1897-1899
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Berlin
Und
die Frage wurde Erlebnis: muß
man verstummen?
Mit dieser Gestaltung meines
Seelenlebens stand ich damals vor der Notwendigkeit, in meine
äußere Wirksamkeit eine ganz neue Note hineinzubringen. Die
Kräfte, die mein äußeres Schicksal bestimmten, konnten
weiterhin nicht eine solche Einheit sein mit den inneren
Richtlinien, die sich aus meinem Erleben der Geistwelt
ergaben, wie bisher.
Das
«Magazin für Literatur»
Ich hatte schon seit längerer
Zeit daran gedacht, in einer Zeitschrift die geistigen Impulse
an die Zeitgenossenschaft heranzubringen, von denen ich
meinte, daß sie in die damalige Öffentlichkeit getragen
werden sollten. Ich wollte nicht «verstummen», sondern so
viel sagen, als zu sagen möglich war.
Selbst eine Zeitschrift zu
gründen, war damals etwas, woran ich nicht denken konnte. Die
Geldmittel und die zu einer solchen Gründung notwendigen
Verbindungen fehlten mir vollständig.
So ergriff ich denn die
Gelegenheit, die sich mir ergab, die Herausgeberschaft des
«Magazin für Literatur» zu erwerben.
Die
«Freie literarische Gesellschaft»
Das war eine alte
Wochenschrift. Im Todesjahr Goethes (1832) ist sie gegründet
worden. Zunächst als «Magazin für Literatur des
Auslandes». Sie brachte Übersetzungen dessen, was die
Redaktion an ausländischen Geistesschöpfungen auf allen
Gebieten für wertvoll hielt, um dem deutschen Geistesleben
einverleibt zu werden. - Später verwandelte man die
Wochenschrift in ein «Magazin für die Literatur des In- und
Auslandes». Jetzt brachte sie Dichterisches,
Charakterisierendes, Kritisches aus dem Gesamtgebiet des
Geisteslebens. Innerhalb gewisser Grenzen konnte sie sich mit
dieser Aufgabe gut halten. Ihre so geartete Wirksamkeit fiel
in eine Zeit, in der im deutschen Sprachgebiete eine genügend
große Anzahl von Persönlichkeiten vorhanden war, die jede
Woche in kurz überschaulicher Weise das vor die Seele
gerückt haben wollten, was auf geistigem Gebiete «vorging».
— Als dann in den achtziger und neunziger Jahren in diese
ruhig-gediegene Art, das Geistige mitzumachen, die neuen
literarischen Zielsetzungen der jungen Generation traten,
wurde das «Magazin» wohl bald in diese Bewegung
mithineingerissen. Es wechselte ziemlich rasch seine
Redakteure und bekam von diesen, die in den neuen Bewegungen
in der einen oder der ändern Art drinnen standen, seine
jeweilige Färbung. - Als ich es 1897 erwerben konnte, stand
es den Bestrebungen der jungen Literatur nahe, ohne sich in
einen stärkeren Gegensatz zu versetzen gegen das, was
außerhalb dieser Bestrebungen lag. — Aber jedenfalls war es
nicht mehr in der Lage, sich allein durch das finanziell zu
halten, was es inhaltlich war. So war es unter anderm das
Organ der «Freien literarischen Gesellschaft» geworden. Das
ergab zu der sonst nicht mehr ausreichenden Abonnentenzahl
Einiges hinzu. Aber trotz alledem lag bei meiner Übernahme
des «Magazin» die Sache so, daß man alle, auch die
unsichern Abonnenten zusammennehmen mußte, um gerade knapp
noch einen Stand herauszubekommen, bei dem man sich halten
konnte. Ich konnte die Zeitschrift nur übernehmen, wenn ich
mir zugleich eine Tätigkeit auferlegte, die geeignet
erschien, den Abonnentenkreis zu erhöhen. - Das war die
Tätigkeit in der «Freien literarischen Gesellschaft». Ich
mußte den Inhalt der Zeitschrift so einrichten, daß diese
Gesellschaft zu ihrem Rechte kam. Man suchte in der «Freien
literarischen Gesellschaft» nach Menschen, die ein Interesse
hatten für die Schöpfungen der jüngeren Generation. Der
Hauptsitz dieser Gesellschaft war in Berlin, wo jüngere
Literaten sie gegründet hatten. Sie hatte aber Zweige in
vielen deutschen Städten. Allerdings stellte sich bald
heraus, daß manche dieser «Zweige» ein recht bescheidenes
Dasein führten. - Mir oblag nun, in dieser Gesellschaft
Vorträge zu halten, um die Vermittlung mit dem Geistesleben,
die durch das «Magazin» gegeben sein sollte, auch
persönlich zum Ausdruck zu bringen.
Ich hatte somit für das
«Magazin» einen Leserkreis, in dessen geistige Bedürfnisse
ich mich hineinfinden mußte. Ich hatte in der «Freien
literarischen Gesellschaft» eine Mitgliederschaft, die ganz
Bestimmtes erwartete, weil ihr bisher ganz Bestimmtes geboten
worden war. Jedenfalls erwartete sie nicht das, was ich ihr
aus dem Innersten meines Wesens heraus hätte geben mögen.
Das Gepräge der «Freien literarischen Gesellschaft» war ja
auch dadurch bestimmt, daß sie eine Art Gegenpol gegen die
«Literarische Gesellschaft» bilden sollte, in der
Persönlichkeiten wie z. B. Spielhagen tonangebend waren.
Es lag nun an meinem
Drinnenstehen in der geistigen Welt, daß ich diese
Verhältnisse, in die ich da eintrat, wirklich ganz innerlich
mitmachte. Ich versuchte ganz, mich in meinen Leserkreis und
in den Mitgliederkreis der «Gesellschaft» zu versetzen, um
aus der Geistesart dieser Menschen die Formen zu finden, in
die ich zu gießen hatte, was ich geistig geben wollte.
Ich kann nicht sagen, daß ich
mich beim Beginn dieser Wirksamkeit Illusionen hingegeben
hätte, die mir nach und nach zerstört worden wären. Aber
gerade das Wirken aus Leser- und Zuhörerkreis heraus, das mir
angemessen war, stieß auf immer größere Widerstände. Es
war mit keinem ernsten, durchgreifenden Geistes-Zug bei dem
Menschenkreis zu rechnen, den das «Magazin» um sich
gesammelt hatte, bevor ich es übernommen hatte. Die
Interessen dieses Kreises waren nur bei Wenigen tiefgreifend.
Und auch bei den Wenigen lagen nicht starke Kräfte des
Geistes zugrunde, sondern mehr ein allgemeines Wollen, das in
allerlei künstlerischen und sonstigen geistigen Formen sich
ausleben wollte.
Und so trat denn an mich bald
die Frage heran, ob ich es vor meinem Innern und vor der
geistigen Welt verantworten konnte, in diesem Kreise zu
wirken. Denn wenn mir auch viele Persönlichkeiten, die da in
Betracht kamen, sehr lieb waren, wenn ich auch
freundschaftlich mich ihnen verbunden fühlte, so gehörten
auch sie dem, was in mir lebte, gegenüber doch zu denen, die
zu der Frage führten: «Muß
man verstummen?»
Dazu kam ein Anderes. Von einer
großen Anzahl von Menschen, die mir bisher freundschaftlich
nahe standen, durfte ich, nach ihrem Verhalten zu mir, die
Empfindung haben, sie gehen zwar in ihrem eigenen Seelenleben
nicht sehr weit mit dem meinigen mit; aber sie setzen etwas in
mir voraus, das mein Tun auf dem Erkenntnisgebiet und in
mancherlei Lebensverhältnissen ihnen wertvoll erscheinen
ließ. Sie stellten sich so oft ungeprüft, nach ihren
Erlebnissen mit mir, zu meinem Dasein.
Otto Erich
Hartleben
Die bisherige Herausgeberschaft
des «Magazin» empfand nicht so. Sie sagte sich, trotz
mancher Züge von Lebenspraxis in ihm ist der Steiner doch
eben «Idealist». Und da der Verkauf des «Magazin» so
bewirkt wurde, daß im Laufe der Jahre Raten an den bisherigen
Besitzer zu zahlen waren, daß dieser auch die stärksten
sachlichen Interessen an dem Fortbestand der Wochenschrift
hatte, so konnte er, von seinem Gesichtspunkte aus, gar nicht
anders, als sich und der Sache noch eine andere Garantie
schaffen, als diejenige, die in meiner Person lag, von
der er nicht sagen konnte, wie sie innerhalb des
Menschenkreises wirken werde, der um «Magazin» und «Freie
literarische Gesellschaft» sich bisher zusammengefunden
hatte. Daher wurde mit zur Bedingung des Kaufes gemacht, daß
Otto Erich Hartleben als Mitherausgeber zeichnen und tätig
sein solle.
Nun möchte ich in der
Rückschau auf diese Tatsachen heute nicht, daß bei der
Einrichtung meiner Herausgeberschaft irgend etwas anders
gekommen wäre. Denn der in der Geisteswelt Stehende muß, wie
ich in dem Vorangehenden beschrieben habe, die Tatsachen der
physischen Welt voll durch Erleben kennen lernen. Und mir war
das insbesondere durch meinen Seelenumschwung zu einer selbstverständlichen
Notwendigkeit geworden. Nicht hinzunehmen, was ich als die
Kräfte des Schicksals deutlich erkannte, wäre mir eine
Versündigung gegen mein Geist-Erleben gewesen. Ich sah nicht nur
«Tatsachen», die mich damals für einige Zeit mit Otto
Erich Hartleben zusammenstellten, sondern «schicksal-(karma-)
gewobene Tatsachen».
Aber es ergaben sich doch aus
diesem Verhältnisse nicht zu bewältigende Schwierigkeiten.
Otto Erich Hartleben war ein
durch und durch von Ästhetik beherrschter Mensch. Als
graziös empfand ich alles, was sich aus seiner restlos
ästhetischen Weltauffassung bei ihm, bis in seine Gesten
hinein, offenbarte, trotz des oft recht fragwürdigen
«Milieus», in dem er mir entgegentrat. Er hatte aus dieser
Haltung seiner Seele heraus das Bedürfnis, immer wieder
monatelang sich in Italien aufzuhalten. Und wenn er von da
zurückkam, da lag in dem, was von seinem Wesen in die
Erscheinung trat, selbst ein Stück Italien. — Dazu hatte
ich eine persönliche starke Liebe zu ihm.
Allein ein Zusammenarbeiten auf
dem uns nun gemeinsamen Felde war eigentlich unmöglich. Er
war gar nicht daraufhin orientiert, sich in Ideen- und
Interessengebiete des Magazinleserkreises oder des Kreises der
«Freien literarischen Gesellschaft» «hineinzuversetzen» ,
sondern er wollte eben an beiden Orten «durchsetzen», was
ihm seine ästhetische Empfindung sagte. Das wirkte auf mich
wie ein mir fremdes Element. Dabei machte er sein Recht,
mitzuarbeiten , oftmals geltend, aber oftmals ganz lange Zeit
hindurch auch nicht. Er war ja auch oft lange in Italien
abwesend. So kam etwas ganz Uneinheitliches in den Inhalt des
«Magazin». - Und bei all seiner «reifen ästhetischen
Weltanschauung» konnte Otto Erich Hartleben den «Studenten»
in sich nicht überwinden. Ich meine die fragwürdigen Seiten
der «Studentenschaft», natürlich nicht das, was als schöne
Daseinskraft aus der Studentenzeit in das spätere Leben
hinübergetragen werden kann.
Als ich mit ihm mich
zusammenzuschließen hatte, war ihm ein weiterer Verehrerkreis
wegen seines Dramas: «Die Erziehung zur Ehe» zugefallen. Das
Werk war durchaus nicht aus dem Graziös-Ästhetischen
hervorgegangen, das im Umgange mit ihm so reizvoll wirkte; es
war gerade aus der «Ausgelassenheit» und «Ungebundenheit»
hervorgegangen, die alles, was als geistige Produktion und
auch als Entscheidungen gegenüber dem «Magazin» von ihm
kam, doch nicht aus der Tiefe seines Wesens, sondern aus einer
gewissen Oberflächlichkeit kommen ließen. Den Hartleben des
persönlichen Umganges kannten nur Wenige.
Es ergab sich als etwas
Selbstverständliches, daß ich nach meiner Übersiedelung
nach Berlin, von wo aus ich das «Magazin» redigieren mußte,
in dem Kreise verkehrte, der mit Otto Erich Hartleben
zusammenhing. Denn es war derjenige, der mir die Möglichkeit
gab, was zur Wochenschrift und zur «Freien literarischen
Gesellschaft» gehörte, so zu überschauen, wie es notwendig
war.
Das brachte mir auf der einen
Seite einen großen Schmerz. Denn dadurch wurde ich
verhindert, die Menschen aufzusuchen und ihnen näher
zu kommen, mit denen von Weimar her schöne Verhältnisse
bestanden. Wie lieb wäre es auch mir gewesen, Eduard v.
Hartmann öfters zu besuchen.
All das ging nicht. Die andere
Seite nahm mich voll in Anspruch. Und so wurde von einem mir
werten Menschlichen mit einem Schlage manches von mir
genommen, was ich gerne behalten hätte. Aber ich erkannte das
als eine Schicksals- (karmische) Fügung. Mir wäre es aus
Seelenuntergründen heraus, die ich hier charakterisiert habe,
durchaus möglich gewesen, zwei so grundverschiedenen
Menschenkreisen wie dem mit Weimar zusammenhängenden und dem
um das «Magazin» bestehenden, meine Seele mit vollem
Interesse zuzuwenden. Allein keiner der Kreise hätte auf die
Dauer an einer Persönlichkeit irgendwelche Freude gehabt, die
abwechselnd mit Menschen verkehrte, die in bezug auf Seele und
Geist polarisch entgegengesetzten Weltgebieten angehörten.
Auch wäre es ja unvermeidlich geworden, bei solchem Verkehr
fortwährend zu rechtfertigen, warum ich mein Wirken
ausschließlich in den Dienst stelle, in den ich es,
wegen dessen, was das «Magazin» war, stellen mußte.
Immer mehr trat mir vor die
Seele: solche Art, Menschen gegenüberzustehen, wie ich sie
für Wien, für Weimar hier beschreiben durfte, war nun
unmöglich geworden. Literaten kamen zusammen, und literarisch
lernten sich Literaten kennen. Selbst bei den Besten, auch bei
den ausgeprägtesten Charakteren grub sich dies Literarische
(oder auch Malerische, Bildhauerische) so tief in das Wesen
der Seele, daß das rein Menschliche ganz in den Hintergrund
trat.
Frank Wedekind
Solchen Eindruck bekam ich,
wenn ich zwischen diesen — von mir doch geschätzten -
Persönlichkeiten saß. Auf mich selbst machten dafür die
menschlichen Seelen-Hintergründe einen um so tieferen
Eindruck. In der «Freien literarischen Gesellschaft» in
Leipzig saß ich einmal nach einem Vortrage von mir und einer
Vorlesung O. J. Bierbaums mit einem Kreise zusammen, in dem
auch Frank Wedekind war. Mein Schauen war wie gefesselt von
dieser wahrhaft seltenen Menschen-Gestalt. Ich meine hier
«Gestalt» ganz im physischen Sinne. Diese Hände! Wie
aus einem vorigen Erdenleben, in denen sie Dinge verrichtet
haben, die nur von Menschen verrichtet werden können, welche
ihren Geist bis in die feinsten Fingerverzweigungen strömen
lassen. Mag das dann, weil Energie verarbeitet worden ist, den
Eindruck von Brutalität gegeben haben; das höchste Interesse
wurde angezogen von dem, was diese Hände ausstrahlten. Und
dieser ausdrucksvolle Kopf — ganz wie eine Gabe dessen, was
aus den besonderen Willensnoten der Hände kam. Er hatte in
Blick und Mienenspiel etwas, das sich so willkürlich der Welt
geben, aber namentlich auch von ihr sich zurückziehen konnte,
wie die Gesten der Arme durch die Empfindung der Hände. Ein
der Gegenwart fremder Geist sprach aus diesem Kopfe. Ein
Geist, der sich eigentlich außer das Menschentreiben
dieser Gegenwart stellt. Der nur nicht innerlich zum
Bewußtsein darüber kommen konnte, welcher Welt der
Vergangenheit er angehört. Als Literat war — ich meine
jetzt nur das, was ich an ihm schaute, kein literarisches
Urteil — Frank Wedekind wie ein Chemiker, der die
gegenwärtigen Ansichten der Chemie ganz von sich geworfen,
und der Alchemie, aber auch diese nicht mit innerem Anteil,
sondern mit Zynismus treibt. Man konnte viel von der Wirkung
des Geistes in der Form kennen lernen, wenn man die äußere
Erscheinung Frank Wedekinds in die Seelenanschauung
hereinbekam. Dabei darf man allerdings nicht mit dem Blicke desjenigen
«Psychologen» vorgehen, der «Menschen beobachten
will», sondern mit dem, der das rein Menschliche auf dem
Hintergrunde der Geistwelt durch innere geistige
Schicksalsfügung zeigt, die man nicht sucht, sondern die
herankommt.
Ein Mensch, der bemerkt, er
werde von einem «Psychologen» beobachtet, der darf
ärgerlich werden; der Übergang aber von dem rein
menschlichen Verhältnis zu dem «auf geistigem Hintergrunde
schauen» ist auch rein menschlich, etwa wie der von einer
flüchtigen zu einer intimeren Freundschaft.
Paul Scheerbarth
Eine der eigenartigsten
Persönlichkeiten des Hartleben'schen Berliner Kreises war
Paul Scheerbarth. Er hat «Gedichte» geschrieben, die dem
Leser zunächst wie willkürliche Wort- und
Satzzusammenstellungen vorkommen. Sie sind so grotesk, daß
man deswegen sich angezogen fühlt, über den ersten Eindruck
hinauszugehen. Dann findet man, daß ein phantastischer Sinn
allerlei sonst unbeachtete Bedeutungen in den Worten sucht, um
einen geistigen Inhalt zum Ausdruck zu bringen, der nicht
minder aus einer bodenlosen, aber einen Boden überhaupt gar
nicht suchenden Seelen-Phantastik heraus stammt. In Paul
Scheerbarth lebte ein innerer Kultus des Phantastischen; aber
der bewegte sich in den Formen des gesucht Grotesken. Er
hatte, nach meiner
Auffassung, das Gefühl, der geistvolle Mensch dürfe, was er
darstellt, nur in grotesken Formen darstellen, weil andere
alles ins Philiströse zerren. Aber dies Gefühl will auch das
Groteske nicht in gerundeter künstlerischer Form entwickeln,
sondern in souveräner, gesucht unbesonnener Seelenverfassung.
Und was sich in diesen grotesken Formen offenbart, das muß
dem Gebiet der inneren Phantastik entspringen. Ein nicht
nach Klarheit suchender Seelenzug nach dem Geistigen lag bei
Paul Scheerbarth zugrunde. Was aus der Besonnenheit kommt, das
geht nicht auf geistige Regionen, so sagte sich dieser
«Phantast». Deshalb darf man, um Geist auszudrücken, nicht
besonnen sein. Aber Scheerbarth tat auch keinen Schritt von
der Phantastik zur Phantasie. Und so schrieb er aus einem in
der interessanten, aber wüsten Phantastik steckengebliebenen
Geist heraus, in dem ganze kosmische Welten als
Rahmenerzählungen flimmern, schillern, das Geistgebiet
karikieren und ebenso gehaltene Menschenerlebnisse
umschließen. So in «Tarub, Bagdads berühmte Köchin».
Man sah den Mann nicht so, wenn
man ihn persönlich kennen lernte. Ein Bureaukrat, etwas ins
Geistige gehoben. Die «äußere Erscheinung», die bei
Wedekind so interessant war, bei ihm alltäglich, philiströs.
Und dieser Eindruck erhöhte sich noch, wenn man in der ersten
Zeit der Bekanntschaft mit ihm ins Gespräch kam. Er hatte in
sich den glühendsten Haß auf die Philister, hatte aber die
Gesten der Philister, deren Sprechweise, zeigte sich so, als
ob der Haß davon käme, daß er aus Philisterkreisen zuviel
in die eigene Erscheinung aufgenommen hatte und das spürte;
aber zugleich das Gefühl hatte, er könne es nicht
bekämpfen. Man las auf dem Grunde seiner Seele eine Art
Bekenntnis: Ich möchte die Philister vernichten, weil sie
mich zum Philister gemacht haben.
Ging man aber von dieser
äußeren Erscheinung zu dem von ihr unabhängigen inneren
Wesen Paul Scheerbarths, so enthüllte sich ein ganz feiner,
nur eben im Grotesk-Phantastischen steckengebliebener, geistig
unvollendeter Geistmensch. Dann erlebte man mit seinem
«hellen» Kopf, mit seinem «goldenen» Herzen die Art mit,
wie er in der Geist-Welt stand. Man mußte sich sagen,
welch eine starke, in die Geistwelt schauend dringende
Persönlichkeit hätte da in die Welt treten können, wenn das
Unvollendete wenigstens bis zu einem gewissen Grade vollendet
worden wäre. Man sah zugleich, daß das «Bekenntnis zur
Phantastik» schon so stark war, daß auch eine Vollendung in
der Zukunft dieses Erdenlebens nicht mehr im Bereich der
Möglichkeit lag.
In Frank Wedekind und Paul
Scheerbarth standen Persönlichkeiten vor mir, die in ihrem
ganzen Wesen dem, der die Tatsache der wiederholten Erdenleben
des Menschen kannte, höchst bedeutsame Erlebnisse gaben. Sie
waren ja Rätsel in dem gegenwärtigen Erdenleben. Man sah bei
ihnen auf das, was sie sich in dieses Erdenleben mitgebracht
hatten. Und eine unbegrenzte Bereicherung ihrer ganzen
Persönlichkeit trat auf. Man verstand aber auch ihre
Unvollkommenheiten als Ergebnisse früherer Erdenleben, die in
der gegenwärtigen geistigen Umgebung nicht voll zur
Entfaltung kommen konnten. Und man sah, wie das, was aus
diesen Unvollkommenheiten werden konnte, künftige Erdenleben
brauchte.
So stand noch manche
Persönlichkeit dieses Kreises vor mir. Ich erkannte, daß, ihr
zu begegnen, für mich Schicksalsfügung (Karma) war.
Ein rein menschliches,
herzliches Verhältnis konnte ich auch zu dem so durch und
durch liebenswürdigen Paul Scheerbarth nicht gewinnen. Es war
doch so, daß im Verkehr der Literat in Paul Scheerbarth, wie
in den andern auch, immer durchschlug. So waren meine
allerdings liebevollen Empfindungen für ihn doch durch die
Aufmerksamkeit und das Interesse zuletzt bestimmt, die ich an
seiner in so hohem Grade merkwürdigen Persönlichkeit nehmen
mußte.
Walter Harlan
Eine Persönlichkeit war
allerdings in dem Kreise da, die sich nicht als Literat,
sondern im vollsten Sinne als Mensch darlebte, W. Harlan. Aber
der sprach wenig, und saß eigentlich immer wie ein stiller
Beobachter da. Wenn er aber sprach, so war es immer entweder
im besten Sinne geistreich, oder echt witzig. Er schrieb
eigentlich viel, aber eben nicht als Literat, sondern als ein
Mensch, der aussprechen mußte, was er auf der Seele hatte.
Damals war von ihm gerade die
«Dichterbörse» erschienen, eine Lebensdarstellung voll
köstlichen Humors. Ich hatte es immer gern, wenn ich etwas
früher in das Versammlungslokal des Kreises kam und erst
Harlan ganz allein dasaß. Man kam sich dann nahe. Ihn nehme
ich also aus, wenn ich davon spreche, daß ich in diesem
Kreise nur Literaten und keine «Menschen» gefunden habe. Und
ich glaube, er verstand, daß ich den Kreis so ansehen mußte.
Die ganz verschiedenen Lebenswege haben uns bald weit
auseinandergeführt.
Es waren die Menschen um
«Magazin» und «Freie literarische Gesellschaft» deutlich
in mein Schicksal verwoben. Ich aber war nicht auf
irgend eine Art in das ihrige verwoben. Sie sahen mich
in Berlin, in ihrem Kreise auftauchen, erfuhren, daß ich das
«Magazin» redigieren und für die «Freie literarische
Gesellschaft» arbeiten wolle; aber verstanden nicht, warum
gerade ich dies tun solle. Denn so, wie ich für ihre
Seelenaugen unter ihnen herumging, hatte es für sie nichts
Verlockendes, auf mich tiefer einzugehen. Obwohl in mir keine
Spur Theorie steckte, kam ihrem theoretischen Dogmatisieren
mein geistiges Wirken wie etwas Theoretisches vor. Das war
etwas, wofür sie als «künstlerische Naturen» glaubten,
kein Interesse haben zu dürfen.
Ich lernte aber durch
unmittelbare Anschauung eine künstlerische Strömung in ihren
Repräsentanten kennen. Sie war nicht mehr so radikal wie die
Ende der achtziger und in den ersten neunziger Jahren in
Berlin auftretenden. Sie war auch nicht mehr so, daß sie wie
die Theater-Umwandlung Otto Brahms einen Voll-Naturalismus als
die Rettung der Kunst hinstellte. Sie war ohne eine solche
zusammenfassende Kunstüberzeugung. Sie beruhte mehr auf dem,
was aus dem Willen und den Begabungen der einzelnen
Persönlichkeiten zusammenströmte, das aber auch ein
einheitliches Stilstreben ganz entbehrte.
Meine Lage innerhalb dieses
Kreises wurde seelisch unbehaglich wegen des Gefühls, daß
ich wußte, warum ich da war, die andern nicht.
TB 636 (XXIV.), S
253 ff
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