1890
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Natur-
und Geisterleben
Die
Darstellung von Goethes naturwissenschaftlichen Ideen
Die Zeit, die
ich mit der Darstellung von Goethes naturwissenschaftlichen
Ideen für die Einleitungen in «Kürschners Deutscher
National-Literatur» brauchte, war eine lange. Ich begann
damit im Beginne der achtziger Jahre und war noch nicht
fertig, als ich in meinen zweiten Lebensabschnitt mit der
Übersiedelung von Wien nach Weimar eintrat. In der
geschilderten Schwierigkeit gegenüber der
naturwissenschaftlichen und der mystischen Ausdrucksart liegt
der Grund davon.
Während ich
daran arbeitete, Goethes Stellung zur Naturwissenschaft in die
rechte Ideengestaltung zu bringen, mußte ich auch im Formen
dessen weiterkommen, was sich mir als geistige Erlebnisse in
der Anschauung der Weltvorgänge vor die Seele gestellt hatte.
So drängte es mich immer wieder von Goethe ab nach der
Darstellung der eigenen Weltanschauung und zu ihm hin, um mit
den gewonnenen Gedanken seine Gedanken besser zu
interpretieren. Ich empfand vor allem als wesentlich bei
Goethe seine Abneigung, sich mit irgendeinem theoretisch
leicht überschaubaren Gedankengebilde gegenüber der
Erkenntnis des unermeßlichen Reichtums der Wirklichkeit zu
befriedigen. Goethe wird rationalistisch, wenn er die
mannigfaltigen Formen der Pflanzen- und Tiergestalten
darstellen will. Er strebt nach Ideen, die im Naturwerden
wirksam sich erweisen, wenn er den geologischen Bau der Erde
begreifen oder die Erscheinungen der Meteorologie erfassen
will. Aber seine Ideen sind nicht abstrakte Gedanken, sondern
auf gedankliche Art in der Seele lebende Bilder.
Wenn ich
erfaßte, was er an solchen Bildern in seinen
naturwissenschaftlichen Arbeiten hingestellt hat, so hatte ich
etwas vor mir, das mich im tiefsten meiner Seele befriedigte.
Ich schaute auf einen Ideen-Bilder-Inhalt, von dem ich
glauben mußte, daß er — in weiterer Ausführung — eine
wirkliche Spiegelung des Naturgeschehens im Menschengeiste
darstellt. Ich war mir klar darüber, daß die herrschende
naturwissenschaftliche Denkungsart zu dieser Goethe'schen
erhoben werden müsse.
Zugleich lag
aber in dieser Auffassung der Goetheschen Naturerkenntnis die
Anforderung, das Wesen des Ideen-Bilder-Inhaltes im
Verhältnis zur geistigen Wirklichkeit selbst darzustellen.
Die Ideen-Bilder haben doch nur eine Berechtigung, wenn sie
auf eine solche geistige Wirklichkeit, die der sinnenfälligen
zugrunde liegt, hindeuten. — Aber Goethe in seiner heiligen
Scheu vor dem unermeßlichen Reichtum der Wirklichkeit
vermeidet es, an die Darstellung der geistigen Welt
heranzutreten, nachdem er die sinnliche bis zu einer
geistgemäßen Bild-Gestalt in seiner Seele gebracht hat.
Ich mußte nun
zeigen, daß Goethe zwar seelisch leben konnte, indem
er von der Sinnes-Natur zur Geist-Natur erkennend vordrang,
daß ein anderer aber Goethes Seelenleben nur ganz begreifen
kann, wenn er, über ihn hinausgehend, die Erkenntnis bis
zur ideengemäßen Auffassung der geistigen Welt selbst
führt.
Goethe stand,
indem er über die Natur sprach, im Geiste drinnen. Er
fürchtete, abstrakt zu werden, wenn er von diesem lebendigen
Drinnenstehen weitergegangen wäre zu einem Leben in Gedanken über
dieses Drinnenstehen. Er wollte sich selbst im Geiste empfinden;
aber er wollte sich selbst nicht im Geiste denken.
Oft empfand
ich, ich würde der Goethe'schen Denkungsart untreu, wenn ich
nun doch Gedanken über seine Weltanschauung zur
Darstellung brachte. Und ich mußte mir fast bei jeder
Einzelheit, die ich in bezug auf Goethe zu interpretieren
hatte, immer wieder die Methode erobern, über Goethe in
Goethes Art zu sprechen.
Meine
Darstellung von Goethes Ideen war ein Jahre lang dauerndes
Ringen, Goethe durch die Hilfe der eigenen Gedanken immer
besser zu verstehen. Indem ich auf dieses Ringen
zurückblicke, muß ich mir sagen: ich verdanke ihm viel für
die Entwickelung meiner geistigen Erkenntnis-Erlebnisse. Diese
Entwickelung ging dadurch viel langsamer vor sich, als es der
Fall gewesen wäre, wenn sich die Goethe-Aufgabe nicht
schicksalsgemäß auf meinen Lebensgang hingestellt hätte.
Ich hätte dann meine geistigen Erlebnisse verfolgt und sie
ebenso dargestellt, wie sie vor mich hingetreten wären. Ich
wäre schneller in die geistige Welt hineingerissen worden;
ich hätte aber keine Veranlassung gefunden, ringend
unterzutauchen in das eigene Innere.
So erlebte ich
durch meine Goethe-Arbeit den Unterschied einer
Seelenverfassung, der sich die geistige Welt gewissermaßen
wie gnadevoll offenbart, und einer solchen, die Schritt vor
Schritt das eigene Innere immer mehr dem Geiste erst ähnlich
macht, um dann, wenn die Seele sich selbst als wahrer Geist
erlebt, in dem Geistigen der Welt darinnen zu stehen. In diesem
Darinnenstehen empfindet man aber erst, wie innig in der
Menschenseele Menschengeist und Weltengeistigkeit mit einander
verwachsen können.
Ich hatte in
der Zeit, da ich an meiner Goethe-Interpretation arbeitete,
Goethe stets im Geiste wie einen Mahner neben mir, der mir
unaufhörlich zurief: Wer auf geistigen Wegen zu rasch
vorschreitet, der kann zwar zu einem engumgrenzten Erleben des
Geistes gelangen; allein er tritt an Wirklichkeitsgehalt
verarmt aus dem Reichtum des Lebens heraus.
Ich konnte an
meinem Verhältnis zur Goethe-Arbeit recht anschaulich
beobachten, «wie Karma im Menschenleben wirkt». Das
Schicksal setzt sich zusammen aus zwei Tatsachengestaltungen,
die im Menschenleben zu einer Einheit zusammenwachsen. Die
eine entströmt dem Drange der Seele von innen heraus; die
andere tritt von der Außenwelt her an den Menschen heran.
Meine eigenen seelischen Triebe gingen nach Anschauung des
Geistigen; das äußere Geistesleben der Welt führte die
Goethe-Arbeit an mich heran. Ich mußte die beiden
Strömungen, die in meinem Bewußtsein sich begegneten, in
diesem zur Harmonie bringen. — Ich verbrachte die letzten
Jahre meines ersten Lebensabschnittes damit, mich abwechselnd
vor mir selbst und vor Goethe zu rechtfertigen.
Verständigung
des menschlichen Bewußtseins mit sich selbst
Innerlich
erlebt war die Aufgabe, die ich mir in meiner Doktorarbeit
stellte: «eine Verständigung des menschlichen Bewußtseins
mit sich selbst» herbeizuführen. Denn ich sah, wie der
Mensch erst dann verstehen konnte, was die wahre Wirklichkeit
in der äußeren Welt ist, wenn er diese wahre Wirklichkeit in
sich selbst geschaut hat.
Dieses
Zusammentreffen der wahren Wirklichkeit der äußeren Welt mit
der wahren Wirklichkeit im Innern der Seele muß für das
erkennende Bewußtsein in emsiger geistiger Innentätigkeit
errungen werden; für das wollende und handelnde Bewußtsein
ist sie immer dann vorhanden, wenn der Mensch im Tun seine
Freiheit empfindet.
Daß die
Freiheit im unbefangenen Bewußtsein als etwas Tatsächliches
lebt und doch für das Erkennen zur Rätselfrage wird, ist
eben darin begründet, daß der Mensch das eigene wahre Sein,
das echte Selbstbewußtsein nicht von vornherein gegeben hat,
sondern erst nach einer Verständigung seines Bewußtseins mit
sich selbst erringen muß. Was des Menschen höchsten Wert
ausmacht: die Freiheit, das kann erst nach entsprechender
Vorbereitung begriffen werden.
Meine «Philosophie
der Freiheit» ist in einem Erleben begründet, das
in der Verständigung des menschlichen Bewußtseins mit sich
selbst besteht. Im Wollen wird die Freiheit geübt; im
Fühlen wird sie erlebt; im Denken wird sie erkannt.
Nur darf, um das zu erreichen, im Denken nicht das Leben
verloren werden.
Während ich an
meiner «Philosophie der Freiheit» arbeitete, war meine stete
Sorge, in der Darstellung meiner Gedanken das innere Erleben
bis in diese Gedanken hinein voll wach zu halten. Das gibt den
Gedanken den mystischen Charakter des inneren Schauens, macht
aber dieses Schauen auch gleich dem äußeren sinnenfälligen
Anschauen der Welt. Dringt man zu einem solchen inneren
Erleben vor, so empfindet man keinen Gegensatz mehr zwischen
Natur-Erkennen und Geist-Erkennen. Man wird sich klar
darüber, daß das zweite nur die metamorphosierte Fortsetzung
des ersten ist.
Weil mir das so
erschien, konnte ich später auf das Titelblatt meiner
«Philosophie der Freiheit» das Motto setzen: «Seelische
Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode».
Denn, wenn die naturwissenschaftliche Methode treulich für
das Geistgebiet festgehalten wird, dann führt sie auch
erkennend in dieses Gebiet hinein.
Goethes
Märchen
Eine große Bedeutung
hatte in dieser Zeit für mich die eingehende Beschäftigung mit
Goethes Märchen von der «grünen Schlange und der schönen Lilie»,
das den Schluß bildet seiner «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter».
Dieses «Rätselmärchen» hat viele Ausleger gefunden. Mir kam es auf
eine «Auslegung» des Inhaltes gar nicht an. Den wollte ich
in seiner poetisch-künstlerischen Form einfach hinnehmen. Die waltende
Phantasie erklärend mit dem Verstande zu zerstäuben, war mir immer
unsympathisch.
Ich sah, wie
diese Goethe'sche Dichtung aus dessen geistigem Verkehr mit
Schiller hervorgegangen ist. Schillers Geist machte, als er
seine «Briefe zur Förderung der ästhetischen Erziehung des
Menschen» schrieb, die philosophische Epoche seiner
Geistesentwickelung durch. Die «Verständigung des
menschlichen Bewußtseins mit sich selbst» war eine ihn aufs
stärkste beschäftigende Seelenaufgabe. Er sah die
menschliche Seele auf der einen Seite ganz hingegeben der
Vernunfttätigkeit. Er fühlte, daß die im rein Vernünftigen
waltende Seele nicht vom Körperlich-Sinnlichen abhängig ist.
Aber er empfand in dieser Art von übersinnlicher Betätigung
doch ein Unbefriedigendes. Die Seele ist «im Geiste», wenn
sie an die «logische Notwendigkeit» der Vernunft hingegeben
ist; aber sie ist in dieser Hingabe weder frei, noch innerlich
geistig lebendig. Sie ist an ein abstraktes Schattenbild des
Geistes hingegeben; webt und waltet aber nicht in dem Leben
und Dasein des Geistes. - Auf der ändern Seite bemerkte
Schiller, wie die menschliche Seele in einer entgegengesetzten
Betätigung ganz an das Körperliche — die sinnlichen
Wahrnehmungen und die triebhaften Impulse — hingegeben ist.
Da verliert sich in ihr das Wirken aus dem geistigen
Schattenbilde; aber sie ist an eine Naturgesetzlichkeit
hingegeben, die nicht ihr Wesen ausmacht.
Schiller kam zu
der Anschauung, daß in beiden Betätigungen der Mensch nicht
«wahrhafter Mensch» ist. Aber er kann durch sich bewirken,
was ihm durch die Natur und den ohne sein Zutun zutage
tretenden, vernünftigen Geistesschatten nicht gegeben ist. Er
kann in sinnliche Betätigung die Vernunft einführen; und er
kann das Sinnliche heraufheben in eine höhere Sphäre des
Bewußtseins, so daß es wirkt wie das Geistige. So
erlangt er eine mittlere Stimmung zwischen dem logischen und
dem natürlichen Zwange. Schiller sieht den Menschen in einer
solchen Stimmung, wenn er in dem Künstlerischen lebt. Die
ästhetische Erfassung der Welt schaut das Sinnliche an; aber
so, daß sie den Geist darin
findet. Sie lebt im Schatten des Geistes, aber sie gibt im
Schaffen oder Genießen dem Geiste sinnliche Gestalt, so daß
er sein Schattendasein verliert.
Mir war schon
Jahre vorher dieses Ringen Schillers nach der Anschauung vom
«wahrhaften Menschen» vor die Seele getreten; als nun
Goethes «Rätselmärchen» selber für mich zum Rätsel
wurde, da stellte es sich neuerdings vor mich hin. Ich sah,
wie Goethe die Schiller'sche Darstellung des «wahrhaftigen
Menschen» aufgenommen hat. Für ihn war nicht minder als für
den Freund die Frage lebendig: wie findet das schattenhafte
Geistige in der Seele das Sinnlich-Körperhafte, und wie
arbeitet sich das Naturhafte im physischen Körper zum
Geistigen hinauf?
Der
Briefwechsel zwischen den beiden Freunden, und was man sonst
über ihren geistigen Verkehr wissen kann, bezeugen, daß die
Schiller'sche Lösung Goethe zu abstrakt, zu einseitig
philosophisch war. Er stellte die anmutvollen Bilder von dem
Flusse, der zwei Welten trennt, von Irrlichtern, die den Weg
von der einen in die andere Welt suchen, von der Schlange, die
sich hingeben muß, um eine Brücke zwischen den beiden Welten
zu bilden, von der «schönen Lilie», die «jenseits» des
Flusses nur als waltend im Geiste von denen erahnt werden
kann, die «diesseits» leben, und vieles andere hin. Er
stellte der Schiller'schen philosophischen Lösung eine
märchenhaft-poetische Anschauung gegenüber. Er hatte die
Empfindung: geht man gegen das von Schiller wahrgenommene
Rätsel der Seele mit philosophischen Begriffen vor, so
verarmt der Mensch, indem er nach seinem wahren Wesen sucht;
er wollte im Reichtum des seelischen Erlebens sich dem Rätsel
nahen.
Die
Goethe'schen Märchenbilder weisen zurück auf Imaginationen,
die von Suchern nach dem Geist-Erleben der Seele öfters vor
Goethe hingestellt worden sind. Die drei Könige des Märchens
findet man in einiger Ähnlichkeit in der «Chymischen
Hochzeit des Christian Rosenkreutz». Andere Gestalten sind
Wieder-Erscheinungen von früher in Bildern des
Erkenntnisweges Aufgetretenem. — Bei Goethe erscheinen diese
Bilder nur in schöner, edler, künstlerischer Phantasie-Form,
während sie vorher doch einen mehr unkünstlerischen
Charakter tragen.
Goethe hat in
diesem Märchen die Phantasieschöpfung nahe an die Grenze
herangeführt, an der sie in den inneren Seelenvorgang
übergeht, der ein erkennendes Erleben der wirklichen
geistigen Welten ist. Ich vermeinte, am tiefsten könne man in
sein Gemüt sehen, wenn man sich in diese Dichtung versenkt.
Nicht die
Erklärung, wohl aber die Anregungen zu seelischem Erleben,
die mir von der Beschäftigung mit dem Märchen kamen, waren
mir wichtig. Diese Anregungen wirkten dann in meinem folgenden
Seelenleben fort bis in die Gestaltung meiner später
geschaffenen Mysteriendramen hinein. Für meine Arbeiten, die
sich an Goethe anlehnten, konnte ich aber gerade durch das
Märchen nicht viel gewinnen. Denn es erschien mir so, als ob
Goethe in der Abfassung dieser Dichtung, wie durch die innere
Macht eines halb unbewußten Seelenlebens getrieben, über
sich selbst in seiner Weltanschauung hinausgewachsen wäre.
Und so erstand mir eine ernsthafte Schwierigkeit. Ich konnte
meine Goethe-Interpretation für Kürschners «Deutsche
Nationalliteratur» nur in dem Stile fortsetzen, in dem ich
sie begonnen hatte, genügte mir aber damit selber nicht. Denn
ich sagte mir, Goethe habe, während er an dem «Märchen»
schrieb, wie von der Grenze zur geistigen Welt in diese
hinübergesehen. Was er aber dann noch über die
Naturvorgänge schrieb, das läßt doch wieder den Einblick
unbeachtet. Man kann ihn deshalb auch nicht von diesem
Einblick aus interpretieren.
Aber, wenn ich
zunächst auch für meine Goethe-Schriften durch das Versenken
in das Märchen nichts gewann, so ging doch eine Fülle von
Seelenanregungen davon aus. Mir wurde, was sich an
Seeleninhalt in Anlehnung an das Märchen ergab, ein wichtiger
Meditationsstoff. Ich kam immer wieder darauf zurück. Ich
bereitete mir mit dieser Betätigung die Stimmung vor, in der
ich in meine Weimarer Arbeit später eintrat.
TB 636 (XII.), S
131 ff
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