Forum für Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Goetheanistische Naturwissenschaft
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Die christliche Dimension des reinen Denkens

Das menschliche Denken, insofern es sich des materiellen Gehirnes als Werkzeug bedient, entstammt der kosmischen Intelligenz, die die ganze Erdenwelt weisheitsvoll gestaltet hat. Daß sich das menschliche Denken von diesem leiblichen Werkzeug lösen kann, hat mit dieser alten Weisheit nichts zu tun. Das reine leibfreie Denken ist erst seit dem Mysterium von Golgatha möglich geworden, darauf weist Rudolf Steiner immer wieder deutlich hin. Ganz abgesehen von der christlichen Lehre und dem Bekenntnis dazu, muß so das Christentum als welthistorische mystische Tatsache angesehen werden, die die entscheidende Wende in die gesamte Erd- und Menschheitsentwicklung gebracht hat. Seitdem scheidet sich die Entwicklung immer stärker in einen Weg, der abwärts in die untersinnliche Welt führt, und einen anderen, der den Menschen in die übersinnliche Welt erhebt. Welchen Weg der Mensch aus seiner Freiheit heraus, die durch das Mysterium von Golgatha möglich geworden ist, wählt, hängt alleine von ihm selbst ab. Die Scheidung der Geister, wie sie Johannes in seiner Apokalypse nennt, hat schon begonnen. In der menschlichen Intelligenz, wie sie aus der Vergangenheit heraufgekommen ist, leben all die Elemente, wenngleich in abgeschwächter Form, die auch in der natürlichen Intelligenz tätig waren. Man wird daher immer jenen Naturforschern recht geben müssen, die auf die natürlichen Wurzeln unseres Verstandes hinweisen. Insbesondere wird man so wie die vergleichenden Verhaltensforscher immer darauf hinweisen können, daß der menschliche Verstand, insofern er an das Gehirn gebunden ist, überall im Tierreich seine entsprechenden Vorformen findet. Das eigentlich Menschliche des Menschen, und ganz besonders seine Fähigkeit autonom zwischen dem Bösen und dem Guten zu unterscheiden, wird dadurch nicht berührt. Solange sich der Mensch nur seines leiblich gebundenen Verstandes bedient, ist er tatsächlich nichts anderes als das höchste und intelligenteste Tier auf Erden. Erst in dem er das reine leibfreie Denken zu ergreifen beginnt, verwirklicht er sich wahrhaft als Mensch. Die leibgebundene Intelligenz verweist uns auf die Vergangenheit; es ist dieselbe Intelligenz, aus der heraus die sinnlich sichtbare Erde mit ihrer ihr einwohnenden Gesetzmäßigkeit geboren wurde. Sie war es auch, die das Menschenwesen vorbereitet hat; die eigentliche Menschwerdung aber ist dem Menschen selbst aufgetragen. Das ist der Weg, der in die Zukunft weist!

Übersinnliche kosmische Intelligenz
Naturgesetze
Lebendige Wachstumsgesetze
Tierische Instinkte






Abstrakte menschliche Intelligenz
Informationstechnologie
Intuition
Inspiration
Imagination
reines Denken
Vergangenheit
Gegenwart
Zukunft
Mysterium von Golgatha

Menschliches Gedächtnis und elektronischer Speicher

Schon bei einer allerersten oberflächlichen Betrachtung zeigt sich, daß das menschliche Gedächtnis ganz anders funktioniert, als die elektronischen Speichermedien. Ein einfaches Beispiel für letztere ist schon eine gewöhnliche Tonbandkassette. Luftschwingungen, wie sie etwa durch Sprache oder Musik erregt werden, setzt das Mikrophon in elektrische Schwingungen um, die mittels des Tonkopfes das Tonband entsprechend magnetisieren. Die dynamische elektrische Schwingung wird so dem magnetischen Speichermedium räumlich eingeprägt. Alle Informationsspeicherung, wie sie etwa auch in der Computertechnik benutzt wird, beruht auf einem ähnlichen Prinzip. Läßt man das Tonband wieder am Tonkopf vorbei laufen und verbindet diesen mit einem Lautsprecher, so wird die gespeicherte Information nahezu getreu wieder in solche Luftschwingungen umgesetzt, die der Mensch dann als Sprache oder Musik hört. Wenn dabei auch einiges an räumlicher Klanginformation verloren geht, das auch durch Stereo- oder Quadrophonie nicht ausgeglichen werden kann, und daher das Klangerlebnis etwa in einem Konzert noch viel reicher ist, als es auch die beste Tonkonserve bieten kann, so ist das hervorstechende Merkmal der elektrischen und magnetischen Speicherung doch, daß dadurch die gespeicherte Information mühelos sehr getreu wiedergegeben werden kann. Das ist beim menschlichen Gedächtnis keineswegs der Fall. Was wir gestern erlebt haben, läßt sich heute oft nur mit Mühe wieder ins Gedächtnis rufen, und an was wir uns derart erinnern, das ist meist nur ein blasser abstrakter Schatten des ursprünglichen Erlebnisses. Wenn wir gestern durch strömenden Regen laufen mußten und dabei bis auf die Haut durchnäßt wurden und dabei auch noch entsetzlich gefroren haben, so bleibt davon in der Erinnerung oft wenig mehr als der nüchterne Gedanke: "Gestern hat es stark geregnet und ich bin ganz naß geworden." All die intensiven sinnlichen und seelischen Eindrücke, die wir dabei empfunden haben, sind nahezu ausgelöscht, die meisten Details sind verloren gegangen, oder können zumindest nicht mehr willkürlich ins Bewußtsein gerufen werden. Und je weiter ein Ereignis zurückliegt, um so blasser erscheint es zumeist in der Erinnerung. Interessant ist immerhin, daß in der Hypnose, d.h. wenn das wache Ich-Bewußtsein ausgeschaltet ist, auch längst vergangene Geschehnisse nochmals sehr intensiv durchlebt werden können. Dabei können sogar Dinge auftauchen, die sich damals zwar direkt vor unseren Augen abgespielt haben, die uns dabei aber gar nicht wirklich bewußt geworden sind. Tatsächlich scheint nichts wesentliches von dem verlorengegangen zu sein, was wir in unserem Leben erfahren haben, aber wir können uns davon normalerweise nur den aller geringsten Teil wieder willentlich bewußt machen. Während bei der unmittelbaren Sinneswahrnehmung die Sinnesqualitäten selbst im Vordergrund stehen, verblassen sie in der Erinnerung zunehmend; dafür tritt das abstrakte gedankliche Element immer stärker hervor; treffend erscheint daher auch das Wort "Gedächtnis", das sich ja von "Gedenken" bzw. "Denken" ableitet. Einem Wesen, das nicht zu denken vermag, wird man daher auch in diesem Sinne kein "Gedächtnis" zuschreiben dürfen. Dann wird einen auch die Aussage Rudolf Steiners, daß die Tiere, trotz des sprichwörtlichen "Elefantengedächtnisses", über kein Gedächtnis verfügen, nicht mehr sonderlich verblüffen. Da Tiere nicht im menschlichen Sinne denken können, denn dazu ist die Willenskraft des individuellen Ichs nötig, so können sie auch kein so verstandenes Gedächtnis besitzen. Und noch weniger kann dann die elektronische Speicherung als Gedächtnis aufgefaßt werden. Man muß eben hier viel feiner unterscheiden, als man es gewöhnlich tut. Das Gedächtnis ist eng mit dem Selbstbewußtsein verbunden und bildet dessen notwendige Grundlage; die elektronische Speicherung ist von gar keinem Bewußtsein begleitet. Und wenn auch manche Wissenschaftler davon phantasieren, daß künftige immer komplexer werdende elektronische Datenverarbeitungsanlagen einmal Bewußtsein entwickeln könnten, so wird doch niemand ernsthaft behaupten, daß sich ein Tonband der auf ihm gespeicherten Information bewußt sei.

Daß Gedächtnis und Selbstbewußtsein miteinander verknüpft sind, ist aber gerade für den Menschen charakteristisch.

"Das Gedächtnis erst läßt uns den Lebensalltag gestalten und ihm Sinn geben. Weil es die Vergangenheit in die Gegenwart holt und dieser so Bedeutung verleiht, ermöglicht es angepaßtes Handeln wie auch eine Ausrichtung auf die Zukunft. Ohne diese zentrale Gehirnleistung fehlte der Bezug zur Welt, könnte der Mensch als integrierte Persönlichkeit nicht existieren – schon gar nicht in der Gemeinschaft, die immer auch ihre Geschichte hat."

(Hans J. Markowitsch, Spektrum der Wissenschaft, Dossier 4/97, S 24)

Alle diese hier angesprochenen Eigenschaften treffen sehr deutlich schon für das Tier nicht mehr zu!

Das gedankliche Element tritt also im Gedächtnis stark hervor. Auffallend ist dabei auch, daß das Gedächtnis nicht nur sehr stark zur Abstraktion neigt, sondern auch meist die Vergangenheit mehr oder weniger stark verfälscht. Werden sieben Zeugen zu ein und dem selben Ereignis befragt, so erhält man nicht selten neun verschiedene Aussagen – weil es sich zwei der Zeugen nochmals anders überlegt haben. Von einer getreuen Wiedergabe des Geschehenen, wie es beim simplen Tonbandgerät weitgehend der Fall ist, kann gar nicht die Rede sein. Nur mit viel Willenskraft und Übung kann der erwachsene Mensch sein Gedächtnis so schulen, daß es möglichst detailgetreu und wahrhaftig funktioniert. Wenn etwa ein Schauspieler einen Text memorieren soll, so wird es nicht damit abgetan sein, daß er den Text bloß einmal gelesen hat. Er muß ihn vielmehr in geeigneten Portionen wieder und wieder durchgehen. Sein Gedächtnis wird dabei um so getreuer werden, je weniger er sich auf den gedanklichen Inhalt konzentriert, sondern vielmehr auf den unmittelbaren Wortlaut selbst. Es ist verhältnismäßig leicht und rasch möglich, das Gelesene sinngemäß mit eigenen Worten wiederzugeben. Sich getreu an die Vorlage zu halten erfordert schon viel mehr Disziplin. Man wird dann auch bald merken, daß das Gelernte erst so richtig sitzt, wenn man darüber zumindest eine oder zwei Nächte geschlafen hat. Das ist selbst dann der Fall, wenn man den Text in der Zwischenzeit nicht wiederholt hat. Dafür kommt er dann bei Bedarf fast wie von selbst hervor, ohne daß man dafür viel Kraft aufbringen müßte. Vorallem hat man es dann kaum mehr nötig, darüber nachzudenken, wie denn die genaue Wortfolge gewesen sei, sie ist einfach unvermittelt da. Das Gedächtnis geht derart in das über, was ich Erinnerung nennen möchte.

Das Gedächtnis bildet sich beinahe unwillkürlich, beiläufig, während wir die Welt denkend betrachten und am leichtesten prägt sich das ein, was wir, während wir es erleben, am stärksten mit dem wachen Denken verfolgen. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr verblaßt aber dieses Gedächtnis und um so mehr Mühe bereitet es uns, das früher Gedachte wieder getreu wach zu rufen. Bei der Erinnerung ist es gerade umgekehrt. Viel Willenskraft ist dafür nötig, damit sie sich überhaupt ausbildet, und wir müssen dabei vom gedanklichen Element viel mehr absehen und uns vorallem auf die eigentliche sinnliche Qualität des Wahrgenommenen konzentrieren. Es geht bei der Erinnerung darum, sich die damals an der äußeren Welt erlebten Sinnesqualitäten, eventuell auch dabei erlebte innere körperliche oder seelische Empfindungen, deutlich vor das innere Seelenauge zu rufen. Ist die Erinnerung derart durch starke willentliche Konzentration oder durch die ungewöhnliche sinnliche und emotionale Intensität des Erlebten gefestigt, dann läßt sie sich jederzeit beinahe beiläufig wieder hervorrufen. Eine Rolle etwa, die man vor vielen Jahren gespielt hat, läßt sich sehr schnell wieder auffrischen. Auch der Sternenhimmel, wie ich ihn einmal in den einsamen Bergen Kretas in völlig lichtloser Umgebung erlebt habe, und wie ich ihn in dieser Intensität weder davor noch danach jemals gesehen habe, steht mir immer wieder beinahe so konkret vor der Seele als würde ich ihn unmittelbar erleben. Gedächtnis und Erinnerung stehen derart in einem geradezu diametralen Gegensatz zueinander. Bei heutigen Menschen dominiert sehr deutlich das Gedächtnis, währen die Erinnerungsfähigkeit beträchtlich zurücktritt.

Im gewöhnlichen Denken bilden wir uns abstrakte, d.h. von ihrem sinnlichen Bezug weitgehend befreite, Gedanken über die äußere Welt. Durch das Gedächtnis reproduzieren wir diese Gedanken sinngemäß wieder. Die Erinnerung bilden wir, wenn wir das abstrakte Denken weitgehend zurückhalten und uns statt dessen auf die unmittelbaren sinnlichen Eindrücke und ihren wechselseitigen Bezug zueinander konzentrieren. Wenn wir uns erinnern, dann wird ein innerliches seelisches Abbild des einstmals sinnlich Wahrgenommen heraufgerufen. Je öfter wir eine derartige Erinnerung wieder aufleben lassen, desto mehr tritt aber auch ein gedankliches Element hinzu, das aber nun ganz anders ist, als das abstrakte Denken über die Welt. Es werden uns jetzt nämlich zunehmend jene Bildekräfte gedanklich bewußt, die die sonst freischwebenden Sinnesqualitäten erst zum vollbestimmten ganzen Bild zusammenfügen. Wir denken dann nicht mehr über die Welt, sondern die Welt selbst, indem wir sie in der getreuen Erinnerung immer wieder in uns nachbauen, denkt jetzt gleichsam in uns. Und indem wir die Welt konkret in uns nachbilden, eignen wir uns selbst dieses Weltendenken immer mehr an. Wenn wir dann wieder unmittelbar wahrnehmend an die Welt herantreten, dann wird dieses lebendige Denken auch schon im unmittelbaren Anschauen immer aktiver werden. Es entsteht das, was Goethe die anschauende Urteilskraft genannt hat.

Die moderne Naturwissenschaft stützt sich überwiegen auf das abstrakte Denken über die Dinge, und sie bewahrt das derart gewonnene Wissen gedächtnismäßig, oder legt es, wo das Gedächtnis nicht mehr hinreicht, in Bibliotheken oder elektronischen Medien ab. Die goetheanistische Naturforschung schaltet das abstrakte Denken weitgehend aus und verleibt das sinnlich Geschaute der Erinnerung ein, aus der heraus sich die Dinge selbst immer mehr auszusprechen beginnen. Goetheanistische Bücher haben daher auch nicht primär den Sinn, Wissen zu vermitteln, Information weiterzugeben, sondern sie können nur Wegweiser sein, die anschauende Urteilskraft zu entwickeln, durch die sich das Wesen der Welt enthüllt, die sich vor den Sinnen ausbreitet.

Die Vorstellung, und damit ist vorallem die Erinnerungsvorstellung gemeint, ist für Rudolf Steiner ein individualisierter Begriff, d.h. ein Begriff, der einmal an einer Wahrnehmung gebildet wurde, und dem der Bezug zu dieser Wahrnehmung geblieben ist. In unserem Sinne steht damit die Vorstellung genau zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Das Gedächtnis betont mehr das gedankliche, die Erinnerung mehr das sinnliche Element. Beide zusammen sind charakteristisch dafür, wie sich der Mensch das in der Vergangenheit Erlebte seelisch wieder vergegenwärtigen kann. Vorstellung ist also der Überbegriff für diese rein menschliche Fähigkeit, in der sich Gedächtnis und Erinnerung zusammenfassen, und die Vorstellung kann, je nach dem, einmal mehr der einen oder anderen Seite zuneigen.

Was der Mensch in seiner Erinnerung bewahrt, sind nicht einzelne unzusammenhängende Sinneseindrücke, sondern diese sind zu einem sinnvollen Gesamtbild verwoben. So wie der Mensch die Außenwelt gegenständlich erlebt, so kann er sie sich in der Erinnerung wieder vergegenständlichen. Dem Tier fehlt, wie wir gesehen haben, die Fähigkeit, die Welt gegenständlich aufzufassen. Weil es sich mangels des individuellen Ichs nicht als Subjekt den Objekten gegenüberstellen kann, fließt es in seinem Bewußtsein beständig mit der Welt zusammen. Wenn es aber schon die Welt nicht objektiv erleben kann, dann kann es sich noch weniger an Objekte erinnern. Das Tier hat keine Erinnerungsfähigkeit.

Wie ist es aber nun um das bereits zitierte "Elefantengedächtnis" bestellt? Unbestreitbar reagieren Elefanten auf einen Menschen, der ihnen vielleicht vor vielen Jahren Böses angetan hat, äußerst heftig und feindselig. Die damalige Erfahrung hat ganz offenkundig ihre Spuren hinterlassen. Ähnliche Erfahrungen kann man auch mit vielen anderen Tieren machen. Von Gedächtnis oder Erinnerung kann man dabei dennoch nicht sprechen, denn kein Tier kann sich, wie wir gesehen haben, über das Geschehene Gedanken machen, noch als inneres Bild in sich wieder wachrufen. Etwas ganz anderes ist hier der Fall, und das kann man sich am Beispiel des bekannten "Pawlowschen Hundes" vergegenwärtigen: einem Hund wird wiederholte Male Futter gereicht, wobei gleichzeitig immer eine Glocke ertönt. Nach einiger Zeit werden sich bei dem Hund die Verdauungssäfte auch dann schon regen, wenn bloß die Glocke allein erklingt, ohne daß Futter da ist. Normalerweise ist die innere Verdauungsreaktion an den Geruch des Futters gekoppelt; durch die Dressur wird sie nun mehr oder weniger dauerhaft auch mit dem Glockensignal verknüpft. Bewußt wird dem Hund davon nichts. So wie er normalerweise auf den Geruchsreiz innerlich reagiert, so reagiert er nun auf den akustischen Reiz. Die Reaktion erfolgt dabei ganz unmittelbar, ohne daß sich der Hund die vergangene Situation innerlich gedanklich oder bildlich vergegenwärtigt. Beim "Elefantengedächtnis" ist es nicht viel anders. Der Mensch, der dem Elefanten Schmerzen zufügt, löst bei diesem eine unmittelbare heftige Abwehrreaktion aus. Erscheint Jahre später derselbe Mensch wieder, so wird diese Abwehrreaktion auch dann ausgelöst, wenn er dem Tier jetzt keine Schmerzen zufügt. Wieder löst ein bestimmter gegenwärtiger äußerer Reiz eine bestimmte innere Reaktion aus. Wir haben es im Grunde nur mit einem bedingten Reflex zu tun.

Das Tier lebt beständig in der Gegenwart, es kann weder auf die Vergangenheit zurückblicken, noch auf die Zukunft vorschauen. Der Mensch kann sich bis zu einem gewissen Grade, auch wenn das manchmal mühsam ist, das Vergangene wieder willentlich vergegenwärtigen; das Tier nicht. Und auch wenn dem Menschen, wie es oft geschieht, spontan, d.h. unwillkürlich etwas einfällt, dann erlebt er es als inneres seelisches Abbild des einmal äußerlich Geschehenen; auch das ist, wie wir klar gelegt haben, dem Tier nicht möglich. Ebenso wie sich das Tier nicht räumlich der Welt gegenübergestellt fühlt, so kann es auch nicht betrachtend dem Zeitenstrom gegenübertreten und auf das blicken was war, und auf das, was vielleicht kommen wird. Das Tier erlebt weder den Raum, noch die Zeit. Eben darum kann es sich nicht als Ich empfinden, oder besser umgekehrt gesagt: weil das Tier kein individuelles Ich hat, kann es weder Raum und Zeit erleben, noch über Gedächtnis und Erinnerung verfügen.

Was die menschliche Vorstellungskraft betrifft, so wird heute der Wissenschaftler mehr dem Gedächtnis, der Künstler mehr der Erinnerungsfähigkeit zuneigen. Das Gedächtnis steht dem abstrakten Denken schon sehr nahe. Vorstellungen, die wir uns einmal an Wahrnehmungen gebildet haben, bei denen aber mit der Zeit der Bildinhalt immer mehr verblaßt ist, rücken sehr nahe an den abstrakten Allgemeinbegriff heran. Wenn wir etwa schon viele Tannenbäume in unserem Leben gesehen haben, so werden wir, wenn wir neuerlich vor einem solchen stehen, diesen sofort als Tannenbaum erkennen. Wir rufen uns dann aber in der Regel keineswegs all die Erfahrungen vors Bewußtsein, die wir bisher bereits mit Tannenbäumen gemacht haben, sondern wir sprechen unmittelbar das Erfahrungsurteil aus: "Das ist ein Tannenbaum." Der abstrakte Begriff, den wir damit verbinden, ist dabei zunächst kaum mehr als ein bloßer Name. Die hochmittelalterliche scholastische Schule der Nominalisten gestand dem Menschen überhaupt nur derartige Erkenntnisse zu, und diese Art abstrakt zu denken wurde gerade grundlegend für die moderne Naturwissenschaft, die sich auf die induktive Erkenntnisbildung stützt, die darin besteht, daß man bestimmte Naturvorgänge immer wieder beobachtet hat, von diesen Beobachtungen den bildhaften Anteil auslöscht und den abstrakten begrifflichen Zusammenhang als Naturgesetz festhält. Von der lebendigen bildhaften Erinnerung geht so der Weg zum schon viel blasseren, aber stärker gedankendurchsetzten Gedächtnis, hin endlich zum bloßen Gedanken, zur abstrakten Erkenntnis. Der Übergang wird deutlich, insofern man dabei oft noch den individuellen Namen eines Dinges oder Wesens ins Bewußtsein faßt, etwa wenn man erkennt: "Das ist Herr Franz Müller" oder "Das ist Kater Schnurli" usw. Der Weg zum abstrakten Allgemeinbegriff, Mann, Mensch, Katze etc., ist dann nicht mehr weit. Der Künstler wird gerade diesen Abstraktionsprozeß zu Recht fliehen. Er wird viel stärker in die lebendige bildhafte Erinnerung eintauchen müssen, die er aber immer stärker willkürlich umzuwandeln beginnt. Je mehr er die künstlerische Phantasie in sich rege macht, desto mehr wird er die Erinnerung nur als vollgesättigtes bildhaftes Rohmaterial betrachten, dessen gedankliche Ordnung er weitgehend abstreift und ihm seine eigenen kreativ entworfenen Gesetzmäßigkeiten aufprägt. Anderseits können Erinnerungsfähigkeit und Phantasie auch, wie das Goethe beschrieben und geübt hat, zur exakten sinnlichen Phantasie ausgebildet werden, die ebenso grundlegend für die goetheanistische Naturwissenschaft ist, wie abstrakter Verstand und Gedächtnis für die herkömmliche Naturforschung. Damit ist für Goethe aber auch erst eine gesunde Grundlage für die künstlerische Phantasie gegeben, denn alle bloß willkürliche Phantasterei lehnt er entschieden ab; vielmehr habe der Künstler das Naturschaffen auf höherer Ebene fortzusetzen. Das ist nur möglich, wenn sich der Künstler auch mit dem Naturwesen gründlich vertraut gemacht hat; daß Goethe zugleich Künstler und Naturforscher war, ist also keineswegs ein Zufall, sondern entspringt einer inneren Notwendigkeit. Die Natur bleibt in ihrem Schaffen auf einer bestimmten Stufe stehen, sie verwirklicht nicht alles, was ideell in ihr angelegt ist. Der Künstler habe, so Goethe, dieses noch unverwirklichte ideelle Element immer mehr bildhaft erscheinen zu lassen. Das Naturschaffen geht so ohne Bruch in das künstlerische Schaffen über. Im Samenkorn sind schon all die vegetabilen Gesetze wirksam, die die ganze Pflanze bilden, aber sie sind darin noch verborgen, sie kommen noch nicht zur sinnlichen Erscheinung. Daher empfinden wir das Samenkorn noch als unscheinbar, noch nicht als schön. Schön empfinden wir erst die Blüte, in der die in der Pflanze wirksame gestaltende Idee sich vollkommen offenbart. So wie sich die ganze Natur im Laufe der Jahrmillionen entwickelt hat, ist das in ihr von Anfang an gelegene ideelle Element immer mehr in Erscheinung getreten. Im Menschen vollendet sich dieses Naturschaffen; in ihm wirken nicht nur die die Natur bildenden Kräfte, sonder sie kommen auch in seinem Denken selbst zur Erscheinung. Von nun an ist der Mensch aufgerufen, diesen Weg der Natur aus eigener Kraft fortzusetzen. Der Künstler erhöht die sinnliche Welt dadurch, daß er ihr die noch verborgenen Gestaltungskräfte derart einverleibt, daß sie sinnlich sichtbar werden. Dazu ist es nicht notwendig, daß er diese verborgenen Ideen auch mit seinem Denken klar erfaßt; sie walten dennoch in seinem künstlerischen Tun. Die noch unoffenbare Idee im Denken zu erfassen, ist aber gerade die Aufgabe des Naturforschers. Je mehr wir künftig lernen werden, diese beiden Seiten in unserem Wesen zu vereinen, desto mehr werden sich Kunst und Wissenschaft, die heute noch weitgehend getrennte Wege gehen, vereinigen und gegenseitig befruchten können. Die Kunst wird sich dann nicht mehr in haltloser Phantasterei verlieren, die Wissenschaft wird von der bloßen Abstraktion zum konkreten Leben voranschreiten. Dann besteht auch die Chance, daß die Technik nicht mehr nur isolierte tote Mechanismen in die Welt stellt, sondern sich organischer mit dem Naturgetriebe verbindet. Die Technik muß auf höherer Ebene etwas von jener techné, von jenem Kunsthandwerk zurückgewinnen, das für die griechische Kultur so charakteristisch war.

Das Gedächtnis geht nach oben zu in die Gedankenbildung über. Der Gedanke ist aus dem Zeitfluß herausgehoben, er bezieht sich nicht mehr auf ein bestimmtes vergangenes Erlebnis, sondern ist zeitlos gültig, unabhängig vom hier und jetzt. Am anderen Ende des menschlichen Vorstellungslebens korrespondiert damit etwas, was ich zunächst das Wiedererkennen nennen möchte. Das ist etwa der Fall, wenn wir einem Geruchseindruck, den wir vielleicht schon vor langer Zeit erlebt haben, wieder begegnen. Angeregt durch diesen gleich oder sehr ähnlich gearteten Reiz kommt uns dieser, ohne daß wir uns dabei ein inneres Bild des vergangenen Erlebnisses vergegenwärtigen, bekannt vor. Es handelt sich dabei zunächst nur um ein unbestimmtes Gefühl; was wir jetzt riechen, kommt uns bekannt vor, ohne daß wir es aber näher bestimmen können. Eine begrifflich klare Identifikation dessen, was wir wahrnehmen, liegt also nicht vor. Meist ist daran aber eine mehr oder weniger starke Emotion geknüpft; gerade für Gerüche, teilweise aber auch für Geschmacksempfindungen ist diese Art des Wiederempfindens typisch. Das hängt damit zusammen, daß sich Geschmacks- oder Geruchswahrnehmungen schon dann, wenn wir sie unmittelbar wahrnehmen, nur schwer begrifflich erfassen lassen; das gefühlsmäßige Erleben überwiegt. Wir nähern uns damit aber genau jener Situation, wie wir sie für das "Elefantengedächtnis" der Tiere beschrieben haben; wir stehen gleichsam vor dem Tor, das von der menschlichen Vorstellungswelt zum tierischen Erleben hinabführt. Dennoch bestehen immer noch zwei wesentliche Unterschiede. Erstens bildet sich im Bewußtsein die wage Frage: "Habe ich diesen Geruch nicht schon irgendwann irgendwo erlebt?"; das Tier erlebt einen derartigen begrifflichen Reflex nicht. Zweitens knüpfen sich beim Tier bloß Lust- oder Unlustempfindungen an dieses Erlebnis, während der Mensch es mit Gefühlen begleitet. Gefühle unterscheiden sich von bloßen Emotionen aber dadurch, daß bei ihnen das Ich immer leise im Hintergrund schwebt. Allerdings läuft der Mensch bei derartigen Erfahrungen nur allzu leicht Gefahr, sein Ich-Bewußtsein zu verlieren, und dann sinkt er tatsächlich bis auf das tierische Niveau herab. Geisteswissenschaftlich gesprochen geht das Erleben von der Empfindungsseele auf den Empfindungs- oder Astralleib über. Das äußere Erleben wird dann auch nicht mehr klar von der daran sich knüpfenden Lust- oder Unlustempfindung getrennt, die sehr leicht in eine unbewußte unmittelbare Reaktion hinüber schießt. Anstatt daß der Mensch seinen Willen entwickelt, wird er von seinen Trieben erfaßt. Tatsächlich ist bekannt, daß Menschen, wenn sie nicht ein starkes Ich-Bewußtsein entwickelt haben, sehr leicht durch entsprechende Düfte manipuliert werden können; der Mensch wird dann gleichsam ähnlich dem Tier dressiert. Ähnliches ist, wenngleich in geringerem Ausmaß, auch für andere Sinnesqualitäten möglich – ein Umstand, den sich die Werbung nutzbar macht. Nicht das wache Urteil des Menschen will man dabei ansprechen, sondern eine unterschwellige Lustempfindung erregen, die zur gedankenlosen Kaufentscheidung führt. Dem astralischen Erleben fehlt das Ich als beobachtendes und bestimmendes Zentrum, das alle Erlebnisse auf sich bezieht und nach ihrem inneren Wert bemißt. Innenwelt und Außenwelt werden als ineinander verschwimmend erlebt, das Wahrgenommene fordert beinahe "instinktiv" ein bestimmtes Tun. Nur waltet in diesen künstlich andressierten "Instinkten" nicht mehr die kosmische Weisheit, sondern der Machtwille anderer Menschen. Die Propagandamaschinerie des Dritten Reiches hat dafür ein erschreckendes Beispiel geliefert, das seitdem vielfach nachgeahmt wird. Und wenn auch vieles davon nicht gleich zu äußeren Greueltaten führt, so ist der seelische Schaden, den die Menschheit dadurch davon trägt, beträchtlich. Was etwa als öffentliche Meinung durch die Medien geistert, ist nicht weit davon entfernt. Durch die Fülle gezielt ausgewählter Informationen wird der Mensch nicht etwa urteilsfähiger, sondern vielmehr in seinem Bewußtsein eingelullt. Je mehr die Sensationspresse die Emotionen aufzuwühlen vermag, desto sicherer ist ihr Verkaufserfolg. Nichts ergreift die Massen wirksamer, als aus unbestimmbarer Quelle ausgestreute Gerüchte. Und "Gerüchte" und "Gerüche" haben nicht zufällig die gleiche sprachliche Wurzel! Die Sprachweisheit führt uns hier nicht nur auf einen seelischen, sondern sogar auf einen unmittelbaren körperlichen Zusammenhang. Werkzeug des abstrakten Denkens, das auch bei der Gedächtnisbildung eine Rolle spielt, ist das logische Vorderhirn, das aber nichts anderes ist als das metamorphosierte Riechhirn, das im Tierreich besonders deutlich ausgeprägt ist und sein Sozialverhalten wesentlich mitbestimmt. Was eine Tiergruppe zusammenhält, das ist auf physischer Ebene vorallem der typische arteigene Geruch. Das Paarungsverhalten und die sich daran anknüpfenden Revierkämpfe sind damit eng verbunden. Und so wie die Gerüche die Tiergruppe ergreifen, so die Gerüchte, die gleichsam ihre seelische Metamorphose darstellen, die Menschenmassen. Der Mensch wird entindividualisiert, wenn er gläubig den Gerüchten folgt. Und das tun die Menschen viel mehr als ihnen vielleicht bewußt ist; man denke nur daran wie stark beispielsweise die Börsenkurse durch diffus ausgestreute Gerüchte beeinflußt werden, und welche soziale Folgen das haben kann – und ähnliche Beispiel lassen sich zuhauf finden!

Von Gedächtnis und Erinnerung unterscheidet sich das Wiedererkennen dadurch, daß es grundsätzlich der sinnlichen Anregung von außen bedarf.

Gedächtnis und Erinnerung bedürfen dieser äußeren Anregung nicht, sondern können mehr oder weniger bewußt willentlich heraufgerufen werden. Allerdings kann selbstverständlich dadurch, daß wir etwas wiedererkennen, eine reiche Erinnerung oder unser Gedächtnis heraufgerufen werden. Im alltäglichen Leben durchdringen sich diese drei hier angesprochenen Prozesse, durch die sich der Mensch Vergangenes wach rufen kann, beständig. Nur, weil eine klare Begriffsbildung nötig ist, müssen sie hier zunächst auseinander gehalten werden! Ein typisches Beispiel für ein Wiedererkennen, das im Vergleich dazu, wenn man etwa Gerüche ahnend wiedererkennt, bereits in ein viel helleres Bewußtseinslicht gerückt ist, ist folgendes: man durchwandert eine Gegend, die man schon vor längerer Zeit einmal bereist hat, kann sich aber momentan nicht mehr recht orientieren. Der Weg gabelt sich etwa, und man ist unsicher, welchen man wählen soll. Da fällt der Blick auf einen ganz charakteristischen Felsen, den man wiedererkennt, und der einem nun die richtige Richtung weist. Willentlich aus der Erinnerungskraft heraus konnte man sich kein Bild des richtigen Weges machen, man bedurfte erst der äußeren sinnlichen Anregung. Man kann das Wiedererkennen daher auch als Raumgedächtnis bezeichnen, weil es durch die im äußeren Raum gegeben Sinnesqualitäten bestimmt wird und so vom rein innerlich herauf gerufenen Zeitgedächtnis unterscheiden, das rein seelisch auf vergangene Erlebnisse zurückblickt. Das Zeitgedächtnis, gleichbedeutend mit dem, was wir hier überhaupt "Gedächtnis" genannt haben, ist vorwiegend begrifflich, das Raumgedächtnis hingegen hauptsächlich sinnlich orientiert. Die Erinnerungsfähigkeit steht genau dazwischen, indem sie ein seelisches Abbild des sinnlich Erlebten wachruft. Auf dem Weg vom Raumgedächtnis zum Zeitgedächtnis verinnerlicht sich die Gedächtnisfähigkeit des Menschen zunehmend und löst sich immer stärker von der sinnlichen Umwelt ab. Man darf daher vermuten, daß das Raumgedächtnis das in der Menschheitsentwicklung älteste ist, und das Zeitgedächtnis erst nach und nach hinzu gewonnen wurde.

Das Raumgedächtnis, also das, was wir zunächst als "Wiedererkennen" charakterisiert haben, steht bestimmten tierischen Fähigkeiten recht nahe. Man denke nur etwa daran, wie Zugvögel nach tausende Kilometer langem Flug ihr vorjähriges Quartier absolut sicher wiederfinden, oder wie etwa Hunde oder Katzen ihr Heim aufspüren, auch wenn sie weit entfernt davon ausgesetzt wurden. Tiere sind darin dem Menschen oft vielfach überlegen. Dennoch darf man auch dabei nicht von einem Gedächtnis im eigentlichen Sinn sprechen. Das Tier erkennt sein Heim nicht derart wieder, daß es sein momentanes Erlebnis begrifflich auf ein vergangenes bezieht. Es lebt nur im Augenblick, und sein überschwengliches Lustgefühl, das sich an die vertrauten Sinneseindrücke knüpft, zeigt ihm, daß es hier richtig ist. Die Situation entspricht ganz der, die wir bezüglich der Dressur besprochen haben, das Tier ist gleichsam auf sein Heim dressiert. Wie erinnerlich, verfügen Tiere über keine wirkliche gegenständliche Wahrnehmung, sie erleben vielmehr mehr oder weniger freischwebende Sinnesqualitäten, die untrennbar mit bestimmten Lust- und Unlustempfindungen verwoben sind.

Das Tier gliedert nicht wie der Mensch die Welt in sein Innenleben und äußere Gegenstände. Folglich kann es auch unmöglich äußere Gegenstände wiedererkennen, der Mensch hingegen schon.

Wenn wir einen Geruch wiedererkennen, stehen wir dem tierischen Erleben schon sehr nahe. Gerüche werden uns nicht recht gegenständlich, aber wir beziehen sie immerhin noch klar auf die Außenwelt und unterscheiden davon deutlich die innere seelische Reaktion, die sich daran knüpft und von uns etwa als wohltuend oder ekelerregend empfunden wird. Der Mensch vermag das Sinnesfeld derart zu gliedern und gegenständlich zu erfassen, weil sich in ihm der Gedanke genügend entzündet. Das Tier hingegen verfügt nur über ganz wenige abstrakte Gedanken, die die für seine Art wesentlichen Sinnesqualitäten miteinander verknüpfen (man erinnere sich an das abstrakte "Weltbild" der Zecke, das auf der Verbindung von Schweißgeruch und Körperwärme beruht).

An der Schwelle, wo Bewußtes in Unbewußtes übergeht, stehen wir, wenn wir Gewohnheiten oder motorische Geschicklichkeiten ausbilden. Allen voran steht die Fähigkeit des Menschen, aufrecht zu gehen. Im Gegensatz zum Tier muß der Mensch lernen, sich geschickt in der Welt zu bewegen. Tiere können, wie wir gesehen haben, schon kurz nach der Geburt laufen. Allerdings ist hier kein ganz radikaler Bruch zwischen Tier und Mensch; auch viele Tiere müssen erst durch Übung und Nachahmung erlernen, zielsicher ihre Beute zu fassen, und auch Vögel beherrschen das Fliegen nicht gleich vollkommen. Spielerische Übung und Nachahmung sind hier wie dort entscheidend. Auch das Phänomen der Prägung, durch das Tiere sich an ihr Muttertier binden und ihm folgen, wirkt noch im Menschenreich nach. Während aber bei den Tieren diese motorische Lernphase zeitlich sehr eng eingegrenzt und auf ganz spezifische Tätigkeiten beschränkt ist, bleibt sie beim Menschen viel länger, nämlich im Grunde ein Leben lang, erhalten. Zwar wird es in späteren Lebensjahren immer schwieriger, sich derartige Geschicklichkeiten anzueignen, aber mit der nötigen Willenskraft sind hier keine unüberwindlichen Grenzen gegeben, insofern nicht überhaupt der Bewegungsorganismus nicht mehr geschmeidig genug ist, bestimmte Bewegungen auszuführen – aber dann ist nicht die Lernfähigkeit selbst, sondern nur die Bewegungsfähigkeit eingeschränkt. Der limitierende Faktor ist dann der physische Körper selbst, der mit zunehmendem Alter notwendig immer weniger bildsam wird. Wenn wir ganz exakt sprechen wollen, dann kann der Mensch während seines ganzen Lebens Gewohnheiten und Geschicklichkeiten ausbilden, die er seinem Äther- oder Bildekräfteleib einprägt. Ist es aber nötig, daß auch der physische Leib modifiziert wird, damit sich eine spezielle Fähigkeit ausleben kann, dann kann sie nur in den Kindheits- oder frühen Jugendjahren perfekt angeeignet werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Sprache. Das kleine Kind eignet sich mühelos durch Nachahmung und spielerische Übung seine Muttersprache an; und auch, wenn ein Kind zweisprachig aufwächst, macht das wenig Probleme. Die Sprachgewohnheit als solche sitzt im Ätherleib, aber sie wirkt bis in den physischen Leib fort und formt die Sprachorgane und die Sprachzentren des Gehirns entsprechend; das ist in einem späteren Lebensalter nicht mehr möglich und daher kann man als Erwachsener eine fremde Sprache kaum mehr so sicher und selbstverständlich erwerben wie seine Muttersprache. Sie wird als leiser Akzent auch dann noch durchschimmern, wenn man später viele Jahre in der anderen Sprachumgebung lebt.

Gewohnheiten sind viel fester mit unserem ganzen Wesen verbunden als Gedächtnis und Erinnerung. Eingeübte Fähigkeiten wie Gehen, Sprechen, aber auch das Schreiben, können kaum mehr verlernt werden; auch bei weitgehendem Gedächtnisverlust bleiben sie erhalten – und schlechte Gewohnheiten kann man sich erfahrungsgemäß nur sehr schwer wieder abgewöhnen. Und so wie manche notwendige Fähigkeiten wie etwa die Sprache formend bis in den physischen Leib hinein wirken können, so wirken schlechte Gewohnheiten oftmals schädigend bis auf den physischen Körper zurück.

Typisch für Gewohnheiten und erworbene motorische Fähigkeiten ist, daß wir sie erstens sehr geschickt und selbstverständlich ausführen, und daß dazu zweitens unser Bewußtsein nicht nötig, sondern sogar störend ist. Wenn wir etwa Radfahren lernen, so ist das zuerst sehr mühsam und belastet unsere volle bewußte Konzentrationskraft; wirklich geschickt fahren wir erst dann, wenn wir es nicht mehr bewußt ausführen müssen. Bewußt achten wir selbstverständlich auf den Weg, jedenfalls sollten wir es tun, wenn wir nicht versehentlich in den Graben fahren wollen; aber wie wir in die Pedale treten, wie wir das Gleichgewicht halten usw., all das geht wie von selbst. Das ist aber charakteristisch für den in uns tätigen Ätherleib, denn dieser hat nur ein pflanzenhaftes, d.h. schlafendes Bewußtsein. Und noch weniger bewußt wird uns all das, was bis in den physischen Leib eingegraben wurde, es ist für unser Bewußtsein vollständig erstorben. Nicht vergessen sollen in diesem Zusammenhang die Denkgewohnheiten werden, die entstehen, wenn bestimmte abstrakte Gedankenformen zur Routine werden und beginnen, sich in die Gehirnstruktur einzugraben. Sie bilden dann immer mehr eine unbewußte, nicht mehr weiter hinterfragte Schlacke in unserem Denken. Nur allzu leicht meint man dann, gar nicht mehr anders als auf dieser Grundlage denken zu können. Was ein eindimensionaler subjektiver, wenn auch einseitig berechtigter Standpunkt ist, wird zur objektiven Denknotwendigkeit verallgemeinert, die keine Konkurrenz neben sich duldet.

Gedächtnis und Bewußtsein

Im Selbstbewußtsein, über das von allen Erdenwesen nur der Mensch verfügt, lebt das Ich auf; das bloße Bewußtsein, das noch nicht klar zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet, entfaltet sich im Astralleib, den auch die Tiere haben. Das Pflanzenbewußtsein schläft beständig, sie lebt sich im ungehemmten Wachstum sich beständig metamorphosierender Formen aus. Noch weiter dem Bewußtsein entrückt ist die erstarrte physische Form. Physischer Träger des Ich ist das lebendig bewegte Blut und die sich darin ausgestaltende Blutswärme. Das sinnliche, astrale Bewußtsein hängt eng mit dem Nervensystem, aber auch mit dem Atemrhythmus zusammen, während sich die ätherischen Bildekräfte im flüssigen Element ausleben, das den größten Teil unseres Körpers ausmacht. Die feste physische Form ist aber vorallem an das Knochensystem gebunden, spiegelt sich aber auch in den mehr oder weniger fest gefügten Nervenverbindungen wider. Wir haben ja bereits gesehen, daß das Nervensystem im Grunde beständig auf dem Wege ist zu verknöchern und daß es nur durch die heilenden Kräfte des Blutes daran gehindert wird.

Wahrnehmungen und abstrakte Gedanken

 

 

 

 

 

 

 

 
Ich
Selbstbewußtsein
Denken
Gedächtnis
Erinnerung
Wiedererkennen

 

 
PHANTASIE

 

 

 

 
Astralleib
träumendes Bewußtsein
Fühlen
Dressur, insofern dabei Lust und Unlust erfahren wird

 

 
TEMPERAMENT

 

 

 

 
Ätherleib
schlafendes Bewußtsein

 

 
Gewohnheiten und motorische Fähigkeiten

 

 

 

 
Wollen
z.B. Gehen, Sprechen, Denkgewohnheiten
phys. Leib
Tiefschlafbewußtsein

 

 

Hinter dem Gedächtnis steht als umformende Kraft das Denken. Niemals kann es sich darum handeln, einen irgendwo aufbewahrten Gedanken fertig in das Selbstbewußtsein heraufzuheben. Stets muß das früher einmal Gedachte neu rekonstruiert werden, was selten ganz getreu, sondern meist nur sinngemäß gelingt. Wir haben ja bereits gesehen, daß das Gedächtnis diesbezüglich überhaupt nicht mit dem elektronischen Speicher verglichen werden kann. Die Gedächtnisbildung, wenn sie in diesem Sinne aufgefaßt wird, erfordert, daß das, wessen später wieder gedacht werden soll, mit wachem Verständnis aufgenommen werden muß. Zu keiner gesunden Gedächtnisbildung kann es führen, wenn bloß verbal formulierte Gedanken auswendig gelernt werden. Der eigentliche erzieherische Wert, den das Gedächtnis für den Menschen hat, geht dann verloren. In dem man zunächst fremde Gedanken seinem Gedächtnis einverleibt, eignet man sie sich dadurch an, daß man sie später aktiv wieder aufbauen muß. Das fällt weg, wo man bloß den Wortlaut, in den sich der Gedanke kleidet, auswendig lernt. Man überantwortet dann der bloßen Erinnerung, was eigentlich das eigene Denken schulen sollte. Die bildhafte Erinnerung hat schon einen viel stärker träumenden Charakter als das Gedächtnis. In ihr tritt das Denken bereits deutlich zurück, während das Gefühl die Oberhand gewinnt. Das Gefühl ist gleichsam die bildlose Seite dessen, was sich bildhaft enthüllt, wenn wir uns erinnern. Das rückt gerade die Erinnerung, wie wir sie während des wachen Tagesbewußtseins erleben, nahe heran an den ebenfalls bildhaften Traum. Tatsächlich besteht das Rohmaterial, aus dem unsere Traumbilder gewoben werden, aus lauter sinnlichen Erinnerungen, die aber nun völlig neu kombiniert werden und oft verwirrend ineinander fließen. Eine starke umgestaltende Kraft macht sich hier geltend, die auch tagsüber beständig droht, unsere Erinnerungsbilder zu verfälschen. Es ist die Phantasie, die derart umbildend wirkt und es uns schwer macht, ein getreues Erinnerungsvermögen auszubilden. Je mehr man sich in exakter sinnlicher Phantasie übt, wie das Goethe getan hat, und sich nicht bloßen Phantastereien ergibt, desto klarer werden wir auf unsere unverfälschten Erinnerungen zurück blicken können.

Hinter den Gewohnheiten steht der Wille als treibende Kraft, und im Willen, wie wir gesehen haben, schlafen wir beständig. Gewohnheiten werden uns daher kaum bewußt, nur manchmal werfen sie leise Schatten in das träumende Bewußtsein. Nicht alle Gewohnheiten, die unser Leben mitbestimmen, sind individuell erworben worden, wie etwa das Schreiben und das Lesen. Die grundlegenden Temperamente, die die einzelne menschliche Persönlichkeit charakterisieren, bringt sich der Mensch schon aus der vorgeburtlichen Zeit mit. Temperamente sind letztlich auch lebenslange Gewohnheiten, die sich allerdings während des ganzen Lebenslaufes vielfach modifizieren. Das kleine Kind ist, auch wenn es sich beispielsweise ein melancholisches Temperament mitgebracht hat, infolge seiner sprießenden Wachstumskräfte immer auch sanguinisch. Das wandelt sich später zum Cholerischen, in dem sich die Tatkraft des noch jungen Menschen auslebt, der die Welt umgestalten möchte. In reiferen Jahren, geprägt von vielen, nicht immer rosigen Erfahrungen, beginnt sich ein gewisser melancholischer Zug breit zu machen. Die weise Gelassenheit des Alters, sofern sie der Mensch entwickelt, spiegelt sich endlich im phlegmatischen Temperament wider. Wie und wann sich das Temperament derart wandelt, hängt natürlich vielfältig vom Schicksalslauf des betreffenden Menschen ab. Und immer wird das eigene, mitgebrachte Temperament dahinter hervorlugen. Dazu kommt noch eine gewisse Temperamentsanlage, die der Familie entspricht, der man entstammt, und auch das Volkstemperament ist nicht ohne Einfluß. Man sollte aber bei all dem nicht zu sehr von Vererbung reden. Zwar ist die körperliche Konstitution mit entscheidend für das Temperament, aber viel mehr wird durch instinktive Nachahmung erworben, wie es für das Wesen der Gewohnheiten eben überhaupt typisch ist. Umgekehrt können Gewohnheiten formend bis in den physischen Leib zurückwirken und sich dort abbilden. Das beste Beispiel dafür sind die individuellen Gesichtszüge, die der Mensch im Laufe seines Lebens entwickelt. Wenn Kinder ihren Eltern "wie aus dem Gesicht geschnitten" sind, so rechnet man auch das gerne der Vererbung zu. Das ist aber nur in geringem Maße der Fall, vielmehr formt sich die Physiognomie vorwiegend dadurch, daß das Kind in seinen lebendigen Gestaltungskräften typische Merkmale seiner Eltern nachahmt. Was die Bildekräfte betrifft, ist das Kind auch nach der Geburt sehr eng mit seinen Eltern, überhaupt mit seiner ganzen Umgebung verbunden. Pflegekinder können derart ihren Pflegeeltern, mit denen sie leiblich gar nicht verwandt sind, oft verblüffend ähnlich sehen. Aus der genetischen Anlage läßt sich die menschliche Formgestalt eben überhaupt nicht verstehen, sie liefert nur die materiellen Bausteine, die von den gestaltenden Bildekräften ergriffen werden. All diese Vorgänge werden aber nur von einem pflanzenhaft schlafenden Bewußtsein begleitet, d.h. sie sind für uns praktisch unbewußt. Mit zunehmendem Alter, wenn der physische Leib immer steifer wird, desto weniger prägen sich die Gewohnheiten bis in den physischen Leib ein. Am bildsamsten ist dieser in den ersten Lebensjahren; alles, was das kleine Kind in seiner Umgebung mit noch ganz träumerischem Bewußtsein wahrnimmt, ahmt es nach, und vieles davon wirkt fördernd oder hemmend für das ganze weitere Leben bis in den Körper hinein. Je weniger sich davon ins Bewußtsein spiegelt, desto größer ist die Wirkung auf den Leib. Namentlich in den ersten drei Kindheitsjahren, wo das Selbstbewußtsein noch nicht erwacht ist, wird der kindliche Leib beträchtlich von dem geprägt, was es seiner Umwelt nachahmend entnimmt. Und alles das, was so fest dem Leib eingeschrieben wird, kann später nicht erinnert, d.h. ins Bewußtsein herauf gehoben werden. Das Gedächtnis beginnt erst zu erwachen, wenn ein Teil der Bildekräfte frei bleibt und nicht mehr in der bloßen Körpergestaltung aufgeht.

Wie sich die eigentliche individuelle Gestalt des Menschen ausprägt, kann aber nicht durch Nachahmung erklärt werden. Jeder Mensch bringt sich ganz individuelle Formkräfte mit, in denen sich seine unmittelbare Individualität ausdrückt. Die Spuren davon finden wir etwa in der ganz individuellen und charakteristischen Überformung des Schädels, in den ebenso spezifischen Fingerabdrücken, aber auch etwa in den Handlinien. Letztere sind sehr interessant. Beim kleinen Kind sind die Handlinien der linken und der rechten Hand noch weitgehend identisch, je älter aber der Mensch wird, desto deutlicher beginnen sie sich voneinander zu unterscheiden. Während – zumindest gilt das für den Rechtshänder – die Linien der Linken sich während des ganzen Lebens kaum ändern, werden die der rechten Hand immer stärker umgestaltet, und zwar durch die Bewegungsgewohnheiten, in denen sich der zwischen Schicksal und Charakter entfaltende Lebenskampf abbildet. Die Linienbilder der Rechten spiegeln also unsere Taten in diesem Leben wieder, die Linien der Linken weisen auf eine Vergangenheit, die noch vor diesem Erdenleben liegt. Und ähnlich ist es um unser Temperament bestellt; einen Teil davon bringen wir uns schon mit, einen anderen erwerben wir während unseres Lebens.

Das abstrakte Gedächtnis steht also unserem wachen Gedankenleben am allernächsten, welches sich auf das Nerven-Sinnes-System stützt. Die vollgesättigte Erinnerung wird mehr träumend gefühlsmäßig erlebt. Sie stützt sich auf das rhythmische System. In den Gewohnheiten endlich schlafen wir vollständig; ihnen müssen wir das Stoffwechselsystem als leiblichen Träger zuordnen:

Gedächtnis
Erinnerung
Gewohnheit
Nerven-Sinnes-System
Rhythmisches System
Stoffwechsel-System
wachend
träumend
schlafend

Diese Systematik wird uns später dienlich sein, zu verstehen, wie das zu Erinnernde in uns weiterlebt, um später wieder ins Bewußtsein gerufen werden zu können.

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