Forum für Anthroposophie, Waldorfpädagogik und Goetheanistische Naturwissenschaft
Home
 
Home


Home
Suchen
Vorträge
Rudolf Steiner

Veranstaltungen

Service-Seiten

Adressen
Ausbildung


Bücher
Bibliothek
Links

Link hinzufügen
Stellenangebote

FTP Download

Impressum

Email
http://peter.anthroposophie.net

Das menschliche Bewußtsein

Bevor wir das menschliche Seelenleben selbst unmittelbar näher untersuchen, wollen wir uns nochmals einige typische Merkmale der menschlichen Gestalt vergegenwärtigen, die wesentlich dafür sind, das Seelenleben des Menschen besser zu verstehen. Wie wir gesehen haben, entfernt sich der Mensch Zeit seines Lebens weniger weit von seiner embryonalen Gestalt als das Tier. Das ausgewachsene Tier ist in diesem Sinne physisch-körperlich weiter entwickelt als der Mensch. Weil das Tier derart körperlich stärker ausgeformt ist als der Mensch, ist es auch vollkommener an seine spezifische Lebenswelt angepaßt. Zugleich fehlt ihm aber dadurch die Allseitigkeit, die den Menschen kennzeichnet; es ist auf eine ganz bestimmte typische Umwelt spezialisiert. Das wirkt aber auf das tierische Erleben derart zurück, daß auch dieses nur sehr einseitig ausgebildet wird. Der Mensch erlebt in gewissem Sinne die allen Wesen gemeinsame "Welt" schlechthin, das Tier nur seinen eng begrenzten Ausschnitt derselben. Diesen erlebt es zwar vielfach wesentlich intensiver und differenzierter als der Mensch, aber alles, was über diesen engen Bereich hinausreicht, ist für das Tier schlechterdings nicht vorhanden. Der Hase lebt in seiner "Hasenwelt", das Pferd in seiner "Pferdewelt" usw. Nur der Mensch lebt bis zu einem gewissen Grade zugleich in allen diesen Welten und darüber hinaus ragt er in einen geistigen Bereich hinein, der ihm allein vorbehalten ist und an den kein einziges Tier bewußt heranreicht. Und sehr deutlich läßt sich erkennen, daß das Seelenleben eines Tieres um so weitreichender ist, je weniger es einseitig spezialisiert ist und je mehr es sich der menschlichen Gestalt annähert – ohne sie allerdings jemals erreichen zu können. Wenn aber das Tier seiner leiblichen Gestalt nach stärker ausgeformt ist als der Mensch, dann bedeutet das zugleich, daß ein Teil der formgebenden Bildekräfte, die den Organismus gestalten, beim Menschen nicht in der physischen Gestalt aufgehen, sondern frei verfügbar bleiben. Dabei verfügt der Mensch von allen Erdenwesen über das reichste Reservoir an Bildekräften, denn sein "Bildekräfteleib", wenn wir ihn so nennen dürfen, ist nichts weniger als ein Kompendium aller tierischen Bildekräfte. Das wird schon aus dem biogenetischen Grundgesetz deutlich, wie es zuerst Ernst Haeckel formuliert hat. Im Zuge seiner Ontogenese, also in seiner embryonalen Keimesentwicklung, wiederholt der Mensch andeutungsweise die gesamte Phylogenese, also die Stammesgeschichte des gesamten Tierreiches. Genauer gesprochen wiederholt er dabei die embryonalen Entwicklungsstufen des unter ihm stehenden Tierreiches, ohne diese jemals bis zur fertigen ausgewachsenen Form zu vollenden. Würden sie sich vollkommen physisch manifestieren können, dann müßte der Mensch zur schrecklichsten Chimäre werden, in der alle Tierformen körperlich miteinander vermischt wären. Damit es dazu nicht kommt, muß die leibliche Entwicklung des Menschen entsprechend gehemmt werden. Das geschieht erstens dadurch, daß sich der Mensch körperlich viel langsamer entwickelt als jedes Tier; der Mensch ist erst mit etwa dem 21. Lebensjahr leiblich vollkommen ausgewachsen. Damit steht dem Menschen aber auch eine viel längere Zeit zur Verfügung, während der er individuell erworbene Fähigkeiten bis in seinen physischen Organismus eingraben kann. Der physische Leib des Menschen ist daher stets viel individueller gestaltet als der des Tieres, das nur sehr wenig vom allgemeinen Arttypus abrückt. Namentlich die ersten sieben Lebensjahre bis zum Zahnwechsel sind in dieser Hinsicht für den Menschen besonders bedeutsam. Zwar durchlaufen auch viele höhere Tiere eine Phase, in der sie durch Nachahmung oder durch spielerische Betätigung ihrem Organismus bestimmte, nicht unmittelbar angeborenen Fähigkeiten einprägen, aber doch ist diese Zeit, verglichen mit dem Menschen, sehr kurz bemessen. In dieser kurzen Zeitspanne lernen etwa die Vögel fliegen, oder die Raubtiere erwerben sich ihre geschickte Beutefangtechnik. Der Mensch lernt in den ersten drei Lebensjahren aufrecht zu gehen, zu sprechen und endlich zu denken – also jene drei Fähigkeiten, die kein Tier jemals erreicht. Damit sich der Mensch derart komplexe Fertigkeiten durch Nachahmung seiner menschlichen Umgebung aneignen kann, muß sein Leib in dieser Zeit um vieles bildsamer bleiben als der der Tiere. Interessant ist, daß sich Haustiere durch den beständigen Umgang mit dem Menschen ebenfalls eine etwas höhere Bildsamkeit als vergleichbare Wildtiere bewahren und dadurch Fähigkeit erwerben können, die ihren wild lebenden Artgenossen verwehrt bleiben. Bei richtiger einfühlsamer Pflege gewinnt das Tier so durch den Menschen etwas hinzu, was es durch die Natur allein niemals erhalten könnte. Der Mensch wird so für das Tier zu einer Art Über-Natur, an der es sich emporranken kann. Und so wie das Tier eng und untrennbar mit seiner natürlichen Lebenswelt verbunden ist, so eng wird dann auch seine Beziehung zum Menschen und erfüllt das Tier mit sichtlichem Wohlbehagen. In dem dem Haustier länger seine Bildefähigkeit bewahrt wird, rückt es näher an den Menschen heran und nimmt leise an dessen Entwicklungskräften teil. Möglichst lange weich und bildsam zu bleiben ist die Grundvoraussetzung für jede weitere Entwicklung. Was sich bereits einseitig in einer hochspezialisierten Struktur verhärtet hat, bleibt notgedrungen auf der erreichten Stufe stehen und kann sich nicht mehr weiter verändern. Das sehen wir an vielen archaischen Lebensformen, die sich über die Jahrmillionen nahezu unverändert erhalten haben. Sie sind in ihrer Art perfekt an ihre Umwelt angepasst, aber zugleich auch völlig unfähig zu überleben, wenn sich diese Bedingungen einschneidend ändern. Daher sind auch im Zuge der stammesgeschichtlichen Entwicklung die meisten hochspezialisierten Lebewesen längst wieder ausgestorben. Nur die unscheinbaren, vergleichsweise undifferenzierten Wesen konnten zu Vorfahren unserer heutigen Tiere werden. Und mitten unter ihnen zieht sich eine Entwicklungslinie durch, die schließlich zum heutigen Menschen führte. Ein Wesen geht hier durch, das über das größtmögliche Potential an Bildekräften verfügt, das sich dadurch durch alle wechselnden äußeren Bedingungen hindurch bewahren kann und aus dem immer neue Impulse zur weiteren Entwicklung kommen, das sich aber zugleich davor zurückhält, frühzeitig in einer einseitigen Gestalt zu verhärten. Diese Wesen ist der Mensch; allerdings nicht der Mensch in seiner heutigen körperlichen Gestalt, aber der Mensch seinem schöpferisch gestaltbildenden Potential nach. Und was sind dann die Tiere? Gestalten, die frühzeitig erstarrt sind und dadurch aus dem fortschreitenden Entwicklungsprozeß ausscheiden. Die niederen Tiere haben schon sehr bald diesen Entwicklungsweg verlassen, die höheren Tiere, namentlich die Säugetiere, haben den Menschen sehr lange auf seinem Weg zu seiner heutigen Gestalt begleitet und sind erst in allerletzter Zeit aus diesem Prozeß ausgetreten. So besehen muß man das noch immer gültige Dogma der modernen Entwicklungslehre, das sich aber keineswegs zwingend aus den paläontologischen Fakten ableitet, geradezu umkehren: Nicht der Mensch stammt vom Tier ab, sondern es sind umgekehrt die Tiere Gestalten, die der Mensch auf seinem Entwicklungsweg zurückgelassen hat! Der Mensch ist nicht ein höher entwickelter Affe, sondern der Affe ist ein zurückgesunkener Mensch – und so durch die ganze Tierreihe bis hinunter zu den primitivsten Lebewesen. Das Tier ist dadurch Tier und unterscheidet sich dadurch vom Menschen, daß in ihm der Entwicklungsimpuls, der den Menschen kennzeichnet, weitgehend erloschen ist. Daraus erklärt sich auch erst wirklich die baumartige Struktur der stammesgeschichtlichen Entwicklungswege: der Mensch entspricht dem zentralen Stamm, der sich durch die gesamte Entwicklung durchzieht, und die Tiere sind die seitlichen Triebe, die sich nach allen Seiten verbreiten ohne jemals dem Gipfelsturm des zentralen Sprosses folgen zu können. Daraus erklärt sich aber auch, wie schon Goethe bei seinen morphologischen Studien erkannte, daß die menschliche Gestalt das allen Tieren gemeinsame Urbild ist, das in den einzelnen Tierarten dann ganz einseitig verzerrt wiedererscheint. Der Wurm gleicht einem selbstständig gewordenen menschlichen Darm, die Muschel mit ihrer harten Kalkschale einer menschlichen Schädelkapsel mit einem noch völlig undifferenzierten Gehirn im inneren usw. Die Menschenaffen und die frühzeitlichen Hominiden wie etwa der Neandertaler wurden zuallerletzt aus dem menschheitlichen Entwicklungsgang ausgeschieden, und es darf an dieser Stelle die kühne Frage aufgeworfen werden: ist die Entwicklung gerade heute und jetzt zu einem Endpunkt gekommen, ist die Menschwerdung vollendet, oder setzt sie sich noch in die Zukunft hinein fort? Ausführlicher darüber zu sprechen, würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, aber soviel kann angedeutet werden: wenn sich die Entwicklung weiter fortsetzt, dann inmitten des heutigen Menschenreiches. Die menschliche Gestalt wird sich dabei, wenn sich die angesprochene innere Entwicklungslogik weiter fortsetzt, noch mehr verfeinern, in gewissem Sinne noch länger ihre embryonalen Wesenszüge hervorkehren und noch länger bildsam bleiben. Zugleich werden aber auf diesem Entwicklungsweg möglicherweise solche Gestalten ausgeschieden werden müssen, die sich zu stark einseitig verhärten und dadurch nicht mehr fähig sein würden, einen menschlichen Geist in sich aufzunehmen. Das heutige Menschenreich müßte sich derart aufspalten in einen aufstrebenden zentralen Menschenstamm und in davon abzweigende neue Tiergestalten, die diese Entwicklung nicht mehr mitmachen können. Damit ist nicht gesagt, und das muß deutlich unterstrichen werden, daß dadurch Menschen zu Tieren herabsinken. Denn Mensch kann nur ein Wesen sein, das einen menschlichen Geist in sich trägt, über den die Tiere eben gerade nicht verfügen. Es wird hier nur gesagt, daß, wenn sich auf diesem Entwicklungsweg einzelne Gestalten zu sehr einseitig körperlich ausprägen und ihre Entwicklungsfähigkeit verlieren, sie dadurch eine neue Tierart bilden, die physisch unmittelbar dem Menschenreich entspringt und derart eine degenerierte Menschengestalt darstellt, die aber nicht von einem menschlichen Geist beseelt wird. Wie sich diese Entwicklung im Detail vollziehen wird, untersteht aber, seit der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst gekommen ist, nicht mehr einer zwangsläufigen natürlichen, d.h. unbewußten und vom Menschen unbeeinflußbaren Notwendigkeit, sondern liegt mehr und mehr in der bewußten Verantwortung des Menschen selbst. Was über die Zukunft des Menschen wie auch der unter ihm stehenden Naturreiche entscheiden wird, ist die geistige Weiterentwicklung des Menschen. Sie wird darüber entscheiden, welche körperlichen Gestalten dadurch auf Erden künftig erscheinen werden. Und man soll ja nicht glauben, daß man durch irgendwelche noch so raffinierten Methoden, etwa gentechnischer Art, rein körperlich einen künftigen Übermenschen heranzüchten kann. Jede rein körperliche Zuchtwahl besteht darin, bestimmte physische Eigenschaften selektiv zu favorisieren, und wie günstig und nützlich sie einem auch von einem bestimmten Standpunkt aus erscheinen mögen, so stellen doch eine einseitige Ausprägung der Leibes dar, die in der Folge den Menschen daran hindert, seine Allseitigkeit auszubilden, die gerade das charakteristisch Menschliche ist. Man kann auf diese Weise höchstens den Menschen zum hochspezialisierten "Supertier" degenerieren, aber niemals das menschliche Dasein selbst erhöhen. Außerdem würde man sehr bald bemerken können, daß wegen dieser Einseitigkeit ein Wesen entstünde, dessen Lebensfähigkeit hochgradig gefährdet ist, weil es sich schon rein körperlich den wechselnden Umweltbedingungen kaum mehr anpassen kann. Ein derartiger Menschentypus wäre schon sehr bald bedroht auszusterben. Damit wird aber auch jeglicher "Rasselehre" der Boden entzogen. Jede Rasse stellt in diesem Sinne eine einseitige Spezialisierung des Menschenwesens dar, ist gleichsam ein versteckter Pferdefuß, der dem Menschen noch anhaftet, und keine von ihnen darf, für sich genommen, als Vorläufer des künftigen Menschen bezeichnet werden; vielmehr muß künftig das Rasseprinzip überhaupt überwunden werden. Und daß die Entwicklung tatsächlich in diese Richtung zielt, zeichnet sich heute schon schemenhaft ab! Immer weniger spezielle körperliche Eigenschaften werden künftig durch physische Vererbung weitergegeben werden können, es wird sich vielmehr durch die bloßen Erbkräfte ein sehr allgemeiner, weniger ausgeprägter Menschentypus herausbilden, der aber in höchstem Maße bildsam bleibt und gerade dadurch schließlich die individuelle Gestalt annehmen kann, die ihm der einzelne individuelle Menschengeist einprägt. Verfolgt man die menschheitliche Entwicklung über die letzten Jahrhunderte und Jahrtausende, dann kann man diese zunehmende Individualisierung der menschlichen Gestalt, besonders des Antlitzes, deutlich erkennen – und dieser Weg wird sich weiter fortsetzen! Die natürliche leibliche Entwicklung des Menschen muß also zurückgehalten werden, die Bildekräfte dürfen sich nicht zu früh in einseitigen Formbildungen erschöpfen. Das geschieht, wie wir gesehen haben, einmal dadurch, daß sich der Mensch körperlich wesentlich langsamer entwickelt als das Tier. Aber noch ein zweites ist dazu nötig. Wenn sich auch das einzelne menschliche Lebewesen viel langsamer als das Tier heranbildet, so müßte es doch endlich, gerade weil es über einen geradezu unermeßlichen Bildekräftevorrat verfügt, zu jener besagten Chimäre werden, die rein körperlich ein abstruses Sammelsurium tierischer Formen darstellt. Durch seine langsame Entwicklung bleibt der Mensch lange Zeit körperlich sehr bildsam – aber zu einem bestimmten Zeitpunkt muß diese Bildsamkeit aufhören, und zwar schon lange bevor sich diese dem Menschen eigenen Bildekräfte vollständig in fertigen physischen Formen manifestiert haben. So bildsam der menschliche Körper auch in seiner ausgedehnten Jugendzeit ist, so radikal muß er sich in einem späteren Lebensalter verhärten und der physischen Weiterbildung widersetzen. Mit anderen Worten gesagt: stärker als jedes Tier muß der Mensch ab einem gewissen Punkt das Todesprinzip in sich aufnehmen, das den anbrandenden Lebenskräften entgegentritt. Daß das der Fall ist, zeichnet sich ja bereits durch die gesamte stammesgeschichtliche Entwicklung ab. Je höher ein Tier entwickelt ist, desto stärker hat es notwendig auch den Tod in sein Wesen aufgenommen, und der Mensch überragt diesbezüglich alle Tiere beiweiten – das haben wir uns ja bereits vergegenwärtigt. Beim Tier wird dieser kontinuierliche Sterbeprozeß, der insbesondere von den Nerven ausstrahlt, erst dann bedeutsam, wenn sich die Bildekräfte bereits weitgehend in äußeren Formbildungen erschöpft haben. Beim Menschen setzt er bereits viel früher und viel intensiver ein. Äußeres Kennzeichen dafür ist das beim Menschen viel stärker als beim Tier ausgebildete zentrale Nervensystem. Der Kopf mit dem in ihm geborgenen Gehirn wird dadurch für den Menschen geradezu zu einem Todespol, von dem ein beständiger kräftiger Sterbeprozeß in den ganzen restlichen Organismus ausstrahlt, während sich die Stoffwechselregion noch einer relativ starken Lebendigkeit erfreut und damit das eigentliche Lebenszentrum des Menschen bildet. Die Leber etwa hat ihren Namen nicht zu unrecht; sie ist tatsächlich eine wesentliche Quelle des Lebens für den gesamten menschlichen Organismus. Und zwischen diesen beiden polar einander entgegengesetzten Region vermittelt das menschliche Herz. Bei den Tieren ist dieser Gegensatz zwischen dem Lebenspol und dem Todespol viel weniger stark ausgeprägt. Eine Muschel etwa trägt zwar ein totes Kalkgehäuse an sich, aber dieses ist bereits sosehr dem Lebensprozeß entzogen, daß es in diesen auch keine Todeskräfte mehr entsenden kann. Das Innere der Muschel aber ist durch und durch höchst lebendig, nur wenig von Nerven durchzogen, und man wird vergeblich nach deutlich voneinander geschiedenem Lebens- und Todespol suchen. Daß sich gerade beim Menschen diese beiden Pole so sehr voneinander unterscheiden, hängt übrigens wesentlich damit zusammen, daß der Mensch ein aufgerichtetes Wesen ist, bei dem sich der nach den Nerven hin orientierte Sinnesprozeß stark vom Ernährungsprozeß, der der rein vegetativen Lebenstätigkeit zugrunde liegt, sondert. Daß der Mensch durch sein zentrales Nervensystem das Todesprinzip sehr stark in sein Wesen aufgenommen hat, beeinflußt auch das maximale Lebensalter, welches er erreichen kann. Und dieses ist, verglichen mit dem der meisten Tiere, paradoxerweise besonders lange. An anderer Stelle haben wir festgestellt daß alle Tiere und auch der Mensch physiologisch gesehen gleich alt werden, insoferne man ihr Alter in Stoffwechselenergieeinheiten mißt. Das sagt aber über das in Lebensjahren gemessene Alter noch nicht das geringste aus. Tatsächlich zeigt sich, daß das in Jahren gemessene Alter beinahe völlig synchron mit zunehmender Hirnmasse wächst (16). Und da der Mensch eben über eine verhältnismäßig große Gehirnmasse verfügt, wird er eben ziemlich alt. Das in uns wirkende Todesprinzip, das zentrale Nervensystem, verlängert also wirklich unser Leben. Was auf den ersten Blick kurios erscheinen mag, ist aber, wenn man es genauer beschaut, leicht erklärlich. Je stärker die Todeskräfte dem Leben entgegentreten, desto mehr werden alle Lebensprozesse verzögert – und desto länger dauert es, bis sie völlig aufgezehrt sind und dadurch der endgültige Alterstod eintritt! Und weil sich der Mensch so langsam entwickelt, entfernt er sich auch viel weniger weit von seiner embryonalen Gestalt als die Tiere.

Was von den Nerven ausstrahlt, hemmt also die Bildekräftetätigkeit. Was aber geschieht mit den überschüssigen Bildekräften, die nicht bis zur physischen Form gerinnen? Wird Kräften ein Weg versperrt, so suchen sie sich einen anderen, durch den sie wieder, allerdings in verwandelter Form, erscheinen können. Wie sich das Wasser unaufhaltsam seinen Weg bahnt, so auch das Leben. Nichts in der Welt geht verloren. Die Bildekräfte, die von dem bereits zu stark erstarrten physischen Leib zurückgestoßen werden, wenden sich nun dem Seelenleben zu. Sie ergreifen das Seelische und gestalten es zu einem immer differenzierteren Erleben um. Je reicher der Bildekräftevorrat eines Lebewesens ist, und je mehr davon sich nicht in der Körperbildung erschöpft, desto reicher wird sich seine innere Seelenwelt ausgestalten. Es kann daher nach dem bisher Gesagten nicht verwundern, das sich das menschliche Seelenleben besonders reichhaltig und vielseitig ausgestaltet. Das tierische Erleben ist demgegenüber viel einseitiger und undifferenzierter veranlagt, wenngleich in seiner Einseitigkeit oft von überschäumender Intensität. Das "Weltbild" der Tiere ist, verglichen mit dem des Menschen, viel abstrakter. Wie schon Jakob von Üxküll betont hat reduziert sich das Welterleben einer Zecke (17) im wesentlichen auf den Schweißgeruch und die Körperwärme seines potentiellen Opfers, während die ganze restliche Welt für sie nicht vorhanden ist. Diese beiden Qualitäten , die für ihr Überleben von überragender Bedeutung sind, erlebt sie allerdings ungeheuer intensiv, und zwar um so intensiver, je länger sie bereits der Nahrung entbehren mußte. Man sieht, wie eng im Tierreich die Sinneswahrnehmung an die eigene Körperbefindlichkeit gekoppelt ist. Selbst ein Löwe, wenn er sattgefressen ist, registriert an ihm vorbeiziehende Beutetiere kaum. Und auch für uns Menschen gilt das noch, wenngleich in viel geringerem Grade: wenn wir sehr ausgehungert sind, erscheint uns auch eine Speise, die uns normalerweise nur wenig bekömmlich erscheint, als äußerst begehrenswert. Sie zieht uns geradezu magisch an, während uns die restliche Welt nur wenig interessiert, und der große Hunger schärft überhaupt unsere sämtlichen Sinne für alles Eßbare. Das ist einer der Momente, wo das Tier in uns, das normalerweise schläft, zu erwachen beginnt und dann nur allzu leicht unser Seelenleben dominiert. Nicht selten schon hat der pure Überlebenstrieb die vernünftigen und moralischen Erwägungen, die uns als Menschen auszeichnen sollten, hinweggefegt. Und welche Kräfte sind es dann, die unsere Seele ergreifen? Keine anderen als jene Bildekräfte, die die Nahrungsstoffe zur körpereigenen Substanz verwandeln! Hier tritt dann beim Menschen ausnahmsweise das ein, was beim Tier der Regelfall ist; denn beim Tier sind es vorallem die Bildekräfte des Stoffwechsel- und Reproduktionssystems, die besonders stark in die Seele heraufschlagen. Das schon allein deshalb, weil das Tier in seiner natürlichen Umgebung einem beständigen Mangel ausgesetzt ist, der die Bildekräfte von ihrer leiberhaltenden Tätigkeit ins Seelische ablenken. Der zweite Grund besteht darin, daß bei Tier und Mensch das Nervensystem sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Das Nervensystem entzieht sich ja überhaupt, wie wir gesehen haben, am allerstärksten den anbrandenden Lebenskräften; es ist also prädestiniert dazu, überschüssige Bildekräfte ins seelische Erleben abzulenken. Tatsächlich ist ja auch das Nervensystem unbestreitbar das eigentliche physische Werkzeug des Seelenlebens. Nun dominiert aber beim Tier ganz deutlich das diffuse Nervennetz der Verdauungsregion und das Rückenmark, während beim Menschen das Zentralnervensystem überwiegt -–und zwar in gewaltigem Ausmaß. Selbst ein so mächtiges und hochentwickeltes Tier wie der Elefant verfügt nur über vergleichsweise winzige laterale Gehirnlappen, die für sein Seelenleben auch entsprechend wenig bedeutsam sind. Die ganz wenigen Tiere, die über ein stark ausgeprägtes Gehirn verfügen, wie etwa der Delphin, haben auch ein entsprechend reich differenziertes Seelenleben, dem aber dennoch, wie man schon an ihrem sehr einseitig ausgebildeten Körperbau ablesen kann, die Allseitigkeit des menschlichen Erlebens mangelt. Weil für die Tiere das diffuse vegetative Nervennetz besonders bedeutsam ist, ist ihr ganzes Seelenleben auch entsprechend verschwommen. Es erschöpft sich im Grunde in ineinander verschwimmenden Sinnesqualitäten und inneren Körpergefühlen, denen jede scharfe Kontur fehlt. Zwar ist es sehr bewegt, von hoher Intensität, und oft heftigen Schwankungen ausgesetzt, aber es trägt kaum einen klar abgrenzbaren Inhalt in sich, der eine der Voraussetzungen dafür ist, daß sich in der Seele das Denken entfalten kann. Anders beim Menschen, dessen bewußtes Seelenleben sich wesentlich auf das auf engen Raum konzentrierte Großhirn stützt. Verglichen mit den Tieren ist das seelische Erleben des Menschen viel weniger bewegt, es fließt verhältnismäßig träge dahin, und gewinnt entsprechend auch viel schärfere Konturen, an denen die bewußte Begriffsbildung ansetzen kann, die dem Tier fehlt. Allerdings läuft der Mensch dadurch auch Gefahr, in seinem seelischen Erleben immer mehr zu erstarren, und zwar um so mehr, je stärker er einseitig seinen Intellekt ausbildet; das ist heute schon durchaus deutlich zu bemerken. Neben dem Nervensystem selbst sind es vorallem die mit diesem verbundenen Sinnesorgane, die unser Bewußtsein bestimmen. Sie sind es heute sogar ganz besonders, denn ganz unzweifelhaft erfüllt das, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, am stärksten unsere Seele. Daß die Sinnesorgane beinahe toten physikalischen Apparaten gleichen, haben wir schon gesehen, und daß sie gerade dadurch hervorragend geeignet sind, die Bildekräfte in die Seele abzulenken, muß uns nach dem bisher Gesagten klar erscheinen. Und welche Bildekräfte lenken sie derart ins Seelische um? Keine anderen als die, die zuerst das Sinnesorgan selbst gebildet haben und die an dem nun erstarrten Organ ins Leere greifen! Das hat schon Goethe geahnt, wenn er sagt:

  Wär‘ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt‘ nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt‘ uns Göttliches entzücken?
(18)
 

Dieselben dem Licht innewohnenden Bildekräfte, die in der Natur draußen die Farben erzeugen, etwa die vielfältigen Grünschattierungen der Pflanzenwelt, sind es, die auch die farbempfindlichen Rezeptorstrukturen des Auges und die zugehörigen neuralen Strukturen der Sehrinde des Gehirns formen. Nicht zufällig sind daher etwa die farbgebenden Pigmentstrukturen der Pflanzen mit den farbempfänglichen Pigmentsystemen des Auges eng verwandt. Und dieselben Bildekräfte sind es auch, die, wenn sie sich dem Seelischen zuwenden, dort die spezifischen bewußten Farberlebnisse hervorrufen. Daher herrscht aber auch ein vollkommener Einklang zwischen der gesetzmäßigen Natur dieses inneren Seelenlichtes und den äußerlich konstatierbaren physikalischen Verhältnissen, die die Farbenwelt kennzeichnen. Nur so kann ein zutreffendes inneres seelisches Bild der äußeren Welt entstehen. Und damit die bewußte sinnliche Wahrnehmung zustande kommt, muß stets das innere seelische Licht dem äußeren Licht entgegenkommen. Das gilt in ähnlicher Art nicht nur für den Sehsinn, sondern auch für alle anderen Sinne.

Dieselben Bildekräfte sind es, die draußen die gesamte Natur schaffen und die drinnen auf erster Stufe den physischen Leib aller Lebewesen gestalten, wobei aber bei jeder einzelnen Tier- oder Pflanzenart jeweils sich ganz bestimmte Bildekräfte besonders hervordrängen. Und weil das so ist, ist auch die ganze Lebensbetätigung der Lebewesen genau auf ihre spezifische Umwelt abgestimmt. Wie sehr das Element, in dem ein Tier lebt, seine ganze Gestalt bestimmt, schildert Rudolf Steiner sehr anschaulich. Man betrachte nur z.B. das Wasserelement:

"Dann findet man vielleicht darinnen Fische; man findet diese Fische so, daß sie eine weiche Leibessubstanz in merkwürdige Atmungsgebilde nach vornehin ausbilden, und daß diese umgibt das wegen des Wassers weichbleibende Knochengerüst mit einem, ich möchte sagen, zarten Kiefer – einen Kiefer, über den sich die Körpersubstanz hinüberlegt. Diese Körpersubstanz kann einem erscheinen gleichsam unmittelbar hervorgehend aus dem Wasser, allerdings aus dem Wasser, in das die Sonnenstrahlen hineinfallen. Hat man einen Sinn dafür, daß die Sonnenstrahlen in dieses Wasser hineinfallen, es durchleuchten und erwärmen und der Fisch diesem durchleuchteten und erwärmten Wasser entgegenschwimmt, dann bekommt man ein Gefühl dafür, wie diese durch das Wasser gemilderte Sonnenwärme, wie das durch das Wasser in sich erglänzende Sonnenlicht einem entgegenkommt.

Indem mir der Fisch sozusagen entgegenschwimmt, er seine Zähne, wenn ich mich so ausdrücken darf, entgegenträgt, aber dieses durchleuchtet-durchwärmte Wasser die weiche Fischkörpersubstanz mit dem Atmungsrhythmus über die Kiefer hinüberlegt, indem der Fisch mit der eigentümlichen Art seiner Kopfbildung mir entgegenhält seine überzogenen Kiefer, fühle ich, wie mir mit diesem Fische das durchleuchtete und durchwärmte Wasser entgegenkommt. Und ich fühle dann, wie auf der andern Seite in der Flossenbildung etwas anderes tätig ist. Ich lerne dadurch - ich will das heute nur andeuten - allmählich fühlen, wie da in der Schwanzflosse, in den andern Flossen das abgeschwächte Licht ist, das so abgeschwächte Licht, daß es nicht mehr die Körpersubstanz bezwingt zum Weichwerden, wie es da verhärtend wirkt. Ich lerne so allmählich in dem, was mir der Fisch entgegenbringt, in seinem Haupte das Sonnenhafte kennen, ich lerne so in den verhärteten Flossenbildungen das Mondartige erkennen, wie es zurückstrahlt, kurz, ich werde imstande sein, den Fisch hineinzustellen in das ganze Wasserelement.

Und ich schaue den Vogel an, der nicht die Möglichkeit hat, seinen Kopf im Wasser auszubilden, indem er dem sonnendurchwärmten, sonnendurchleuchteten Wasser entgegenschwimmt, oder mit dem sonnendurchwärmten, sonnendurchleuchteten Wasser schwimmt; den Vogel, der auf die Luft angewiesen ist. Ich lerne kennen das Anstrengende, das nun in seinem Atmen liegt, wo nicht das Wasser, das die Atmung unterstützt, auf Kiemen wirken kann, sondern wo die Atmung zu einer Anstrengung wird. Ich lerne erkennen, wie in anderer Weise das Durchwärmen der Sonne, das Durchleuchten der Sonne in der Luft wirkt, und ich werde gewahr, wie vom Vogelkiefer zurückgedrängt wird die Vogelsubstanz. Ich erkenne, wie es beim Vogel etwa so ist, wie wenn ich alles Fleisch, das an den Zähnen liegt, zurückdrängen würde und der Kiefer nach vorne verhärtet gehen würde. Ich lerne erkennen, warum mir der Vogel seinen Schnabel entgegenstreckt, während mir beim Fisch in zarterer Weise der Kiefer in Körpersubstanz hingehalten ist. Ich lerne erkennen, wie der Vogelkopf ein Geschöpf der Luft ist, aber der Luft eben, die durch die Sonne innerlich erglüht, erleuchtet wird. Ich lerne erkennen, was für ein gewaltiger Unterschied ist zwischen dem durchwärmten und durchleuchteten Wasser, das fischschöpferisch ist, und der durchwärmten und durchleuchteten Luft, die vogelschaffend ist. Ich lerne verstehen, wie durch diesen Unterschied das ganze Element, in dem der Vogel lebt, ein anderes wird; wie die Fischflosse durch das Wasserelement ihre einfache Strahlung bekommt, wie die Vogelfedern ihre Ansätze bekommen dadurch, daß da in einer bestimmten Weise hineinwirkt die Luft, in der Sonnenlicht und Sonnenwärme wirken.

Wenn ich in dieser Weise von der bloßen groben Anschauung zu einer solchen Auffassung übergehe, daß ich nicht zu faul bin, wenn der Fisch auf den Tisch kommt, das Wasser mitzusehen, und wenn der Vogel im Käfig ist, die Luft mitzusehen, wenn ich mich nicht darauf beschränke, die Luft um den Vogel herum nur dann zu sehen, wenn er in der Luft fliegt, sondern wenn ich seiner Form das Luftbildende anfühle und anschaue, dann belebt sich, dann durchgeistigt sich mir dasjenige, was schon in den Formen lebt. Und ich lerne auf diese Weise unterscheiden, was für ein Unterschied ist im Miterleben in der äußeren Natur zwischen einem Dickhäuter, einem Nilpferd meinetwillen, und einem mit weicher Haut überzogenen Tier, einem Schwein zum Beispiel. Ich lerne erkennen, daß das Nilpferd dazu veranlagt ist, seine Haut mehr dem unmittelbaren Sonnenlichte auszusetzen, das Schwein fortwährend seine Haut zurückzieht vor dem unmittelbaren Sonnenlichte, mehr eine Vorliebe hat für das, was sich dem Sonnenlichte entzieht. Kurz, ich lerne in jedem einzelnen Wesen das Walten der Natur kennen.

Ich gehe hinaus von den einzelnen Tieren zu den Elementen. Ich verlasse den Pfad des Chemikers, der da sagt, das Wasser besteht aus zwei Atomen Wasserstoff, einem Atom Sauerstoff. Ich verlasse das physikalische Betrachten, das da sagt, die Luft besteht aus Sauerstoff und Stickstoff. Ich gehe zu dem konkreten Anschauen über. Ich sehe das Wasser erfüllt von Fischen. Ich sehe die Verwandtschaft zwischen Wasser und Fisch. Ich sage: Das ist ja doch etwas ganz Ausgefallenes, wenn ich nur das Wasser in seiner Abstraktheit anspreche als Wasserstoff und Sauerstoff. In Wirklichkeit ist das Wasser mit Sonne und Mond zusammen fischschaffend, und durch die Fische spricht die elementare Natur des Wassers zu meiner Seele. Es ist bloß eine Abstraktion, wenn ich die Luft anspreche als ein Gemisch von Sauerstoff und Stickstoff, die durchleuchtete und durchwärmte Luft, die das Fleisch vom Vogelschnabel zurückschiebt und die am Fisch und am Vogel die Atmungsorgane in einer besonderen Art gestaltet. Diese Elemente sprechen mir durch Fisch und Vogel ihre besondere Eigentümlichkeit aus." (19)

Nicht zufällige Mutationen und die anschließende Selektion der geeignetsten Organismen im Überlebenskampf sind es, die die Lebewesen auf ihre Umwelt optimal abstimmen, sondern die unmittelbar in beiden, in Tier und Umwelt, wirksamen Bildekräfte. Und nur jene Arten werden allmählich aus diesem Entwicklungsprozeß ausgeschieden, die sich diesem beständigen Bildekräftestrom widersetzen, weil sie sich bereits zu sehr in ihrer Form verfestigt haben. Die Bildekräfte sorgen auch dafür, daß das tierische Verhalten mit seiner Lebensweise zusammenstimmt. All das geschieht, wie es für die reinen Lebenskräfte typisch ist, völlig unbewußt. Das ist insbesondere bei den Pflanzen der Fall. Und weil sich Pflanzen nicht gezielt im Raum bewegen müssen, bedürfen sie auch keiner eigentlichen Sinnesorgane, obwohl sie durchaus etwa über lichtempfindliche Rezeptoren verfügen, die die Blätter nach dem Sonnenlicht ausrichten. Wirkliche Sinnesorgane brauchen nur Wesen, die sich mehr oder weniger frei im Raum bewegen können müssen – und das sind die Tiere und natürlich auch der Mensch. Damit sich ein Tier im Raum orientieren kann, dafür sind zwar Sinnesorgane notwendig, und es ist auch nötig, daß die von den Sinnesorganen aufgenommenen Informationen gesetzmäßig auf seine Bewegungsorgane zurückwirken, aber es ist dafür keineswegs von vorneherein nötig, daß das Tier vermittels seiner Sinnesorgane auch die Umwelt bewußt erlebt. Tatsächlich bewegen sich Tiere sogar um so geschickter im Raum, je weniger sich das Bewußtsein in diesen Prozeß einschaltet. Selbst beim Menschen ist, wie neuere Untersuchungen zeigen, der Weg, durch den wir mittels unserer Sinnesorgane unsere motorischen Bewegungen leiten, oft ein anderer als der, durch den wir uns ein bewußtes Bild von der Welt machen:

Gehirn sieht mehr als Auge
In der visuellen Wahrnehmung spielt ein »Zombie« mit

London - Diese optische Täuschung kennt jeder: Man legt um zwei Münzen gleicher Größe einen Kreis anderer Münzen, einmal größere, einmal kleinere - und schon sehen die im Zentrum verschieden groß aus. Aber nur für das Auge. läßt man Testpersonen nach den Münzen im Zentrum greifen, öffnen sich die Finger gerade so weit wie nötig - in beiden Fällen gleich weit. Da ist der ,,Zombie" am Werk, eine von Psychologen immer häufiger gebrauchte Metapher für das Intuitive, Reflexhafte und - nicht im Sinne der Psychoanalyse - Unbewußte. Außerhalb des Labors zeigt es sich schon lange bei Menschen mit teilweisem Ausfall des Gehirns, etwa bei einer Patientin, die durch einen Unfall am Sehzentrum geschädigt wurde und seitdem die Grenzen von Objekten nicht mehr sehen kann, zumindest nicht bewußt: Sie kann nur sagen, daß da etwas Rotes ist, aber nicht was oder wie groß es ist - aber mit der Hand kann sie es exakt ergreifen. Andere Unfallopfer haben das umgekehrte Leiden.

Das deutet darauf hin, daß es im Gehirn zwei Wege zur Verarbeitung optischer Reize gibt, einen der bewußten Wahrnehmung, die ein Objekt erkennt und erinnert und in Abstraktion überführt - man erkennt es auch aus anderen Blickwinkeln - und einen visuomotorischen, der nicht wissen muß, was etwas ist, sondern wo und wie weit weg vom Körper es ist. Neuroanatomische Befunde zeigen denn auch zwei verschiedene Hauptwege im Sehzentrum.

· Welcher den richtigen Weg weist, ist nicht von vornherein ausgemacht: Das bewußte Auge schätzt auch die Steilheit eines Berghanges falsch ein. Läßt man die Testpersonen hingegen mit dem Arm den Winkel zeigen, stimmt er. Aber nur für den Arm: Der bewußte Blick überschätzt den Winkel stark - und noch viel stärker, wenn die Testperson einen schweren Rucksack trägt oder älter ist. Irgendwie nimmt das Bewußtsein in seine Wahrnehmung die subjektive Befindlichkeit auf.

Und wer regiert? Beide zusammen: Der blitzschnelle ,,Zombie" sorgt für rasche Reaktionen, der langsamere bewußte Blick - eine halbe Sekunde brauchen Sinneseindrücke, bis sie bewußt werden - ordnet alles zum Bild. (New Scientist, Nr.2150) (20)

Das Bewußtsein scheint derart geradezu wie das fünfte Rad am Wagen. Es trägt im Grunde, entgegen einer verbreiteten Meinung, nichts zur Überlebensfähigkeit eines Tieres bei, es scheint ihr gelegentlich sogar eher störend im Wege zu stehen. Die Bewegungssteuerung eines Tieres durch entsprechende Sensoren könnte – im Prinzip – auch völlig bewußtlos erfolgen. Erste Erfolge, derartige Prozesse auf elektromechanischem Weg künstlich nachzuvollziehen, waren durchaus erfolgreich – und zwar deshalb, weil gerade die neurosensorischen Strukturen in der belebten Welt schon so weitgehend erstorben sind, daß sie auch einer technischen Wissenschaft einigermaßen verständlich werden können, die ihrer Natur nach überhaupt nur das Tote begreifen kann. Tatsächlich nehmen sämtliche naturwissenschaftlichen Untersuchungen de facto auf das Bewußtsein keine Rücksicht. Sie schildern Rezeptorstrukturen, neuronale Schaltkreise und dergleichen mehr, für die das bewußte Erleben nur eine funktionslose – und daher auch völlig unverstandene – Begleiterscheinung darstellt. Anderseits muß man bei unbefangener Betrachtung unzweifelhaft zugeben, daß die Lebenswelt im Zuge ihrer Jahrmilliarden währenden Entwicklung immer komplexere und zugleich immer bewußtere Lebensformen hervorgebracht hat. Das wirft, genau besehen, ein recht schiefes Licht auf das zentrale Dogma der modernen naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre, daß nach und nach immer überlebensfähigere Lebewesen entstünden, und daß im Laufe der Zeit alle überflüssigen Strukturen aus dem Lebensprozeß ausgeschieden würden. Das Bewußtsein ist – in diesem Sinne gesprochen – ein derartiger völlig überflüssiger Prozeß, und nur wer, ohne daß es dafür auch nur die geringste vernünftige Erklärung gibt, die komplexen neurosensorischen Informationsverarbeitungsprozesse mit Bewußtsein einfach gleichsetzt, kann sich über diese klare Tatsache hinwegtäuschen. Mehr noch, je komplexer ein Lebewesen gestaltet ist, je höher es also entwickelt ist, desto weniger kann es von dem überschäumenden Lebensprinzip der Natur profitieren. Primitive Einzeller, etwa Bakterien, bevölkern die Erde schon seit Jahrmilliarden. Wie kurz existieren demgegenüber erst die Säugetiere, und es kann gar keine Rede davon sein, daß diese die Bakterien im "Überlebenskampf" von der Bildfläche vertreiben könnten. Man darf im Gegenteil sehr stark vermuten, daß gerade die komplexesten Lebensformen, die am spätesten die Lebensbühne betreten haben, auch am ehesten wieder verschwinden werden. Löwen, Tiger, Elefanten usw. werden viel schneller aussterben als all die einfacheren Lebensformen – und das nicht nur durch den Menschen, obwohl er derzeit das seine dazu beiträgt. Auch der Mensch wird, soweit es seine körperliche Natur betrifft, diesem Schicksal nicht entgehen. Tatsächlich stellen heute wie vor Jahrmillionen die Bakterien beiweiten die Hauptmasse aller Lebewesen auf Erden dar. Ist also überhaupt jeder Fortschritt, jede Höherentwicklung bloße Illusion, wie manche Forscher (21) behaupten, und sind die wenigen komplexeren Lebewesen gleichsam nur statistische Ausreißer aus dem allgemeinen Lebensprozeß? (22)

Welche Bedeutung hat dann aber das Bewußtsein überhaupt für das Leben auf Erden? Ist es einfacn Welche Bedeutung hat dann aber das Bewußtsein überhaupt für das Leben auf Erden? Ist es einfach ein schwer verständlicher "Betriebsunfall" der Evolution? Jedenfalls scheint es die Tiere nicht besser mit ihrer Umwelt zu verbinden, sondern dieser sogar in gewisser Weise zu entfremden. Die selbstverständliche, völlig begierdelose Art, wie sich etwa eine Pflanze in das lebendige Weltgeschehen einfügt und mit diesem harmonisch vereinigt, wird durch das Bewußtsein, das im Tier zu erwachen beginnt vielfach empfindlich gestört. Und wieviel Leid und Schmerz für das Tier ist dann, vorallem in freier Wildbahn, oft die Folge. Denn man darf nicht übersehen, daß die Tiere, und zwar vorallem die höheren und bewußteren Tiere, nicht einfach in einer Umwelt leben, selbst wenn sie ihr so gut als nur möglich angepaßt sind, die für sie ein überquellendes Paradies darstellt, sondern daß sie beinahe beständig Mangel leiden müssen. Der Mangel erregt in ihnen heftige Wellen der Unlust und weckt die Begierde sie zu überwinden, und sie wird oft nur durch ein kurzes Lustgefühl befriedet, das einem dumpfen Dämmerzustand weicht, aus dem es alsbald wieder durch einen neuerlichen drückenden Mangel, der sein Leben bedroht, herausgerissen wird. Ist es der Weg vom Leben zum schmerzvollen Erleiden, vielleicht auch manchmal zur überschäumenden Lust, den die Tiere gehen müssen? Erschöpft sich darin der Sinn des Bewußtseins?

zurück Anfang weiter
Home Suchen Vorträge Veranstaltungen Adressen Bücher Link hinzufügen
Diese Seite als PDF drucken Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Tel/Fax: +43-1-86 59 103, Mobil: +43-676-9 414 616 
www.anthroposophie.net       Impressum       Email: Wolfgang.PETER@anthroposophie.net
Free counter and web stats