1890
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Doktorexamen
in Rostock
Auf unbestimmte
Zeit war ich wieder vor eine Aufgabe gestellt, die sich nicht
aus einem äußeren Anlasse, sondern aus dem innern Werdegang
meiner Welt- und Lebensanschauungen ergeben hatte. Und aus
diesem hatte sich auch ergeben, daß ich in Rostock mit meiner
Abhandlung über den Versuch einer «Verständigung des
menschlichen Bewußtseins mit sich selbst» das Doktorexamen
machte. Äußere Tatsachen bewirkten nur, daß ich es in Wien nicht
machen konnte. Ich hatte die Realschule, nicht das
Gymnasium offiziell hinter mir, hatte mir die
Gymnasialbildung, Privatunterricht darin erteilend, auch
privat angeeignet. Das schloß in Österreich das Doktorieren
aus. Ich war in die «Philosophie» hineingewachsen, hatte
aber einen offiziellen Bildungsgang hinter mir, der mich von
allem ausschloß, in das den Menschen das Philosophiestudium
hineinstellt.
Heinrich von Stein
Nun war am Ende
meines ersten Lebensabschnittes mir ein philosophisches Werk
in die Hände gefallen, das mich außerordentlich fesselte,
die «Sieben Bücher Platonismus» von Heinrich v. Stein, der
damals in Rostock Philosophie lehrte. Diese Tatsache führte
dazu, daß ich bei dem lieben alten Philosophen, den mir sein
Buch sehr wert machte und den ich nur bei dem Examen gesehen
habe, meine Abhandlung einreichte.
Die
Persönlichkeit Heinrichs v. Stein steht noch ganz lebendig vor mir.
Fast so, als ob ich viel mit ihm durchlebt hätte. Denn die «Sieben
Bücher Platonismus» sind der Ausdruck einer scharf geprägten philosophischen
Individualität. Die Philosophie als Denkinhalt wird in diesem Werke
nicht als etwas genommen, das auf eigenen Füßen steht. Plato wird
allseitig als der Philosoph betrachtet, der eine solche auf sich
selbst gestellte Philosophie suchte. Was er auf diesem Wege gefunden
hat, wird von Heinrich v. Stein sorgfältig dargestellt. Man lebt
sich in diesen ersten Kapiteln des Werkes ganz in die platonische
Weltanschauung ein. Dann aber geht Stein über zu dem Hereinbrechen
der Christus-Offenbarung in die Entwickelung der Menschheit. Dieses
reale Hereinbrechen geistigen Lebens stellt er als das Höhere hin
gegenüber dem Erarbeiten eines Denkinhaltes durch die bloße Philosophie.
Von Plato zu
Christus wie zu der Erfüllung eines Erstrebten, so könnte
man kennzeichnen, was in der Darstellung Steins liegt. Dann
verfolgt er weiter, wie in der christlichen Entwickelung der
Weltanschauungen der Platonismus weiter wirkte.
Stein ist
der Meinung, daß die Offenbarung von außen
dem menschlichen
Weltanschauungsstreben seinen Inhalt gegeben habe. Da konnte
ich mit ihm nicht mitgehen. Mir war Erlebnis, daß die
menschliche Wesenheit, wenn sie sich zur Verständigung mit
sich selbst im geistlebendigen Bewußtsein bringt, die
Offenbarung haben könne, und daß diese dann im Ideen-Erleben
Dasein im Menschen gewinnen könne. Aber ich empfand aus dem
Buche etwas, das mich anzog. Das reale Leben des Geistes
hinter dem Ideenleben, wenn auch in einer Form, die nicht die
meinige war, bildete da den Impuls einer umfassenden
geschichts-philosophischen Darstellung. Plato, der große
Träger einer Ideenwelt, die der Erfüllung durch den
Christus-Impuls harrte; das darzustellen ist der Sinn des
Stein'schen Buches. Mir stand dieses Buch, trotz des
Gegensatzes, in dem ich mich zu ihm befand, viel näher als
alle Philosophien, die nur aus Begriffen und Sinneserfahrungen
heraus sich einen Inhalt erarbeiten.
Ich vermißte
bei Stein auch das Bewußtsein, daß Platos Ideenwelt doch
auch zu einer uralten Offenbarung der geistigen Welt
zurückführt. Diese (vor-christliche) Offenbarung, die zum
Beispiel in Otto Willmanns «Geschichte des Idealismus» eine
sympathische Darstellung gefunden hat, tritt in Steins
Anschauung nicht zutage. Er stellt den Platonismus nicht als
den Ideenrest der Uroffenbarung hin, der dann im Christentum
den verlorenen Geistgehalt in einer höheren Gestalt
wiedererlangt hat; er stellt die platonischen Ideen wie einen
aus sich selbst gesponnenen Begriffsinhalt hin, der dann durch
Christus Leben gewonnen hat.
Doch ist das
Buch eines von denjenigen, die mit philosophischer Wärme
geschrieben sind; und sein Verfasser war eine Persönlichkeit,
die von tiefer Religiosität durchdrungen, in der Philosophie
den Ausdruck des religiösen Lebens suchte. Auf jeder Seite
des dreibändigen Werkes wird man der dahinterstehenden
Persönlichkeit gewahr. Es war, nachdem ich das Buch,
besonders die Partien über das Verhältnis des Platonismus
zum Christentum immer wieder gelesen hatte, für mich ein
bedeutsames Erlebnis, dem Verfasser gegenüberzutreten.
Eine in ihrer
ganzen Haltung ruhige Persönlichkeit, im höhern Alter, mit
mildem Auge, das wie geeignet erschien, sanft aber doch
eindringlich auf den Entwickelungsgang von Schülern
hinzuschauen; eine Sprache, die in jedem Satze die Überlegung
des Philosophen im Ton der Worte an sich trug. So stand Stein
gleich vor mir, als ich ihn vor dem Examen besuchte. Er sagte
mir: Ihre Dissertation ist nicht so, wie man sie fordert; man
sieht ihr an, daß Sie sie nicht unter der Anleitung eines
Professors gemacht haben; aber was sie enthält, macht
möglich, daß ich sie sehr gerne annehme. Ich hatte nun so
stark gewollt, im mündlichen Examen über etwas gefragt zu
werden, was mit den «Sieben Büchern Platonismus»
zusammengehangen hätte; aber keine Frage bezog sich darauf;
alle waren der Kant'schen Philosophie entnommen.
Ich habe das
Bild Heinrichs v. Stein immer tief eingeprägt in meinem
Herzen getragen; und es wäre mir unbegrenzt lieb gewesen, dem
Manne wieder zu begegnen. Das Schicksal hat mich nie wieder
mit ihm zusammengebracht. Mein Doktorexamen gehört zu meinen
liebsten Erinnerungen, weil der Eindruck von Steins
Persönlichkeit weitaus alles andere, das damit
zusammenhängt, überstrahlt.
Das Goethe- und
Schiller-Archiv in Weimar
Die Stimmung,
mit der ich in Weimar eintrat, war gefärbt von meiner
vorangehenden eingehenden Beschäftigung mit dem Platonismus.
Ich meine, daß mir diese Stimmung viel geholfen hat, mich in
meiner Aufgabe im Goethe- und Schiller-Archiv zurechtzufinden.
Wie lebte Plato in der Ideenwelt, und wie Goethe? Das
beschäftigte mich, wenn ich die Gänge von und zum Archiv
machte; es beschäftigte mich auch, wenn ich über den
Papieren des Goethenachlasses saß.
Die «Urpflanze»
Diese Frage war im
Hintergrunde, als ich anfangs 1891 meine Eindrücke von Goethes Naturerkenntnis
(in dem Aufsatze
«Über den Gewinn unserer Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen
Arbeiten durch die Publikationen des Goethe-Archivs»
im 12. Band des Goethe-Jahrbuches) in Worten aussprach wie diesen:
«Es ist für die Mehrzahl der Menschen unmöglich, sich vorzustellen,
daß etwas, zu dessen Erscheinung durchaus subjektive Bedingungen
notwendig sind, doch eine objektive Bedeutung und Wesenheit
haben kann. Und gerade von dieser letzteren Art ist die <Urpflanze>.
Sie ist das objektiv in allen Pflanzen enthaltene Wesentliche
derselben; wenn sie aber erscheinendes Dasein gewinnen soll,
so muß sie der Geist des Menschen frei konstruieren.» Oder diesen:
Eine rechte Erkenntnis der Goetheschen Denkungsart «liefert nun
auch die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, ob es der Auffassung
Goethes gemäß ist, die Urpflanze oder das Urtier mit irgendeiner
zu einer bestimmten Zeit vorgekommenen oder noch vorkommenden sinnlich-realen
organischen Form zu identifizieren. Darauf kann nur mit einem entschiedenen
<Nein> geantwortet werden. Die <Urpflanze> ist in jeder
Pflanze enthalten, kann durch die konstruktive Kraft des Geistes
aus der Pflanzenwelt gewonnen werden, aber keine einzelne, individuelle
Form darf als typisch angesprochen werden.»
Mitarbeiter im Archiv
In
das Goethe- und Schiller- Archiv trat ich nun als Mitarbeiter ein.
Das war die Stätte, in der die Philologie vom Ende des neunzehnten
Jahrhunderts Goethes Nachlaß übernommen hatte. An der Spitze des
Archivs stand, als Direktor, Bernhard Suphan. Mit ihm ergab sich
auch, ich möchte sagen vom ersten Tage meines Weimarer Lebensabschnittes
an, ein persönliches Verhältnis. Ich konnte oft in sein Haus kommen.
Daß Bernhard
Suphan der Nachfolger Erich Schmidts, des ersten Direktors des
Archivs, geworden war, hatte er seiner Freundschaft mit Herman
Grimm zu verdanken.
Der letzte
Goethenachkomme, Walther von Goethe, hatte Goethes Nachlaß
der Großherzogin Sophie erblich hinterlassen. Diese hat das
Archiv begründet, damit der Nachlaß in angemessener Art in
das Geistesleben hineingestellt werde. Naturgemäß wandte sie
sich an diejenigen Persönlichkeiten, von denen sie annehmen
mußte, daß sie wissen konnten, was mit Goethes Papieren zu
geschehen habe.
Gustav von Loeper
Da war
zunächst Herr v. Loeper. Er war wie vorbestimmt, der
Vermittler zu werden zwischen den Goethekennern und dem
Weimarischen Hofe, dem die Verwaltung des Goethenachlasses anvertraut
war. Denn er hatte es zu einer hohen Beamtenstellung im
preußischen Hausministerium gebracht, stand so der Königin
von Preußen, der Schwester des Großherzogs von Weimar nahe,
und er war zugleich der wichtigste Mitarbeiter an der damals
berühmtesten Goetheausgabe, der Hempel'schen.
Loeper war eine
eigenartige Persönlichkeit; eine höchst sympathische
Mischung von Weltmann und Sonderling. Als Liebhaber, nicht als
Fachmann war er in die «Goetheforschung» hineingewachsen.
Aber er hatte es in ihr zu hohem Ansehen gebracht. In seinen
Urteilen über Goethe, die in so schöner Art in seiner
Faustausgabe zutage traten, war er durchaus selbständig. Was
er vorbrachte, hatte er von Goethe selbst gelernt. Da er nun
raten sollte, wer Goethes Nachlaß am besten verwalten könne,
mußte er auf diejenigen verfallen, denen er als Goethekennern
durch seine eigene Tätigkeit an Goethe nahegetreten war.
Da
kam zunächst Herman Grimm in Betracht. Als Kunsthistoriker ist Herman
Grimm an Goethe herangetreten; als solcher hat er an der Berliner
Universität Vorlesungen über Goethe gehalten, die er dann als Buch
veröffentlicht hat. Aber er konnte sich zugleich als eine Art geistiger
Nachkomme Goethes betrachten. Er wuchs aus denjenigen Kreisen des
deutschen Geisteslebens heraus, die stets eine lebendige Tradition
von Goethe bewahrt hatten und die sich gewissermaßen in einer persönlichen
Verbindung mit ihm denken konnten. Die Frau Herman Grimms war Gisela
v. Arnim, die Tochter Bettinas, der Verfasserin des Buches:
«Goethes
Briefwechsel mit einem Kinde».
Herman Grimm
urteilte als kunstbegeisterter Mensch über Goethe. Er ist ja
auch als Kunsthistoriker nur insoweit in die Gelehrsamkeit
hineingewachsen, als ihm dies unter Wahrung einer persönlich
gefärbten Stellung zur Kunst, als Kunstgenießer, möglich
war.
Ich denke, mit
Loeper, mit dem er durch das gemeinschaftliche
Goethe-Interesse naturgemäß befreundet war, konnte sich
Herman Grimm gut verständigen. Ich stelle mir vor, daß bei
den beiden, wenn sie über Goethe sprachen, die menschliche
Anteilnahme an dem Genius durchaus im Vordergrunde, die
gelehrte Betrachtung aber im Hintergrunde stand.
Wilhelm Scherer und
Erich Schmidt
Diese gelehrte
Art, Goethe anzusehen, lebte nun in Wilhelm Scherer, dem
Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Berliner
Universität. In ihm mußten die beiden den offiziellen Kenner
Goethes gelten lassen. Loeper tat das in kindlich harmloser
Art. Herman Grimm mit einem gewissen inneren Widerstreben.
Denn ihm war die philologische Betrachtungsweise, die in
Scherer lebte, eigentlich nicht sympathisch.
An diese drei
Persönlichkeiten kam die eigentliche Führung in der
Verwaltung des Goethe-Nachlasses. Aber sie glitt doch stark
ganz in die Hände Scherers hinüber. Loeper dachte wohl nicht
daran, mehr als ratend und von außen mitarbeitend sich an der
Aufgabe zu beteiligen; er hatte seine festen
gesellschaftlichen Zusammenhänge durch seine Stellung am
preußischen Königshause. Herman Grimm dachte ebensowenig
daran. Er konnte durch seine Stellung im Geistesleben nur
Neigung haben, Gesichtspunkte und Richtlinien für die Arbeit
anzugeben; für die Einrichtung der Einzelheiten konnte er
nicht aufkommen.
Ganz anders
stand die Sache für Wilhelm Scherer. Für ihn war Goethe ein
gewichtiges Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. In dem
Goethe-Archiv waren neue Quellen von unermeßlicher Bedeutung
für dieses Kapitel zutage getreten. Da mußte denn die Arbeit
des Goethe-Archivs in die allgemeine literarhistorische Arbeit
systematisch eingegliedert werden. Der Plan zu einer
Goethe-Ausgabe entstand, die im philologisch richtigen Sinne
gestaltet sein sollte. Scherer übernahm die geistige
Oberaufsicht; die Leitung des Archivs wurde seinem Schüler,
der damals die Professur für neuere deutsche
Literaturgeschichte in Wien innehatte, Erich Schmidt,
übertragen.
Dadurch bekam
die Arbeit am Goethe-Archiv ihr Gepräge. Aber auch alles
andere, was im Goethe-Archiv und durch dieses geschah.
Es trug alles den Charakter der damaligen philologischen Denk-
und Arbeitsart.
In Wilhelm
Scherer hat die literargeschichtliche Philologie nach einer
Nachahmung der damaligen naturwissenschaftlichen Methoden
gestrebt. Man nahm die gebräuchlichen naturwissenschaftlichen
Ideen und wollte die philologisch-literarhistorischen ihnen
nachbilden. Woher ein Dichter etwas entlehnt hat, wie das Entlehnte
sich in ihm umgebildet hat, wurden die Fragen, die man einer
Entwickelungsgeschichte des Geisteslebens zum Grunde legte.
Die dichterischen Persönlichkeiten verschwanden aus der
Betrachtung; eine Anschauung davon, wie sich «Stoffe»,
«Motive» durch die Persönlichkeiten hindurch entwickelten,
trat auf. Ihren Höhepunkt erreichte diese Anschauungsart in
Erich Schmidts großer Lessing-Monographie. In dieser ist
nicht Lessings Persönlichkeit die Hauptsache, sondern eine
höchst sorgfältige Betrachtung des Minna von Barnhelm-, des
Nathan-Motivs usw.
Bernhard Suphan
Scherer
starb früh, bald nachdem das Goethe-Archiv errichtet war. Seine
Schüler waren zahlreich. Erich Schmidt wurde vom Goethe-Archiv hinweg
an seine Stelle in Berlin berufen. Herman Grimm setzte es dann durch,
daß nicht einer der zahlreichen Schüler Scherers die Direktion des
Archivs erhielt, sondern Bernhard Suphan.
Dieser war
vorher seiner Stellung nach Gymnasiallehrer in Berlin. Er
hatte sich zugleich der Herausgabe von Herders Werken
unterzogen. Dadurch schien er gut vorbestimmt, auch die
Leitung der Goethe-Ausgabe zu übernehmen.
Erich Schmidt
behielt noch einen gewissen Einfluß; dadurch waltete Scherers
Geist an der Goethe-Arbeit fort. Aber die Ideen Herman Grimms
traten daneben, wenn auch nicht in der Arbeitsweise, so doch
innerhalb des persönlichen Verkehrs im Goethe-Archiv stärker
hervor.
Bernhard Suphan
war, als ich nach Weimar kam und in ein näheres Verhältnis
zu ihm trat, ein persönlich hartgeprüfter Mann. Er hatte
zwei Frauen, die Schwestern waren, frühzeitig ins Grab sinken
sehen. Mit seinen beiden Knaben lebte er nun in Weimar,
trauernd um die Dahingeschiedenen, ohne jegliche Lebensfreude.
Sein einziger Lichtpunkt war das Wohlwollen, das ihm die
Großherzogin Sophie, seine von ihm ehrlich verehrte Herrin,
entgegenbrachte. In dieser Verehrung war nichts von
Servilismus; Suphan liebte und bewunderte die Großherzogin
ganz persönlich.
In treuer
Anhänglichkeit war Suphan Herman Grimm zugetan. Er war
vorher, in Berlin, wie ein Mitglied im Hause Grimm angesehen
worden, hatte mit Befriedigung in der geistigen Atmosphäre
geatmet, die in diesem Hause war. Aber es lag in ihm etwas,
das ihn mit dem Leben nicht zurechtkommen ließ. Man konnte
wohl mit ihm über die höchsten geistigen Angelegenheiten
sprechen; aber es kam leicht etwas Säuerliches, das von
seiner Empfindung ausging, in das Gespräch. Vor allem waltete
dieses Säuerliche in seiner eigenen Seele; dann half er sich
durch einen trockenen Humor über diese Empfindung hinweg. Und
so konnte man mit ihm nicht warm werden. Er konnte in einem
Atemzug ganz sympathisch das Große erfassen, und, ohne
Übergang, in Kleinlich-Triviales verfallen. Er stand mir
dauernd mit Wohlwollen gegenüber. Für die geistigen
Interessen, die in meiner Seele lebten, hatte er keine
Anteilnahme, behandelte sie wohl auch zuweilen vom
Gesichtspunkte seines trockenen Humors; für meine
Arbeitsrichtung im Goethe-Archiv und für mein persönliches
Leben hatte er aber das größte Interesse.
Ich kann nicht
in Abrede stellen, daß mich manchmal recht unangenehm
berührte, was Suphan tat, wie er sich in der Führung des
Archivs und in der Leitung der Goethe-Ausgabe verhielt; ich
habe daraus nie ein Hehl gemacht. Aber, wenn ich auf die Jahre
zurückblicke, die ich mit ihm durchlebt habe, so überwiegt
doch eine starke innere Anteilnahme an dem Schicksal und an
der Persönlichkeit des schwer geprüften Mannes. Er litt am
Leben und er litt an sich. Ich sah, wie er gewissermaßen
immer mehr mit guten Seiten seines Charakters und seiner
Fähigkeiten in ein bodenloses, wesenloses Grübeln versank,
das in seiner Seele aufstieg. Als das Goethe- und
Schiller-Archiv in das neue, an der Um gebaute Haus einzog,
sagte Suphan, er komme sich vor gegenüber der Eröffnung
dieses Hauses wie eines der Menschenopfer, die in uralten
Zeiten vor den Toren geheiligter Gebäude zum Segen der Sache
eingemauert wurden. Er hatte sich auch allmählich ganz in die
Rolle eines für die Sache, mit der er sich doch nicht ganz
verbunden fühlte, Geopferten hineinphantasiert. Wie ein
Lasttier der Goethe-Arbeit, das keine Freude empfinden konnte
an einer Aufgabe, bei der andere mit höchster Begeisterung
hätten sein können, empfand er sich. In dieser Stimmung fand
ich ihn später immer, wenn ich ihn nach meinem
Weggang von Weimar traf. Er endete durch Selbstmord in
getrübtem Bewußtsein.
Julius Wahle
Außer Bernhard
Suphan wirkte am Goethe- und Schiller-Archiv zur Zeit meines
Eintrittes Julius Wahle. Er war noch von Erich Schmidt berufen
worden. Wahle und ich waren einander schon zur Zeit meines
ersten Aufenthaltes in Weimar nahegekommen; es bildete sich
zwischen uns eine herzliche Freundschaft aus. Wahle arbeitete
an der Herausgabe von Goethes Tagebüchern. Als Archivar
wirkte Eduard von der Hellen, der auch die Ausgabe von Goethes
Briefen besorgte.
Die Arbeit im Archiv
An «Goethes
Werken» wirkte ein großer Teil der deutschen Germanistenwelt
mit. Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen von
Professoren und Privatdozenten der Philologie. Man war mit
diesen dann auch außerhalb der Archivstunden während ihrer
längeren und kürzeren Besuche viel zusammen. Man konnte sich
ganz in die Interessenkreise dieser Persönlichkeiten
einleben.
Außer diesen
eigentlichen Mitarbeitern an der Goethe-Ausgabe wurde das
Archiv von zahlreichen Persönlichkeiten besucht, die sich
für das eine oder das andere der reichen
Handschriftensammlungen deutscher Dichter interessierten. Denn
das Archiv wurde nach und nach die Sammelstätte vieler
Dichter-Nachlässe. Und auch andere Interessenten kamen, die
zunächst weniger mit Handschriften zu tun hatten, die nur
innerhalb der Archivräume in der vorhandenen Bibliothek
studieren wollten. Auch viele Besucher, die nur die Schätze
des Archivs sehen wollten, gab es.
Eine Freude war
es allen, die im Archiv arbeiteten, wenn Loeper erschien. Er
trat mit sympathisch-liebenswürdigen Bemerkungen ein. Er
ließ sich sein Arbeitsmaterial geben, setzte sich hin und
arbeitete nun stundenlang mit einer Konzentration, die man
selten an einem Menschen bemerken kann. Was auch um ihn herum
vorging, er blickte nicht auf. — Sollte ich nach einer
Personifikation der Liebenswürdigkeit suchen: ich würde
Herrn v. Loeper wählen. Liebenswürdig war seine
Goethe-Forschung, liebenswürdig jedes Wort, das er zu jemand
sprach. Besonders liebenswürdig war die Prägung, die sein
ganzes Seelenleben dadurch angenommen hatte, daß er fast
immer nur daran zu denken
schien: wie bringt man Goethe der Welt zum rechten
Verständnis. Ich saß einmal neben ihm bei einer
Faust-Aufführung im Theater. Ich fing an, über die Art der
Darstellung, über das Schauspielerische zu sprechen. Er
hörte gar nicht, was ich sagte. Aber er erwiderte: «Ja,
diese Schauspieler sprechen ja oft Worte und Wendungen, die
mit den Goethe'schen nicht ganz stimmen.» Noch
liebenswürdiger erschien mir Loeper in seiner
«Zerstreutheit». Als ich in der Pause auf etwas zu sprechen
kam, wobei man eine Zeitdauer ausrechnen sollte, sagte Loeper:
«Also die Stunde zu 100 Minuten, die Minute zu 100 Sekunden
...» Ich schaute ihn an und sagte: «Exzellenz, 60.» Er nahm
seine Uhr heraus, prüfte, lächelte herzlich, zählte und
sprach: «Ja, ja, 60 Minuten, 60 Sekunden.» Ähnliche Proben
von «Zerstreutheit» erlebte ich viele bei ihm. Aber selbst
über solche Proben der Eigenart von Loepers Seelenverfassung
konnte ich nicht lachen, denn sie erschienen als eine
notwendige Beigabe des ganz posenlosen, unsentimentalischen,
ich möchte sagen, graziösen Ernstes dieser Persönlichkeit,
der zugleich anmutig wirkte. Er sprach in etwas sich
übersprudelnden Sätzen, fast ohne allen Tonfall; aber man
hörte durch die farblose Sprache eine starke Artikulation der
Gedanken.
Geistige
Vornehmheit zog in das Archiv ein, wenn Herman Grimm erschien.
Von dem Zeitpunkte an, da ich - noch in Wien - sein
Goethe-Buch gelesen hatte, lebte zu seiner Geistesart die
tiefste Neigung in mir. Und da ich ihm im Archiv zum erstenmal
begegnen durfte, hatte ich fast alles gelesen, was bis dahin
von ihm erschienen war. Durch Suphan wurde ich denn bald
näher mit ihm bekannt. Er lud mich dann einmal, als Suphan
nicht in Weimar anwesend war und er zum Besuch ins Archiv kam,
zu einem Mittagessen in sein Hotel ein. Ich war allein mit
ihm. Ihm war offenbar sympathisch, wie ich auf seine Art, Welt
und Leben anzusehen, eingehen konnte. Er wurde mitteilsam. Er
sprach zu mir von seiner Idee einer «Geschichte der deutschen
Phantasie», die er in seiner Seele trug. Ich bekam damals den
Eindruck, daß er eine solche schreiben wolle. Es ist nicht
dazu gekommen. Aber er setzte mir schön auseinander, wie der
fortlaufende Strom des geschichtlichen Werdens seine Impulse
in der schaffenden Volksphantasie habe, die in seiner
Auffassung den Charakter eines lebenden, wirkenden
übersinnlichen Genius annahm. Ich war während dieses
Mittagsmahles ganz erfüllt von den Ausführungen Herman
Grimms. Ich glaubte zu wissen, wie die übersinnliche
Geistigkeit durch Menschen wirkt. Ich hatte einen Mann vor
mir, dessen Seelenblick bis zu der schaffenden Geistigkeit
reicht, der aber nicht das Eigenleben dieser Geistigkeit
erkennend ergreifen will, sondern der in der Region verbleibt,
wo sich im Menschen das Geistige als Phantasie auslebt.
Herman Grimm
hatte eine besondere Gabe, größere oder kleinere Epochen der
Geistesgeschichte zu überschauen und das Überschaute in
präzisen, geistvollen epigrammatischen Charakteristiken
darzustellen. Wenn er eine einzelne Persönlichkeit, wenn er
Michel Angelo, Raphael, Goethe, Homer schilderte, so erschien
seine Darstellung immer auf dem Hintergrunde solcher
Überschauen. Wie oft habe ich doch seinen Aufsatz gelesen, in
dem er Griechentum, Römertum, Mittelalter in seinen
schlagenden Überblicken charakterisiert. Der ganze Mann war
die Offenbarung eines einheitlichen Stiles. Wenn er seine
schönen Sätze im mündlichen Gespräche prägte, so hatte
ich die Vorstellung: das könnte genau so in einem Aufsatze
von ihm stehen; und wenn ich, nachdem ich ihn kennen gelernt
hatte, einen Aufsatz von ihm las, so vermeinte ich, ihn
sprechen zu hören. Er ließ sich keine Lässigkeit im
mündlichen Gespräche durch; aber er hatte das Gefühl, man
müsse im künstlerisch-schriftstellerischen Darstellen der
Mensch bleiben, als der man alltäglich herumwandelt. Aber
Herman Grimm wandelte eben in der Alltäglichkeit nicht so
herum wie andere Menschen. Es war ihm selbstverständlich, ein
stilisiertes Leben zu führen.
Wenn Herman
Grimm in Weimar und im Archiv erschien, dann fühlte man die
Nachlaßstätte wie durch geheime geistige Fäden mit Goethe
verbunden. Nicht so, wenn Erich Schmidt kam. Er war nicht
durch Ideen, sondern durch die historischphilologische Methode
mit den Papieren verbunden, die im Archiv aufbewahrt waren.
Ich konnte nie ein menschliches Verhältnis zu Erich Schmidt
gewinnen. Und so ging denn an mir ziemlich interesselos
vorbei, was sich an großer Verehrung für diesen in den
Kreisen aller derer auslebte, die als Scherer-Philologen im
Archiv arbeiteten.
Sympathische
Augenblicke waren es immer, wenn der Großherzog Karl
Alexander im Archiv erschien. Eine in vornehmer Haltung
auftretende, aber innerlich wahre Begeisterung für alles, was
an Goethe anknüpfte, lebte in dieser Persönlichkeit. Durch
sein Alter, seine lange Verbindung mit vielem Bedeutenden im
deutschen Geistesleben, durch seine gewinnende
Liebenswürdigkeit machte er einen wohltuenden Eindruck. Es
war ein befriedigender Gedanke, ihn als Beschützer der
Goethe-Arbeit im Archiv zu wissen.
Die
Großherzogin Sophie, die Besitzerin des Archivs, sah man in
diesem nur bei besonders feierlichen Anlässen. Wenn sie etwas
zu sagen hatte, ließ sie Suphan zu sich rufen. Die
mitarbeitenden Besucher wurden zu ihr geführt, um ihr
vorgestellt zu werden. Ihre Fürsorge für das Archiv war aber
eine außerordentliche. Sie bereitete damals persönlich alles
vor, was zum Bau eines staatlichen Hauses führen sollte, in
dem die Dichternachlässe würdig untergebracht werden
sollten.
Auch der
Erbgroßherzog Karl August, der, bevor er zur Regierung kam,
gestorben ist, kam öfter ins Archiv. Sein Interesse an all
dem, was da vorhanden war, ging nicht tief, aber er unterhielt
sich gerne mit uns Mitarbeitenden. Er betrachtete es mehr als
Pflicht, sich für die Angelegenheiten des geistigen Lebens zu
interessieren. Warm aber war das Interesse der
Erbgroßherzogin Pauline. Mit ihr konnte ich manches Gespräch
über Dinge führen, die Goethe, Dichtung usw. betrafen. Das
Archiv stand in bezug auf seinen Verkehr zwischen der
wissenschaftlichen, künstlerischen und der Weimarischen
Hofgesellschaft darinnen. Von beiden Seiten her erhielt es
seine eigene gesellschaftliche Färbung. Kaum hatte sich die
Türe hinter einem Kathedermann geschlossen, so ging sie
wieder für irgendeine fürstliche Persönlichkeit auf, die am
Hofe zum Besuche erschienen war. Viele Menschen aller
gesellschaftlichen Stellungen nahmen teil an dem, was im
Archiv geschah. Es war im Grunde ein reges, in vieler
Beziehung anregendes Leben.
Die Weimarische
Bibliothek
In der
unmittelbaren Nachbarschaft des Archivs war die Weimarische
Bibliothek. In ihr hauste ein Mann mit kindlichem Gemüte und
einer schier unbegrenzten Gelehrsamkeit, Reinhold Köhler, als
Oberbibliothekar. Die Mitarbeiter des Archivs hatten oft dort
zu tun. Denn, was sie im Archiv als literarische Hilfsmittel
ihrer Arbeit hatten, fand dort seine wichtige Ergänzung.
Reinhold Köhler war in einzigartiger Umfänglichkeit
bewandert in der Mythen-, Märchen- und Sagenschöpfung; sein
Wissen auf sprachgelehrtem Gebiet war von der
bewunderungswürdigsten Universalität. Er wußte Rat im
Aufsuchen der verborgensten Literaturbelege. Dabei war er von
rührender Bescheidenheit, von herzlichstem Entgegenkommen. Er
ließ es sich nie nehmen, die Bücher, die man brauchte,
selbst von ihren Ruheplätzen her in das
Bibliotheksarbeitszimmer, wo man arbeitete, zu holen. Ich kam
einmal hin, bat um ein Buch, das Goethe bei seinen botanischen
Studien benützt hatte, um es einzusehen. Reinhold Köhler
holte den Schmöker, der wohl seit Jahrzehnten unbenutzt ganz
oben irgendwo gelagert hatte. Er kam längere Zeit nicht
zurück. Man schaute nach, wo er blieb. Er war von der Leiter
gefallen, auf der er zur Besorgung des Buches zu klettern
hatte. Ein Bruch eines Oberschenkelknochens. Die liebe, edle
Persönlichkeit konnte sich von den Folgen des Unfalles nicht
mehr erholen. Nach langem Kranksein starb der weithin verehrte
Mann. Ich litt unter dem schmerzlichen Gedanken, daß sein
Unfall bei dem Besorgen eines Buches für mich geschehen war.
TB 636 (XIV.), S
148 ff
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