bewußtsein. Und mit dem erwachenden kindlichen Denken
keimt auch das Gedächtnis ganz zart auf. All das sind
aber nur aller erste Anfänge. So richtig erwacht die
Erinnerungsfähigkeit erst im zweiten Lebensjahrsiebent,
und das abstrakte Gedächtnis überhaupt erst in der
Pubertät. Die Nachahmungsfähigkeit allerdings beginnt
bereits etwas nachzulassen. Je mehr sich die
Erinnerungsfähigkeit des Kindes entwickelt, desto
stärker verinnerlicht sich das ganze seelische Erleben.
In den ersten Lebensjahren lebt die kindliche Seele noch
ganz in ihrer Umwelt auf; jetzt, im zweiten
Lebensjahrsiebent, beginnt sich ein immer reicheres
seelisches Innenleben zu entfalten. Im ersten
Lebensabschnitt schießt das, was das Kind mit den Sinnen
erlebt, noch unmittelbar bis in die Gliedmaßentätigkeit
und in die Gestaltung der Organe hinein. Nun beginnt sich
das Erlebte im rhythmischen System zurück zu stauen und
wird hier gefühlsmäßig empfunden; die sinnliche Welt
wird nun zunehmend ästhetisch genossen. Die in der Welt
ausgegossene Schönheit bildet die Seele des Kindes;
darauf hat man nun Rücksicht zu nehmen. Alles
Häßliche, Unharmonische, das dem Kind begegnet,
zerstört diese aufsprießenden Seelenkräfte. Wohltuend
für das Kind ist alles, was sich rhythmisch harmonisch
vor seinen Sinnen ausbreitet. Disharmonie und
unrhythmische Lebensweise wirken störend auf sein
Seelenleben ein; und nicht nur auf dieses, sondern die
Wirkungen sind bis in den Leib hinein zu verfolgen.
Namentlich das rhythmische System selbst kann Schaden
nehmen, wenn das Kind nicht die Welt in Schönheit
ergreifen kann. Was der Erinnerung einverleibt werden
soll, daß muß rhythmisch immer wieder an das Kind heran
getragen werden. Aus Zahlenrhythmen heraus prägt sich
etwa das Einmaleins dem kindlichen Erinnerungsvermögen
ein. Was das Kind tut, wenn es mit Händen den
Zahlenrhythmus klatscht oder mit Füßen stampft, das
bebt im Atemrhythmus nach. Epische Dichtungen im strengen
Versmaß wirken ähnlich. Wenig kommt zunächst darauf
an, daß das Kind den Inhalt versteht; daß er intensiv
erlebt wird, das ist bedeutsam. Dann wirkt alles, was das
Erinnerungsvermögen derart bildet, auch körperlich
gesundend auf das Kind zurück. Und alles, was man dem
Kind in diesem Lebensalter entzieht, das bleibt ihm nicht
nur als seelischer, sondern vorallem auch als
unterschwelliger körperlicher Schaden für sein weiteres
Leben, der sich aber oft erst nach vielen Jahrzehnten
durch verschiedene Krankheiten offenbart. Da man heute
dazu neigt, nur die nächstliegenden Ursachen zu
beachten, werden diese Zusammenhänge meist völlig
übersehen. Man ahnt, welch ungeheure Verantwortung dem
Lehrer, der jetzt zum eigentlichen Erzieher des Kindes
wird, damit auferlegt ist. Und er müßte dabei
scheitern, wenn er nicht mächtige Hilfe hätte. Die
kosmischen Rhythmen selbst sind es, die sich in der
Schönheit der sinnlichen Welt widerspiegeln, etwa wenn
sich die Pflanzen in ihren verschiedenen Farben und
Formen im Zyklus der Jahreszeiten entfalten und endlich
die Blüte die darin waltenden Gesetze am reinsten
enthüllt und am stärksten zur Seele spricht und dort
eine ihr verwandte Saite erklingen läßt. Heute, wo sich
die Menschen so stark der Natur entfremdet haben und
vielfach dem zerrissenen disharmonischen städtischen
Leben hingegeben sind, wird es immer schwerer, dem Kind
diese harmonischen Kräfte zufließen zu lassen. Das
künstlerische Gestalten in Farben und Formen muß
fortsetzen, was uns die Natur nicht mehr alleine leisten
kann. In der Kunst muß gleichsam der Mensch eine zweite
höhere, weil seelische Natur aus sich heraus gebären,
die gesundend auf das ganze Menschenwesen wirkt. Die
Kunst muß gerade für dieses kindliche Lebensalter zu
einer Methode werden, die in allen Lebensgebieten, in
allen Unterrichtsfächern belebend wird. Dann wird das
Kind auch eine reichere Erinnerungsfähigkeit ausbilden,
die für sein ganzes Leben nachwirkt. Und Schaden müßte
das Kind nehmen, wenn man es zu früh dazu drängt, das
abstrakte Gedächtnis, das das Seelenleben vertrocknen
läßt, auszubilden. Die andere Gefahr besteht aber
darin, daß man das Kind zu sehr dem nun immer stärker
werdenden Innenleben überläßt. Namentlich, wenn die
Pubertät heranrückt, neigt das Kind dazu sich immer
mehr in seinem Inneren zu vergraben und seine
ursprüngliche kindliche Weltoffenheit zu verlieren. Dann
droht es von den erwachenden Trieben überwältigt zu
werden und nur mehr seinen eigenen Egoismus auszuleben.
Wenn also im zweiten Lebensjahrsiebent vorallem die
Erinnerungsfähigkeit gepflegt werden soll, so muß man
doch beachten, daß einerseits die Gewohnheiten der
ersten Kinderzeit nachwirken, und anderseits das
nüchterne Gedächtnis bereits seinen Schatten voraus
werfen muß. Schlechte Gewohnheiten, die das Schulkind
mitbringt, wird der Lehrer dämpfen müssen, gute wird er
fördern und weiterbilden. Das karge Gedächtnis wird
wiederum helfen, das überschäumende Innenleben zu
zähmen. Wie hier das gesunde Gleichgewicht zwischen
Gewohnheit, Erinnerung und Gedächtnis zu finden ist,
wird bei jedem einzelnen Kind und bei jeder
Klassengemeinschaft anders liegen. Schon daraus allein
ist klar, daß es kein pädagogisches Patentrezept geben
kann, wie man die Kinder in dieser Zeit zu erziehen hat.
Beispiele mögen für den Lehrer anregend sein, aber
wirklichen Wert hat nur das, was er unmittelbar konkret
den Kindern abliest, die ihm anvertraut sind.
Fruchtbringend wird nur sein, was er selbst aus seinen
kreativen künstlerischen pädagogischen Fähigkeiten
heraus entwickelt. So wie die Eltern auf das kleine Kind
am heilsamsten dadurch wirken, daß sie dem Kind viele
gute Gewohnheiten vorleben, so wird nun der Lehrer am
weitesten kommen, wenn er selbst wahrhaftig in dem
künstlerischen Element zu leben vermag, dessen die
Kinder nun besonders bedürfen:
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Ein
Künstler, der kein Lehrer ist,
Den sollte doch der Kuckuck holen!
Ein Lehrer, der kein Künstler ist,
Der hüte Ferkel, Kälber, Fohlen!Georg Michael
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Je mehr das dritte
Lebensjahrsiebent herannaht, desto mehr beginnt die
eigene Urteilsfähigkeit des Kindes zu erwachen. Mit der
Pubertät vollzieht sich der gewaltige Entwicklungssprung
zum Jugendlichen hin. Die Gliedmaßen strecken sich, der
Stimmbruch bei den Knaben tritt ein, und auch das
abstrakte Gedächtnis reift jetzt erst heran. So wie das
Kind im zweiten Jahrsiebent die Welt ästhetisch
genießen wollte, so will es jetzt vorallem die Wahrheit
über die Welt so erfahren, daß sie seinem eigenen
Urteilsvermögen einleuchtet. Nichts schädlicheres kann
man tun, als den Jugendlichen nun mit vorgefertigtem,
letztlich unverstandenem Wissen abzufüttern.
"Abrufbares Wissen", wie es eine Zeit lang
pädagogisch gefordert wurde, erschlägt die aufkeimenden
Urteilskräfte des Jugendlichen durch dogmatisch
eingeengte Vorurteile. Je mehr der Jugendliche lernt,
das, was andere vor ihm gedacht haben, eigenständig
zu reproduzieren. Je mehr dabei eine Sache von den
verschiedensten Seiten charakterisiert wird, desto mehr
lernt er, die verschiedenen Denkwege gegeneinander
abzuwägen. Alle Einseitigkeit des Denkens, das man dem
Jugendlichen vorlebt, hindert ihn an der Entfaltung der
eigenen Urteilsfähigkeit, denn diese entsteht überhaupt
nur dort, wo man verschiedene Denkstile bezüglich ein
und der selben Sache ins Spiel bringt, sie in ihrer
relativen Berechtigung erfaßt und im konkreten Fall
gegeneinander aufwiegt. Dafür bildet das gesunde
Gedächtnis die notwendige Basis. Niemals sollte von
einem Denkzwang die Rede sein, sondern von verschiedenen
Denkmöglichkeiten, die aber jede für sich konsequent
verfolgt werden müssen. Nur so kann man das Denken daran
hindern, in Schablonenhaftigkeit zu verfallen, und nur so
wird dem Ich die Chance geboten, sich etwa ab dem 21.
Lebensjahr wirklich zur freien Individualität zu
entfalten.
Gedächtnis und
menschheitliche Entwicklung
Verschiedene Arten des
Gedächtnisses, jetzt im weitesten Sinne genommen, haben
wir bisher unterschieden. Die Gewohnheiten, die sich
zumeist so ausleben, daß dabei das Bewußtsein kaum
beteiligt ist, wollen wir zunächst außer acht lassen.
Auch Tiere können durch Dressur innerhalb gewisser enger
Grenzen Gewohnheiten entwickeln, sie verfügen jedoch,
wie wir gesehen haben, über kein eigentliches
Gedächtnis. Von diesem dürfen wir nur sprechen,
insofern daran das Denken in geringerem oder größerem
Grad beteiligt ist. Der Entwicklungsweg verläuft dabei
so, daß das sinnliche Element immer mehr zurücktritt
und das Denken zugleich immer bedeutender wird. Wenn wir,
angeregt durch einen Sinneseindruck, einen Gegenstand
wiedererkennen, so ist das Denken noch relativ wenig
involviert. Das Raumgedächtnis, wie wir es auch genannt haben, weil es
durch äußere, im Raum webende Sinneseindrücke erregt
wird, muß somit die älteste Form des menschlichen
Gedächtnisses sein. Es hängt eng mit der
gegenständlichen Wahrnehmung und mit der bewußten
Orientierung im Raum zusammen. Tiere, wie z.B. die
Zugvögel orientieren sich zwar oft sicherer im Raum als
der Mensch, aber der Raum als solcher wird von ihnen, wie
wir schon vielfach betont haben, nicht bewußt erfahren;
die Tiere sind im Raum orientiert, der Mensch
mußte lernen, sich selbst zu orientieren. Wir werden
damit auf eine Zeit verwiesen, in der die Menschheit noch
nomadisierend die Erde durchstreifte und dabei die
großen Tierherden begleitete. Was die Menschen an
unbewußten Instinkten verloren hatten, das konnten sie
so bewußt von den Tieren wieder lernen. Weit in das
Dunkel der Vergangenheit blicken wir damit zurück, in
die Welt der eiszeitlichen Jäger. Es ist die selbe Zeit,
die Rudolf Steiner als die letzte Phase der atlantischen
Entwicklung bezeichnet und die, begleitet von gewaltigen
Sturm und Flutkatastrophen, die mit der Eisschmelze
einher gingen, in die nachatlantische Kulturentwicklung
hinüber leitete. Gewaltige Wanderzüge großer Teile der
Menschheit waren damit verbunden, die vorallem vom
Westen, von der untergehenden Atlantis, nach Asien
führten, das allmählich sich aus den Meeresfluten
hervor hob. Die Höhlenmalereien von Lascaux und Altamira
etwa sind beredte Zeugen dieser Zeit. Nicht nur an den
Naturgegebenheiten orientierte sich der Mensch, sondern
überall grub er seine Zeichen und Marken ein, die ihm
den rechten Weg in seinem Tun leiten sollten.
Gedankenmäßiges empfanden die Menschen damals noch sehr
wenig, dafür erlebten sie die ganze innere Gestaltung
ihres Organismus viel intensiver, als wir es heute tun.
Die organischen Prozesses unseres Kopfes werden uns erst
bewußt, wenn wir Kopfschmerzen haben, dann erfaßt uns
ein diffuses, dumpfes Bewußtsein unseres leiblichen
Innenlebens, das dann aber bereits in einen krankhaften
Zustand abgerutscht ist. Der Atlantier verspürte
hingegen auch sein gesundes organisches Innenleben, und
er nahm es recht klar konturiert wahr. Vorallem aber
empfand er dabei, wie seine innere Lebenstätigkeit durch
tausend Fäden mit dem ganzen kosmischen Geschehen, mit
allen Rhythmen der Natur zusammenhing:
"Und
es gab einmal eine Zeit auf der Erde, wo der Mensch sich
bewußt war nicht bloß seiner armseligen Gedanken,
sondern seines Kopfes, wo er den Kopf empfand, wo er
empfand, meinetwillen sagen wir, den Vierhügelkörper
oder die Sehhügel, wo er sie empfand in ihrer
Nachbildung einer gewissen physischen
Gebirgskonfiguration der Erde; wo der Mensch nicht bloß
aus irgendeiner abstrakten Lehre heraus das Herz auf die
Sonne bezog, sondern wo er empfand: Wie mein Haupt zu
meiner Brust, zu meinem Herzen, so steht die Erde im
Verhältnis zur Sonne."
(GA 233/ S
19)
Damit wird unterstrichen,
wie die ganze menschliche Gestalt, wie die inneren
Lebensrhythmen des Menschen gewissermaßen durch
Nachahmung der Natur zu einem verkleinerten Abbild der
kosmischen Welt geworden ist. Als dieser Prozeß schon
sehr weitgehend vollendet war, erwachte auch das
charakterisierte Raumgedächtnis. Das, woran man sich
erinnern wollte, wurde gleichsam der Erde eingegraben,
"Denkmale" im wahrsten Sinne des Wortes wurden
errichtet. Und nicht viel anderes tun wir heute, wenn wir
uns von etwas Notizen machen, um uns später wieder daran
erinnern zu können.
Das Erinnerungsvermögen,
durch das das sinnlich Erlebte seelisch verinnerlicht und
mehr oder weniger willkürlich wieder, ohne äußere
Anregung, heraufgerufen werden kann, stellt den nächsten
Entwicklungsschritt dar. Er fällt etwa in jene Zeit, als
der Mensch seßhaft wurde und Ackerbau und Viehzucht
begannen. Der Mensch löste sich nun viel stärker aus
seiner natürlichen Umgebung heraus als früher. Dabei
verinnerlichte sich sein Seelenleben aber auch immer
mehr. War der Mensch früher noch sehr stark in die
natürlichen Rhythmen seiner Umwelt eingebettet, so
besann er sich nun immer mehr auf deren mikrokosmisches
Abbild, d.h. auf die rhythmische Gestaltung seines
eigenen menschlichen Lebens:
"Da
hatte der Mensch nun nicht aus irgendeiner schlauen
bewußten Finesse heraus, sondern aus seiner inneren
Wesenheit heraus das Bedürfnis entwickelt, im Rhythmus
zu leben. Er hatte das Bedürfnis entwickelt, wenn er
irgend etwas gehört hatte, das so in sich zu
reproduzieren, daß ein Rhythmus herauskam... In manchen
Wortbildungen können sie das heute noch verfolgen, zum
Beispiel der Gaugauch oder Kuckuck. Oder auch dann, wenn
die Wortbildungen nicht unmittelbar hintereinander
stehen, sehen sie wenigstens, wie bei Kindern das
Bedürfnis noch vorhanden ist, diese Wiederholungen
auszubilden. Das ist noch eine Erbschaft aus der Zeit, wo
die rhythmisierte Erinnerung Platz gegriffen hat, wo man
nichts erinnerte, was man nur einfach erlebte, wo man nur
dasjenige erinnerte, was man in Rhythmisierung, also in
Wiederholungen, in rhythmischer Wiederholung erlebte. Und
so mußte wenigstens zwischen dem, was aufeinanderfolgte,
eine [lautliche, d. Verf.] Ähnlichkeit sein: Mann und
Maus, Stock und Stein. Diese Rhythmisierung des Erlebten,
das ist der letzte Rest einer hochgradigen Sehnsucht,
überall zu rhythmisieren, denn was nicht rhythmisiert
wurde in dieser zweiten Epoche, nach dem lokalisierten
Gedächtnisse, das behielt der Mensch nicht. Und aus
diesem rhythmisierten Gedächtnisse hat sich dann
eigentlich die gesamte ältere Verskunst herausgebildet
..."
(ebenda, S
22)
Und diese Verskunst war
auch maßgebend für etwas, was sich gerade in dieser
Epoche vorallem bei den altorientalischen Völkern
herausgebildet hat und eng mit der durch und durch
rhythmisierten Erinnerungsfähigkeit zusammenhängt: in
dieser Zeit wurden die großen Mythen der Völker geboren, so daß wir
zurecht vom eigentlich mythologischen Zeitalter der
Menschheit sprechen und es weitgehend mit der Hochblüte
der Erinnerungsfähigkeit gleichsetzen. Was die Menschen
an immer wiederkehrenden Vorgängen in der Natur oder im
Menschenleben wahrnahmen, das prägte sich ihrer
Erinnerung ein, wo es sogleich von einer starken
schöpferischen Phantasie ergriffen wurde, die das
verinnerlichte sinnliche Rohmaterial weiter
ausgestaltete. Keine Willkür herrschte allerdings in
dieser Phantasie; sie offenbarte, weil sie noch von
wirklicher geistiger Imagination durchdrungen war, die
tieferen Geheimnisse des Menschen- und Weltenwerdens in
sinnbildlicher Form. Nicht die Chronik eines längst
vergangenen Geschehens war der Mythos, sondern immer
wiederkehrende lebendige Gegenwart. Die Völker dieses
mythischen Zeitalters kannten noch keinen linearen
Zeitbegriff wie wir, sondern sie erlebten das ganze
Weltenleben als sich zyklisch erneuernd. Die
Weltschöpfung ist nicht irgendwann in grauer Vorzeit
passiert, sondern sie geschieht im Grunde immer wieder
und erhält dadurch das Dasein
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