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Denn das ist der Kunst Bestreben,
Jeden aus sich selbst zu heben

Gedanken zur Kunst in unserer Zeit

Wolfgang Peter 2000

Faß das Leben immer als Kunstwerk.
Christian Morgenstern

Einleitung

Zwischen Freiheit und Freizügigkeit, zwischen süßlichem Kitsch und erklärter Antikunst, zwischen wesenloser Phantasterei und banalem Intellektualismus und übersteigertem egozentrischen Exhibitionismus finden sich die wenigen Perlen wahrhaft zukunftsweisender Kunst, die aus den Quellen des Geistes schöpft und alles Willkürliche, bloß Eingebildete abstreift. Bloße Selbstdarstellung, und mag sie noch so gekonnt und originell erscheinen, hat noch nichts mit Kunst zu tun. Darauf hat schon Rudolf Steiner Ende des 19. Jahrhunderts hingewiesen:

"Für die Heutigen ist der Künstler ein Mensch, der das Bedürfnis hat, den Dingen Gewalt anzutun und ihnen das Gepräge seiner Persönlichkeit zu geben. Sie glauben nicht, daß sie einen Geist verkörpern sollen, sie wollen Dinge schaffen, wie sie ihren Vorstellungen, ihrer Phantasie entsprechen." (1)

Dennoch gewinnt das Individuelle in allen Lebensbereichen, und ganz besonders auch in der Kunst, zurecht immer mehr Bedeutung. Nur darf die individuelle geistige Schöpferkraft des Menschen nicht mit egoistischer Willkür verwechselt werden. Wirkliche Kunst folgt einer inneren Notwendigkeit. Sie ist, wie Goethe treffend sagt, die Offenbarung verborgener Naturgesetze, die ohne sie ewig verborgen blieben. Sie hebt den Künstler über sich, über seine eng begrenzte Persönlichkeit, hinaus in eine höhere Welt, aus der jene Seelennahrung fließen kann, deren unsere Zeit so sehr bedarf. Und wo wirkliche Kunst das Leben ergreift, wird man auch nicht beim bloßen abgehobenen ästhetischen Genuß stehen bleiben wollen, sondern Kunst wird zu einer das ganze soziale Leben befruchtenden Seelenkraft: Erziehung wird so zur Erziehungskunst, Medizin zur Heilkunst , das tote abstrakte Denken zur lebendig gestaltenden Denkkunst, die der Erkenntnis neue Tore öffnet.

Die Schönheit der Natur

"Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis", heißt es in Goethes Faust, und Goethe meint damit, daß die vergängliche Erscheinung die sinnliche Offenbarung eines höheren, ewigen, nur geistig zu erfassenden Wesens ist. "Materie ist die Kruste des Geistes", sagt der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr. Reiner Geist ist die eigentlich wirkende, die schöpferische Kraft in der Natur, und wenn er auch nur im rein geistigen Erleben unmittelbar erfahren werden kann, so schafft er sich doch durch die Werke, die er hervorbringt ein sinnliches Abbild in der Welt. Alle Erscheinungen in der Natur sprechen von dem Geist, der sie geschaffen hat – manche mehr und manche weniger. "Am farbigen Abglanz haben wir das Leben", und das gestaltende und alle Naturformen plastizierende Leben, die lebendige Bildekraft, ist schon die erste, niederste Stufe dieser unendlichen Geisteswelt, die sich in dem sinnlichen Schleier verhüllt. Dieser "farbige Abglanz" ist es aber auch, der uns die sinnliche Welt als schön erscheinen läßt, und je mehr der schaffende Geist uns aus dem sinnlichen Glanz entgegen leuchtet, um so schöner empfinden wir die Welt. Das Schöne, so hat man früher gerne gesagt, sei das Durchscheinen des Geistes, des Ideellen, durch die sinnliche Erscheinung:

"Das Schöne ist das sinnliche Scheinen der Idee." (Hegel)

Nur darf man dann die "Idee" nicht als bloßen abstrakten Gedanken auffassen, sondern so, daß man unmittelbar erlebt und schaut, wie die lebendigen ätherischen Bildekräfte in der sinnlichen Erscheinung gestaltend wirken. Man wird dabei weniger an logische Konstruktionen und Definitionen im aristotelischen Sinn, sondern mehr noch an die platonische Ideenschau denken müssen. Das Wort "Idee" leitet sich ja entsprechend auch vom griech. "videin" = schauen ab. Es ist ein Schauen des Übersinnlichen im Sinnlichen.

Goethe drückt das in seinem großen Erziehungsroman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" etwa so aus:

"Zum Schönen wird erfordert ein Gesetz, das in die Erscheinung tritt.

Beispiel von der Rose.

In den Blüten tritt das vegetabilische Gesetz in seine höchste Erscheinung, und die Rose wäre nun wieder der Gipfel dieser Erscheinung ....

Die Frucht kann nie schön sein; denn da tritt das vegetabilische Gesetz in sich (ins bloße Gesetz) zurück." (2)

Im Samenkorn verbirgt sich das "vegetabilische Gesetz" beinahe vollständig, so daß es beinahe schon wie ein unbelebter mineralischer Körper aussieht. Die "Idee" der Pflanze zieht sich hier ganz aus der sinnlichen Erscheinung zurück. Ein Kirschkern etwa wird uns so wohl kaum zum Inbegriff des Schönen werden. Ganz anders, wenn wir im Frühling dem voll erblühten Kirschbaum gegenübertreten, der die ihn lebendig gestaltenden ätherischen Bildekräfte in der ganzen reichen Fülle seiner Formen und Farbenpracht im sinnlichen Abglanz offenbart.

Das Licht selbst ist übersinnlicher, ätherischer Natur, ist Lichtäther. Noch niemand hat das Licht mit sinnlichen Augen gesehen. Das ganze Weltall ist über und über von Licht erfüllt und doch erscheint es uns ganz finster. Nur die einzelnen leuchtenden Sterne heben sich strahlend vom schwarzen Hintergrund ab. Leuchtendes sehen wir und Beleuchtetes, aber niemals das Licht als solches, das unsichtbar den Raum durchwebt. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Beschreibung dieser Wirkungen führt uns allenfalls, wie Goethe meint, an das Wesen des Lichts heran. Farben sind die sinnlichen Wirkungen des übersinnlichen Lichts, sie sind "Taten und Leiden des Lichts", wie Goethe sich ausdrückt. Dieses übersinnliche, nur geistig wahrnehmbare Licht wollten die Ikonenmaler durch den Goldgrund ihrer Ikonen darstellen. Natürlich ist auch dieses sinnlich wahrnehmbare Gold nur äußerer Abglanz, aber er sollte dem sinnenden Betrachter den Weg zum eigenen inneren seelischen Erleben des übersinnlichen Lichtes führen.

So wie die Malerei ohne das übersinnliche Licht nicht denkbar ist, so die Musik nicht ohne den übersinnlichen Klangäther, die Sphärenharmonie, wie sie etwa Pythagoras nannte. Jede äußerlich erklingende Melodie, jeder Rhythmus, jeder einzelne Ton ist der sinnlich wahrnehmbare Schatten dieses übersinnlichen Klanges. Und indem dieser ätherische Klang den Raum durchwebt, erregt er nicht nur die sinnlich wahrnehmbaren Töne, die sich in der rhythmisch schwingenden Luft verkörpern, sondern er schafft überhaupt die Voraussetzung für alles, das sich im Raum in rhythmisch sich wiederholenden Formen gestaltet. Wenn sich am zentralen Sproß der Pflanze seitlich Blattansatz auf Blattansatz türmt, dann drückt sich darin der wirkende Klangäther ebenso aus, wie in den übereinander gestapelten Wirbelknochen der tierischen oder menschlichen Wirbelsäule. Und wenn sich diese rhythmischen Formen endlich nicht in einer unbegrenzten Wiederkehr des ewig Gleichen erschöpfen, sondern wenn sie sich von Stufe zu Stufe lebendig weiter entwickeln und so etwa die Laubblätter zu Blütenblättern metamorphosieren, dann werden wir der sinnlichen Spur des Lebensäthers gewahr. Er wirkt auch dort, wo sich der musikalische Klang zum Laut und schließlich zur verständlichen Sprache steigert. Man darf in diesem Sinn den Lebensäther wohl auch als Wortäther bezeichnen; er trägt die allerstärkste Gestaltungskraft in das irdische Dasein hinein und drückt sich bis in den festesten, verhärtetsten Stoff ab und verwirklicht dabei zugleich die höchstmögliche Fülle formender Kräfte. Er ist der eigentliche und oberste lebendige Quell, aus dem letztlich die ganze Natur und auch alle Künste schöpfen.

Indem sich das, was als Übersinnliches in der Welt waltet, durch seine sinnliche Erscheinung kundgibt, bereitet es uns nicht nur den ästhetischen Genuß, mit dem uns die Schönheiten der Natur erfüllen, sondern es wird uns auch ein Tor geöffnet in die ätherische Bildekräftewelt, die uns die in der Natur lebendig wirkenden Gesetze begreiflich macht. Hier setzt die Goetheanistische Naturforschung an. Sie sucht nach Urphänomenen, in denen sich die wirkende Idee in klarer und unmittelbar einsichtiger Weise durch die sinnliche Erscheinung ausspricht und versucht darauf aufbauend auch die komplexeren Phänomene zu verstehen, indem sie diese systematisch aus den Urphänomenen ableitet.

"Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre." (3)

Der abstrakte, d.h. der von der sinnlichen Erscheinung abgezogene Verstand, muß dabei schweigen. Das Denken entfernt sich niemals weit von dem, was man sinnlich beobachten kann, Anschauung und Denken gehen Hand in Hand. Wahrnehmung und Denken ergänzen einander und steigern sich zur "Anschauenden Urteilskraft" im Sinne Goethes, zu einem wahrhaften "Sinnen" in der doppelten Bedeutung dieses Wortes. Damit wird aber auch die unüberbrückbar scheinende Kluft überwunden, die heute Wissenschaft und Kunst voneinander trennt. Der künstlerisch geübte und für den ideellen Gehalt der Welt erweckte Sinn wird zugleich zum wichtigsten Instrument des Naturforschers:

"Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst." (Goethe)

Der abstrakte Verstand und die auf ihn gebaute Forschung läßt uns nur das Tote erkennen, das bereits dem lebendigen Naturwirken entfallen ist. Er eröffnet uns das weite Feld der modernen Technik, die uns lehrt, mit dem toten Stoff umzugehen und daraus unsere Maschinenwelt zu konstruieren. Die lebendige Natur, das Wachsende und Werdende in ihr, kann nur von dem künstlerisch geschulten Sinn ergriffen werden, denn die Natur selbst, die Göttin "Natura", wie man sie noch im Mittelalter nannte, ist selbst eine große Künstlerin, die sich durch abertausend Formen und Farben schaffend offenbart.

Natur und Kunst

Die Natur, die sich vor unseren Sinnen ausbreitet, hat sich im Laufe der Erdentwicklung immer mehr zu einem vielsagenden sinnlichen Abbild der in ihr wirkenden übersinnlichen Bildekräfte umgeschaffen. Das ist der Gang der Entwicklung, der Sinn der Evolution zunächst überhaupt, daß sich das Übersinnliche mehr und mehr in der sinnlichen Erscheinung offenbart. Überall in der Natur leuchtet uns die wirkende "Idee" durch ihren sinnlichen Abglanz entgegen, hier mehr, dort weniger, aber niemals vollständig. Alle natürliche Entwicklung hat ihre Grenzen und sie gipfelte zuletzt in der sinnlichen Erscheinung des irdischen Menschenwesens, in dem sich der geistige Sinn der Erdentwicklung am vollständigsten und deutlichsten ausspricht. "Der Mensch ist das Ende der Wege Gottes"; hier endet die natürliche Evolution, und eine neue, geistige beginnt, die sich nur durch den Menschen selbst vollziehen kann.

Die Natur als Ganzes, die "Göttin Natura" darf mit Fug und Recht als die große überragende Künstlerin schlechthin angesprochen werden, aber keinem einzigen einzelnen Naturwesen selbst, keinem Stein, keiner Pflanze und auch nicht dem höchst entwickelten Tier wohnt diese kreative Fähigkeit inne. Immer ist es die Natur als solche, die gestaltend in ihnen und durch sie wirkt. Einzig der Mensch, weil er als einziges Erdenwesen einen Tropfen dieser universellen Schöpferkraft in sich aufgenommen hat, kann selbstständig künstlerisch tätig werden. Er setzt dort fort, wo die Natur ihr Tun beendet hat und bringt das Geistige, das sie noch vor unseren Blicken verbirgt im künstlerischen Abbild zur Erscheinung.

  Im Fleiß kann dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein,
Dein Wissen teilest du mit vorgezognen Geistern,
Die Kunst, o Mensch, hast du allein.
(4)
 

Das Schöne ist hier nicht mehr nur das "sinnliche Scheinen der Idee", sondern es bedeutet eine Erhöhung des natürlichen Daseins durch die Kunst, die nur durch den Menschen selbst vollbracht werden kann, indem er seine Seele zu den geistigen Quellen führt, aus denen auch die Natur schöpft und ihr Werk fortführt, indem er den geistigen Weltgehalt dem toten Stoff, den sie aus ihrem Wirken entlassen hat, aufprägt.

Keine Wirklichkeiten im eigentlichen Sinn sind es, die der künstlerisch tätige Mensch so erschafft. Der "schöne Schein", wie er in der Kunst hervorgebracht wird, ist immer nur ein mehr oder weniger flüchtiges Bild einer höheren Wirklichkeit und niemals eigenständige Realität – aber gerade das macht zugleich den zauberhaften Reiz des Kunstwerkes aus und es unterscheidet sich dadurch auch von allen Naturwerken, so schön und erhaben sie uns auch erscheinen mögen. Die Natur, wo immer sie tätig wird, schafft wirkliche Mineralien, wirkliche Pflanzen, wirkliche Tiere und endlich den Menschen selbst. Der Künstler bringt niemals wirkliche Lebewesen hervor, er schafft in Bildern. Wirklich ist nur der Stoff, das Material, dem der bildende Künstler seine Formen eingestaltet. Der Stoff ist aber dann gerade das unkünstlerische Element seines Werkes, das er durch die Form, die er ihm gibt, überwinden muß. Im Gesang, in der Sprachkunst, in der Eurythmie fällt selbst dieser äußere Stoff weg und der Mensch selbst wird zum Instrument, durch den sich das Ewige im zeitlosen Augenblick abbildet und wieder verweht. Flüchtige Bilder, Bilder im weitesten Sinn, sind es, die uns die Kunst vermittelt, und je weniger sie uns eine massive gegenständliche Realität suggerieren, desto reiner spricht sich in ihnen das Künstlerische aus. Bloßer Naturalismus wird künstlerisch immer unbefriedigend bleiben. Vieles wird der Künstler, etwa auf der Bühne, anders darstellen müssen, als es im "natürlichen" Leben geschieht, um seinem künstlerischen Erleben Ausdruck verleihen zu können. Goethe spricht es deutlich aus:

"daß das Kunstwahre und das Naturwahre völlig verschieden sei, und daß der Künstler keineswegs streben sollte noch dürfte, daß sein Werk eigentlich als ein Naturwerk erscheine." (5)

Im Gegensatz zu den Naturwerken haben wir es also bei den Kunstwerken mit einem bloßen Schein zu tun, und je weniger sich dieser Schein als Wirklichkeit maskiert, desto besser. Was wirklich geschieht, wenn wir uns schaffend oder betrachtend in ein Kunstwerk versenken, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Wir, wir als künstlerisch tätiger und empfindender Mensch, wir entwickeln uns wirklich weiter, und unsere eigene innere seelische und geistige Entwicklung, menschheitlich wie individuell, spiegelt sich im sinnlichen Schein der Kunst wider. Und so ist die Kunst einer Epoche auch immer zugleich ein vielsagender Indikator für die seelische Entwicklungsstufe, welche die Menschheit in ihren vielfältigen kulturellen Gemeinschaften errungen hat, so wie auch das Werk eines Künstlers uns etwas über seine individuell errungene geistige Reife erzählt. In seinem Werk bildet der Künstler letztlich ab, was er sich innerlich geistig erworben hat und er zeigt uns damit zugleich, wie in einem geheimnisvoll verschlüsselten sinnlichen Vorglanz, was aus ihm selbst auch einmal, vielleicht erst in einem künftigen Leben, auch äußerlich werden wird, so wie uns die Kunst insgesamt, menschheitsweit betrachtet, wenn wir ihre geheimnisvolle Bildersprache nur zu deuten lernen, etwas davon ahnen läßt, was die Menschheit und die ganze Erde einmal sein wird. In dem der Mensch die künstlerische Scheinwelt erschafft, hebt er sich zugleich über sein gegenwärtiges Sein hinaus und erwirbt sich dabei die Kraft, das auch im zeitlichen Dasein zu werden, was er geistig aus den Quellen des Ewigen schöpft. Spricht uns die griechische Kunst mit ihren in idealer Menschengestalt verkörperten Götterbildern, mit ihrem zum Ideal erhöhten Menschenbild, das uns aus allen Skulpturen der klassischen Periode entgegenleuchtet, nicht deutlich und unmißverständlich von der Menschwerdung Gottes, von der Geburt des Gottessohnes im Menschensohn? Und wollten wir allen Evangelien, wollten wir aller religiösen Überlieferung nicht glauben, die bloße Existenz der griechischen Kunst müßte uns davon überzeugen, daß die Geburt des Christus, die Geburt des Göttlichen im Menschen, die Einwohnung jener universellen geistigen Schaffenskraft, welche die Menschengestalt aus dem Schoß der Natur hervorgebracht hat, in den einzelnen individuellen Menschen nun, wenn auch als noch so winzig kleiner Funke, unmittelbar bevorstand.

So darf wohl auch der tiefere Sinn jener Worte aufgefaßt werden, die Goethe im "Prolog zur Eröffnung des Berliner Theaters" im Mai 1821 gesprochen hat:

  Denn das ist der Kunst Bestreben,
Jeden aus sich selbst zu heben,
Ihn dem Boden zu entführen;
Link und Recht muß er verlieren
Ohne zauderndes Entsagen;
Aufwärts fühlt er sich getragen!
Und in diesen höhern Sphären
Kann das Ohr viel feiner hören,
Kann das Auge weiter tragen,
Können Herzen freier schlagen.
(6)
 

Denn das ist das Ziel der Kunst im speziellen und des Menschseins im allgemeinen, den freien, geistig schöpferisch auf sich selbst gegründeten individuellen Menschen zu ermöglichen. Nur darf man dann nicht nur auf die Kunst im engeren Sinn blicken, sondern man muß sie denkbar weit auffassen, so nämlich, daß einem das ganze Leben zum Kunstwerk wird, wie es etwa Christian Morgenstern wollte:

"Faß das Leben immer als Kunstwerk." (7)

Die Individualität des Künstlers

Drei Fähigkeiten sind es, die den Menschen von jedem noch so hoch entwickelten Tier grundlegend unterscheiden und damit auch zur Kunst befähigen. Denn kein Tier, kein bloßes Naturwesen überhaupt, wir sagten es bereits, bringt die Kunst hervor. Sie bleibt dem Menschen vorbehalten – und niemand kann im wahrsten Sinn des Wortes Mensch werden, der nicht auch zugleich Künstler ist! Diese drei Fähigkeiten, durch die sich der Mensch von allen anderen Erdenwesen unterscheidet, sind folgende:

der aufrechte Gang
die Sprache
das Denken

Indem das heranwachsende Kind zuerst seinen Kopf, später den Oberkörper und endlich seine ganze Gestalt aufzurichten und die ersten Schritte zu machen lernt, wird es auch allmählich zur bewußten räumlichen Wahrnehmung fähig. Nach und nach im Laufe seiner ersten Lebensjahre bis noch weit über das schulpflichtige Alter hinaus dehnt sich der räumliche Horizont des Kindes aus, ein Prozeß, der im Grunde niemals endet, oder niemals enden sollte, solange der Mensch auf Erden lebt, und der sich schließlich in der körperlichen und (hoffentlich) auch geistigen Weitsicht des hohen Alters erfüllt. Der Mensch lernt sich dadurch als Subjekt den räumlichen Objekten gegenüber zu stellen, wodurch er sich mehr und mehr seines eigen Ichs bewußt wird. Selbst die höchst entwickelten Tiere verfügen über diese bewußte räumliche Wahrnehmung nicht, wie geschickt sie sich auch immer im Raum zu bewegen vermögen. Auch der Mensch bewegt sich meist dann am geschicktesten, wenn das Bewußtsein nicht störend in den Bewegungsablauf eingreift. Ein extremes Beispiel dafür sind die Schlafwandler, die ganz sicher durch die Welt schreiten und dabei zugleich viel tiefer und fester schlafen als die anderen Menschen. Sie werden gleichsam von außen geführt, ohne daß ihr Ichbewußtsein dabei ist, sie handeln wie höhere Automaten. Ähnlich ist es bei medial veranlagten Personen. Beim automatischen medialen Schreiben etwa ist das Bewußtsein des Mediums auch völlig herabgedämpft. Der Mensch ist aber dazu bestimmt, aus sich selbst heraus, aus eigenem Antrieb zu handeln, wie ungeschickt das anfangs auch immer sein mag. Er soll immer mehr ein selbstbewußtes, eigenverantwortliches Wesen werden. Die ganze Kulturentwicklung zielt letztlich in diese Richtung. Indem dem Menschen nicht nur die Welt der Naturobjekte objektiv entgegen tritt, sondern wenn er diese Welt mehr und mehr mit den Produkten seiner eigenen schöpferischen gestaltenden Tätigkeit bevölkert, wie das namentlich durch die bildende Kunst geschieht, wird sie ihm zugleich zum Spiegel, in dem er seine eigene geistige Tätigkeit betrachten kann.

Weil sich der Mensch aufzurichten vermag und dadurch seine vorderen oder besser oberen Extremitäten aus ihrer den schweren Körper tragenden Funktion entlassen werden, kommt er schließlich auch dazu, seine Hand frei zu gebrauchen, was keinem Tier jemals gelingt. Zwar gibt es gewisse Vorklänge dazu im Tierreich, etwa wenn ein Eichhörnchen geschickt die Nüsse zwischen den Vorderpfoten dreht und mit seinen scharfen Zähnen aufknackt, aber immer sind es nur einzelne ganz spezielle Handlungen, die das Tier so ausführen kann. Das Tier erweist sich dabei stets als äußerst geschickt, zugleich ist aber sein Handlungsrepertoire auch äußerst eingeschränkt und entweder durch seinen Artcharakter streng vorherbestimmt oder ihm durch äußere Dressur, die allerdings auch nur in einem sehr engen Rahmen möglich ist, aufgezwungen. Frei zu handeln vermag nur der Mensch, und so darf man die menschliche Hand getrost als Realsymbol für den freien Menschen auffassen. Nicht zufällig weist uns etwa das lateinische Wort für Hand, manus, auf die selbe sprachliche Wurzel wie der deutsche Ausdruck "Mensch". Wer daraus aber schließen wollte, daß deswegen die menschliche Hand rein körperlich weiter entwickelt wäre als die entsprechenden tierischen Gliedmaßen, würde gewaltig irren. Vergleicht man die Keimesentwicklung des Menschen mit der des Tieres, so sieht man sofort, das die menschliche Hand auf einer frühen Entwicklungsstufe zurückbleibt, über welche die tierischen Gliedmaßen weit hinausschreiten. Dadurch erst werden sie zu den ganz einseitig spezialisierten Pfoten, Tatzen, Klauen und Hufen, die das Tier auf Gedeih und Verderb an ihren ganz spezifischen Lebensraum schmieden. Gerade weil die Bildekräfte, welche die tierischen Glieder durchformen, beim Menschen nicht in der organischen Gestaltung aufgehen, bleiben sie ihm für die selbstbestimmte bildende Tätigkeit seiner Hände frei. Das Tier ist von Natur aus geschickt, oder es erwirbt sich diese spielerisch übend während einer ganz kurzen und entscheidenden Periode seines Lebens. Der Mensch bleibt lange Zeit ein ungeschicktes Wesen, eben weil diese Bildekräfte nicht von selbst in seinen Organismus eingreifen. Nur durch lebenslanges Üben kann er sie sich mehr und mehr verfügbar machen und so jenes handwerkliche Können entwickeln, das für die Kunst unerläßlich ist. Tatsächlich leitet sich das deutsche Wort "Kunst" ja auch ganz richtig von "Können" ab. Bloße handwerkliche Geschicklichkeit alleine ist jedoch für die künstlerische Arbeit zu wenig. Die allseitig bewegliche menschliche Hand vermag nicht nur die Stoffe der Außenwelt zu ergreifen und zu bearbeiten, sie kann die innere seelische Bewegung des Menschen als äußere Geste sichtbar machen, und erst dadurch befähigt sie den Menschen, künstlerisch zu gestalten. Was auch immer der Künstler tut, er muß es geschickt und aus ganzer Seele tun, nur so vermag er das, was er in seiner Seele an geistigen Impulsen erlebt, dem äußeren Stoff einverleiben. Im griechischen Kunsthandwerk (techné) war die handwerkliche Geschicklichkeit noch untrennbar mit dem seelenhaften künstlerischen Ausdruck verbunden, und das gilt ebenso auch noch für die mittelalterliche Handwerkskunst; Reste davon haben sich bis in unsere Tage erhalten, aber sie werden immer spärlicher. Seelische Ausdrucksfähigkeit und handwerkliches Können haben sich heute weit voneinander entfernt. Durch die moderne Technik, durch die maschinelle Massenfertigung, hat sich die Warenproduktion immer mehr vom Menschen und seinem seelischen Erleben abgelöst. Zweckmäßig und billig mußte nun produziert werden, die künstlerische Gestaltung trat zurück und machte zunächst einer nüchternen Einförmigkeit Platz. Früher war jedes einzelne Werkstück individuell gestaltet, heute ist schon beinahe alles beliebig austauschbare Massenware geworden. Allerdings gibt es auch nach und nach immer mehr erfreuliche Beispiele für ansprechendes Industriedesign. Zwar ist eine individuelle Gestaltung in der industriellen Produktion kaum möglich, aber immerhin beginnen sich Funktionalität und gefälliges Aussehen miteinander zu verbinden.

Dem äußeren Stoff kommt in den einzelnen Künsten, wie bereits erwähnt, eine sehr unterschiedliche Bedeutung zu. In den bildenden Künsten ist er der unerläßliche Rohstoff, mit dem der Künstler umzugehen lernen muß. In der Sprache und im Gesang ist es der durchatmete, lebendig bewegte menschliche Körper, durch den sich die menschliche Seele für einen flüchtigen Augenblick offenbart. Am reinsten lebt sich die Seelengeste in der Eurythmie aus, in jener Kunstform, die in dieser Art erst in allerletzter Zeit in die Welt getreten ist. Betrachtet man die Entwicklung der Künste insgesamt, so muß einem auffallen, daß die bildenden Künste, die sogenannten Raumkünste (Architektur, Plastik, Malerei als Grenzfall) wesentlich früher einen hohen Reifegrad erreicht haben als die Zeitkünste (Musik, Dichtung, Eurythmie). Die Architektur etwa hat schon in den altorientalischen Monumentalbauten einen ersten Höhepunkt erreicht, die Skulptur der griechischen Antike ist in gewissem Sinn bis heute nicht übertroffen worden und die Musik hat sich erst mit dem Terzempfinden und dem damit verbundenen Dur- und Mollsystem eine bis dahin unmöglich scheinende Fülle künstlerischer Gestaltungsmöglichkeiten errungen.

Raumkünste
  • Architektur
  • Plastik, Skulptur
  • Malerei
Zeitkünste
  • Musik
  • Dichtung
  • Eurythmie

Die künstlerische Gestaltung befreit sich dadurch immer mehr vom Zwang des Stoffes und der äußeren Naturgesetze, erfährt eine zunehmende seelische Verinnerlichung und ermöglicht damit zugleich eine immer stärkere Individualisierung des künstlerischen Ausdrucks. Das individuell gestaltete Lied und der ganz persönliche Ausdruck in der Lyrik sind erst in der Neuzeit möglich geworden, und diese individuelle Durchseelung, die in den Zeitkünsten gewonnen wurde, strahlt zurück auf die Raumkünste und hebt auch diese auf eine neue Stufe.

Eine Kunst darf in diesem Zusammenhang noch genannt werden, die gewöhnlich nicht zu den eigentlichen Künsten gerechnet wird, weil sie sich vollständig vom Stoff befreit hat, nur mehr reine innere Seelengeste ist und überhaupt kein äußerlich sichtbares Werk hinterläßt, die aber doch in der geradlinigen Fortsetzung dieses hier beschriebenen Weges liegt und die der künstlerischen Vertiefung heute am meisten bedarf: die Denkkunst. Freilich ist damit nicht jenes abstrakte, technisch orientierte Denken gemeint, das unsere Zeit so beherrscht, sondern ein innerlich lebendiges, bildhaftes gestaltendes Denken, das, für die meisten Menschen heute noch unbewußt, hinter der Abstraktion, die ihr bloßes totes Schattenbild ist, webt und lebt. Hier beginnt sich die Bildekräftewelt, die aller Naturgestaltung, aber auch allem künstlerischen Gestalten zugrunde liegt, in reiner stoffbefreiter Form der Seele des Menschen unmittelbar zu eröffnen. Feiner empfindende Menschen nahen sich dieser Stufe des Denkens bereits, durch die wir auf neue und ganz individuelle Weise das wieder erwerben werden, was Platon einst mit seiner "Ideenschau" angedeutet hat. Der Physiker Wolfgang Pauli beschreibt es etwa so:

"Wenn man die vorbewusste Stufe der Begriffe analysiert, findet man immer Vorstellungen, die aus «symbolischen» Bildern mit im allgemeinen starkem emotionalen Gehalt bestehen. Die Vorstufe des Denkens ist ein malendes Schauen dieser inneren Bilder, deren Ursprung nicht allgemein und nicht in erster Linie auf Sinneswahrnehmungen ... zurückgeführt werden kann ....

Die archaische Einstellung ist aber auch die notwendige Voraussetzung und die Quelle der wissenschaftlichen Einstellung. Zu einer vollständigen Erkenntnis gehört auch diejenige der Bilder, aus denen die rationalen Begriffe gewachsen sind. ... Das Ordnende und Regulierende muss jenseits der Unterscheidung von «physisch» und «psychisch» gestellt werden - so wie Platos's «Ideen» etwas von Begriffen und auch etwas von «Naturkräften» haben (sie erzeugen von sich aus Wirkungen). Ich bin sehr dafür, dieses «0rdnende und Regulierende» «Archetypen» zu nennen; es wäre aber dann unzulässig, diese als psychische Inhalte zu definieren. Vielmehr sind die erwähnten inneren Bilder («Dominanten des kollektiven Unbewussten» nach Jung) die psychische Manifestation der Archetypen, die aber auch alles Naturgesetzliche im Verhalten der Körperwelt hervorbringen, erzeugen, bedingen müssten. Die Naturgesetze der Körperwelt wären dann die physikalische Manifestation der Archetypen. ... Es sollte dann jedes Naturgesetz eine Entsprechung innen haben und umgekehrt, wenn man auch heute das nicht immer unmittelbar sehen kann." (8)

Man sieht deutlich, wie hier das von Aristoteles geprägte logische kausale Denken einer Art erneuerten Platonischen Ideenschau weicht, wobei diese so seelisch erlebten und nicht logisch abgeleiteten "Ideen" innerlich bildhaft geschaut und zugleich als wirkende Kräfte in der Natur angesehen werden. Die Brücke zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen, die der Künstler halb traumhaft ahnt, wird hier im voll wachen Bewußtsein gebaut und damit auch die Voraussetzung geschaffen, daß Wissenschaft und Kunst, die lange Zeit getrennte Wege gegangen sind, sich wieder einander nähern können.

Von allen Ätherarten ist es die flüchtigste, die wir im reinen Denken betätigen. Wir haben sie bis jetzt noch nicht erwähnt, weil sie im Erschaffen der äußeren Kunstwerke nur eine untergeordnetere Rolle spielt. In dem wir unser Denken in Bewegung setzen, bedienen wir uns zuallererst des Wärmeäthers. Die Wärme steht unmittelbar an der Grenzscheide zwischen physischer und ätherischer Welt und wird in unserem Organismus durch die lebendige Blutwärme vermittelt, und in dieser Blutwärme drückt sich zugleich am unmittelbarsten jede geistige Regung unseres Ich, unserer Individualität ab. Das läßt sich heute bereits durch die Gehirnforschung äußerlich bestätigen. Nicht zu Unrecht sprechen wir vom Feuer der Begeisterung an dem sich der Funke unseres geistigen Wesens entzündet und durch unser eigenes schöpferisches Tun schließlich zur Flamme entfacht werden wird.

Im Anschauen seines eigenen Denkens wird sich der Mensch erst vollständig seiner selbst als geistige Individualität bewußt. Was bis dahin unbewußt in ihm und durch ihn wirkt, wird nun in das helle Wachbewußtsein gehoben. Es ist die Aufgabe unserer Zeit, diese Bewußtseinskraft immer mehr zu schärfen. Das gilt auch ganz besonders für den Künstler, dessen schöpferische Impulse für gewöhnlich aus tief unterbewußten Regionen aufsteigen. Viele Künstler schrecken davor zurück, mit Bewußtsein an die Quellen ihrer Schaffenskraft vorzudringen, weil sie fürchten, sich dadurch ihrer Unbefangenheit und damit letztlich auch ihrer spontanen Kreativität zu berauben. Und doch wird der Weg in diese Richtung gehen müssen, denn man kann immer mehr bemerken, wie die natürlichen künstlerische Anlagen bei immer weniger Menschen auftreten. Die Zeit der geborenen Genies wird bald abgelaufen sein. Die Zukunft wird Kreativität und Bewußtsein, Kunst und Erkenntnis miteinander verbinden müssen. Die Gefahren auf dem Weg dorthin sind allerdings groß. Wer etwa nach einigen abstrakten Gesetzen, die er erkannt zu haben meint, sich ein Kunstwerk erklügeln wollte, müßte ganz in die Irre gehen. Kunst kann niemals dem abstrakten Denken entspringen, sondern nur dem schöpferischen Willen. Im reinen gestaltenden Denken ist aber gerade dieser Wille anwesend – und zwar vollbewußt. Im allgemeinen schlafen wir im Bereich unseres Willens tief und fest. Was wirklich in uns vorgeht, wenn wir auch nur einen Finger bewegen, d.h. wenn der Wille real unseren Körper ergreift, ist unserem Bewußtsein völlig verborgen. Dieser Wille ist es aber auch, aus dem die künstlerische Kreativität entspringt. Kunst heißt Können, d.h. tun bzw. wollen, und weil das Künstlerische dem Willen entspringt, kommt es aus einem für uns zunächst unterbewußten Bereich. Im gestaltenden Denken aber wird das Wollen voll wach erfahren, und auch alle Gefühle werden klar bewußt erlebt, in denen wir sonst bloß träumen. Das ist eine Zukunftsaufgabe der Menschen überhaupt, daß sie aus eigener geistiger Kraft Denken, Fühlen und Wollen immer mehr vereinigen und sich durchdringen lassen und sie mit vollem Bewußtsein ergreifen. Das kann aber nur durch die eigene innere Anstrengung des einzelnen Individuums selbst geschehen. Durch die bloß natürliche Entwicklung scheinen sich Denken, Fühlen und Wollen immer mehr voneinander zu sondern, was man an dem gefühlskalten und zugleich kraftlosen Denken unserer Zeit oder an den so häufig ausbrechenden unbeherrschten irrationalen Emotionen leicht studieren kann. Wenn es dem Menschen gelingt, durch die Kraft seines Ich das Denken mit dem Fühlen und dem Wollen zu vereinigen, wenn es ihm zugleich gelingt, seinen Willen fühlend und intelligent zu machen, dann kann er einmal auch voll bewußt künstlerisch tätig werden. Er wird dann bei jedem schöpferischen Impuls, den er ergreift, zugleich der geistigen Quelle gewahr werden, aus der er entspringt. Es wird nicht mehr so sein wie heute, wo wir als abstrakt denkender Mensch einen Gedanken fassen und danach erst ausführen oder wo wir als Künstler aus dem unbewußten Willen schaffen und vielleicht irgendwann nachher die Gesetzmäßigkeit unseres Tuns einsehen, sondern Denken, Fühlen und Wollen werden durch keinen auch noch so geringen Zeitraum mehr getrennt sein – dann wird wirkliche Geistesgegenwart eingetreten sein. Nur wo der Mensch wirklich in dieser Geistesgegenwart lebt und in ihr schafft, ist er wahrhaft er selbst und spürt gerade dadurch, daß er damit zugleich der Brennpunkt der ganzen geistigen Welt, der Quelle aller Schöpferkraft ist. Erst wenn der Mensch das erkennt und erlebt, darf er sich wirklich als freie Individualität fühlen. Und damit ist auch klar, wie sehr sich dieser nicht nur berechtigte, sondern von der Zeit geforderte Individualismus von jedem engherzigen prahlerischen Egoismus unterscheidet, der mit wirklicher Freiheit nichts zu tun hat, sondern uns vielmehr zum Sklaven unserer angeerbten tierischen Triebnatur macht. Das unterscheidet den Menschen ja gerade vom Tier, daß dieses kein individuelles Ich besitzt. Dafür wird es von ganz arttypischen Instinkten geleitet, es wird gleichsam durch die ganze Natur selbst geführt, während sich der Mensch durch sein eigenes Ich seine individuelle Richtung geben sollte. Tut er es nicht, so läuft er Gefahr, tierischer als jedes Tier zu werden, denn die Instinkte, die seine Triebe begrenzen könnten, sind ihm nach und nach abhanden gekommen. Das mußte auch so sein, damit der Mensch ein freies Wesen werden kann, aber er muß dann auch wirklich aus eigenem Entschluß dort fortsetzten, wo die Natur aufgehört hat, in ihm zu wirken – d.h. er muß, wenn wir an das denken, was wir über Natur und Kunst gesagt haben, in seinem ganzen Leben Künstler werden, und er selbst ist das Werk, das er erschafft. Tatsächlich ist der Mensch schon immer Künstler gewesen, indem er im Laufe seines Lebens immer mehr seine geistige Individualität in seinem äußeren Dasein zur Darstellung bringt. Als Kind tun wir das beinahe völlig unbewußt, und in alten Zeiten war es bis in das hohe Alter nicht anders. Heute ist die Zeit reif, diesen Weg bewußt fortzusetzen. Auf diesem Weg helfend beizustehen ist Aufgabe der Erziehungskunst, aber auch etwa der Heilkunst, ja der Kunst überhaupt im engeren und weiteren Sinn. Alle Kultur ist zugleich Spiegelbild und Werkzeug dieser Entwicklung, durch die der Mensch die Natur in sich zum individuellen Geist erhöht – und dadurch zugleich auch das Werk der Natur vollendet. Hier hat die Kunst ihren wesentlichen Beitrag zu leisten. Aristoteles hat vom griechischen Drama gesagt, daß es, indem es beim Publikum Furcht und Mitleid errege, zu einer Katharsis, zu einer seelischen Läuterung beim Publikum führe. Alle Kultur entsteht letztlich aus der Läuterung unseres Triebleibes.

Das triebhaft Unbeherrschte wird zur bewußten freudigen Begeisterung oder auch zur standhaft ertragenen Trauer. Mit moralinsaurer Lustverneinung und Askese oder Selbstgeißelung hat das nicht das geringste zu tun, sondern mit wahrer, oft schmerzvoller, aber oft auch freudvoller Selbstverwirklichung des individuellen Ichs – denn es wäre kein Ich, wenn es sich nicht selbst erschaffen würde, wenn der Mensch nicht vom Geschöpf zum kreativen Schöpfer seiner selbst aufsteigen würde! Leicht ist dieser Weg nicht zu beschreiten, aber wir müssen ihn gehen, wenn wir zu uns selbst finden wollen – das gilt für den Künstler noch in ganz besonderem Maß:

"Der Künstler ist kein Sonntagskind des Lebens: Er hat kein Recht, pflichtlos zu leben, er hat eine schwere Arbeit zu verrichten, die oft zu seinem Kreuz wird. Er muß wissen, daß seine Taten, Gefühle, Gedanken das feine unbetastbare, aber feste Material bilden, woraus seine Werke entstehen, und daß er deswegen im Leben nicht frei ist, sondern nur in der Kunst." (9) (Kandinsky)

Dann wird der Künstler auch in rechter Weise befreiend und befruchtend auf sein Publikum wirken können:

"Es gibt nichts auf Erden, das Schönheit begieriger wäre und sich leichter verschönt als eine Seele ... Darum widerstehen auch sehr wenige Seelen auf Erden der Herrschaft einer Seele, die sich der [inneren] Schönheit hingibt." (10) (Kandinsky)

Der Künstler, seine Zeit und sein Publikum

Der Künstler, wie jeder Mensch, steht niemals für sich allein, sondern lebt im sozialen Zusammenhang mit anderen Menschen. Er ist ein Kind seiner Zeit und seines kulturellen Umfeldes. Große Künstler wie etwa Goethe waren sich dessen stets sehr deutlich bewußt. Gerade darum trat er ja beinahe fluchtartig seine "Italienische Reise" an, um sich in diesem ganz anderen kulturellen Milieu, in dem die Erinnerung an die Antike noch lebendig zu ihm sprechen konnte, über die engen Grenzen seiner nordischen Heimat hinauszuheben und die Welt aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Gerade dadurch konnte er sich erst so richtig seiner Aufgabe und seiner künstlerischen Möglichkeiten bewußt werden, die ihm als deutscher Dichter des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gegeben waren.

Wenn der Künstler durch sein Werk für seine Zeit wirken will, und das ist wohl seine Aufgabe als hier und heute lebender Mensch, dann muß er sich zu einem entschiedenen Sprecher des Zeitgeistes machen und zugleich dem Ungeist der Zeit entgegentreten. Nur muß er den Zeitgeist dann als reale geistig wirkende Kraft, als geistiges Wesen begreifen, das sich im sozialen Zusammenhang offenbaren will, und nicht als bloß modische Meinung der Masse, wie das heute meist üblich ist. Das Ewige in zeitgemäßer und der kulturellen Heimat des Künstlers entsprechender Form auf individuelle Weise auszudrücken, ist die eigentliche Aufgabe des Künstlers. Er hat sich dabei weder dem momentan vorherrschenden Geschmack noch der in der Vergangenheit verwurzelten Tradition zu beugen, er hat sich nicht nach dem zu richten, was bereits ist, sondern das im sinnlichen Schein zu offenbaren, was er gemäß seiner individuellen menschlichen und künstlerischen Qualitäten dem ihm verbundenen Volksgeist und dem seine Zeit leitenden Zeitgeist abzuringen vermag. Er darf weder so banal werden, daß er der augenblicklichen Mode gehorcht, noch so vermessen zu glauben, er könnte das Ewige unmittelbar und unabhängig vom Raum und von der Zeit in der er lebt, durch seine Kunst darstellen. Im ersten Fall wäre er bloß ein abgeschmackter Kopist, in zweiten ein überheblicher Phantast. Nicht umsonst spricht man vom genius loci, vom inspirierenden Geist eines Ortes, und mit gleichem Recht darf man von Genien einer Epoche, eines Volkes, einer bestimmten kulturellen und/oder religiösen Gemeinschaft reden – und nicht weniger von den Dämonen, die ihnen hindernd entgegentreten. Mit ihnen fertig zu werden, macht einen guten Teil des unausweichlichen inneren und äußeren Lebenskampfes aus, dem sich der Künstler nicht entziehen kann. Die historische Epoche, in welcher der Künstler lebt, das Volk dem er entstammt und in dessen Schoß er herangewachsen ist und schließlich sein eigener individueller Charakter und schicksalsmäßiger Werdegang sind die Pforten, durch die er das übersinnlich Ewige in die vergängliche sinnliche Erscheinung leiten muß – und sie sind zugleich die Tore, an denen besagte Dämonen lauern.

Die Kultur, die Kunst kann sich nur wirksam entfalten, wenn geistige Gemeinschaften geschaffen werden, die fähig sind, die schöpferischen Impulse aufzunehmen, die der Künstler durch seine Werke in unsere Welt hereinzuholen sucht.

"Man kann das Theater (beispielsweise) nicht reformieren, wenn man nicht zugleich den ganzen Geist der Zeit reformiert. Es ist der Irrtum unserer Zeit, daß sie meint, man könne wesentliche Probleme aus dem Zusammenhang herauspflücken und für sich allein lösen." (11) (Christian Morgenstern)

Was not tut, ist das lebendige Gespräch des Künstlers mit seinem Publikum. Der Künstler spricht sich durch seine Werke aus, das Publikum antwortet ihm durch die Begeisterung und innere Befriedigung, mit der es sie entgegennimmt, aber auch durch die stürmischen Emotionen, mit denen es sie ablehnt oder der Lächerlichkeit preis gibt. Und sollte der Künstler auch sein Werk in tiefster Einsamkeit in einer fernen Klause erschaffen, sein Publikum findet er immer, wenn nicht unter den heutigen Menschen, dann in den künftigen Generationen, und wenn nicht unter den Lebenden, dann unter den Toten, die uns als individuelle Geistwesen beständig umgeben und für die das, was wir aus wirklich geistigen Impulsen erschaffen, die reinste Seelennahrung ist. Wer mit dem Geistigen als Realität rechnet, und das müßte der Künstler eigentlich und wird es künftig immer mehr und immer bewußter müssen, der wird auch vor solchen Gedanken nicht zurückschrecken!

Die Überwindung des Naturalismus in der modernen Kunst

Bloßer Naturalismus ist unkünstlerisch, er bleibt dem bloßen Stoff verhaftet. Wollte man nur die Natur oder das äußere Modell kopieren, so schafft man damit nur einen müden Abklatsch dessen, was in der Wirklichkeit viel besser und schöner zu finden ist. Ein noch so sorgsam gemaltes photorealistisches Bild mag zwar viel handwerkliches Können erfordern, aber es wird dennoch niemals auch nur annähernd an die Wirklichkeit heranreichen. Man kann ein Gemälde wie Vermeers "Malkunst" aus kunsthistorischer Sicht so beschreiben:

Jan Vermeer, Allegorie der Malkunst"Indem die "Malkunst" den Prozess der Herstellung eines Bildes im Bild zeigt, handelt es sich zunächst um die Darstellung der "Malerei", gleichzeitig aber auch um einen Ausdruck deren Lösung aus der handwerklichen Bindung sowie ihres neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Ranges.

Das Bild fasst die Bestrebungen der Malerei zusammen, autonome, "freie" Kunst zu werden und ist zugleich schon dessen Sinnbild. Mit dem Verweis auf die Geschichtsschreibung zeigt Vermeer, wie diese in und durch das Medium der Malerei, seine formalen wie intellektuellen Darstellungstechniken ebenso tradiert wird wie durch das Wort. Geschichte, so argumentiert Vermeer in diesem Bild, wird erst durch ihre Erzählung oder Darstellung als Geschichte greifbar. Und die Malerei steht im Zentrum dieser Vermittlung." (12)

Ob sich Vermeer das Thema seines Bildes tatsächlich so oder ähnlich gestellt hat, soll hier nicht weiter untersucht werden – über die künstlerische Qualität des Bildes erfahren wir dadurch nichts. Das Thema, die Geschichte, die der Maler erzählt, ist nur Inhalt, nicht weniger bloßer Rohstoff als Farbe und Leinwand. Wie der Künstler mit seinem Thema, mit den Farben usw. umgeht, das entscheidet über den künstlerischen Ausdruck.

"In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten. Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet." (13)

Es ist das übersinnliche Licht selbst, mit dem der Maler arbeitet und dessen "Taten und Leiden" er in seinen auf die Leinwand aufgetragenen Farben schildert. Wie Licht und Finsternis verteilt und gegeneinander gewichtet sind und aus ihrem Wechselspiel die Farben gebären, das macht die Kunst des Maler aus – und in diesem Sinne darf man dann auch den Titel "Malkunst" auffassen – wir dürften ihn dann aber mit gleichem Recht auch über alle anderen großen Gemälde schreiben. Alle sind sie ein offenbares Manifest dieser "Malkunst", ganz gleich, welches Thema sie darstellen. Für alle Kunst gilt das Wort, das Goethe seinem "Homunculus" im zweiten Teil des Faust in den Mund legt.

"Das Was bedenke, mehr bedenke Wie." (14)

Im Goldgrund der Ikonen kann man das aktive übersinnliche Licht ebenso schauen wie im dramatischen Kampf der Hell-Dunkel-Malerei des Barock, etwa bei Rembrandt, Caravaggio oder eben Vermeer. Eigentlich muß man alle diese Bilder zuallererst mit einem gewissermaßen unscharfen Blick betrachten, nämlich so, daß die Gegenstände verschwimmen, unkenntlich werden und sich auflösen und nur mehr ein dynamischer Gesamteindruck heller, dunkler und farbiger Flächen entsteht, der unmittelbar zur menschlichen Seele spricht – ganz im Sinne der "sinnlich-sittlichen" Wirkung der Farben, von der Goethe spricht. Wie Hell und Dunkel verteilt sind, die Komposition des Bildes wird wichtig. Und zurecht erinnert uns das Wort "Komposition" an die Musik und an den Klangäther, der ihre Quelle ist. Immer müssen in der Malerei nämlich Lichtäther und Klangäther zusammenwirken. Der eine läßt die Farben erstrahlen, der andere ordnet sie zu harmonischen Formen.

Wassily Kandinsky, Weißer BogenDiesen Prozeß, den hier der Betrachter selbst vollziehen muß, haben später die Impressionisten und namentlich die Expressionisten direkt in ihren Bildern darzustellen gesucht, ganz besonders gilt das dann für die abstrakte Malerei etwa eines Paul Klee, eines Kandinsky und anderer. Abstrakt heißt hier nur, daß sich die Malerei vollständig vom Gegenständlichen, vom bloßen Stoff, vom Inhalt abwendet; sie ist aber zugleich, was ihre seelische Wirkung auf den Betrachter betrifft, in höchstem Grade konkret. Sie führt ganz nahe und sehr direkt an das unmittelbare Erleben des übersinnlichen Lichtes heran, an seinen ätherischen Bildekräftecharakter ebenso wie an das reine Seelenlicht. Die gezeichnete Raumperspektive, wie sie in der Renaissance perfektioniert wurde, verschwindet und macht einer intensiven Farbperspektive Platz, wo etwa rote Flächen als entgegen drängend empfunden werden und blaue Töne die Seele in die Ferne ziehen. Das ganze Bild wird so beweglich, aber nicht äußerlich, sonder innerlich beweglich in der Seele des Betrachters. Natürlich ist diese Farbdynamik auch in der Malerei der Renaissance oder des Barock vorhanden, und sie macht einen guten Teil der künstlerischen Wirkung dieser Bilder aus, aber sie ist maskiert, gleichsam abgeschirmt durch den vorgetäuschten Gegenstandscharakter der dargestellten Szenerie.

Je mehr das Gegenständliche aus der Kunst verschwindet, desto leichter kann sich der Künstler aber verlieren in wesenlosen Phantastereien oder ausgeklügelten Konstruktionen. Gerade in der Gegenwartskunst kann man das häufig bemerken. Willkürlich auf der Leinwand versprühte Farbflecken machen noch kein Kunstwerk. Aber das mögen vielleicht nur Kinderkrankheiten auf dem Weg zu einer weiteren Spiritualisierung der Kunst sein.

Nach alledem kann uns aber auch klar werden, was das Kunstwerk eigentlich ist: es ist ein Tor, das in der sinnlichen Welt errichtet wird, und durch das der Betrachter, das Publikum, der Leser ahnend in eine andere Welt, in eine übersinnliche Welt geführt wird. Der Künstler baut dieses Tor, wir als Betrachter sind aufgefordert, es zu durchschreiten zu jenen Quellen hin, aus denen der Künstler schöpft:

"Eine Art Stille leuchtet zum Grund. Von ungefähr / scheint da Etwas / nicht von hier / nicht von mir / sondern Gottes / Gottes! Wenn auch nur Widerhall, / nur Gottes Spiegel, / so doch Gottes Nähe. / Tropfen von tief, / Licht an sich." – "Denn ich war dort, wo der Anfang ist. Bei meiner angebeteten Madame Urzelle war ich, das heißt so viel wie fruchtbar sein." (15) (Paul Klee, Tagebuch)

Für sich selbst genommen, als Gegenstand, als bloßes Objekt ist das Kunstwerk nichts außer einer Leinwand mit einem Kilo Farbe darauf oder einem zentnerschweren Marmorblock. Es hat bloßen Materialwert.

"Erkennt meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort." (16) (Franz Marc)

Franz Marc, Kämpfende Formen

Das Kunstwerk, egal ob es sich um ein Gemälde, ein Gedicht oder ein Lied handelt, erfüllt und vollendet sich erst mit den Menschen, die seine Wirkungen in ihre Seele aufnehmen und innerlich mit- und weitergestalten und sich so, zuerst ahnend, später klar erkennend einen Weg vom Sinnlichen ins Geistige bahnen, wie es Schiller in seinem Gedicht "Die Künstler" angedeutet hat:

  Nur durch das Morgentor des Schönen
Drangst du in der Erkenntnis Land.
An höhern Glanz sich zu gewöhnen,
Übt sich am Reize der Verstand.
Was bei dem Saitenklang der Musen
Mit süßem Beben dich durchdrang,
Erzog die Kraft in deinem Busen,
Die sich dereinst zum Weltgeist schwang.
 

Die geistigen Quellen der Kunst

"Ich glaube, daß die Kunst göttlichen Ursprungs ist und in den Herzen aller Menschen lebt, die von dem Himmelslicht berührt worden sind. Hat man einmal die Wonnen großer Kunst gekostet, so ist man ihr für immer unentrinnbar geweiht." (17) (Paul Gauguin kurz vor seinem Tod)

Alle großen Künstler haben die geistigen Quellen ihres Tuns zumindest dunkel geahnt, manche mehr, manche weniger, aber nur einzelne sind bis heute zu einer klaren Erkenntnis des Geistigen vorgedrungen, aus dem sie ihre Kraft schöpfen. Allmählich läuft aber die Zeit ab, wo wir bei bloßen Ahnungen stehen bleiben dürfen. Wir alle, aber die Künstler ganz besonders, sind gefordert, nach und nach geistig zu erwachen:

"Wer in das, was von Göttlich-Geistigem heute erfahren werden kann, nur fühlend sich versenken, nicht erkennend eindringen will, gleicht dem Analphabeten, der ein Leben lang mit der Fibel unterm Kopfkissen schläft." (18) (Christian Morgenstern)

Goethes Farbenlehre, besonders dort, wo er von der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben spricht, kann uns die ersten Schritte auf einem Weg leiten, durch den man sich übend, betrachtend, sinnend an das Geistige herantasten kann, das in allem Sinnlichen wirkt. Daß man die gegenständlichen Vorstellungen, ja sogar das gegenständliche Wahrnehmen selbst überwinden muß, wenn man sich erlebend der gestaltenden Bildekräftewelt nähern will, kann sich schon aus den Ausführungen über den Wert und Unwert des Naturalismus in der Kunst ergeben. Überhaupt darf man sein Augenmerk nicht auf die fertigen Sinneseindrücke legen, sondern man muß sie gleichsam dort erhaschen, wo sie erst noch entstehen oder bereits wieder vergehen. Dieser Teil des Wahrnehmungsprozesses entzieht sich für gewöhnlich unserer bewußten Aufmerksamkeit. Gerade hier aber läßt sich erfahren, wie sich die gestaltende Idee mit den Sinnesqualitäten durchdringt bzw. wieder von ihnen löst. Wenn wir in der Natur draußen einen Baum sehen und ihn auch sofort als Baum erkennen, dann haben wir schon den Moment verschlafen, wo sich die gestaltende "Idee" des Baumes, seine ganz typische Wachstumsgebärde, mit den verschiedenen grünen, braunen und andersfarbigen Farbqualitäten, mit linearen und krummen Formelementen, mit charakteristischen Duftqualitäten usw. zu dem Gesamteindruck "Fichte" (beispielsweise) vereinigt haben. Wenn wir die Fichte bereits als "Fichte" fertig erkennen, dann ist ihr Bildeprinzip bereits unserem Bewußtsein entschwunden; es ist zwar verborgen wirksam in dem, was wir sinnlich vor Augen haben, aber wir bemerken es nicht mehr. Wir müssen gleichsam einen Schritt von der fertigen gegenständlichen Wahrnehmung zurücktreten. Eine sehr gute Übung, die sich aus Goethes Farbenlehre ergibt, besteht darin, daß man die sog. "Nachbilder" aufmerksam verfolgt, die ein intensiver Farbeindruck im Auge zurückläßt. Blickt man etwa einige Zeit durch ein Fenster nach draußen auf den hellen Himmel und schließt dann die Augen, so wird man innerlich ein Negativbild erleben, bei dem der Himmel ganz dunkel, das ursprünglich dunkle Fensterkreuz aber ganz hell erscheint. Schaut man einige Zeit in ein helles weißes Licht, etwa einer Glühbirne, so wird man danach bei geschlossenen Augen erleben, wie sich das Nachbild allmählich abdunkelt und schrittweise nach Gelb, Orange und Tiefrot verfärbt, bis schließlich vom Rand her blaue Farbtöne hereinbrechen und endlich das ganze Bild in der Finsternis verschwindet, aus der es allerdings durch starke Konzentration oft sogar mehrmals wiederbelebt werden kann. Das zeigt sehr deutlich, wie hier in den physiologischen Prozeß des Auges, von dem das Nachbild primär ausgeht, seelische Kräfte hinein wirken. Tatsächlich muß dem äußeren Licht immer ein inneres seelisches Licht entgegentreten, wenn es zu einer bewußten Wahrnehmung kommen soll. Allerdings ist die fertige Wahrnehmung meist so rasch da, daß wir das gar nicht bemerken. Wie wichtig es für den modernen Menschen ist, diesen Lichtseelenprozess zu erkennen und bewußt zu fördern, darüber hat sich Rudolf Steiner verschiedentlich ausgesprochen (19).

"Sie sehen eine Flamme. Sie schließen die Augen, haben das Nachbild, das abklingt. Ist das bloß ein subjektiver Prozeß? Der heutige Physiologe sagt so. Es ist nicht wahr. In dem Weltenäther bedeutet das einen objektiven Prozeß, wie in der Luft die Anwesenheit der Kohlensäure, die Sie ausatmen, einen objektiven Prozeß bedeutet. Sie prägen dem Weltenäther ein das Bild, das Sie nur wie ein abklingendes Nachbild empfinden. Das ist nicht bloß subjektiv, das ist ein objektiver Vorgang. Hier haben Sie das Objektive. Hier haben Sie die Möglichkeit, zu erkennen, wie etwas, was sich in Ihnen abspielt, in feiner Art zu gleicher Zeit ein Weltenvorgang ist, wenn Sie sich nur bewußt werden: Sehe ich eine Flamme an, mache die Augen zu, lasse sie abklingen es klingt ja auch ab, wenn Sie die Augen offen lassen, nur bemerken Sie es dann nicht , dann ist das etwas, was nicht bloß in mir vorgeht, das ist etwas, was in der Welt vorgeht. Das ist aber nicht bloß bei der Flamme so. Trete ich einem Menschen gegenüber und sage: Dieser Mensch hat das oder jenes gesagt, was wahr oder nicht wahr sein kann , so ist das eine Beurteilung, eine moralische oder eine intellektuelle Handlung im Inneren. Das klingt ebenso ab wie die Flamme. Das ist ein objektiver Weltenvorgang. Wenn Sie über Ihren Nebenmenschen Gutes denken: es klingt ab, ist im Weltenäther als ein objektiver Vorgang; wenn Sie Böses denken: es klingt ab als ein objektiver Vorgang. Sie können nicht etwa in Ihrem Kämmerchen abschließen dasjenige, was Sie über die Welt wahrnehmen oder urteilen. Sie machen es zwar scheinbar für Ihre Auffassung in sich, aber es ist zu gleicher Zeit ein objektiver Weltenvorgang. Wie sich das dritte Zeitalter bewußt war, daß der Atmungsprozeß zu gleicher Zeit etwas ist, was im Menschen vorgeht und was ein objektiver Prozeß ist, so muß die Menschheit sich in der Zukunft bewußt werden, daß das Seelische, von dem ich gesprochen habe, zu gleicher Zeit ein objektiver Weltenvorgang ist.

Diese Wandlung des Bewußtseins, das ist etwas, was fordert, daß größere Stärke in der menschlichen Seelenstimmung Platz greife, als sie heute der Mensch gewöhnt ist. Das ist das Einlassen der Michael-Kultur: das Sich-Durchdringen mit diesem Bewußtsein. Wir müssen gewissermaßen, wenn wir das Licht als den allgemeinen Repräsentanten der Sinneswahrnehmung hinstellen, uns dazu aufschwingen, das Licht beseelt zu denken, so wie es selbstverständlich war für den Menschen des 2., des 3. vorchristlichen Jahrtausends, die Luft beseelt zu denken, weil sie das auch war. Wir müssen uns gründlich abgewöhnen, dasjenige in dem Lichte zu sehen, was das materialistische Zeitalter gewöhnt ist, in dem Lichte zu sehen. Wir müssen uns gründlich abgewöhnen zu glauben, daß von der Sonne ausstrahlen bloß jene Schwingungen, von denen uns unsere Physik und das allgemeine Menschheitsbewußtsein heute redet. Wir müssen uns klarwerden darüber, daß da Seele durch den Weltenraum dringt auf den Schwingen des Lichtes. Und zu gleicher Zeit müssen wir einsehen, daß das so nicht war in der Zeit, die unserem Zeitalter vorangegangen ist. In der Zeit, die unserem Zeitalter vorangegangen ist, ist dasselbe an die Menschheit durch die Luft herangekommen, was jetzt an uns herankommt durch das Licht. Sehen Sie, das ist ein objektiver Unterschied in dem Erdenprozeß. Und wenn wir im Großen denken, so können wir sagen: Luftseelenprozeß, Lichtseelenprozeß. (Es wird an die Tafel geschrieben:)

Und das ist etwa dasjenige, was wir in der Entwickelung der Erde beobachten können. Und mitten hinein fällt, den Übergang des einen in das andere bedeutend, das Mysterium von Golgatha. Es genügt nicht für die Gegenwart und für die Zukunft der Menschheit, daß man in Abstraktionen von dem Geistigen fabelt, daß man in irgendeinen nebulosen Pantheismus oder dergleichen verfällt, sondern es handelt sich darum, daß man dasjenige, was die heutige Menschheit eigentlich nur empfindet wie einen materiellen Prozeß, daß man das anfängt auch in seiner Beseeltheit zu erkennen."

Es wird durch diesen Lichtsinnesprozeß oder Lichtseelenprozeß ein Weg vom Sinnlichen ins Geistige gebahnt, der uns heute auf moderne Weise das wieder geben kann, was das Yoga-Atmen für die altindische Kultur bedeutet hat, aber für den heutigen westlich erzogenen Menschen kaum gefahrlos wieder erneuert werden kann. Man beginnt dann das Sinnliche zugleich "sittlich", d.h. nach seinem seelischen und geistigen Entwicklungswert zu erleben.

Wenn man vom Himmel spricht, dann muß man auch von der Hölle sprechen – gerade als heutiger Mensch. An der Schwelle zur geistigen Welt lauern die Widersachermächte. Daß mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sich ein neuer geistiger Aufbruch angekündigt hat, kann kaum übersehen werden. Am deutlichsten zeigt sich das vielleicht sogar in der modernen Kunst, aber etwa auch in der Tiefenpsychologie, die in das Unterbewußtsein des Menschen vorzudringen versucht, oder in der modernen Physik, die bereits weit über den gegenstandsorientierten Materialismus hinausgegangen ist. Die Schwelle zum Geistigen kann aber nicht mühelos überschritten werden, große Auseinandersetzungen müssen ausgefochten werden, von denen uns die bewegte Geschichte des 20. Jahrhunderts deutlich spricht.

Das Gute kann man nicht haben, ohne das Böse zu überwinden, das Schöne wird zum wesenlosen Glanz, wenn es nicht aus der Auseinandersetzung mit dem Häßlichen siegreich hervorgegangen ist. Nicht grundlos hat die Gegenwartskunst das Böse, das Verworfene und Verdorbene, das Häßliche und Ekelerregende in einem noch nie dagewesenen Maß thematisiert. Das Böse, das Häßlich ist etwas, womit man als Künstler rechnen muß. Wollte man in ganz abgehobener Weise das Schöne allein verherrlichen, wollte man nur das Licht verehren, ohne sich der Finsternis bewußt zu sein, käme man niemals zu einem ehrlichen künstlerischen Ausdruck. So wie das rein Häßliche zur zerstörerischen Antikunst führt, so die von allem Dunklen völlig losgelöste Schönheit zum süßlichen Kitsch.

"Sehen Sie, der Mensch ist unter dem Einflusse desselben Irrwahns, der den göttlichen Mächten gewisse luziferische Eigenschaften beigelegt hat, heute geneigt, einseitig in der Darstellung des Schönen zum Beispiel ein Ideal zu sehen. Gewiß, man kann das Schöne als solches darstellen. Aber man muß sich bewußt sein: Würde man sich nur an das Schöne hingeben als Mensch, dann würde man in sich kultivieren diejenigen Kräfte, die in das luziferische Fahrwasser hineinführen. Denn in der wirklichen Welt ist ebensowenig wie die einseitige Entwickelung- zu der die rückläufige gehört, zu der Evolution die Devolution - einseitig vorhanden das bloße Schöne. Das bloße Schöne, verwendet von Luzifer, um die Menschen zu fesseln, zu blenden, würde gerade die Menschheit frei machen von der Erdenentwickelung und sie nicht mit der Erdenentwickelung zusammenhalten. In der Wirklichkeit haben wir, so wie mit einem Ineinanderspiel von Evolution und Devolution, es zu tun mit einem Ineinanderspielen, und zwar einem harten Kampfe der Schönheit gegen die Häßlichkeit. Und wollen wir Kunst wirklich fassen, so dürfen wir niemals vergessen, daß das letzte Künstlerische in der Welt das Ineinanderspielen, das Im-Kampfe-Zeigen des Schönen mit dem Häßlichen sein muß. Denn allein dadurch, daß wir hinblicken auf den Gleichgewichtszustand zwischen dem Schönen und dem Häßlichen, stehen wir in der Wirklichkeit darinnen, nicht einseitig in einer nicht zu uns gehörigen Wirklichkeit, die aber mit uns erstrebt wird in der luziferischen, in der ahrimanischen Wirklichkeit. Es ist sehr notwendig, daß solche Ideen, wie ich sie eben geäußert habe, in die menschliche Kulturentwickelung einziehen. In Griechenland - Sie wissen, mit welchem Enthusiasmus ich von dieser Stelle aus oftmals über die griechische Bildung gesprochen habe -, da konnte man sich einseitig der Schönheit widmen, denn da war noch nicht die Menschheit von der absteigenden Erdenentwickelung ergriffen, wenigstens nicht im Griechenvolke. Seit jener Zeit aber darf der Mensch den Luxus sich nicht mehr gönnen, etwa bloß das Schöne zu kultivieren. Das würde Flucht aus der Wirklichkeit sein. Er muß sich kühn und tapfer gegenüberstellen dem realen Kampfe zwischen Schönem und Häßlichem. Er muß die Dissonanzen im Kampfesspiel mit den Konsonanzen in der Welt empfinden können, mitfühlen, miterleben können." (20)

Das gilt nicht nur auf dem ästhetischen, sondern auch auf dem moralischen Gebiet. Goethe stellt den Helden seiner Faust-Tagödie nicht als makellosen Heiligen hin, sondern als strebenden, aber immer wieder strauchelnden Menschen, der erst durch tiefe Schuld hindurch seinen Weg zu einer höheren Erkenntnis, zu einem höheren Dasein findet. Hier werden nicht schwarz und weiß gute und böse Charaktere nebeneinandergestellt, sondern ein ganzer Regenbogen farbiger Schattierungen, durch die Faust seinen Weg zum Licht findet. Das erst macht Goethes Dichtung so lebensnah und wahr, daß Höchstes und Tiefstes hier im Menschen beständig miteinander Ringen. Goethe scheut sich nicht, die Abgründe der menschlichen Seele in oft sogar wüsten Bildern darzustellen, er schreckt aber auch nicht davor zurück, höchste geistige Regionen in die greifbare Nähe des Menschen zu rücken. Alle anderen Fausterzählungen vor Goethe enden mit der Höllenfahrt Fausts – und aus seinen schweren Verfehlung scheint das auch nur allzu begreiflich und gerechtfertigt. Allein Goethe wagte sich daran, im zweiten Teil seines monumentalen Lebenswerkes die allmähliche Umwandlung der Schuld in höhere Erkenntnis darzustellen. Diese Aufgabe ist aber jedem Menschen gestellt, niemand ist frei von Schuld und niemand kann im wahrsten Sinne des Wortes Mensch werden, wenn er nicht aus eigenem Antrieb nach Höherem strebt und mit den geistigen Widersachermächten, mit der Doppelgestalt des Mephisto fertig wird.

Rudolf Steiner, "Der Menschheitsrepräsentant", DornachRudolf Steiner hat dieser Situation des modernen Menschen, der sich der Künstler ganz besonders bewußt werden sollte, in seiner großen Holzplastik "Der Menschheitsrepräsentant" einen vielsagenden künstlerischen Ausdruck verliehen. In der Mitte der Menschheitsrepräsentant, über seiner erhobenen Rechten schwebt Luzifer mit gebrochenen Flügeln, zu seiner Linken, unter der Erde kauert gebannt der finstere Ahriman oder Satan, von dem auch die Bibel spricht. Luzifer repräsentiert all jene geistigen Wesen, die uns zur Sinnlichkeit verführen, die dadurch aber auch überhaupt erst den "schönen Schein" der Kunst möglich machen. Luzifer, der "Lichtträger" ist selbst von strahlender lichter Schönheit, aber er facht in uns zugleich auch die wüstesten sinnlichen Triebe an, schürt unserer Eitelkeit, macht uns überheblich und egozentrisch – Klippen, die der Künstler nicht immer leicht umschiffen kann. Ahriman wieder ist der Herr der Finsternis, des Todes und der Häßlichkeit und des eiskalten gefühllosen Verstandes. Er waltet in allem bloß "zweckmäßigen" – aber er lehrt den Künstler auch, praktisch mit seinem Arbeitsmaterial umzugehen. Er lehrt den Architekten die statischen Verhältnisse zu erkennen, er zeigt dem Maler, welche Stoffe er als taugliche Farbpigmente verwenden kann, er gibt dem Musiker die Möglichkeit, sein unmittelbares und zeitloses musikalisches Erleben in eine auch für andere Menschen lesbare Notenschrift umzusetzen. Gibt sich ihm der Künstler zu sehr hin, was früher kaum, heute aber immer öfter zu bemerken ist, dann wird sein "Kunstwerk" zu einem ausgeklügelten intellektuellen Konstrukt. Verfällt er anderseits Luzifer zu stark, verliert er sich im egozentrischen Exhibitionismus. Der Künstler, wie jeder Mensch, muß die rechte Waage zwischen diesen an ihm zerrenden Kräften halten, dann werden sie zu dienenden Helfern seines künstlerischen Schaffens.

Jeder Mensch ist Künstler und zugleich Menschheitsrepräsentant im Kleinen, der in seinem Schaffen, d.h. in dem, was er frei aus dem innersten Kern seines Wesens, aus seinem Ich tut, bewußt oder unbewußt dem großen Menschheitsrepräsentanten, dem Idealbild alles Menschseins überhaupt, dem Christus nachstrebt, von dem der Apostel Johannes in seinem Evangelium sagt (21):

  Am Anfang war das Wort, und Wort war
bei Gott, und Gott war das Wort.
 

Es ist das Schöpfungswort, dem der ganze Makrokosmos, die ganze Natur, die Erde wie der Himmel ihr Dasein verdanken, und das sich im Menschen als Mikrokosmos abbildet und ihn mit einem Funken eben dieser Schöpferkraft begabt und ihn dadurch zum Künstler macht. Goethe hat das geahnt, und er hat daher den Menschen als Brennpunkt des ganzen Universums angesehen und wollte ihn als lebendigen Zusammenfluß aller in der Natur wirkenden Kräfte darstellen. Schiller beschreibt Goethes Anschauung in einem Brief so:

"Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schweresten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen, in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen. Eine große und wahrhaft heldenmäßige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr Ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schönen Einheit zusammenhält." (22)

Die Erde ist nicht ein abgesondertes unbedeutendes Staubkorn am Rande des Universums und der Mensch ein noch unbedeutenderes vergängliches Körnchen auf ihr, sonder Erde und Mensch sind mit dem ganzen Kosmos zur Einheit verbunden und mit den geistigen Quellen, welche die ganze Schöpfung hervorgebracht haben. Der sinnliche Augenschein verbirgt uns diese Tatsache zunächst, der Künstler, indem er das sinnliche Dasein zum Geistigen erhöht, kann sie uns wieder bewußt machen. Er kann uns zum konkreten Erleben dessen führen, was einzelne Physiker heute schon von Ferne ahnen:

"Deutet diese Physik doch darauf hin, daß die eigentliche Wirklichkeit, was immer wir darunter verstehen, im Grunde keine Realität im Sinne einer dinghaften Wirklichkeit ist...

So steht das Getrennte (etwa durch die Vorstellung isolierter Atome) nach neuer Sichtweise nicht am Anfang der Wirklichkeit, sondern näherungsweise Trennung ist mögliches Ergebnis einer Strukturbildung, nämlich: Erzeugung von Unverbundenheit durch Auslöschung im Zwischenbereich (Dürr 1992). Die Beziehungen zwischen Teilen eines Ganzen ergeben sich also nicht erst sekundär als Wechselwirkung von ursprünglich Isoliertem, sondern sind Ausdruck einer primären Identität von allem. Eine Beziehungsstruktur entsteht also nicht nur durch Kommunikation, einem wechselseitigen Austausch von Signalen, verstärkt durch Resonanz, sondern gewissermaßen auch durch Kommunion, durch Identifizierung...

Die holistischen Züge der Wirklichkeit, wie sie in der neuen fundamentalen Struktur der Materie zum Ausdruck kommen, bieten hierbei die entscheidende Voraussetzung dafür, daß die für uns wesentlichen Merkmale des Lebendigen dabei nicht zu mechanistischen Funktionen verstümmelt werden." (23)

Diese Kommunion, die reale Vereinigung seines Ich mit dem Schöpfungsquell des Universums kann der Künstler in begnadeten Augenblicken bewußt oder unterbewußt erleben, und dann spricht für einen kurzen Moment der ganze Himmel durch ihn:

"Die Sterne lauter ganze Noten. Der Himmel die Partitur. Der Mensch das Instrument." (24) (Christian Morgenstern)

Werden wir zum Instrument, auf dem der ganze geistige Kosmos spielt, denn werden wir erst im wahren Sinne Mensch – und dann sind wir auch zugleich Künstler.

Literatur

  1. Rudolf Steiner, Das Schöne und die Kunst, 1898; siehe TB 650, S 50
  2. Goethe, Werke: Maximen und Reflexionen, S. 288. Digitale Bibliothek Band 4: Goethe, S. 8054 (vgl. Goethe-BA Bd. 18, S. 671)
  3. Goethe, Werke: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 487. Digitale Bibliothek Band 4: Goethe, S. 7430 (vgl. Goethe-HA Bd. 8, S. 304)
  4. Friedrich Schiller, Die Künstler
  5. zit. nach Rudolf Steiner, Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke, 1898, in TB 650, S 57
  6. zit. nach Richard Dobel (Hrsg.), Lexikon der Goethe Zitate, Weltbildverlag, Augsburg 1991, S 486
  7. aus: "Stufen", siehe Christian Morgenstern, Gesammelte Werke in einem Band, Serie Piper 1067, Piper München Zürich 1989, S 440
  8. H. Atmanspacher, H. Primas, E. Wertenschlag-Birkhäuser (Hrsg.), Der Pauli-Jung-Dialog, Springer Verlag, Berlin Heidelberg 1995, S 219
  9. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, Benteli Verlag, Bern, 10. Auflage, 1952, S 135
  10. Kandinsky, S 137
  11. Morgenstern, S 405
  12. REINHARD BRAUN, http://193.170.192.5/freelance/rax/KUN_POL/KUNST/VERMEER/verbild3.html, Stand vom 10.11.1998
  13. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 114. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 86011 (vgl. Schiller-SW Bd. 5, S. 639)
  14. Goethe, Faust II, Laboratorium
  15. zit. nach Christian Gelleri, Wo bleibt das Geistige in der Kunst?, http://www.kandinsky.de/geist_und_kunst.htm (Letzte Aktualisierung: 27. Juni 1999)
  16. siehe Gelleri
  17. siehe Gelleri
  18. Morgenstern, S 483
  19. GA 194, 6. Vortrag (30.11.1919), http://www.anthroposophie.net/lichtseelenprozess.htm
  20. GA 194, 3. Vortrag (23.11.1919), S 56f.
  21. Joh. 1,1
  22. Brief Schillers an Goethe vom 23. August 1794
  23. Hans-Peter Dürr (Hrsg.) in "Rupert Sheldrake in der Diskussion", Scherz-Verlag, Bern München Wien 1997, S 227ff
  24. Morgenstern, S 369
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