1894 -
1896
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Weimar
Eduard von der
Hellens
Ein in schönster Art
gestaltetes gesellschaftliches Entgegenkommen fand ich in der
Familie des Archivars am Goethe- und Schiller-Archiv, Eduard
von der Hellens. Diese Persönlichkeit stand neben den
anderen Mitarbeitern des Archivs in einer eigentümlichen
Lage. Sie hatte in den Kreisen der Fachphilologen durch die
außerordentlich gelungene Erstlingsarbeit über «Goethes
Anteil an Lavaters physiognomischen Fragmenten» ein
außerordentlich großes Ansehen. Von der Hellen hatte mit
dieser Arbeit etwas geleistet, das jeder Fachgenosse sofort
als «voll» nahm. Nur der Autor selbst dachte nicht so. Er
sah die Arbeit als eine methodische Leistung an, deren
Prinzipien man «lernen könne», während er nach einer
inneren seelischen Erfüllung mit Geist-Gehalt allseitig
streben wollte.
So saßen wir, wenn nicht
Besucher da waren, eine Zeitlang im alten Mitarbeiterzimmer
des Archives, da dieses noch im Schlosse war, zu drei: von der
Hellen, der an der Ausgabe von Goethes Briefen, Julius Wahle,
der an den Tagebüchern, und ich, der an den
naturwissenschaftlichen Schriften arbeitete. Aber gerade aus
den geistigen Bedürfnissen Eduard von der Hellens heraus
ergaben sich zwischen der Arbeit Gespräche über die
aller-mannigfaltigsten Gebiete des geistigen und sonstigen
öffentlichen Lebens. Es kamen dabei aber diejenigen
Interessen durchaus zu ihrem Recht, die sich an Goethe
anschlössen. Aus den Eintragungen, die Goethe in seine
Tagebücher gemacht hat, aus den manchmal so hohe Standpunkte
und weite Gesichtskreise offenbarenden Briefstellen Goethes
konnten sich Betrachtungen ergeben, die in die Tiefen des
Daseins und in die Weiten des Lebens führten.
Eduard von der Hellen hatte die
große Liebenswürdigkeit, die Beziehungen, die sich aus
diesem oft so anregenden Archiv-Verkehre ergeben hatten,
dadurch weiterzubilden, daß er mich in den Kreis seiner
Familie einführte. Es ergab sich ja dadurch eine schöne
Erweiterung der Geselligkeit, daß Eduard von der Hellens
Familie gleichzeitig in den Kreisen verkehrte, die ich als die
um Olden, um Gabriele Reuter u. a. beschrieben habe.
In besonders eindringlicher
Erinnerung ist mir stets die so tief sympathische Frau von der
Hellen gewesen. Eine durch und durch künstlerische Natur.
Eine von denen, die, wenn nicht andere Lebenspflichten
aufgetreten wären, es in der Kunst zu schönen Leistungen
hätte bringen können. So wie das Schicksal gewirkt hat, so
kam, so weit ich weiß, das Künstlertum dieser Frau nur in
Anfängen zum Vorschein. Aber wohltuend wirkte jedes Wort, das
man mit ihr über Kunst sprechen durfte. Sie hatte einen wie
verhaltenen, stets im Urteil vorsichtigen, aber reinmenschlich
tief sympathischen Grundton. Ich ging selten von einem solchen
Gespräche weg, ohne daß ich, was Frau von der Hellen mehr
angeschlagen als gesagt hatte, lange sinnend in meinem Gemüte
herumtrug.
Von großer Liebenswürdigkeit
waren auch der Vater der Frau von der Hellen, ein
General-Leutnant, der den siebenziger Krieg als Major
mitgemacht hatte, und dessen zweite Tochter. Wenn man im
Kreise dieser Menschen war, lebten die schönsten Seiten der
deutschen Geistigkeit auf, jener Geistigkeit, die von den
religiösen, den schöngeistigen, den
populär-wissenschaftlichen Impulsen, die so lange das
eigentliche geistige Wesen des Deutschen waren, hinein
erflossen in alle Kreise des sozialen Lebens.
Das politische Leben
in Weimar
Eduard von der Hellens
Interessen brachten für einige Zeit das politische Leben der
damaligen Zeit an mich heran. Die Unbefriedigtheit mit dem
Philologischen warf von der Hellen in das rege politische
Leben Weimars hinein. Da schien sich für ihn eine weitere
Lebensperspektive zu eröffnen. Und das freundschaftliche
Interesse für diese Persönlichkeit ließ auch mich, ohne
tätigen Anteil an der Politik zu nehmen, Interesse fassen
für die Bewegungen des öffentlichen Lebens.
Man hatte damals vieles von
dem, was heute im Leben entweder sich in seiner Unmöglichkeit
gezeigt, oder in furchtbaren Metamorphosen absurde soziale
Gestaltungen hervorgebracht hat, in seiner Entstehung vor
sich, mit all den Hoffnungen einer Arbeiterschaft, die von
beredten, energischen Führern den Eindruck empfangen hatte,
es müsse für die Menschheit eine neue Zeit der sozialen
Gestaltung kommen. Besonnenere und ganz radikale Elemente in
der Arbeiterschaft machten sich geltend. Sie zu beobachten war
um so eindrucksvoller, als ja das, was sich da zeigte, wie ein
Brodeln des sozialen Lebens in den Untergründen war. Obenauf
lebte doch, was an würdigem Konservatismus im Zusammenhange
mit einem vornehm denkenden, für alles Humane energisch und
eindringlich wirkenden Hofe sich nur hatte ausbilden können.
In der Atmosphäre, die da vorhanden war, sproßten eine sich
als selbstverständlich nehmende reaktionäre Partei und
außerdem das, was man National-Liberalismus nannte.
In all dem sich so
zurechtzufinden, daß sich für ihn eine durch die Wirrnisse
hindurchorientierte fruchtbare Führerrolle ergeben möchte,
so mußte man interpretieren, was nun Eduard von der Hellen
darlebte. Und man mußte miterleben, was er in dieser Richtung
erlebte. Er besprach alle Einzelheiten, die er für eine
Broschüre ausarbeitete, im Kreise seiner Freunde. Man mußte
sich so tief für die damals mit ganz anderem Empfinden als
jetzt begleiteten Begriffe von materialistischer
Geschichtsauffassung, Klassenkampf, Mehrwert interessieren wie
Eduard von der Hellen selbst. Man konnte gar nicht anders als
in die zahlreichen Versammlungen mitgehen, in denen er als
Redner auftrat. Er dachte, dem theoretisch gebildeten
marxistischen Programme ein anderes gegenüberzusetzen, das
aus dem guten Willen zum sozialen Fortschritt bei allen
Arbeiterfreunden aller Parteien ersprießen sollte. An eine
Art Neu-Belebung der Mittelparteien mit Aufnahme solcher
Impulse in deren Programme dachte er, durch die das soziale
Problem bewältigt werden könne.
Die Sache verlief ohne Wirkung.
Nur das darf ich sagen, daß ich ohne die Teilnahme an dieser
Hellen'schen Bestrebung das öffentliche Leben in jenem
Zeiträume nicht so intensiv miterlebt hätte, als es durch
dieselbe geschehen ist.
Heinrich Fränkel
Noch von einer andern Richtung
allerdings, aber weit weniger intensiv, kam dieses Leben an
mich heran. Ja, da zeigte sich, daß ich ziemliche
Widerstände entwickelte — was bei von der Hellen nicht der
Fall war —, wenn Politisches sich nahte. Es lebte damals in
Weimar ein freisinniger Politiker, Anhänger Eugen Richters
und auch in dessen Sinne politisch tätig, Dr. Heinrich
Fränkel. Ich wurde mit dem Manne bekannt. Eine kurze
Bekanntschaft, die dann durch ein «Mißverständnis»
abgebrochen wurde, an die ich aber oft gerne zurückdenke.
Denn der Mann war in seiner Art außerordentlich liebenswert,
hatte energischen Politiker-Willen und dachte, mit gutem
Willen und vernünftigen Einsichten müßten sich Menschen
für einen rechten Fortschritts-Weg im öffentlichen Leben
begeistern lassen. Sein Leben wurde eine Kette von
Enttäuschungen. Schade, daß ich selbst ihm auch eine solche
bereiten mußte. Er arbeitete gerade während der Zeit unserer
Bekanntschaft an einer Broschüre, bei der er an eine
Massenverbreitung größten Stiles dachte. Es handelte sich
für ihn darum, schon damals entgegenzuarbeiten dem Ergebnis
des Bundes zwischen Groß-Industrie und Agrariertum, das in
Deutschland damals keimte und was später, nach seiner
Ansicht, zu verheerender Frucht sich entwickeln müßte. Seine
Broschüre trug den Titel: «Kaiser, werde hart.» Er dachte
daran, die Kreise um den Kaiser von dem, nach seiner Ansicht,
Schädlichen überzeugen zu können. — Der Mann hatte damit
nicht den geringsten Erfolg. Er sah, daß aus der Partei, der
er zugehörte, und für die er arbeitete, nicht die Kräfte zu
holen seien, die für eine von ihm gedachte Aktion eine
Grundlage liefern können.
Und so kam er dazu, sich eines
Tages dafür zu begeistern, die «Deutsche Wochenschrift»,
die ich vor einigen Jahren kurze Zeit hindurch in Wien
redigiert hatte, wieder aufleben zu lassen. Er wollte damit
eine politische Strömung schaffen, die ihn vom damaligen
«Freisinn» hinweg in eine mehr national-freigeistige
Tätigkeit geführt hätte. Er dachte sich, ich könne in
dieser Richtung mit ihm zusammen etwas machen. Das war
unmöglich; allein auch für die Wiederbelebung der
«Deutschen Wochenschrift» konnte ich nichts tun. Die Art,
wie ich ihm dieses mitteilte, führte zu Mißverständnissen,
welche die Freundschaft in kurzer Zeit zerstörten.
Die Familie Eunike
Aber aus dieser Freundschaft
ging ein anderes hervor. Der Mann hatte eine sehr liebe Frau
und liebe Schwägerin. Und er führte mich auch in seine
Familie ein. Diese wieder brachte mich zu einer anderen
Familie. Und da spielte sich nun etwas ab, das wie das Abbild
des merkwürdigen Schicksalszusammenhanges sich darstellt, der
mich einst in Wien getroffen hat. Ich habe dort in einer
Familie intim verkehrt, doch so, daß deren Haupt immer
unsichtbar geblieben, mir aber doch geistig-seelisch so nahe
gekommen war, daß ich nach seinem Tode die Begräbnisrede wie
für den besten Freund gehalten habe. Die ganze Geistigkeit
dieses Mannes stand durch die Familie in voller Wirklichkeit
vor meiner Seele.
Und jetzt trat ich in fast die
ganz gleiche Beziehung zu dem Haupte der Familie, in die ich
auf dem Umwege durch den freisinnigen Politiker eingeführt
wurde. Dieses Familienhaupt war vor kurzer Zeit gestorben; die
Witwe lebte voller Pietät im Gedenken an den Verstorbenen. Es
ergab sich, daß ich aus meiner bisherigen weimarischen
Wohnung auszog, und mich bei der Familie einmietete. Da war
die Bibliothek des Verstorbenen. Ein nach vielen Richtungen
geistig interessierter Mensch, ganz aber wie jener in Wien
lebende, abgeneigt der Berührung mit Menschen; in seiner
eigenen «Geisteswelt» wie jener lebend; von der Welt so wie
jener für einen «Sonderling» genommen.
Ich empfand den Mann gleich dem
andern, ohne ihm im physischen Leben begegnen zu können, wie
«hinter den Kulissen des Daseins» durch mein Schicksal
schreiten. In Wien entstand ein so schönes Band zwischen der
Familie des so bekannten «Unbekannten» und mir; und in
Weimar entstand zwischen dem zweiten also «Bekannten» und
seiner Familie und mir ein noch bedeutungsvolleres.
Wenn ich nun von den zwei
«unbekannten Bekannten» reden muß, so weiß ich, daß, was
ich zu sagen habe, von den meisten Menschen als wüste
Phantasterei bezeichnet wird. Denn es bezieht sich darauf, wie
ich den beiden Menschenseelen nahetreten durfte in dem
Weltgebiet, in dem sie waren, nachdem sie durch die Pforte des
Todes gegangen waren.
Die Verbindung mit den
Seelen nach dem Tod
Es hat jedermann das innerliche
Recht, Aussagen über dieses Gebiet aus dem Kreise dessen zu
streichen, das ihn interessiert; sie aber als etwas behandeln,
das nur als phantastisch charakterisiert werden kann, ist doch
noch etwas anderes. Wenn dieses jemand tut, dann muß ich
geltend machen, daß ich die Quellen zu derjenigen
Seelenverfassung, aus der heraus man etwas Geistiges behaupten
darf, immer bei solchen exakten Wissenszweigen wie der
Mathematik oder der analytischen Mechanik gesucht habe.
Leichtsinniges Hinreden, ohne Erkenntnis-Verantwortung, wird
also nicht zum Vorwurf gemacht werden dürfen, wenn ich das
Folgende sage.
Die geistigen
Anschauungskräfte, die ich damals in der Seele trug, machten
mir möglich, mit den beiden Seelen eine engere Verbindung
nach ihrem Erdentode zu haben. Sie waren anders geartet als
andere Verstorbene. Diese machen nach dem Erdentode zunächst
ein Leben durch, das, seinem Inhalte nach, eng mit dem
Erdenleben zusammenhängt, das erst langsam und allmählich
ähnlich demjenigen wird, das der Mensch in der rein geistigen
Welt hat, in der er sein Dasein verbringt bis zu einem
nächsten Erdenleben.
Die beiden «unbekannten
Bekannten» waren nun mit den Gedanken des materialistischen
Zeitalters ziemlich gründlich bekannt geworden. Sie haben
begrifflich die naturwissenschaftliche Denkungsart in sich
verarbeitet. Der zweite, den mir Weimar brachte, war sogar gut
bekannt mit Billroth und ähnlichen naturwissenschaftlichen
Denkern. Dagegen war wohl beiden während ihres Erdenlebens
eine geistgemäße Weltauffassung ferne geblieben. Sie würden
wohl jede, die ihnen damals hätte entgegentreten können,
abgelehnt haben, weil ihnen das «naturwissenschaftliche
Denken» nun einmal als das Ergebnis der Tatsachen, nach dem
Charakter der Denkgewohnheiten der Zeit, hat erscheinen
müssen.
Aber dieses Verbundensein mit
dem Materialismus der Zeit blieb ganz in der Ideenwelt der
beiden Persönlichkeiten. Sie machten die Lebensgewohnheiten
nicht mit, die aus dem Materialismus ihres Denkens folgten und
die bei allen ändern Menschen die herrschenden waren. Sie
wurden «Sonderlinge vor der Welt», lebten in primitiveren
Formen, als man es damals gewohnt war und als es ihnen nach
ihrem Vermögensstande zugekommen wäre. So trugen sie in die
geistige Welt nicht das hinüber, was ein Verbundensein mit
den materialistischen Willenswerten ihren geistigen
Individualitäten hätte geben können, sondern nur dasjenige,
was die materialistischen Denkwerte in diese
Individualitäten verpflanzt hatten. Selbstverständlich
spielte sich dies für die Seelen zum größten Teil im
Unterbewußten ab. Und nun konnte ich sehen, wie diese
materialistischen Denkwerte nicht etwas sind, das den Menschen
nach dem Tode der göttlichgeistigen Welt entfremdet; sondern
daß diese Entfremdung nur durch die materialistischen
Willenswerte eintritt. Sowohl die Seele, die mir in Wien
nahegetreten war, sowie auch diejenige, die ich in Weimar
geistig kennen lernte, waren nach dem Tode herrlich-leuchtende
Geistgestalten, in denen der Seelen-Inhalt erfüllt war yon
den Bildern der geistigen Wesenheiten, die der Welt zum Grunde
liegen. Und ihr Bekanntwerden mit den Ideen, durch die sie das
Materielle genauer durchdachten während ihres letzten
Erdenlebens, hat nur dazu beigetragen, daß sie auch nach dem
Tode ein urteilgetragenes Verhältnis zur Welt entwickeln
konnten, wie es ihnen nicht geworden wäre, wenn die
entsprechenden Ideen ihnen fremd geblieben wären.
In diesen zwei Seelen hatten
sich Wesen in meinen Schicksalsweg hereinversetzt, durch die
sich mir unmittelbar aus der geistigen Welt heraus die
Bedeutung der naturwissenschaftlichen Denkart enthüllte. Ich
konnte sehen, daß diese Denkart an sich nicht von einer
geistgemäßen Anschauung hinwegführen muß. Bei den beiden
Persönlichkeiten war dieses während ihres Erdenlebens
deshalb geschehen, weil sie da keine Gelegenheit fanden, das
naturwissenschaftliche Denken hinaufzuheben in die Sphäre, wo
geistiges Erleben beginnt. Nach ihrem Tode hatten sie das in
der allervollkommensten Art vollbracht. Ich sah, man kann
dieses Hinaufheben auch bewirken, wenn man im Erdenleben
inneren Mut und Kraft dazu aufbringt. Ich sah auch, durch ein
Mit-Erleben von Bedeutungsvollem in der geistigen Welt, daß
die Menschheit sich zu der naturwissenschaftlichen Denkart hat
entwickeln müssen. Frühere Denkweisen konnten die
Menschenseele mit dem Geist der übersinnlichen Welt
verbinden; sie konnten den Menschen, wenn er überhaupt auf
Selbst-Erkenntnis (die Grundlage aller Erkenntnis)
einging, dazu führen, sich als ein Abbild, oder auch ein
Glied der göttlich-geistigen Welt zu wissen; sie konnten ihn
aber nicht dazu bringen, sich als eine selbständige, in sich
geschlossene geistige Wesenheit zu erfühlen. Es mußte
deshalb der Fortschritt zum Fassen einer Ideenwelt gemacht
werden, die nicht am Geiste selbst entzündet, sondern
an der Materie angeregt ist, die wohl geistig, aber nicht
aus dem Geiste ist.
Eine solche Ideenwelt kann im
Menschen nicht angeregt werden in der geistigen Welt, in der
er nach dem Tode, beziehungsweise vor einer neuen Geburt lebt,
sondern allein im irdischen Dasein, weil er nur da der
materiellen Form des Seins gegenübersteht.
Was also der Mensch für sein
Gesamt-Leben, auch das geistige, nach dem Tode, gewinnt durch
das Verwobensein mit der naturwissenschaftlichen Denkungsart,
das konnte ich an den beiden Menschenseelen erleben. Ich
konnte aber auch sehen, an ändern, die die
Willenskonsequenzen der bloßen naturwissenschaftlichen
Denkart im Erdenleben ergriffen hatten, daß sie sich der
Geist-Welt entfremdeten, daß sie, sozusagen, zu einem
Gesamt-Leben kommen, das mit der
naturwissenschaftlichen Denkart weniger den Menschen in seinem
Menschentum darstellt als ohne dieselbe.
Die beiden Seelen sind
«Sonderlinge vor der Welt» geworden, weil sie im Erdenleben
nicht ihr Menschentum verlieren wollten; sie haben im vollen
Umfange die naturwissenschaftliche Denkungsart aufgenommen,
weil sie die geistige Menschheits-Etappe erreichen wollten,
die ohne diese nicht möglich ist.
Ich hätte wohl nicht diese
Anschauungen an den beiden Seelen gewinnen können, wenn sie
mir innerhalb des Erdendaseins als physische Persönlichkeiten
entgegengetreten wären. Ich brauchte für das Anschauen der
beiden Individualitäten in der Geistwelt, in der sich mir ihr
Wesen und durch sie vieles andere enthüllen sollte, jene
Zartheit des Seelenblickes in bezug auf sie, die leicht
verloren geht, wenn das in der physischen Welt Erlebte das
rein geistig zu Erlebende verdeckt, oder wenigstens
beeinträchtigt.
Ich mußte daher schon damals
in der Eigenart des Auftretens der beiden Seelen innerhalb
meines Erdendaseins etwas sehen, das schicksalgemäß für
meinen Erkenntnispfad bestimmt war.
Die Abwege des
Spiritismus
Aber irgend etwas nach dem
Spiritismus hin Gerichtetes konnte bei diesem Verhältnis zu
Seelen in der geistigen Welt nicht in Betracht kommen. Es
konnte für mich niemals etwas anderes für die Beziehung zur
geistigen Welt Geltung haben als die wirklich geistgemäße
Anschauung, von der ich später in meinen anthroposophischen
Schriften öffentlich gesprochen habe. Für eine mediale
Vermittlung mit den Verstorbenen war übrigens sowohl die
Wiener Familie in allen ihren Gliedern wie auch die
Weimarische viel zu gesund.
Ich habe mich stets, wo
dergleichen in Frage kam, auch für ein solches Suchen der
Menschenseelen interessiert, wie es im Spiritismus zutage
tritt. Der Spiritismus der Gegenwart ist der Abweg solcher
Seelen nach dem Geistigen, die auch den Geist auf äußerliche
- fast experimentelle - Art suchen möchten, weil sie das
Wirkliche, Wahre, Echte einer geistgemäßen Art gar nicht
mehr empfinden können. Gerade, wer sich ganz objektiv für
den Spiritismus interessiert, ohne selbst durch ihn etwas
erforschen zu wollen, der kann die rechten Vorstellungen über
Wollen und Irrwege des Spiritismus durchschauen. - Mein
eigenes Forschen ging stets andere Wege als der Spiritismus in
irgendeiner Form. - Es war gerade auch in Weimar möglich,
interessanten Verkehr mit Spiritisten zu haben, denn in der
Künstlerschaft lebte eine Zeitlang diese Art, sich suchend
zum Geistigen zu verhalten, intensiv auf.
Moralische Intuition
Mir aber kam aus dem Verkehr
mit den beiden Seelen - Eunike hieß die weimarische - eine
Erkräftigung für meine «Philosophie
der Freiheit». Was in dieser angestrebt ist: es
ist zum ersten ein Ergebnis meiner philosophischen Denkwege in
den achtziger Jahren; es ist zum zweiten auch ein Ergebnis
meines konkreten allgemeinen Hineinschauens in die
geistige Welt. Zum dritten fand es aber eine Erkräftigung
durch das Mit-Erleben der Geist-Erlebnisse jener beiden
Seelen. In ihnen hatte ich den Aufstieg vor mir, den der
Mensch der naturwissenschaftlichen Weltanschauung verdankt. In
ihnen hatte ich aber auch die Furcht edler Seelen vor einem
Hineinleben in das Willenselement dieser Weltanschauung vor
mir. Diese Seelen bebten vor den ethischen Folgen einer
solchen Weltanschauung zurück.
In meiner «Philosophie
der Freiheit» habe ich nun die Kraft gesucht, die
aus der ethisch neutralen naturwissenschaftlichen Ideenwelt in
die Welt der sittlichen Impulse führt. Ich habe zu zeigen
versucht, wie der Mensch, der sich als in sich geschlossenes,
geistgeartetes Wesen weiß, weil er in Ideen lebt, die nicht
mehr aus dem Geist erströmend, sondern an dem materiellen
Sein angeregt sind, auch für das Sittliche aus seinem
Eigenwesen Intuition entwickeln kann. Dadurch leuchtet
das Sittliche in der frei gewordenen Individualität
als individuelle ethische Impulsivität so auf wie die Ideen
der Naturanschauung.
Die beiden Seelen waren nicht
zu dieser moralischen Intuition vorgedrungen. Daher bebten sie
(unbewußt) vor dem Leben zurück, das nur im Sinne der noch
nicht erweiterten naturwissenschaftlichen Ideen hätte
gehalten sein können.
Ich sprach damals von
«moralischer Phantasie» als von dem Quell des Sittlichen in
der menschlichen Einzel-Individualität. Ich wollte damit ganz
gewiß nicht auf diesen Quell als auf etwas nicht
Voll-Wirkliches hinweisen. Im Gegenteil, ich wollte in der
«Phantasie» die Kraft kennzeichnen, die auf allen Gebieten
der wahren geistigen Welt zum Durchbruch im individuellen
Menschen verhilft. Soll es allerdings zum wirklichen Erleben
des Geistigen kommen, so müssen dann die geistgemäßen
Erkenntniskräfte: Imagination, Inspiration, Intuition
eintreten. Der erste Strahl einer Geistoffenbarung an den
individuell sich wissenden Menschen geschieht aber durch die
Phantasie, die ja in der Art, wie sie sich von allem
Phantastischen entfernt und zum Bilde des geistig Wirklichen
wird, gerade an Goethe beobachtet werden kann.
Anna Eunike
In
der Familie, die der weimarische «unbekannte Bekannte» zurückgelassen
hatte, wohnte ich den weitaus größten Teil der Zeit, die ich in
Weimar verlebt habe. Ich hatte einen Teil der Wohnung für mich;
Frau Anna Eunike, mit der ich bald innig befreundet wurde, besorgte
für mich in aufopferndster Weise, was zu besorgen war. Sie legte
einen großen Wert darauf, daß ich ihr in ihren schweren Aufgaben
bei der Erziehung der Kinder zur Seite stand. Sie war als Witwe
mit vier Töchtern und einem Sohne nach Eunikes Tod zurückgeblieben.
Die Kinder sah ich nur, wenn
eine Gelegenheit dazu herbeigeführt wurde. Das geschah oft,
denn ich wurde ja ganz als zur Familie gehörig betrachtet.
Die Mahlzeiten, mit Ausnahme der am Morgen und der am Abend,
nahm ich aber auswärts ein.
Da, wo ich solch schönen
Familienanschluß gefunden hatte, fühlte ich mich wahrlich
nicht allein nur wohl. Wenn die jüngeren Besucher der
Goethegesellschaftsversammlungen aus Berlin, die sich enger an
mich angeschlossen hatten, einmal ganz gemütlich «unter
sich» sein wollten, da kamen sie zu mir in das Eunike'sche
Haus. Und ich habe, nach der Art, wie sie sich verhalten
haben, allen Grund, anzunehmen, daß sie sich da recht wohl
fühlten.
Gerne fand sich auch Otto Erich
Hartleben, wenn er in Weimar war, da ein. Das Goethe-Brevier,
das er herausgegeben hat, ist da in wenigen Tagen von uns
beiden zusammengestellt worden.
Von meinen eigenen größeren
Schriften sind dort die «Philosophie
der Freiheit» und «Nietzsche, ein Kämpfer gegen
seine Zeit» entstanden.
Und ich denke, auch mancher
weimarische Freund verlebte ganz gerne ein - oder auch mehrere
- Stündchen bei mir im Eunike'schen Hause.
August Fresenius
Da denke ich vor allem an
denjenigen, mit dem ich in einer echten freundschaftlichen
Liebe verbunden war, Dr. August Fresenius. Er war, von einem
gewissen Zeitpunkte an, ständiger Mitarbeiter am Archiv
geworden. Vorher gab er die «Deutsche Literaturzeitung»
heraus. Seine Redaktion war ganz allgemein als eine
mustergültige angesehen worden. Ich hatte viel gegen
Philologie, wie sie damals, namentlich unter der Führung der
Scherer-Anhänger war, auf dem Herzen. August Fresenius
entwaffnete mich immer wieder durch die Art, wie er Philologe
war. Und er machte nicht einen Augenblick daraus ein Hehl,
daß er Philologe und nur rechter Philologe sein wolle.
Aber bei ihm war Philologie wirklich Liebe zum Worte,
die den ganzen Menschen lebenskräftig erfüllte; und das Wort
war ihm die menschliche Offenbarung, in der sich
alle Gesetzmäßigkeiten des Weltalls spiegelten. Wer die
Geheimnisse der Worte wahrhaft durchschauen will, der braucht
dazu die Einsicht in alle Geheimnisse des Daseins. Der
Philologe kann daher gar nicht anders, als ein universelles
Wissen pflegen. Richtige philologische Methode entsprechend
angewendet, kann von ganz Einfachem ausgehend, in weite und
bedeutungsvolle Gebiete des Lebens starke Beleuchtungen
werfen.
Fresenius zeigte dies damals an
einem Beispiele, das mein Interesse intensiv in Anspruch nahm.
Wir sprachen über die Sache viel, bevor er sie in einer
kurzen, aber schwerwiegenden Miszelle im «Goethe-Jahrbuch»
veröffentlichte.
Bis zu dieser Entdeckung
Fresenius' hatten alle Persönlichkeiten, die sich mit der
Erklärung des Goethe'schen «Faust» befaßt hatten, eine
Äußerung Goethes, die dieser fünf Tage vor seinem Tode zu
Wilhelm von Humboldt gemacht hatte, mißverstanden. Goethe
hatte die Äußerung getan: Es sind über sechzig Jahre, daß
die Konzeption des «Faust» bei mir, jugendlich von
vornherein klar, die weitere Reihenfolge hingegen weniger
ausführlich vorlag. Die Erklärer hatten das «von
vornherein» so genommen, als ob Goethe vom Anfang an eine
Idee oder einen Plan des ganzen Faustdramas gehabt hätte, in
die er dann die Einzelheiten mehr oder weniger
hineingearbeitet hätte. Auch mein lieber Lehrer und Freund,
Karl Julius Schröer, war dieser Meinung.
Man bedenke: wäre dieses
richtig, dann hätte man in Goethes «Faust» ein Werk vor
sich, das Goethe als junger Mann in dem Hauptverlauf
konzipiert hätte. Man müßte zugeben, daß es der
Goethe'schen Seelenverfassung möglich gewesen wäre, so aus
einer allgemeinen Idee heraus zu arbeiten, daß die
ausführenden Arbeiten unter dem Feststehen der Idee sechzig
Jahre dauern können. Daß dies nicht so ist, zeigte
Fresenius' Entdeckung in ganz unwiderleglicher Art. Er legte
dar, daß Goethe niemals das Wort «von vornherein» so
brauchte, wie es ihm die Erklärer zuschrieben. Er sagte z.
B., er habe ein Buch «von vornherein» gelesen, das weitere
nicht mehr. Er gebrauchte das Wort «von vornherein» nur im räumlichen
Sinne. Damit war bewiesen, daß alle Erklärer des
«Faust» Unrecht hatten, und daß Goethe nichts über einen
«von vornherein» bestandenen Plan des «Faust» gesagt habe,
sondern nur, daß ihm als jungem Menschen die ersten
Partien klar waren, und daß er hie und da etwas von dem
Folgenden ausgeführt habe.
Damit war durch rechte
Anwendung der philologischen Methode ein bedeutsames Licht auf
die ganze Goethe-Psychologie geworfen.
Ich wunderte mich damals nur,
daß etwas, das die weitgehendsten Folgen für die Auffassung
des Goethe'schen Geistes hätte haben sollen, eigentlich,
nachdem es durch die Veröffentlichung im «Goethe-Jahrbuch»
bekannt geworden war, wenig Eindruck gerade bei denen gemacht
hat, die es am meisten hätte interessieren sollen.
Aber es wurden mit August
Fresenius nicht etwa bloß philologische Dinge besprochen.
Alles, was damals die Zeit bewegte, was uns Interessierendes
in Weimar oder außerhalb vorging, war Inhalt unserer langen
Gespräche. Denn wir waren viel zusammen. Wir führten über
manches zuweilen aufgeregte Diskussionen; alles aber endete
immer in völliger Harmonie. Denn wir waren ja gegenseitig von
dem Ernste überzeugt, von dem unsere Anschauungen getragen
waren. Um so bitterer ist es mir, auf die Tatsache
zurückblicken zu müssen, daß auch meine Freundschaft zu
August Fresenius einen Riß erhalten hat im Zusammenhang mit
den Mißverständnissen, die sich an mein Verhältnis zum
Nietzsche-Archiv und zu Frau Dr. Förster-Nietzsche
angeschlossen haben. Die Freunde konnten kein Bild gewinnen
von dem, was eigentlich vorgegangen war. Ich konnte ihnen kein
sie befriedigendes geben. Denn es war eigentlich nichts
vorgegangen. Und alles beruhte auf mißverständlichen
Illusionen, die sich im Nietzsche-Archiv festgesetzt hatten.
Was ich sagen konnte, enthalten meine später erschienenen
Artikel im «Magazin für Literatur». Ich bedauerte das
Mißverständnis tief, denn die Freundschaft zu August
Fresenius war stark in meinem Herzen begründet.
Franz Ferdinand
Heitmüller
In eine andere Freundschaft, an
die ich seither oft gedacht habe, trat ich zu Franz
Ferdinand Heitmüller, der ebenfalls, später als Wähle,
v. d. Hellen und ich, in den Kreis der Archiv-Mitarbeiter
eingetreten war.
Heitmüller lebte sich als eine
feine, künstlerisch empfindende Seele dar. Er entschied
eigentlich alles durch die künstlerische Empfindung.
Intellektualität lag ihm ganz ferne. Durch ihn kam etwas
Künstlerisches in den ganzen Ton, in dem man im Archiv
sprach. Feinsinnige Novellen lagen damals von ihm vor. Er war
durchaus kein schlechter Philologe; und er arbeitete, was er
als solcher für das Archiv zu arbeiten hatte, gewiß nicht
schlechter als ein anderer. Aber er stand stets in einer Art
innerer Opposition zu dem, was da im Archiv gearbeitet wurde.
Namentlich zu der Art, wie man diese Arbeit auffaßte. Durch
ihn kam es, daß eine Zeitlang recht lebhaft vor unseren
Seelen stand, wie Weimar dereinst die Stätte geistig regster
und vornehmster Produktion war; und wie man sich jetzt damit
befriedigte, dem einst Produzierten wortglauberisch,
«Lesearten feststellend» und höchstens interpretierend
nachzugehen. Heitmüller schrieb anonym, was er darüber zu
sagen hatte, in der S. Fischer'schen «Neuen Deutschen
Rundschau» in Novellenform: «Die versunkene Viheta.» Oh,
wie gab man sich damals Mühe, zu erraten, wer so das einst
geistig blühende Weimar zur «versunkenen Stadt» gemacht
hatte.
Heitmüller lebte mit seiner
Mutter, einer außerordentlich lieben Dame, in Weimar. Diese
befreundete sich mit Frau Anna Eunike und verkehrte gerne in
deren Haus. Und so hatte ich denn die Freude, auch die beiden
Heitmüllers oft in dem Hause zu sehen, in dem ich wohnte.
Der Maler Joseph
Rolletschek
Eines Freundes muß ich
gedenken, der ziemlich früh während meines Weimarer
Aufenthaltes in meine Kreise trat, und der intim
freundschaftlich mit mir verkehrte, bis ich wegging, ja auch
noch dann, als ich später hie und da zu Besuch nach Weimar
kam. Es war der Maler Joseph Rolletschek. Er war
Deutschböhme, und nach Weimar, angezogen von der Kunstschule,
gekommen. Eine Persönlichkeit, die durch und durch
liebenswürdig wirkte, und mit der man im Gespräche gerne das
Herz aufschloß. Rolletschek war sentimental und leicht
zynisch zu gleicher Zeit; er war pessimistisch auf der einen
Seite und geneigt, das Leben so gering zu schätzen auf der
ändern Seite, daß es ihm gar nicht der Mühe wert erschien,
die Dinge so zu werten, daß zum Pessimismus Anlaß sei. Viel
mußte, wenn er dabei war, über die Ungerechtigkeiten des
Lebens gesprochen werden; und endlos konnte er sich ereifern
über das Unrecht, das die Welt an dem armen Schiller
gegenüber dem schon vom Schicksal bevorzugten Goethe begangen
habe.
Trotzdem täglicher Verkehr mit
solchen Persönlichkeiten den Austausch des Denkens und
Empfindens fortdauernd rege erhielt, war es mir in dieser
weimarischen Zeit doch nicht eigen, auch zu denen ich sonst
intim mich verhielt, in der unmittelbaren Art von meinem
Erleben der geistigen Welt zu sprechen. Ich hielt dafür, daß
eingesehen werden müsse, wie der rechte Weg in die geistige
Welt zunächst zum Erleben der reinen Ideen führt. Das war
es, was ich in allen Formen geltend machte, daß der Mensch,
wie er Farben, Töne, Wärmequalitäten usw. in seinem
bewußten Erleben haben könne, er ebenso reine, von
aller äußeren Wahrnehmung unbeeinflußte, mit einem
völligen Eigenleben auftretende Ideen erleben kann. Und in diesen
Ideen ist der wirkliche, lebendige Geist. Alles
übrige geistige Erleben im Menschen, so sagte ich damals,
müsse sich aufsprießend im Bewußtsein aus diesem
Ideenerleben ergeben.
Daß ich so das geistige
Erleben zunächst im Ideen-Erleben suchte, führte ja zu dem
Mißverständnis, von dem ich schon gesprochen habe, daß
selbst intime Freunde die lebendige Wirklichkeit in den Ideen
nicht sahen und mich für einen Rationalisten, oder
Intellektualisten nahmen.
Max Christlieb
Am energischesten im
Verständnis der lebendigen Wirklichkeit der Ideenwelt
verhielt sich damals eine jüngere Persönlichkeit, die
öfters nach Weimar kam, Max Christlieb. Es war ziemlich im
Anfange meines Weimarer Aufenthaltes, daß ich diesen nach
Geist-Erkenntnis suchenden Mann öfters sah. Er hatte damals
die Vorbereitung zum evangelischen Pfarrer hinter sich, machte
eben sein Doktorexamen und bereitete sich darauf vor, nach
Japan zu einer Art Missionsdienst zu gehen, was er auch dann
bald tat.
Dieser Mann sah - ich darf
sagen begeistert — ein, wie man im Geiste lebt, wenn man in
reinen Ideen lebt, und wie, da in der reinen Ideenwelt die
ganze Natur vor der Erkenntnis aufleuchten muß, man in aller
Materie nur Schein (Illusion) vor sich habe, wie durch
die Ideen alles physische Sein als Geist sich enthülle. —
Es war mir tief befriedigend, bei einer Persönlichkeit ein
schier restloses Verständnis für die Geistwesenheit zu
finden. Es war Verständnis für das Geist-Sein im Ideellen.
Da lebt der Geist
allerdings so, daß aus dem Meere des allgemeinen ideellen
Geist-Seins noch nicht empfindende, schaffende
Geist-Individualitäten sich für den wahrnehmenden Blick
loslösen. Von diesen Geist-Individualitäten konnte ich ja zu
Max Christlieb noch nicht sprechen. Das hätte seinem schönen
Idealismus zu viel zugemutet. Aber echtes Geist-Sein, das
konnte man mit ihm besprechen. Er hatte sich in alles
gründlich hineingelesen, was ich bis dahin geschrieben hatte.
Und ich hatte im Beginn der neunziger Jahre den Eindruck: Max
Christlieb hat die Gabe, so in die Geist-Welt durch die
lebendige Geistigkeit des Ideellen einzudringen, wie ich es
für den angemessensten Weg halten mußte. Daß er dann
später diese Orientierung nicht voll eingehalten hat, sondern
eine etwas andere Richtung genommen hat, das hier zu
besprechen, ist keine Veranlassung.
TB 636 (XX.), S
210 ff
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