1897
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Weimar
Ein tiefgehender
Umschwung des Seelenlebens
Am Ende meiner weimarischen
Zeit hatte ich sechsunddreißig Lebensjahre hinter mir. Schon
ein Jahr vorher hatte in meiner Seele ein tiefgehender
Umschwung seinen Anfang genommen. Mit meinem Weggang von
Weimar wurde er einschneidendes Erlebnis. Er war ganz
unabhängig von der Änderung meiner äußeren
Lebensverhältnisse, die ja auch eine große war. Das Erfahren
von dem, was in der geistigen Welt erlebt werden kann, war mir
immer eine Selbstverständlichkeit; das wahrnehmende Erfassen
der Sinneswelt bot mir die größten Schwierigkeiten. Es war,
als ob ich das seelische Erleben nicht so weit in die
Sinnesorgane hätte ergießen können, um, was diese erlebten,
auch vollinhaltlich mit der Seele zu verbinden.
Das änderte sich völlig vom
Beginne des sechsunddreißigsten Lebensjahres angefangen. Mein
Beobachtungsvermögen für Dinge, Wesen und Vorgänge der
physischen Welt gestaltete sich nach der Richtung der
Genauigkeit und Eindringlichkeit um. Das war sowohl im
Wissenschaftlichen wie im äußeren Leben der Fall. Während
es vorher für mich so war, daß große wissenschaftliche
Zusammenhänge, die auf geistgemäße Art zu erfassen sind,
ohne alle Mühe mein seelisches Eigentum wurden und das
sinnliche Wahrnehmen und namentlich dessen
erinnerungsgemäßes Behalten mir die größten Anstrengungen
machte, wurde jetzt alles anders. Eine vorher nicht vorhandene
Aufmerksamkeit für das Sinnlich-Wahrnehmbare erwachte in mir.
Einzelheiten wurden mir wichtig; ich hatte das Gefühl, die
Sinneswelt habe etwas zu enthüllen, was nur sie enthüllen
kann. Ich betrachtete es als ein Ideal, sie kennen zu lernen
allein durch das, was sie zu sagen hat, ohne daß der
Mensch etwas durch sein Denken oder durch einen ändern in
seinem Innern auftretenden Seelen-Inhalt in sie hineinträgt.
Ich wurde gewahr, daß ich
einen menschlichen Lebensumschwung in einem viel spätem
Lebensabschnitt erlebte als andere. Ich sah aber auch, daß
das für das Seelenleben ganz bestimmte Folgen hat. Ich fand,
wie die Menschen, weil sie früh vom seelischen Weben in der
geistigen Welt zum Erleben des Physischen übergehen, zu
keinem reinen Erfassen weder der geistigen, noch der
physischen Welt gelangen. Sie vermischen fortdauernd ganz
instinktiv dasjenige, was die Dinge ihren Sinnen sagen, mit
dem, was die Seele durch den Geist erlebt und was dann von ihr
mitgebraucht wird, um sich die Dinge «vorzustellen».
Für mich war in der
Genauigkeit und Eindringlichkeit der sinnenfälligen
Beobachtung das Beschreiten einer ganz neuen Welt gegeben. Das
von allem Subjektiven in der Seele freie, objektive
Sich-Gegenüberstellen der Sinneswelt offenbarte etwas,
worüber eine geistige Anschauung nichts zu sagen hatte.
Das warf aber auch sein Licht
auf die Welt des Geistes zurück. Denn indem die Sinneswelt im
sinnlichen Wahrnehmen selbst ihr Wesen enthüllte, war für
das Erkennen der Gegenpol da, um das Geistige in seiner vollen
Eigenart, unvermischt mit dem Sinnlichen, zu würdigen.
Besonders einschneidend in das
Seelenleben wirkte dieses, weil es sich auch auf dem Gebiete
des menschlichen Lebens zeigte. Meine Beobachtungsgabe stellte
sich darauf ein, dasjenige ganz objektiv, rein in der
Anschauung hinzunehmen, was ein Mensch darlebte. Mit
Ängstlichkeit vermied ich, Kritik zu üben an dem, was die
Menschen taten, oder Sympathie und Antipathie in meinem
Verhältnis zu ihnen geltend zu machen: ich wollte «den
Menschen, wie er ist, einfach auf mich wirken lassen».
Ich fand bald, daß ein solches
Beobachten der Welt wahrhaft in die geistige Welt
hineinführt. Man geht im Beobachten der physischen Welt ganz
aus sich heraus; und man kommt gerade dadurch mit einem
gesteigerten geistigen Beobachtungsvermögen wieder in die
geistige Welt hinein.
So waren damals die geistige
und die sinnenfällige Welt in ihrer vollen Gegensätzlichkeit
mir vor die Seele getreten. Aber ich empfand den Gegensatz
nicht als etwas, das durch irgendwelche philosophische
Gedanken — etwa zu einem «Monismus» - ausgleichend
geführt werden müßte. Ich empfand vielmehr, daß ganz voll
mit der Seele in diesem Gegensatz drinnen stehen,
gleichbedeutend ist mit «Verständnis für das Leben haben».
Wo die Gegensätze als ausgeglichen erlebt werden, da herrscht
das Lebenslose, das Tote. Wo Leben ist, da wirkt der
unausgeglichene Gegensatz; und das Leben selbst ist die
fortdauernde Überwindung, aber zugleich Neuschöpfung von
Gegensätzen.
Aus alledem drang in mein
Gefühlsleben eine ganz intensive Hingabe nicht an ein
gedankenmäßiges theoretisches Erfassen, sondern an ein
Erleben des Rätselhaften in der Welt.
Ich stellte, um meditativ das
rechte Verhältnis zur Welt zu gewinnen, immer wieder vor
meine Seele: Da ist die Welt voller Rätsel. Erkenntnis
möchte an sie herankommen. Aber sie will zumeist einen
Gedankeninhalt als Lösung eines Rätsels aufweisen. Doch die
Rätsel — so mußte ich mir sagen — lösen sich nicht
durch Gedanken. Diese bringen die Seele auf den Weg der
Lösungen; aber sie enthalten die Lösungen nicht. In der
wirklichen Welt entsteht ein Rätsel; es ist als
Erscheinung da; seine Lösung ersteht ebenso in der
Wirklichkeit. Es tritt etwas auf, das Wesen oder Vorgang
ist; und das die Lösung des ändern darstellt.
So sagte ich mir auch: die
ganze Welt, außer dem Menschen, ist ein Rätsel, das
eigentliche Welträtsel; und der Mensch ist selbst die
Lösung.
Dadurch konnte ich denken: der
Mensch vermag in jedem Augenblick etwas über das Welträtsel
zu sagen. Was er sagt, kann aber stets nur so viel an Inhalt
über die Lösung geben, als er selbst über sich als Mensch
erkannt hat.
So wird auch das Erkennen zu
einem Vorgang in der Wirklichkeit. Fragen offenbaren sich in
der Welt; Antworten offenbaren sich als Wirklichkeiten;
Erkenntnis im Menschen ist dessen Teilnahme an dem, was sich
die Wesen und Vorgänge in der geistigen und physischen Welt
zu sagen haben.
Es war dies alles zwar schon
andeutungsweise, an einigen Stellen sogar ganz deutlich in den
Schriften enthalten, die von mir bis in die hier geschilderte
Zeit gedruckt sind. Allein in dieser Zeit wurde es
intensivstes Seelen-Erlebnis, das die Stunden erfüllte, in
denen Erkenntnis meditierend auf die Weltgründe blicken
wollte. Und was die Hauptsache ist: dieses Seelen-Erlebnis
ging in seiner damaligen Stärke aus dem objektiven Hingeben
an die reine, ungetrübte Sinnes-Beobachtung hervor. Mir war
in dieser Beobachtung eine neue Welt gegeben; ich mußte aus
dem, was bisher erkennend in meiner Seele war, dasjenige
suchen, was das seelische Gegen-Erlebnis war, um das
Gleichgewicht mit dem Neuen zu bewirken.
Sobald ich die ganze
Wesenhaftigkeit der Sinneswelt nicht dachte, sondern
sinnlich anschaute, ward ein Rätsel als Wirklichkeit
hingestellt. Und im Menschen selbst liegt dessen Lösung.
«wirklichkeitsgemäße Erkenntnis»
Es lebte in meinem ganzen
Seelenwesen die Begeisterung für dasjenige, was ich später
«wirklichkeitsgemäße Erkenntnis» nannte. Und namentlich
war mir klar, daß der Mensch mit einer solchen
«wirklichkeitsgemäßen Erkenntnis» nicht in irgendeiner
Weltecke stehen könne, während sich außer ihm das Sein und
Werden abspielt. Erkenntnis wurde mir dasjenige, was nicht
allein zum Menschen, sondern zu dem Sein und Werden der Welt
gehört. Wie Wurzel und Stamm eines Baumes nichts Vollendetes
sind, wenn sie nicht in die Blüte sich hineinleben, so sind
Sein und Werden der Welt nichts wahrhaft Bestehendes, wenn sie
nicht zum Inhalt der Erkenntnis weiterleben. Auf diese
Einsicht blickend, wiederholte ich bei jeder Gelegenheit, bei
der es angebracht war: der Mensch ist nicht das Wesen, das für
sich den Inhalt der Erkenntnis schafft, sondern er
gibt mit seiner Seele den Schauplatz her, auf dem die Welt ihr
Dasein und Werden zum Teil erst erlebt. Gäbe es nicht
Erkenntnis, die Welt bliebe unvollendet.
In solchem erkennenden Einleben
in die Wirklichkeit der Welt fand ich immer mehr die
Möglichkeit, dem Wesen der menschlichen Erkenntnis einen
Schutz zu schaffen gegen die Ansicht, als ob der Mensch in
dieser Erkenntnis ein Abbild oder dergleichen der Welt
schaffe. Zum Mitschöpfer an der Welt selbst wurde er für
meine Idee des Erkennens, nicht zum Nach-schaffer von
etwas, das auch aus der Welt wegbleiben könnte, ohne daß
diese unvollendet wäre.
Aber auch zur «Mystik» hin
wurde dadurch für mein Erkennen immer größere Klarheit
geschaffen. Das Mit-Erleben des Weltgeschehens von Seiten des
Menschen wurde aus dem unbestimmten mystischen Erfühlen
herausgezogen und in das Licht gerückt, in dem die Ideen sich
offenbaren. Die Sinnenwelt, rein in ihrer Eigenart angeschaut,
ist zunächst Ideen-los wie die Wurzel und der Stamm des
Baumes Blüte-los sind. Aber wie die Blüte nicht ein sich
verdunkelndes Hinschwinden des Pflanzen-Daseins ist, sondern
eine Umformung dieses Daseins selbst, so ist die auf die
Sinneswelt bezügliche Ideenwelt im Menschen eine Umformung
des Sinnesdaseins, nicht ein mystisch-dunkles Hineinwirken von
etwas Unbestimmtem in die Seelenwelt des Menschen. So hell wie
in ihrer Art die physischen Dinge und Vorgänge im Lichte der
Sonne, so geistig hell muß erscheinen, was als Erkenntnis in
der Menschen-Seele lebt.
Es war ein ganz klares
Seelen-Erleben, was in dieser Orientierung damals in mir
vorhanden war. Doch im Übergehen dazu, diesem Erleben
Ausdruck zu verschaffen, lag etwas außerordentlich
Schwieriges.
Es entstanden in meiner letzten
weimarischen Zeit mein Buch «Goethes Weltanschauung», und
die Einleitungen zum letzten Band, den ich für die Ausgabe in
«Kürschners Deutscher National-Literatur» herauszugeben
hatte. Ich sehe da insbesondere auf dasjenige hin, was ich als
Einleitung zu den von mir herausgegebenen «Sprüchen in
Prosa» von Goethe geschrieben habe und vergleiche dieses mit
der Formulierung des Inhaltes des Buches «Goethes
Weltanschauung». Man kann, wenn man die Dinge nur an der
Oberfläche betrachtet, diesen oder jenen Widerspruch
konstruieren zwischen dem Einen und dem Andern in diesen
meinen fast in der ganz gleichen Zeit entstandenen
Darstellungen. Sieht man aber nach dem, was unter der
Oberfläche lebt, was in den an der Oberfläche sich
nur gestaltenden Formulierungen sich als Anschauung der
Lebens-, Seelen- und Geistes-Tiefen offenbaren will, so wird
man nicht Widersprüche finden, sondern gerade in meinen
damaligen Arbeiten ein Ringen nach Ausdruck. Ein
Ringen, eben das in die Weltanschauungsbegriffe
hineinzubringen, was ich hier als Erlebnis von der Erkenntnis,
von dem Verhältnis des Menschen zur Welt, von dem
Rätsel-Werden und Rätsel-Losen innerhalb der wahren
Wirklichkeit geschildert habe.
Als ich etwa dreieinhalb Jahre
später mein Buch «Welt- und Lebensanschauungen im
neunzehnten Jahrhundert» schrieb, war manches bei mir wieder
weiter; und ich konnte mein hier dargestelltes
Erkenntnis-Erlebnis für die Schilderung der einzelnen, in der
Geschichte auftretenden Weltanschauungen fruchtbar machen.
Wer Schriften deshalb ablehnen
will, weil in ihnen das seelische Leben erkennend ringt, das
heißt im Lichte der hier gegebenen Darstellung, in ihnen das
Weltenleben in seinem Ringen auf dem Schauplatze der
Menschenseele weiter sich entfaltet, dem kann es — meiner
Einsicht nach — nicht gelingen, mit seiner erkennenden Seele
in die wahre Wirklichkeit unterzutauchen. Das ist etwas, das
sich als Anschauung gerade damals in mir befestigt hat,
während es meine Begriffswelt lange schon durchpulst hatte.
Meditieren als seelische Lebensnotwendigkeit
Im Zusammenhange mit dem
Umschwung in meinem Seelenleben stehen für mich
inhaltsschwere innere Erfahrungen. — Ich erkannte im seelischen
Erleben das Wesen der Meditation und deren Bedeutung für
die Einsichten in die geistige Welt. Ich hatte auch früher
schon ein meditatives Leben geführt; doch kam der Antrieb
dazu aus der ideellen Erkenntnis seines Wertes für eine
geistgemäße Weltanschauung. Nunmehr trat in meinem Innern
etwas auf, das die Meditation forderte wie etwas, das meinem
Seelenleben eine Daseinsnotwendigkeit wurde. Das errungene
Seelenleben brauchte die Meditation, wie der Organismus auf
einer gewissen Stufe seiner Entwickelung die Lungenatmung
braucht.
Wie die gewöhnliche
begriffliche Erkenntnis, die an der Sinnesbeobachtung gewonnen
wird, sich zu der Anschauung des Geistigen verhält, das wurde
mir in diesem Lebensabschnitt aus einem mehr ideellen Erleben
zu einem solchen, an dem der ganze Mensch beteiligt
ist. Das ideelle Erleben, das aber das wirkliche Geistige doch
in sich aufnimmt, ist das Element, aus dem meine «Philosophie
der Freiheit» geboren ist. Das Erleben durch den ganzen
Menschen enthält die Geisteswelt in einer viel wesenhafteren
Art als das ideelle Erleben. Und doch ist dieses schon
eine obere Stufe gegenüber dem begrifflichen Erfassen der
Sinneswelt. Im ideellen Erleben erfaßt man nicht die
Sinneswelt, sondern eine gewissermaßen unmittelbar an sie
angrenzende geistige Welt.
Indem all das damals nach
Ausdruck und Erlebnis in meiner Seele suchte, standen drei
Arten von Erkenntnis vor meinem Innern. Die erste Art ist
die an der Sinnesbeobachtung gewonnene Begriffs-Erkenntnis.
Sie wird von der Seele angeeignet und dann nach Maßgabe der
vorhandenen Gedächtniskraft im Innern behalten.
Wiederholungen des anzueignenden Inhaltes haben nur die
Bedeutung, daß dieser gut behalten werden könne. Die zweite
Art der Erkenntnis ist die, bei der nicht an der
Sinnesbeobachtung Begriffe erworben, sondern diese unabhängig
von den Sinnen im Innern erlebt werden. Es wird dann das
Erleben durch seine eigene Wesenheit Bürge dafür, daß die
Begriffe in geistiger Wirklichkeit gegründet sind. Zu dem
Erfahren, daß Begriffe die Bürgschaft geistiger Wirklichkeit
enthalten, kommt man mit derselben Sicherheit aus der Natur
der Erfahrung bei dieser Art von Erkenntnis, wie man bei der
Sinneserkenntnis die Gewißheit erlangt, daß man nicht
Illusionen, sondern physische Wirklichkeit vor sich habe.
Bei dieser ideell-geistigen
Erkenntnis genügt nun schon nicht mehr - wie bei der
sinnlichen — ein Aneignen, das dann dazu führt, daß man
sie für das Gedächtnis hat. Man muß den
Aneignungsvorgang zu einem fortdauernden machen. Wie es für
den Organismus nicht genügt, eine Zeitlang geatmet zu haben,
um dann in der Atmung das Angeeignete im weiteren
Lebensprozeß zu verwenden, so genügt ein der
Sinneserkenntnis ähnliches Aneignen für die ideell-geistige
Erkenntnis nicht. Für sie ist notwendig, daß die Seele in
einer fortdauernden lebendigen Wechselwirkung stehe mit der
Welt, in die man sich durch diese Erkenntnis versetzt. Das
geschieht durch die Meditation, die — wie oben angedeutet
— aus der ideellen Einsicht in den Wert des Meditierens
hervorgeht. Diese Wechselwirkung hatte ich schon lange vor meinem
Seelenumschwunge (im fünfunddreißigsten Lebensjahre)
gesucht.
Was jetzt eintrat, war
Meditieren als seelische Lebensnotwendigkeit. Und damit stand
die dritte Art der Erkenntnis vor meinem Innern. Sie
führte nicht nur in weitere Tiefen der geistigen Welt,
sondern gewährte auch ein intimes Zusammenleben mit dieser.
Ich mußte, eben aus innerer Notwendigkeit, eine ganz bestimmte Art von Vorstellungen
immer wieder in den Mittelpunkt meines Bewußtseins rücken.
Es war diese:
Lebe ich mich mit meiner Seele
in Vorstellungen ein, die an der Sinneswelt gebildet sind, so
bin ich im unmittelbaren Erfahren nur imstande, von der
Wirklichkeit des Erlebten so lange zu sprechen, als ich
sinnlich beobachtend einem Dinge oder Vorgange
gegenüberstehe. Der Sinn verbürgt mir die Wahrheit des
Beobachteten, solange ich beobachte.
Nicht so, wenn ich mich durch
ideell-geistige Erkenntnis mit Wesen oder Vorgängen der
geistigen Welt verbinde. Da tritt in der Einzel-Anschauung die
unmittelbare Erfahrung von dem über die Anschauungsdauer
hinausgehenden Bestand des Wahrgenommenen ein. Erlebt man zum
Beispiel das «Ich» des Menschen als dessen ureigenste innere
Wesenheit, so weiß man im anschauenden Erleben, daß dieses
«Ich» vor dem Leben im physischen Leibe war und nach
demselben sein wird. Was man so im «Ich» erlebt,
offenbart dieses unmittelbar, wie die Rose ihre Röte im
unmittelbaren Wahrnehmen offenbart.
In einer solchen aus innerer
geistiger Lebensnotwendigkeit geübten Meditation entwickelt
sich immer mehr das Bewußtsein von einem «inneren geistigen
Menschen», der in völliger Loslösung von dem physischen
Organismus im Geistigen leben, wahrnehmen und sich bewegen
kann. Dieser in sich selbständige geistige Mensch trat in
meine Erfahrung unter dem Einfluß der Meditation. Das Erleben
des Geistigen erfuhr dadurch eine wesentliche Vertiefung. Daß
die sinnliche Erkenntnis durch den Organismus entsteht, davon
kann die für diese Erkenntnis mögliche Selbstbeobachtung ein
genügendes Zeugnis geben. Aber auch die ideell-geistige
Erkenntnis ist von dem Organismus noch abhängig. Die
Selbstbeobachtung zeigt dafür dieses: Für die
Sinnesbeobachtung ist der einzelne Erkenntnisakt an den
Organismus gebunden. Für die ideell-geistige Erkenntnis ist
der einzelne Akt ganz unabhängig von dem physischen
Organismus; daß aber solche Erkenntnis überhaupt durch den
Menschen entfaltet werden kann, hängt davon ab, daß im
allgemeinen das Leben im Organismus vorhanden ist. Bei der
dritten Art von Erkenntnis ist es so, daß sie nur dann durch
den geistigen Menschen zustande kommen kann, wenn er sich von
dem physischen Organismus so frei macht, als ob dieser
gar nicht vorhanden wäre.
Ein Bewußtsein von alledem
entwickelte sich unter dem Einfluß des geschilderten
meditativen Lebens. Ich konnte die Meinung, man unterliege
durch eine solche Meditation einer Art von Autosuggestion,
deren Ergebnis die folgende Geist-Erkenntnis sei, für mich
wirksam widerlegen. Denn von der Wahrheit des geistigen
Erlebens hatte mich schon die allererste ideellgeistige
Erkenntnis überzeugen können. Und zwar wirklich die
allererste, nicht bloß die im Meditieren an ihrem Leben erhaltene,
sondern die, welche ihr Leben begann. Wie man in
besonnenem Bewußtsein ganz exakt Wahrheit feststellt, das
hatte ich schon getan für das, was in Frage kommt, bevor überhaupt
von Autosuggestion hat die Rede sein können. Es konnte sich
bei dem, was die Meditation errungen hatte, also nur um das
Erleben von etwas handeln, dessen Wirklichkeit zu prüfen ich vor
dem Erleben schon völlig imstande war.
All dieses, das mit meinem
Seelen-Umschwung verbunden war, zeigte sich im Zusammenhang
mit einem Ergebnis möglicher Selbstbeobachtung, das ebenso
wie das geschilderte für mich inhaltschwere Bedeutung gewann.
Ich fühlte, wie das Ideelle
des vorangehenden Lebens nach einer gewissen Richtung
zurücktrat und das Willensmäßige an dessen Stelle kam.
Damit das möglich ist, muß sich das Wollen bei der
Erkenntnis-Entfaltung aller subjektiven Willkür enthalten
können. Der Wille nahm in dem Maße zu, als das Ideelle
abnahm. Und der Wille übernahm auch das geistige Erkennen,
das vorher fast ganz von dem Ideellen geleistet worden ist.
Ich hatte ja schon erkannt, daß die Gliederung des
Seelenlebens in Denken, Fühlen und Wollen nur eingeschränkte
Bedeutung hat. In Wahrheit ist im Denken ein Fühlen und
Wollen mitenthalten; nur ist über die letzteren das Denken
vorherrschend. Im Fühlen lebt Denken und Wollen, im Wollen
Denken und Fühlen ebenso. Nun wurde mir Erlebnis, wie das
Wollen mehr vom Denken, das Denken mehr vom Wollen aufnahm.
Führt auf der einen Seite das
Meditieren zu der Erkenntnis des Geistigen, so ist
andererseits die Folge solcher Ergebnisse der
Selbstbeobachtung die innere Verstärkung des geistigen, vom
Organismus unabhängigen Menschen und die Befestigung seines
Wesens in der Geisteswelt, so wie der physische Mensch seine
Befestigung in der physischen Welt hat. — Nur wird man
gewahr, wie die Befestigung des geistigen Menschen in der
Geisteswelt sich ins Unermeßliche steigert, wenn der
physische Organismus diese Befestigung nicht beschränkt,
während die Befestigung des physischen Organismus in der
physischen Welt - mit dem Tode — dem Zerfalle weicht, wenn
der geistige Mensch diese Befestigung nicht mehr von
sich aus unterhält.
Mit solch einem erlebenden
Erkennen ist nun jede Form einer Erkenntnistheorie
unverträglich, die das Wissen des Menschen auf ein gewisses
Gebiet beschränkt, und die «jenseits» desselben die
«Urgründe», die «Dinge an sich» als für das menschliche
Wissen Unzugängliches hinstellt. Jedes «Unzugängliche» war
mir ein solches nur «zunächst»; und es kann nur so
lange unzugänglich verbleiben, als der Mensch in seinem
Innern nicht das Wesenhafte entwickelt hat, das mit dem vorher
Unbekannten verwandt ist und daher im erlebenden Erkennen mit
ihm zusammenwachsen kann. Diese Fähigkeit des Menschen, in
jede Art des Seins hineinwachsen zu können, wurde für
mich etwas, das der anerkennen muß, der in die
Stellung des Menschen zur Welt im rechten Lichte sehen will.
Wer zu dieser Anerkennung sich nicht durchringen kann, dem
vermag Erkenntnis nicht etwas wirklich zur Welt Gehöriges zu
geben, sondern nur ein der Welt gleichgültiges Nachbilden
irgend eines Teiles des Welt-Inhaltes. Bei solcher bloß
nachbildenden Erkenntnis kann der Mensch aber nicht in sich
ein Wesen ergreifen, das ihm als vollbewußte
Individualität ein inneres Erleben davon gibt, er stehe im
Weltenall fest.
Mir kam es darauf an, von
Erkenntnis so zu sprechen, daß das Geistige nicht bloß anerkannt,
sondern so anerkannt werde, daß der Mensch es mit
seinem Anschauen erreichen könne. Und wichtiger erschien es
mir, festzuhalten, daß die «Urgründe» des Daseins innerhalb
dessen liegen, was der Mensch in seinem Gesamterleben
erreichen kann, als ein unbekanntes Geistiges in irgend
einem «jenseitigen» Gebiet gedanklich anzuerkennen.
Deshalb lehnte mein Anschauen
die Denkungsart ab, die den Inhalt der sinnenfälligen
Empfindung (Farbe, Wärme, Ton usw.) nur für etwas hält, das
eine unbekannte Außenwelt durch die Sinneswahrnehmung im
Menschen hervorruft, während diese Außenwelt selbst nur
hypothetisch vorgestellt werden könne. Die theoretischen
Ideen, die dem physikalischen und physiologischen Denken nach
dieser Richtung zugrunde liegen, empfand mein erlebendes
Erkennen als ganz besonders schädlich. Dieses Gefühl
steigerte sich in meiner hier geschilderten Lebensepoche zur
größten Lebhaftigkeit. Alles, was in der Physik und
Physiologie als «hinter der subjektiven Empfindung liegend»
bezeichnet wurde, machte mir, wenn ich den Ausdruck gebrauchen
darf, Erkenntnis-Unbehagen.
Die Denkungsart
Lyells, Darwins und Haeckels
Dagegen sah ich in der
Denkungsart Lyells, Darwins, Haeckels etwas, das, wenn es
auch, so wie es auftrat, unvollkommen war, doch der
Entwickelung nach einem Gesunden fähig ist.
Lyells Grundsatz, die
Erscheinungen in dem Teile des Erdenwerdens, der sich, weil er
in der Vorzeit liegt, der sinnlichen Beobachtung entzieht,
durch Ideen zu erklären, die sich an der gegenwärtigen
Beobachtung dieses Werdens ergeben, schien mir nach der
angedeuteten Richtung hin fruchtbar. Verständnis suchen für
den physischen Bau des Menschen durch Herleitung seiner Formen
aus den tierischen, wie das Haeckels «Anthropogenie» in
umfassender Art tut, hielt ich für eine gute Grundlage zur
weiteren Entwickelung der Erkenntnis.
Ich sagte mir: setzt sich
der Mensch eine Erkenntnisgrenze, jenseits deren die «Dinge
an sich» liegen sollen, so versperrt er sich damit den Zugang
zur geistigen Welt; stellt er sich zur Sinneswelt so, daß
eines das andere innerhalb ihrer erklärt (das gegenwärtig im
Erdenwerden Vorsichgehende die geologische Vorzeit, die Formen
der tierischen Gestalt diejenigen der menschlichen), so kann
er bereit sein, diese Erklärbarkeit
der Wesen und Vorgänge auch auf das
Geistige auszudehnen.
Auch für mein Empfinden auf
diesem Gebiete kann ich sagen: «Das ist etwas, das sich als
Anschauung gerade damals in mir befestigt hat, während es
meine Begriffswelt lange schon durchpulst hatte.»
TB 636 (XXII.), S
236 ff
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