1890
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Die
letzte Zeit in Wien
Gerade in
dieser Zeit war mein äußeres Leben ein durchaus geselliges.
Mit den alten Freunden kam ich viel zusammen. So wenig ich die
Möglichkeit hatte, von den Dingen zu sprechen, die ich hier
andeutete, so intensiv waren aber doch die geistigen und
seelischen Bande, die mich an die Freunde knüpften. Ich muß
oft zurückdenken an die zum Teil endlosen Gespräche, die
damals in einem bekannten Kaffeehause am Michaelerplatz in
Wien geführt wurden. Ich mußte es besonders in der Zeit, in
der nach dem Weltkriege das alte Österreich zersplitterte.
Denn die Bedingungen dieser Zersplitterung waren damals
durchaus schon vorhanden. Aber keiner wollte es sich gestehen.
Ein jeder hatte Heilmittel-Gedanken, je nach seinen besonderen
nationalen oder kulturellen Neigungen. Und wenn Ideale, die in
aufgehenden Strömungen leben, erhebend sind, so sind es
solche, die aus dem Niedergange erwachsen und die ihn abhalten
möchten, in ihrer Tragik nicht minder. Solche tragischen
Ideale wirkten damals in den Gemütern der besten Wiener und
Österreicher.
Ich erregte oft
Mißstimmung bei diesen Idealisten, wenn ich eine Überzeugung
äußerte, die sich mir durch meine Hingabe an die Goethe-Zeit
aufgedrängt hatte. Ich sagte, in dieser Zeit war ein
Höhepunkt der abendländischen Kulturentwickelung erreicht.
Nachher wurde er nicht festgehalten. Das
naturwissenschaftliche Zeitalter mit seinen Folgen für das
Menschen- und Volksleben bedeutet einen Niedergang. Zu einem
weiteren Fortschritte bedürfe es eines ganz neuen Einschlages
von der geistigen Seite her. Es läßt sich in den Bahnen, die
bisher im Geistigen eingeschlagen worden sind, nicht
fortgehen, ohne zurückzukommen. Goethe ist eine Höhe, aber
auf derselben nicht ein Anfang, sondern ein Ende. Er zieht die
Folgen aus einer Entwickelung, die bis zu ihm geht, in ihm
ihre vollste Ausgestaltung findet, die aber nicht weiter
fortgesetzt werden kann, ohne zu viel ursprünglicheren
Quellen des geistigen Erlebens zu gehen, als sie in dieser
Entwickelung enthalten sind. — In dieser Stimmung schrieb
ich an dem letzten Teile meiner Goethe-Darstellungen.
In dieser
Stimmung lernte ich Nietzsches Schriften zuerst kennen.
«Jenseits von Gut und Böse» war das erste Buch, das ich von
ihm las. Ich war auch von dieser Betrachtungsart zugleich
gefesselt und wieder zurückgestoßen. Ich konnte schwer mit
Nietzsche zurecht kommen. Ich liebte seinen Stil, ich liebte
seine Kühnheit; ich liebte aber durchaus die Art nicht, wie
Nietzsche über die tiefsten Probleme sprach, ohne im
geistigen Erleben mit der Seele bewußt in sie unterzutauchen.
Nur kam mir wieder vor, wie wenn er viele Dinge sagte, die mir
selbst im geistigen Erleben unermeßlich nahe standen. Und so
fühlte ich mich seinem Kämpfen nahe und empfand, ich müsse
einen Ausdruck für dieses Nahestehen finden. Wie einer der
tragischsten Menschen der damaligen Gegenwart erschien mir
Nietzsche. Und diese Tragik, glaubte ich, müsse sich der
tiefer angelegten Menschenseele aus dem Charakter der
geistigen Verfassung des naturwissenschaftlichen Zeitalters
ergeben. Mit solchen Empfindungen verlebte ich meine letzten
Wiener Jahre.
Besuch in Budapest
Vor dem Ende
meines ersten Lebensabschnittes konnte ich auch noch Budapest
und Siebenbürgen besuchen. Der früher erwähnte, aus
Siebenbürgen stammende Freund, der all die Jahre her mit
seltener Treue mir verbunden geblieben war, hatte mich mit
mehreren seiner in Wien weilenden Landesgenossen bekannt
gemacht. Und so hatte ich denn außer dem ändern sehr
ausgebreiteten geselligen Verkehr auch einen solchen mit
Siebenbürgern. Unter diesen waren Herr und Frau Breitenstein,
die mir damals befreundet wurden und die es in herzlichster
Weise geblieben sind. Sie haben seit langem eine führende
Stellung in der Wiener Anthroposophischen Gesellschaft. Der
menschliche Zusammenhang mit Siebenbürgern führte mich zu
einer Reise nach Budapest. Die Hauptstadt Ungarns, mit ihrem
von dem Wiens so ganz verschiedenen Charakter, machte mir
einen tiefen Eindruck. Man gelangt ja von Wien aus auf einer
Reise dahin, die ganz in anmutvollster Natur,
temperamentvollstem Menschentum und musikalischer Regsamkeit
erglänzt. Man hat da, wenn man zum Fenster des Eisenbahnzuges
hinaussieht, den Eindruck, daß die Natur selbst in einer
besonderen Art poetisch wird, und daß die Menschen, gar nicht
viel achtend der ihnen gewohnten poetischen Natur, sich in
derselben nach einer oft tiefinnerlichen Herzensmusik herumtummeln. Und
betritt man Budapest, so spricht eine Welt, die von den
Angehörigen der anderen europäischen Volkstümer zwar mit
dem höchsten Anteil angeschaut, die aber nie völlig
verstanden werden kann. Ein dunkler Untergrund, über dem ein
in Farben spielendes Licht glänzt. Mir erschien dieses Wesen
wie in Eins für den Blick zusammengedrängt, als ich vor dem
Franz Deak-Monument stand. In diesem Kopfe des Schöpfers
jenes Ungarns, das vom Jahre 1867 bis 1918 bestand, lebte ein
derb-stolzer Wille, der herzhaft zugreift, der sich ohne
Schlauheit, aber mit elementarischer Rücksichtslosigkeit
durchsetzt. Ich fühlte, wie subjektiv wahr für jeden echten
Ungarn der von mir oft gehörte Wahlspruch ist: «Außer
Ungarn gibt es kein Leben; und wenn es eines gibt, so ist es
kein solches.»
Als Kind hatte
ich an Ungarns westlicher Grenze gesehen, wie Deutsche diesen
derb-stolzen Willen zu fühlen hatten; jetzt lernte ich in
Ungarns Mitte kennen, wie dieser Wille den magyarischen
Menschen in eine menschliche Abgeschlossenheit bringt, die mit
einer gewissen Naivität sich in einen ihr
selbstverständlichen Glanz kleidet, der viel daran liegt,
sich den verborgenen Augen der Natur, nicht aber den offenen
des Menschen zu zeigen.
Weihnachten in Siebenbürgen
Ein halbes Jahr
nach diesem Besuche veranlaßten die Siebenbürger Freunde,
daß ich in Hermannstadt einen Vortrag halten konnte. Es war
Weihnachtszeit. Ich fuhr über die weiten Flächen, in deren
Mitte Arad liegt. Lenaus sehnsuchtgetragene Poesien klangen in
mein Herz herein, als meine Augen über diese Flächen sahen,
an denen alles Weite ist, die dem hinschweifenden Blick keine
Grenze setzt. Ich mußte in einem Grenznest zwischen Ungarn
und Siebenbürgen übernachten. Ich saß in einer Gaststube
die halbe Nacht. Außer mir war nur noch ein Tisch mit
Kartenspielern. Da waren alle Nationalitäten beisammen, die
in Ungarn und Siebenbürgen damals gefunden werden konnten.
Menschen spielten da mit einer Leidenschaftlichkeit, die in
Zeiten von einer halben Stunde sich immer überschlug, so daß
sie wie in Seelenwolken sich auslebte, die sich über den
Tisch erhoben, sich wie Dämonen bekämpften und die Menschen
vollständig verschlangen. Welche Verschiedenheit im
Leidenschaftlich-Sein offenbarte sich da bei diesen
verschiedenen Nationen!
Am
Weihnachtstage kam ich nach Hermannstadt. Ich wurde in das
Siebenbürger Sachsentum eingeführt. Das lebte da innerhalb
des Rumänischen und Magyarischen. Ein edles Volkstum, das im
Untergange, den es nicht sehen möchte, sich wacker bewahren
möchte. Ein Deutschtum, das wie eine Erinnerung an sein Leben
vor Jahrhunderten in den Osten verschlagen, seiner Quelle die
Treue bewahren möchte, das aber in dieser Seelenverfassung
einen Zug von Weltfremdheit hat, die eine anerzogene
Freudigkeit überall im Leben offenbart. Ich verlebte schöne
Tage unter den deutschen Geistlichen der evangelischen Kirche,
unter den Lehrern der deutschen Schulen, unter ändern
deutschen Siebenbürgern. Mir wurde das Herz warm unter diesen
Menschen, die in der Sorge um ihr Volkstum und in dessen
Pflege eine Kultur des Herzens entwickelten, die auch vor
allem zum Herzen sprach.
Es lebte in
meiner Seele diese Wärme, als ich mit den alten und
neugewonnenen Freunden in dicke Pelze gehüllt durch eisige
Kälte und knisternden Schnee eine Schlittenfahrt südwärts
nach den Karpaten (den transsylvanischen Alpen) machte. Eine
schwarze, waldige Bergwand, wenn man sich von der Ferne
hinbewegt; eine wild zerklüftete, oft schauerlich stimmende
Berglandschaft, wenn man da ist.
Den Mittelpunkt
in all dem, was ich da erlebte, bildete mein langjähriger
Freund. Er dachte immer neue Dinge aus, durch die ich das
Siebenbürger Sachsentum genau kennen lernen sollte. Er
verbrachte auch jetzt noch immer einige Zeit in Wien, einige
in Hermannstadt. Er hatte damals ein Wochenblatt in
Hermannstadt für die Pflege des Siebenbürger Sachsentums
begründet. Ein Unternehmen, das ganz aus Idealismus und aus
keinem Milligramm Praxis bestand, an dem aber doch fast alle
Träger des Sachsentums mitarbeiteten. Es ging nach wenigen
Wochen wieder ein.
Solche
Erlebnisse wie diese Reisen wurden mir vom Schicksal
zugetragen; und ich konnte mir durch sie den Blick für die
Außenwelt anerziehen, der mir nicht leicht geworden ist,
während ich in dem geistigen Element mit einer gewissen
Selbstverständlichkeit lebte.
«Rembrandt als
Erzieher»
In wehmütigen
Erinnerungen machte ich die Reise zurück nach Wien. Da kam
mir bald ein Buch in die Hand, von dessen «Geistesreichtum»
damals die weitesten Kreise sprachen: «Rembrandt als
Erzieher». In Gesprächen über dieses Buch, die damals
überall sich entwickelten, wo man hinkam, konnte man von
einem Aufkommen eines ganz neuen Geistes hören. Ich mußte
gerade an dieser Erscheinung wahrnehmen, wie einsam ich mit
meiner Seelenverfassung in dem damaligen Geistesleben stand.
Ich empfand von
einem Buche, das von aller Welt auf das höchste gepriesen
wurde, so: es kam mir vor, als wenn jemand sich durch einige
Monate jeden Abend in einem besseren Gasthause an einen Tisch
gesetzt und zugehört hätte, was die «hervorragenderen»
Persönlichkeiten an den Stammtischen an «geistvollen»
Aussprüchen machten, und dann dies in aphoristischer Form
aufgezeichnet hätte. Nach dieser fortlaufenden «Vorarbeit»
könnte er die Zettel mit den Aussprüchen in ein Gefäß
geworfen, kräftig durcheinander geschüttelt und dann wieder
herausgenommen haben. Nach der Herausnahme hätte er dann das
eine an das andere gefügt und so ein Buch entstehen lassen.
Natürlich ist diese Kritik übertrieben. Aber mich drängte
eben meine Lebensauffassung zu solcher Ablehnung dessen, was
der damalige «Geist der Zeit» als eine Höchstleistung
pries. Ich empfand «Rembrandt als Erzieher» als ein Buch,
das sich ganz auf der Oberfläche sich geistreich geberdender
Gedanken hielt und das in keinem Satze mit den wahren Tiefen
einer menschlichen Seele zusammenhing. Ich fühlte es
schmerzlich, daß meine Zeitgenossen gerade ein solches Buch
für den Ausfluß einer tiefen Persönlichkeit hielten,
während ich meinen mußte, daß mit solchem
Gedankenplätschern in seichten Geist-Gewässern alles
Tief-Menschliche aus den Seelen herausgetrieben wird.
Begegnungen im Hause
Specht
Pauline Specht
Als ich
vierzehn Jahre alt war, mußte ich damit beginnen,
Privatunterricht zu geben; fünfzehn Jahre lang, bis zum
Beginne meines zweiten in Weimar verbrachten
Lebensabschnittes, hielt mich das Schicksal in dieser
Betätigung fest. Die Entfaltung der Seelen vieler Menschen im
kindlichen und Jugendalter verband sich da mit meiner eigenen
Entwickelung. Ich habe dabei beobachten können, wie
verschieden das Hineinwachsen in das Leben beim männlichen
und weiblichen Geschlechte ist. Denn neben der Erteilung von
Unterricht an Knaben und junge Männer fiel
mir auch der an eine Anzahl junger Mädchen zu. Ja, eine
Zeitlang wurde auch die Mutter des Knaben, dessen Erziehung
wegen seines pathologischen Zustandes ich übernommen hatte,
meine Schülerin in der Geometrie; zu einer andern Zeit trug
ich dieser Frau und deren Schwester Ästhetik vor.
In
der Familie dieses Knaben habe ich durch mehrere Jahre eine Art
von Heim gefunden, von dem aus ich bei anderen Familien der Erzieher-
und Unterrichtstätigkeit oblag. Durch das freundschaftlich nahe
Verhältnis zu der Mutter dieses Knaben kam es so, daß ich Freuden
und Leiden dieser Familie völlig mitmachte. Mir stand in dieser
Frau eine eigenartig schöne Menschenseele gegenüber. Ganz hingegeben
war sie der Sorge um die Schicksalsentwickelung ihrer vier Knaben.
Man konnte an ihr geradezu den großen Stil der Mutterliebe studieren.
In Erziehungsfragen mit ihr zusammen arbeiten, bildete einen schönen
Lebensinhalt. Für den musikalischen Teil des Künstlerischen hatte
sie Anlage und Begeisterung. Die Musikübungen mit ihren Knaben besorgte
sie, solange diese klein waren, zum Teile selbst. Mit mir unterhielt
sie sich über die mannigfaltigsten Lebensprobleme verständnisvoll
und mit dem tiefsten Interesse auf alles eingehend. Meinen wissenschaftlichen
und sonstigen Arbeiten brachte sie die größte Aufmerksamkeit entgegen.
Es war eine Zeit, wo ich das tiefste Bedürfnis hatte, alles, was
mir nahe ging, mit ihr zu besprechen. Wenn ich von meinen geistigen
Erlebnissen sprach, da hörte sie in einer eigentümlichen Art zu.
Ihrem Verstande waren die Dinge zwar sympathisch, aber er behielt
einen leisen Zug von Zurückhaltung; ihre Seele aber nahm alles auf.
Sie behielt dabei dem Menschenwesen gegenüber eine gewisse naturalistische
Anschauung. Die moralische Seelenverfassung dachte sie ganz in Zusammenhang
mit der gesunden oder kranken Körperkonstitution. Ich möchte sagen,
sie dachte instinktiv über den Menschen medizinisch, wobei dieses
eben einen naturalistischen Einschlag hatte. Sich in dieser Richtung
mit ihr zu unterhalten, war im höchsten Maße anregend. Dabei stand
sie allem äußeren Leben wie eine Frau gegenüber, die das ihr Zufallende
mit dem stärksten Pflichtgefühle besorgte, aber das meiste doch
innerlich nicht als zu ihrer Sphäre gehörig betrachtete. Sie sah
ihr Schicksal in vieler Beziehung als etwas Belastendes an. Aber
sie forderte auch nichts vom Leben; sie nahm dieses hin, wie es
sich gestaltete, sofern es nicht ihre Söhne betraf. Diesen gegenüber
erlebte sie alles mit den stärksten Emotionen ihrer Seele.
Judentum und
Antisemitismus
All dieses, das
Seelenleben einer Frau, deren schönste Hingabe an ihre
Söhne, das Leben der Familie innerhalb eines weiten
Verwandten- und Bekanntenkreises lebte ich mit. Aber dabei
ging es nicht ohne Schwierigkeit ab. Die Familie war eine
jüdische. Sie war in den Anschauungen völlig frei von jeder
konfessionellen und Rassenbeschränktheit. Aber es war bei dem
Hausherrn, dem ich sehr zugetan war, eine gewisse
Empfindlichkeit vorhanden gegen alle Äußerungen, die von
einem Nicht-Juden über Juden getan wurden. Der damals
aufflammende Antisemitismus hatte das bewirkt.
Nun
nahm ich damals an den Kämpfen lebhaften Anteil, welche die Deutschen
in Österreich um ihre nationale Existenz führten. Ich wurde dazu
geführt, mich auch mit der geschichtlichen und sozialen Stellung
des Judentums zu beschäftigen. Besonders intensiv wurde diese Beschäftigung,
als Hamerlings «Homunculus» erschienen war. Dieser eminent deutsche
Dichter wurde wegen dieses Werkes von einem großen Teil der Journalistik
als Antisemit hingestellt, ja auch von den deutschnationalen Antisemiten
als einer der ihrigen in Anspruch genommen. Mich berührte das alles
wenig; aber ich schrieb einen Aufsatz über den «Homunculus», in
dem ich mich, wie ich glaubte, ganz objektiv über die Stellung des
Judentums aussprach. Der Mann, in dessen Hause ich lebte, mit dem
ich befreundet war, nahm dies als eine besondere Art des Antisemitismus
auf. Nicht im geringsten haben seine freundschaftlichen Gefühle
für mich darunter gelitten, wohl aber wurde er von einem tiefen
Schmerze befallen. Als er den Aufsatz gelesen hatte, stand er mir
gegenüber, ganz von innerstem Leid durchwühlt, und sagte mir: «Was
Sie da über die Juden schreiben, kann gar nicht in einem freundlichen
Sinne gedeutet werden; aber das ist es nicht, was mich erfüllt,
sondern daß Sie bei dem nahen Verhältnis zu uns und unseren Freunden
die Erfahrungen, die Sie veranlassen, so zu schreiben, nur an
uns gemacht haben können.» Der Mann irrte;
denn ich hatte ganz aus der geistig-historischen Überschau heraus
geurteilt; nichts Persönliches war in mein Urteil eingeflossen.
Er konnte das nicht so sehen. Er machte, auf meine Erklärungen hin,
die Bemerkung: «Nein, der Mann, der meine Kinder erzieht, ist, nach
diesem Aufsatze, kein <Judenfreund>.» Davon war er nicht abzubringen.
Er dachte keinen Augenblick daran, daß sich an meinem Verhältnis
zu der Familie etwas ändern solle. Das sah er als eine Notwendigkeit
an. Ich konnte noch weniger die Sache zum Anlaß einer Änderung nehmen.
Denn ich betrachtete die Erziehung seines Sohnes als eine Aufgabe,
die mir vom Schicksal zugefallen war. Aber wir konnten beide nicht
anders als denken, daß sich in dieses Verhältnis ein tragischer
Einschlag gemischt hatte.
Es kam zu
alledem dazu, daß viele meiner Freunde aus den damaligen
nationalen Kämpfen heraus in ihrer Auffassung des Judentums
eine antisemitische Nuance angenommen hatten. Die sahen meine
Stellung in einem jüdischen Hause nicht mit Sympathie an; und
der Herr dieses Hauses fand in meinem freundschaftlichen
Umgange mit solchen Persönlichkeiten nur eine Bestätigung
der Eindrücke, die er von meinem Aufsatze empfangen hatte.
Der Komponist Ignaz
Brüll
Dem
Familienzusammenhang, in dem ich so darinnen stand, gehörte
der Komponist des «Goldenen Kreuzes», Ignaz Brüll, an. Eine
feinsinnige Persönlichkeit, die ich außerordentlich lieb
hatte. Ignaz Brüll hatte etwas Weltfremdes, in sich
Versunkenes. Seine Interessen waren nicht ausschließlich
musikalisch; sie waren vielen Seiten des geistigen Lebens
zugewandt. Er konnte diese Interessen nur als ein
«Glückskind» des Schicksals ausleben, auf dem Hintergrunde
eines Familienzusammenhanges, der ihn von den Sorgen der
Alltäglichkeit gar nicht berühren ließ, der sein Schaffen
aus einem gewissen Wohlstande herauswachsen ließ. Und so
wuchs er nicht in das Leben, sondern nur in die Musik hinein.
Wie wertvoll oder nicht wertvoll sein musikalisches Schaffen
war, davon braucht hier nicht die Rede zu sein. Aber es war im
schönsten Sinne reizvoll, dem Manne auf der Straße zu
begegnen, und ihn aus seiner Welt von Tönen erwachen zu sehen,
wenn man ihn anredete. Er hatte auch gewöhnlich die
Westenknöpfe nicht in die rechten Knopflöcher eingeknöpft.
Sein Auge sprach in milder Sinnigkeit, sein Gang war nicht
fest, aber ausdrucksvoll. Man konnte mit ihm über vieles
sprechen; er hatte dafür ein zartes Verstehen; aber man sah,
wie der Inhalt des Gespräches sogleich bei ihm in das Reich
des Musikalischen hineinschlüpfte.
Dr. Josef Breuer
In der Familie,
in der ich so lebte, lernte ich auch den ausgezeichneten Arzt
kennen, Dr. Breuer, der mit Dr. Freud zusammen bei der Geburt
der Psychoanalyse stand. Er hatte aber nur im Anfange diese
Anschauungsart mitgemacht, und war wohl mit deren späterer
Ausbildung durch Freud nicht einverstanden. Dr. Breuer war
für mich eine anziehende Persönlichkeit. Die Art, wie er im
ärztlichen Berufe drinnen stand, bewunderte ich. Dabei war er
auch in ändern Gebieten ein vielseitig interessierter Geist.
Er sprach über Shakespeare so, daß man die stärkste
Anregung davon empfing. Es war auch interessant, ihn mit
seiner durch und durch medizinischen Denkungsart über Ibsen
oder gar über Tolstois «Kreuzersonate» sprechen zu hören.
Wenn er mit meiner hier geschilderten Freundin, der Mutter der
von mir zu erziehenden Kinder, über solche Dinge sprach, war
ich oft mit dem stärksten Interesse dabei. Die Psychoanalyse
war damals noch nicht geboren; aber die Probleme, die nach
dieser Richtung hinzielten, waren schon da. Die hypnotischen
Erscheinungen hatten dem medizinischen Denken eine besondere
Färbung gegeben. Meine Freundin war mit Dr. Breuer von Jugend
an befreundet. Vor mir steht da eine Tatsache, die mir viel zu
denken gegeben hat. Diese Frau dachte in einer gewissen
Richtung noch medizinischer als der so bedeutende Arzt. Es
handelte sich einmal um einen Morphinisten. Dr. Breuer
behandelte ihn. Die Frau sagte mir einmal das Folgende:
«Denken Sie sich, was Breuer getan hat. Er hat sich von dem
Morphinisten auf Ehrenwort versprechen lassen, daß er kein
Morphium mehr nehmen werde. Er glaubte damit etwas zu
erreichen; und er war entrüstet, als der Patient sein Wort
nicht hielt. Er sagte sogar: wie kann ich jemand behandeln,
der sein Wort nicht hält. Sollte man glauben - so sagte sie
-, daß ein so ausgezeichneter Arzt so naiv
sein könne. Wie kann man etwas <in der Natur> so tief
Begründetes durch ein Versprechen heilen wollen? » - Die
Frau braucht doch nicht ganz recht gehabt zu haben; des Arztes
Ansichten über Suggestionstherapie können da zu seinem
Heilungsversuche mitgewirkt haben; aber man wird nicht in
Abrede stellen können, daß der Ausspruch meiner Freundin von
der außerordentlichen Energie spricht, mit der sie in
merkwürdiger Art aus dem Geiste heraus sprach, der in der
Wiener medizinischen Schule lebte gerade zu der Zeit, in der
diese Schule blühte.
Diese Frau war
in ihrer Art bedeutend; und sie steht als bedeutende
Erscheinung in meinem Leben darinnen. Sie ist nun schon lange
tot; unter die Dinge, die mir den Fortgang von Wien schwer
machten, gehört auch dies, daß ich mich von ihr trennen
mußte.
Abschied von Wien
Wenn ich auf
den Inhalt meines ersten Lebensabschnittes rückschauend
hinblicke, so drängt sich mir, indem ich ihn wie von außen
zu charakterisieren versuche, die Empfindung auf: das
Schicksal hatte mich so geführt, daß ich mich in meinem
dreißigsten Lebensjahre von keinem äußeren «Berufe»
umklammert sah. Ich trat auch in das Goethe- und
Schiller-Archiv in Weimar nicht für eine Lebensstellung ein,
sondern als ein freier Mitarbeiter an der Goethe-Ausgabe, die
im Auftrage der Großherzogin Sophie von dem Archiv
herausgegeben wurde. In dem Bericht, den der Direktor des
Archivs im zwölften Bande des Goethe-Jahrbuchs abdrucken
ließ, steht: «Den ständigen Arbeitern hat sich seit dem
Herbst 1890 Rudolf Steiner aus Wien zugesellt. Ihm ist (mit
Ausnahme der osteologischen Partie) das gesamte Gebiet der
<Morphologie> zugeteilt, fünf oder voraussichtlich
sechs Bände der <zweiten Abteilung>, denen aus dem
handschriftlichen Nachlaß ein hochwichtiges Material
zufließt.»
TB 636 (XIII.), S
138 ff
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