1897
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Das
Wirken des Logos in der Welt
Mit dem geschilderten
Seelenumschwung muß ich meinen zweiten größeren
Lebensabschnitt abschließen. Die Wege des Schicksals nahmen
einen ändern Sinn an als bis dahin. Sowohl während meiner
Wiener wie auch während der Weimarischen Zeit wiesen die
äußern Zeichen des Schicksals in Richtungen, die mit dem
Inhalt meines inneren Seelenstrebens ineinanderliefen. In
allen meinen Schriften lebt der Grundcharakter meiner
geistgemäßen Weltanschauung, wenn auch eine innere
Notwendigkeit gebot, die Betrachtungen weniger auf das
eigentliche Geistgebiet auszudehnen. In meiner Wiener
Erziehertätigkeit waren nur Zielsetzungen vorhanden, die aus
den Einsichten der eigenen Seele kamen. In Weimar, bei der auf
Goethe bezüglichen Arbeit wirkte allein, was ich als die
Aufgabe einer solchen Arbeit betrachtete. Ich hatte nirgends
die Richtungen, die von der Außenwelt kommen, in einer
schwierigen Art mit den meinigen in Einklang bringen müssen.
Gerade aus diesem
Verlauf meines Lebens kam die Möglichkeit, die Idee der
Freiheit in einer mir klar erscheinenden Art anzuschauen und
darzustellen. Ich glaube nicht, daß ich deshalb diese Idee
einseitig angeschaut habe, weil sie in meinem eigenen Leben
die große Bedeutung hatte. Sie entspricht einer objektiven
Wirklichkeit, und was man selbst mit einer solchen erlebt,
kann bei einem gewissenhaften Erkenntnisstreben diese
Wirklichkeit nicht verändern, sondern nur deren Durchschauen
in stärkerem oder geringerem Grade möglich machen.
Der
«ethische
Individualismus»
Mit diesem Anschauen
der Freiheitsidee verband sich der von vielen Seiten so
verkannte «ethische Individualismus» meiner Weltanschauung.
Auch er wurde beim Beginne meines dritten Lebensabschnittes
aus einem Elemente meiner im Geiste lebenden Begriffswelt zu
einem solchen, das nun den ganzen Menschen ergriffen hatte.
Sowohl die
physikalische und physiologische Weltanschauung der damaligen
Zeit, zu der ich ihrer Denkungsart nach ablehnend stand, wie
auch die biologische, die ich trotz ihrer Unvollkommenheit als
eine Brücke zu einer geistgemäßen ansehen konnte,
forderten von mir, daß ich nach den beiden Weltgebieten hin
die eigenen Vorstellungen zu immer besserer Ausgestaltung
brachte. Ich mußte mir die Frage beantworten: können dem
Menschen von der äußeren Welt Impulse seines Handelns sich
offenbaren? Ich fand: die göttlich-geistigen Kräfte, die den
Menschenwillen innerlich durchseelen, haben keinen Weg aus der
Außenwelt in das menschliche Innere. Eine richtige
physikalisch-physiologische sowohl wie eine biologische
Denkungsart schienen mir das zu ergeben. Ein Naturweg, der
äußerlich zum Wollen Veranlassung gibt, kann nicht gefunden
werden. Somit kann auch kein göttlich-geistiger sittlicher
Impuls auf einem solchen äußeren Wege an denjenigen Ort der
Seele dringen, wo der im Menschen wirkende Eigen-Impuls des
Willens sich ins Dasein bringt. Es können äußere naturhafte
Kräfte auch nur das Naturhafte im Menschen mitreißen.
Dann ist aber in Wirklichkeit keine freie Willensäußerung
da, sondern eine Fortsetzung des naturhaften Geschehens in den
Menschen hinein und durch diesen hindurch. Der Mensch hat dann
seine Wesenheit nicht voll ergriffen, sondern ist im
Naturhaften seiner Außenseite als unfrei Handelnder stecken
geblieben.
Es kann sich, so
sagte ich mir immer wieder, gar nicht darum handeln, die Frage
zu beantworten: ist der Wille des Menschen frei oder nicht?
Sondern die ganz andere: wie ist der Weg im
Seelenleben beschaffen von dem unfreien, naturhaften Wollen zu
dem freien, das heißt wahrhaft sittlichen? Und um auf diese
Frage Antwort zu finden, mußte darauf hingeschaut werden, wie
das Göttlich-Geistige in jeder einzelnen Menschenseele
lebt. Von dieser geht das Sittliche aus; in ihrem ganz individuellen
Wesen muß also der sittliche Impuls sich beleben.
Sittliche Gesetze -
als Gebote -, die von einem äußeren Zusammenhang kommen, in
dem der Mensch steht, auch wenn sie ursprünglich aus dem
Gebiete der geistigen Welt stammen, werden nicht dadurch in
ihm zu sittlichen Impulsen, daß er sein Wollen nach ihnen
orientiert, sondern allein dadurch, daß er deren
Gedankeninhalt als geistig-wesenhaft ganz individuell erlebt.
Die Freiheit lebt in dem Denken des Menschen; und nicht der
Wille ist unmittelbar frei, sondern der Gedanke, der den
Willen erkraftet.
So mußte ich schon
in meiner «Philosophie der Freiheit» mit allem Nachdruck von
der Freiheit des Gedankens in bezug auf die sittliche Natur
des Willens sprechen.
Auch diese Idee wurde
im meditativen Leben ganz besonders verstärkt. Die sittliche
Weltordnung stand immer klarer als die eine auf Erden
realisierte Ausprägung von solcher Art Wirkens-Ordnungen vor
mir, die in übergeordneten geistigen Regionen zu finden sind.
Sie ergab sich als das, das nur derjenige in seine
Vorstellungswelt hereinerfaßt, der Geistiges anerkennen kann.
Der
«Logos»
All diese Einsichten
schlossen sich mir gerade in der hier geschilderten
Lebensepoche mit der erklommenen umfassenden Wahrheit
zusammen, daß die Wesen und Vorgänge der Welt nicht in
Wahrheit erklärt werden, wenn man das Denken zum
«Erklären» gebraucht; sondern wenn man durch das Denken die
Vorgänge in dem Zusammenhange zu schauen vermag, in dem das
eine das andere erklärt, in dem eines Rätsel, das andere
Lösung wird, und der Mensch selbst das Wort wird für die von
ihm wahrgenommene Außenwelt.
Damit aber war die
Wahrheit der Vorstellung erlebt, daß in der Welt und ihrem
Wirken der Logos, die Weisheit, das Wort waltet.
Ich vermeinte mit
diesen Vorstellungen das Wesen des Materialismus klar
durchschauen zu können. Nicht darin sah ich das Verderbliche
dieser Denkungsart, daß der Materialist sein Augenmerk auf
die stoffliche Erscheinung einer Wesenheit richtet, sondern
darin, wie er das Stoffliche denkt. Er schaut auf den Stoff
hin und wird nicht gewahr, daß er in Wahrheit Geist vor
sich habe, der nur in der stofflichen Form erscheint. Er weiß
nicht, daß Geist sich in Stoff metamorphosiert, um zu
Wirkungsweisen zu kommen, die nur in dieser
Metamorphose möglich sind. Geist muß sich zuerst die
Form eines stofflichen Gehirnes geben, um in dieser Form das
Leben der Vorstellungswelt zu führen, die dem Menschen in
seinem Erdenleben das frei wirkende Selbstbewußtsein
verleihen kann. Gewiß: im Gehirn steigt aus dem Stoffe der
Geist auf; aber erst, nachdem das Stoffgehirn aus dem Geist
aufgestiegen ist.
«Die
Welt als Illusion»
Abweisend gegen die
physikalische und physiologische Vorstellungsart mußte ich
nur aus dem Grunde sein, weil diese ein erdachtes, nicht
ein erlebtes Stoffliches zum äußerlichen Erreger des im
Menschen erfahrenen Geistigen macht und dabei den Stoff so
erdachte, daß es unmöglich ist, ihn dahin zu verfolgen, wo
er Geist ist. Solcher Stoff, wie ihn diese Vorstellungsart
als real behauptet, ist eben nirgends real. Der
Grundirrtum der materialistisch gesinnten Naturdenker besteht
in ihrer unmöglichen Idee von dem Stoffe. Dadurch versperren
sie den Weg in das geistige Dasein. Eine stoffliche Natur, die
in der Seele bloß das erregte, was der Mensch an der Natur
erlebt, macht die Welt «zur Illusion». Weil diese Ideen so
intensiv in mein Seelenleben traten, verarbeitete ich sie dann
vier Jahre später in meinem Werke «Welt- und
Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert» in dem Kapitel
«Die Welt als Illusion». (Dieses Werk hat in den späteren
erweiterten Auflagen den Titel bekommen: «Rätsel der
Philosophie».)
In der biologischen
Vorstellungsart ist es nicht in gleicher Art möglich, in
Charakteristiken zu verfallen, die das Vorgestellte völlig
aus dem Gebiet verdrängen, das der Mensch erleben kann, und
ihm dafür in seinem Seelenleben eine Illusion zurücklassen.
Man kann da nicht bis zur Erklärung kommen: außer dem
Menschen ist eine Welt, von der er nichts erlebt, die nur
durch seine Sinne auf ihn einen Eindruck macht, der aber ganz
unähnlich sein kann dem Eindruckgebenden. Man kann noch
glauben, wenn man das Wichtigere des Denkens im Seelenleben
unterdrückt, daß man etwas gesagt habe, wenn man behauptet:
der subjektiven Lichtwahrnehmung entspreche objektiv eine
Bewegungsform im Äther - so war damals die Vorstellung
-; man muß aber schon ein arger Fanatiker sein, wenn man auch
das im Lebensgebiet Wahrgenommene so «erklären» will.
In keinem Falle, so
sagte ich mir, dringt ein solches Vorstellen von Ideen über
die Natur herauf zu Ideen über die sittliche Weltordnung. Es
kann diese nur als etwas betrachten, das aus einem der
Erkenntnis fremden Gebiet hereinfällt in die physische Welt
des Menschen.
Daß diese Fragen vor
meiner Seele standen, das kann ich nicht als bedeutsam für
den Eingang meines dritten Lebensabschnittes ansehen. Denn sie
standen ja seit langer Zeit vor mir. -Aber bedeutsam wurde
mir, daß meine ganze Erkenntniswelt, ohne an ihrem Inhalte
etwas Wesentliches zu ändern, in meiner Seele in einem
gegenüber dem bisherigen wesentlich erhöhten Grade durch sie
Lebensregsamkeit bekam. In dem «Logos» lebt die
Menschenseele; wie lebt die Außenwelt in diesem Logos: das
ist schon die Grundfrage meiner «Erkenntnistheorie der
Goethe'schen Weltanschauung» (aus der Mitte der achtziger
Jahre); es bleibt so für meine Schriften «Wahrheit und
Wissenschaft» und «Philosophie der Freiheit». Es
beherrschte diese Seelenorientierung alles, was ich an Ideen
gestaltete, um in die seelischen Untergründe einzudringen,
aus denen heraus Goethe Licht in die Welterscheinungen zu
bringen suchte.
Was mich in dem hier
geschilderten Lebensabschnitt besonders beschäftigte, war,
daß die Ideen, die ich so streng abzuweisen genötigt war,
das Denken des Zeitalters auf das intensivste ergriffen
hatten. Man lebte so ganz in dieser Seelenrichtung, daß man
nicht in der Lage war, irgendwie die Tragweite dessen zu
empfinden, das in die entgegengesetzte Orientierung wies. Den
Gegensatz zwischen dem, was mir klare Wahrheit war, und den
Ansichten meines Zeitalters erlebte ich so, daß dies Erlebnis
die Grundfärbung meines Lebens überhaupt in den
Jahren um die Jahrhundertwende ausmachte.
In allem, was als
Geistesleben auftrat, wirkte für mich der Eindruck, der von
diesem Gegensatze ausging. Nicht als ob ich etwa alles
ablehnte, was dies Geistesleben hervorbrachte. Aber ich
empfand gerade gegenüber dem vielen Guten, das ich schätzen
konnte, tiefen Schmerz, denn ich glaubte zu sehen, daß ihm
als Entwickelungskeime des geistigen Lebens sich überall die
zerstörenden Mächte entgegenstellten.
So erlebte ich denn
von allen Seiten die Frage: wie kann ein Weg gefunden werden,
um das innerlich als wahr Geschaute in Ausdrucksformen zu
bringen, die von dem Zeitalter verstanden werden können?
Wenn man so erlebt,
ist es, als ob auf irgendeine Art die Notwendigkeit vorläge,
einen schwer zugänglichen Berggipfel zu besteigen. Man
versucht es von den verschiedensten Ausgangspunkten; man steht
immer wieder da, indem man Anstrengungen hinter sich hat, die
man als vergeblich ansehen muß.
Ich sprach einmal in
den neunziger Jahren in Frankfurt am Main über Goethes
Naturanschauung. Ich sagte in der Einleitung: ich wolle nur
über die Anschauungen Goethes vom Leben sprechen; denn seine
Ideen über das Licht und die Farben seien solche, daß in der
Physik der Gegenwart keine Möglichkeit vorläge, die Brücke
zu diesen Ideen zu schlagen. — Für mich aber mußte ich in
dieser Unmöglichkeit ein bedeutsamstes Symptom für die
Geistesorientierung der Zeit sehen.
Etwas später hatte
ich mit einem Physiker, der in seinem Fache bedeutend war, und
der auch intensiv sich mit Goethes Naturanschauung
beschäftigte, ein Gespräch, das darin gipfelte, daß er
sagte: Goethes Vorstellung über die Farben ist so, daß die
Physik damit gar nichts anfangen kann, und daß ich - verstummte.
Wie Vieles sagte
damals: das, was mir Wahrheit war, ist so, daß die Gedanken
der Zeit «damit gar nichts anfangen» können.
TB 636 (XXIII.), S
247 ff
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